Landreform - Nadine Morgenbrink - E-Book

Landreform E-Book

Nadine Morgenbrink

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Beschreibung

Die junge Irin Dana hat ein Faible für Afrika. Ein Besuch bei ihrer Freundin Enya in Namibia wird für sie zum Schicksal, das sie schlussendlich ins Nachbarland Simbabwe führt. Dort lernt sie Farmer Erik kennen und erlebt nicht nur einen wunderbaren Sommer, sondern auch die dramatischen Folgen der Landreform.

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Heal our Land Zimbabwe

(Paul T., 2011)

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Lediglich grobe historische Rahmenbedingungen und Ortsnamen entsprechen den tatsächlichen Gegebenheiten. Auch etliche Örtlichkeiten, insbesondere die beschriebenen Farmen, sind fiktiv.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XXXIX

Kapitel XL

Kapitel XLI

Kapitel XLII

Epilog

I

Dieser verdammte Wind pfiff. Und er war kalt. Eisig wehte er Dana ins Gesicht als sie übermüdet aus dem Flugzeug stieg. Windhoek im August bedeutete afrikanischer Winter, sie hatte es gewusst. Aber die Luft bezauberte sie trotz allem. Afrika. Afrikanischer Wind.

Schon bei der Landung klebte sie voll Vorfreude am Fenster, erspähte draußen das weite Steppenland und machte nur wenige Momente vor dem Aufsetzen ein paar Gazellen aus, die munter über das Grasland sprangen. Afrikanisches Leben.

Fünfzehn Jahre war die erste Afrika-Reise nun her. Damals war Dana ein Teenager und reiste mit ihren Eltern. Trotz anfänglichen Widerstands, ihre Ferien nicht wie der Bruder zu Hause mit Freundinnen in Dublin verbringen zu können, entbrannte in Tansania ein afrikanisches Feuer, das sich nicht mehr löschen ließ. Afrikanisches Feuer.

Enya Mulluly, wie Dana gerade dreißig geworden, eine Freundin aus noch nicht ganz vergessenen Kindheitstagen in Dublin, stand ein wenig fröstelnd hinter der Scheibe um auf Dana zu warten. Als elektrische Schiebetüren Dana zum Vorschein brachten, kam wahre Freude auf und die beiden lagen sich in den Armen.

Wie schön, mehr brachte Enya noch nicht hervor.

Sechs lange Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Neidisch hatte Dana mit angesehen, wie Enya den Traum lebte, den sie, Dana, selbst nicht zu verwirklichen bereit war. Sie hatte ihr Studium zu sehr gemocht. Fand sich an die Familie gebunden und ihr Herz erfüllte es trotz all des Fernwehs mit Schmerz, stellte sie sich vor, Abschied auf Dauer zu nehmen.

Enya hatte ihre Koffer nach einer unglücklichen Liebe und der heftig ausgefochtenen Trennung gepackt. Damals träumten sich die beiden jungen Frauen an so manch verregnetem Abend durch Dublins Kneipen und bauten Farmen im fernen, immer warmen Afrika.

Windhoek an Danas Ankunftstag diente unmöglich dazu, eines dieser alten Traumbilder zu bedienen. Der starke Wind blies nun auch noch dichte, schwarze Regenwolken über die endlose Ebene.

Erzähl mir von deinem Leben hier, feuerte Dana ihre Freundin an, als die schwere Tasche und der kleine Rucksack auf der Ladefläche des Geländewagens verschwunden waren. Enya strahlte und Dana vermutete, dass es ihr gut ging.

Der Wagen mit den beiden jungen Frauen bretterte über die Teerstraße Richtung Norden. Dana ließ den Blick schweifen. Über der staubigen Ebene hingen die Regenwolken, die einen starken Kontrast zu den hellen Grasflächen und ockerfarbenen Bergen bildeten. Grasland und Felshügel soweit das Auge reichte.

Auf halben Weg zwischen Okahandja und Otjiwarongo bog Enya nach links auf eine rot-staubige Straße. Ein verbeultes Schild wies den Weg zur Grassroots Farm, 18 Kilometer.

Vor einiger Zeit hab ich in Windhoek Tutu kennengelernt. Er ist aus Soweto hier in den Norden gekommen um in Namibia zu arbeiten. Ein zuckersüßer Kerl, total verspielt und arg verplant. Ich hab zu der Zeit noch in dem kleinen Loch in Windhoek gewohnt und wollte aufs Land. Der Job in der Kneipe war alles andere als lustig. Die haben mich als Mädchen für alles gebraucht und gezahlt haben sie fast nichts.

Dana lauschte aufmerksam der Geschichte ihrer Freundin während sie draußen das vorbei huschende Naturschauspiel beobachtete und mit Freude feststellte, dass die regenschweren Wolken immer weiter hinter ihnen blieben und ihr dieses, sonnenwarme Namibia schon deutlich besser gefiel.

Tutu hatte damals eine Stelle auf Grassroots bekommen. Sie leben nicht mehr von der Viehzucht. Es ist ein wirklich nettes Ehepaar, das hier eine Pension führt. Sie leben von den Touristen, die auf dem Weg in Richtung Norden Station machen. Tutu wollte, dass ich mitkomme. Ich fand das erstmal keine gute Idee. Zu der Zeit hing er jeden Abend in meiner Kneipe rum und redete auf mich ein. Ich war hin und weg von seinem Charme. Er holte mich sonntags ab und wir gingen durch die ausgestorbene Innenstadt Windhoeks spazieren.

Enya steuerte den Wagen an den Straßenrand, blieb stehen und bedeutete Dana, einen Moment auszusteigen um die afrikanische Luft einzuatmen. Etwas abseits der Strecke breitete sich inmitten des Graslands ein kleines Felsplateau aus. Die beiden Frauen kletterten auf einen der drei Steine. Dana spürte, wie die Mittagswärme diese Felsen trotz des afrikanischen Winters ordentlich aufheizte und spürte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft so etwas wie Gelassenheit. Afrikanische Gelassenheit.

Und gibt es deinen Tutu heute immer noch?

Ja, ja. Das ist es wieder, was dich am meisten interessiert…

Enya lachte und stupste ihre Freundin an die Schulter. Beide merkten auf diesem Felsen, dass trotz der langen Zeit, in der sie sich fast komplett aus den Augen verloren hatten, die innere Verbindung gehalten hatte. Dies schien beide mit innerer Freude zu erfüllen, denn sie schwiegen für einen Moment und ihre Blicke ruhten auf der feinfühligen Landschaft um sie herum.

Tutu hat auf Grassroots angefangen als Mann für alles zu arbeiten und ich hab mich einige Zeit in einem Zimmer hier einquartiert. Wir hatten ein paar wunderschöne Tage - Enya machte eine Kunstpause - und auch Nächte, klar.

Dann bin ich zurück nach Windhoek und hab weiter in meiner Kneipe gekellnert. Er schrieb mir täglich mehrere SMS und wir telefonierten ein-, zweimal die Woche.

Die große Liebe also? fiel Dana ihr ins Wort. Enya schwieg, überlegte und schmunzelte dann. Wie bestellt, um auf diese Frage nicht antworten zu müssen, bezog eine herrlich bunt-gefiederte Gabelracke Stellung auf dem Nachbarfelsen, nur ein paar Meter entfernt.

Da sieh, der Piepmatz dort!

Lenk´ nicht vom Thema ab, erkannte Dana sofort Enyas Spiel.

Nur ein paar Monate hab ich noch durchgehalten. Dazu kam, dass mein Chef in der Kneipe immer unangenehmer wurde. Er wollte nicht mehr regelmäßig aufsperren, überließ mir das Geschäft alleine und sich dem Alkohol. Tutu empfing mich mit offenen Armen. Und die Farmleute, Annegret und Bernhard, ließen sich darauf ein, dass ich ebenfalls hier arbeiten durfte. Erst einmal testweise in der Küche und in den Zimmern. Bald merkten sie, dass es mir aber mehr Spaß machte, mit den Gästen zu sein und sie schickten mich auf Ausflüge zum Waterberg oder in den Etosha-Nationalpark. Und das mache ich bis heute. Im Grunde übernehmen Tutu und ich die meiste Arbeit. Annegret und Bernhard brauchen nicht mehr viel zu erledigen. Sie sind gütige und großzügige Leute. Ich mag sie sehr. Bernhard verdanke ich mein Wissen über dieses Land. Tutu und ich tun das alles gerne für sie. Es ist so anders als in Windhoek. Und Dublin fehlt mir dabei nur ganz selten.

Bist du glücklich, Enya?

Dana bemerkte diese kleine Regung in Enyas Gesicht. Hatte das breite Strahlen in diesem Moment noch eine tiefere Bedeutung? Enyas Augen leuchteten und in der Tiefe vermutete Dana dennoch Angst vor einer ungewissen Zukunft zu erkennen.

Auf dem restlichen Weg zur zur Farm musste nun Dana von ihrem Studium, ihren Männergeschichten und Dublin erzählen. Enya brannte darauf etwas vom Leben auf der grünen Insel zu erspüren, auch wenn sie schon so lange nicht mehr zu Hause war. Und dies ging am besten, wenn jemand davon erzählte, der bis vor ein paar Stunden noch dort war.

Der Wagen parkte vor einer herrlich grünen Gartenanlage. Sie hob sich vom gelb-staubigen Grasland durch saftiges Grün ab. Mit viel Liebe hatten die Besitzer eine traumhafte Gartenlandschaft gestaltet. In weitem Kreis um ein großes, reetgedecktes Farmgebäude herum standen kleinere Bungalows aus tiefschwarzem Holz. Dana blieb kurz neben dem Wagen stehen, um den Moment einzufangen. Afrikanische Augenblicke.

Annegret und Bernhard kamen aus dem Farmgebäude heraus; ein Paar, beide Mitte sechzig, in sich ruhend und voll Harmonie. Bernhard, verschmitzt lächelnd, ein wenig lausbübisch der Gesichtsausdruck, legte den Arm um seine Annegret während er die riesige Hand Dana ausstreckte.

Willkommen auf Grassroots, Miss O‘Daymaker! begrüßte er Dana.

Annegrets Lass die Förmlichkeiten, mein Lieber kam mit gespieltem Zorn über den förmlichen Ton ihres Mannes daher.

Ich bin Annegret und er da heißt Bernhard; er ist manchmal ein wenig schroff, aber du weißt sicherlich, in jeder rauen Schale steckt ein weicher Kern.

Dana schüttelte nun auch Annegret die Hand. Sie strahlte etwas Gutmütiges, Mütterliches aus. Dana mochte die Hausherrin sofort und auch Bernhard machte einen ausgesprochen freundlichen Eindruck auf sie. Er half Enya dabei, das Gepäck zu entladen und Annegret bat die beiden Frauen in den Wohn- und Essbereich.

Das Innere der Farm war hell und freundlich, alles wirkte warm und seltsam unaufgeregt. Kolonialer Wohnstil. Auf dem größten der vier Tische im Essbereich stand eine Karaffe Saft, daneben stand eine Flasche Wasser. Dana wurde eingeschenkt und ihr wurde bedeutet, sich nach dem langen Flug doch zu setzen. Ich geh schnell Tutu holen. Wir werden gleich essen. Enya verschwand durch eine Tür in einen kleinen Innenhof. Auch Annegret war wieder verschwunden, sodass Dana Zeit hatte, das Innere des Farmgebäudes in Augenschein zu nehmen.

Eine große, breite Fensterfront eröffnete einen traumhaften Blick auf das Grasland; in der Ferne schimmerten Berge. Das kräftige Grün vor dem Haus gab Kraft und wirkte ansteckend optimistisch. Dana atmete tief ein, nahm einen Schluck Saft. Vier Esstische gab es in dem Raum, einer war doppelt so groß. In einem Bereich des riesigen Raums befand sich eine schwere, schwarze Ledergarnitur. Das Sofa war speckig und abgesessen, aber es wirkte so unglaublich echt an dieser Stelle. Dana liebte diesen Stil. Vor dem Gebäude, eine breite Veranda, sanft dahinter der schmale Weg zum Vorplatz. Ein Pool, blauer Kontrast zum Grün drum herum. Überall Pflanzentröge und Blumentöpfe.

Welcome, Sister! riss eine tiefe Männerstimme Dana aus ihren Gedanken. Hinter ihr stand dicht neben Enya ein junger Mann, Tutu. Seine Augen funkelten freudige Neugierde gegenüber dem Neuankömmling. Kurzes, krauses Haar, eine sportlich-bunte Short und ein betörendes Lächeln. Ein kurzer, für diesen Mann zu sanfter Händedruck. Tutu - Dana. Dana - Tutu. Enya stellte ihren Freund mit sichtlichem Stolz vor.

Im Nu saßen alle um den großen Tisch herum und Annegret tischte auf. Der ganze Raum erfüllte sich mit dem Duft nach gegrilltem Fleisch, zarten Gemüsen. Dana musste von Dublin erzählen. Vor allem Tutu erkundigte sich nach dem Leben in der einstigen Heimat seiner Freundin.

Bald heirate ich Enya und wir gehen gemeinsam nach Dublin und machen dort ein Pub auf, träumte er.

Und da hab ich kein Wörtchen mitzureden? fiel ihm seine Freundin ins Wort, da musst du mir erst einmal einen richtigen Heiratsantrag machen.

Annegret ermahnte die beiden, sich doch Zeit zu lassen, was Bernhard mit einem Sie ist doch schon dreißig konterte und es klang als wäre dies ein öfters wiederkehrendes Ritual. Dana beobachtete das Augenspiel der beiden Angesprochenen. Sie meinte, die Funken zu spüren, die hier knisterten.

II

Erik fluchte was das Zeug hielt. Bis Kamativi waren es noch gut zwei Stunden Fahrt, umkehren und nach Victoria Falls zurück würde er es vor Einbruch der Dunkelheit auch nicht mehr schaffen. Weißer Qualm aus dem Motorraum des Defenders und Erik wusste, er würde wieder einmal Stunden am staubigen Straßenrand verbringen, vermutlich die ganze Nacht.

Manchmal hasste er sein Leben in diesem Land. War es nicht schon schwierig genug, hier eine Farm zu leiten? Musste wirklich immer noch etwas Unvorhersehbares dazukommen, das die Sache verkomplizierte? Heute der Wagen, gestern die kranke Frau des Farmarbeiters, morgen der verzweifelte Anruf der eigenen Mutter mit der Bitte nach Kapstadt zu kommen.

Eriks Mutter, Nadya Boerman, bereitete ihm seit geraumer Zeit Kummer. Sie lebte mit einer liebevollen Nanny allein in Südafrika. Die Krankheit schritt unaufhaltsam voran. Erst war es nur ab und an das Knie, das zitterte, dann knickte sie wiederholt einfach um. Irgendwann ging Nadya zum Arzt und dort die hässliche Diagnose: MS. Das war vor nunmehr drei Jahren. Da waren Nadya und Hannes Boerman schon zehn Jahre getrennt und zehn Jahre lang hatte sich die ehemalige Stewardess an das Leben alleine gewöhnt.

Sie hatte das Landleben in Simbabwe von Anfang an gehasst, war immer häufiger ohne Hannes zu ihren Freunden und der Familie nach Südafrika zurück. Kapstadt, das war ihr Leben. Glamour und Longdrinks. Aber etliche der Freundschaften zerbrachen sobald die Frau begann schleichend zu zerbrechen. Nadya wurde immer stiller und zog sich zurück in ihre wunderschöne Penthouse-Wohnung mit dem gigantischen Blick auf den Tafelberg. Geld war genug vorhanden. Zuneigung und Nähe konnte man sich nicht kaufen. Afrikanische Vergänglichkeit.

Sie hatte Johannes, Eriks Vater, Anfang der 1970er Jahre in Kapstadt kennengelernt. Sie, die bildhübsche Stewardess, zwanzig Jahre alt. Er, der erfolgreiche, kernige Farmersohn aus dem benachbarten Rhodesien. Sie wurden rasch ein Paar, bekamen 1978 den Sohn, Erik. 1980 folgte Henriett. Erik kam nach dem Vater, studierte Agrarökonomie in Südafrika und liebte das Erdige. Sooft er konnte war er auf den Ländereien rund um Kamativi in Simbabwe. Vater und Mutter pendelten zwischen den Welten hin und her. Hannes aber fühlte sich nicht wohl in der feineren Gesellschaft Kapstadts. Nadya hingegen konnte dem Landleben kaum etwas abgewinnen. Sie lebten sich Tag für Tag deutlicher auseinander. Rasant begann Hannes eine Mauer um sein eigenes Leben zu errichten, ließ außer dem Sohn und seinen engsten Vertrauten niemanden wirklich an sich heran; die eigene Ehefrau am wenigsten. Erik wollte das Studium abschließen und dann entscheiden, wie seine Zukunft aussehen sollte. Nadya liebäugelte damit, dass er bei ihr in Kapstadt blieb. Auch die Schwester hätte das gewollt. Sie fand keinen Zugang zum Leben auf einer einsamen Farm. Henriett ging in die USA und studierte dort. Und als die Mutter erkrankte kam sie für drei Wochen angereist, tat, als würde sie alles regeln, sich kümmern und hoffte doch, dass sich alles regeln würde und der in Afrika verbliebene Bruder sich um die Mutter sorgen konnte.

Dann der Schock. Februar 2010. Ein afrikanisch-heißer Sommertag. Elias rief ihn an. Elias war Hannes‘ engster Vertrauter auf der Farm. Seine Familie lebte seit Jahrhunderten rund um Kamativi. Sie arbeiteten in der Zinn-Mine oder auf dem Feld, sie lebten vom und mit dem Land. Elias war noch kein junger Mann als er auf die Farm kam. Hannes und ihn trennten sieben Jahre. Beider Heimat war das Nordmatabeleland und doch waren sie durch etwas getrennt. Elias, der Schwarze, Hannes, der Weiße. Das war für die Außenwelt immer ein Weltenunterschied. Hass und Missgunst, Verachtung und Minderschätzung, das waren Haltungen und Einstellungen, die Rhodesien vergifteten. Als Henriett zur Welt kam, im fernen Kapstadt, übernahm Robert Mugabe in Simbabwe die Führung und versprach der schwarzen Bevölkerung Wohlstand und Land. Elias blieb skeptisch. Zusammen, nur zusammen geht unser Land voran, betonte er. Er hatte von Hannes nie den Unterschied zu spüren bekommen, den andere so ekelhaft bewusst auslebten und offenlegten. Hannes war gütig und menschlich - zu allen seinen Arbeitern. Und das hatte er Erik gelehrt. Zu allen Zeiten den Menschen sehen, keine Rassenunterschiede ausleben.

Elias sprach immer langsam und bedächtig. Bei diesem Anruf hatte Erik jedoch Mühe ihn zu verstehen. Hannes war am frühen Morgen mit dem Flugzeug vom Flugfeld in Kamativi nach Victoria Falls geflogen um Besorgungen zu erledigen.

Gegen drei Uhr nachmittags wollte er zurück sein. Elias war mit dem Wagen von der Farm aus die gut acht Kilometer in die Ortschaft hineingefahren, um den Chef am Flugfeld abzuholen. Der Landeplatz lag verwaist vor ihm, umgeben von Gestrüpp und Grasland. Er hatte den Wagen geparkt und stieg auf die Ladefläche um am Himmel nach Hannes‘ Einpropellermaschine Ausschau zu halten. Nur wenig später tauchte diese auch am Horizont auf und brummte langsam heran.

Kurz vor dem Aufsetzen auf der Graspiste hörte Elias einen spitzen Knall. Hannes‘ Flugzeug scherte sofort scharf nach links aus und krachte bereits brennend auf den Grund.

Elias eilte zu der Stelle, wo das Flugzeug aufgeschlagen war. Dichter Rauch machte seinen ersten Rettungsversuch zunichte. Elias schrie um Hilfe, hilflos und flehend in einen scheinbar einsam von der Hitze gequälten afrikanischen Himmel. In der Maschine bewegte sich nichts. Aufgeschreckte Kinder aus Kamativi, die den Knall gehört hatten, rannten heran. Sie umlagerten das Flugzeug in sicherer Entfernungen und bestaunten mit erschreckter Neugier das brennende Wrack. Elias rannte zurück zur kleinen Baracke am Rande des Flugfeldes zu seinem Wagen. Auf halbem Weg kam ihm ein Mann entgegen, der hier ab und an Wache schob und nach dem Rechten sah. Er hinkte.

Die beiden Männer konnten nur hilflos mit ansehen, wie das Flugzeugwrack ausbrannte, denn mit dem Kanister Wasser, den Elias auf der Ladefläche des Geländewagens hatte, konnte man das Feuer nicht löschen. Erst am nächsten Tag konnten sie Hannes´ bergen. Elias verbarg das Gesicht hinter seinen Händen, um dem grauenvollen Anblick zu entgehen. Es war fast nichts geblieben von diesem Mann.

Er war ein guter Mensch, jammerte Elias‘ Frau Operah unter Tränen. Und als sie seine Überreste zu Grabe trugen, nahm der hinkende Mann, der beim Absturz zur Hilfe kam, Elias zur Seite. Es war ein Schuss, ich bin mir sicher, es muss ein Schuss gewesen sein. Dann wandte er sich von Elias ab und ging davon als wollte er mit Elias nicht gesehen werden. Elias‘ Frau fürchtete, die Ahnen könnten der Farm zürnen und hätten deswegen das Flugzeug abstürzen lassen. Nur warum?

Es wurde nie geklärt, ob das Flugzeug abstürzte, weil ein technischer Defekt die Benzinpumpe explodieren ließ oder ob ein Schuss das Unglück auslöste. Keine Stelle hat je Nachforschungen angestellt.

Hannes war beliebt auf seiner Farm und genau das könnte es gewesen sein, was ihm Feinde einbrachte. Ein Weißer, beliebt und anerkannt unter Schwarzen. In einem Dorf, in dem die größte Zinn-Mine des Landes vor sich hin darbte und viele Menschen ohne Arbeit waren. Zu einer Zeit, als Robert Mugabe alle weißen Farmer vertreiben und enteignen lassen wollte. Elias, Hannes‘ einflussreiche Freunde und Elias Verwandte hatten Hannes dieses Schicksal bislang erspart. Wie von Zauberhand blieb er von den grässlichen Machenschaften der Partei Mugabes bislang verschont.

Elias bat Erik zu kommen und Erik wusste, dass er dies dem toten Vater schuldig war. Nadya konnte er zu diesem Zeitpunkt noch ohne allzu große Angst alleine lassen.

Schon einen Tag später stand er in Victoria Falls am Flughafen und wartete auf Elias. Die beiden lagen sich lange schweigend in den Armen und trauerten gemeinsam um Vater und Freund. Erik blieb erst nur einige Tage, dann mehrere Wochen, Monate und schließlich ganz. Die Farm wurde sein Leben, das Erbe des Vaters. Daran zerbrach nicht nur die gute Bindung zur Mutter langsam, sondern auch die Beziehung. Aber das eigene Leben schien auf der Farm zu einem Sinn zu finden.

Lillian Crystal war eine starke junge Frau, genauso alt wie Eriks Schwester Henriett. Sie liebte wie die Schwester das rasante Leben Kapstadts. Sie konnte sich noch mit Eriks Gedanken anfreunden, eines Tages ein Weingut in der Kapregion zu übernehmen. Aber nach Simbabwe würde sie nicht mitgehen. Das Nachbarland erschien ihr zu verarmt und auch verbrannt. Sie hatte Angst vor einem Leben in einem Staat, dessen Regierung so brutal war zu seinem eigenen Volk. Vor dem Leben in einem Land, in dem die Inflation noch vor kurzem das gesellschaftliche Leben aufgefressen hatte. Afrikanische Voreingenommenheit.

Lillian Crysral setzte Erik ein hartes Ultimatum, forderte die baldige Heirat, wollte ihn so an sich binden. Erik aber spürte etwas Stärkeres in sich, das ihn immer wieder auf die Farm des Vaters zog. Die Magie des Landes rund um Victoria Falls ließ ihn nicht zurückkehren ans Kap der guten Hoffnung. Lillian Crystal gab ihm bald darauf den Laufpass und Erik stürzte sich in die Farmarbeit.

Und es war harte Arbeit auf der Farm. Mais und Erdnüsse, ein wenig Getreide. Die Farm gedieh mehr schlecht als recht im Schatten des einstigen Zinn-Abbaus. Und wie ein Wunder hielt irgendjemand noch immer seine schützende Hand über sie und nun auch über Erik, denn weiterhin ließen die Schergen des Robert Mugabe seine Ländereien unangetastet. Erik liebte das Matabeleland. Es war seine Heimat, auch wenn er nicht seine ganze Jugend hier zugebracht hatte.

Zusammen mit Elias führte er die Farm mit freundlicher Strenge und die Angestellten schienen froh, in einem Land voller Armut und Ungewissheiten Lohn und Brot zu haben. Sie spürten, dass Erik bemüht war, die Gerechtigkeit seines Vaters fortzuleben.

*

Die Einkaufsfahrt nach Victoria Falls war erfolgreich. In den Läden dort gab es alles Wichtige zu kaufen. In Vic Falls drängelten sich die Reisenden aus aller Herren Länder um die so berühmten Wasserfälle zu besichtigen. Ein rauschendes Naturschauspiel und für Erik Zeit seines Lebens ein Symbol der Naturschönheiten in seiner Heimat. In Vic Falls konnte man auch gute Geschäfte machen. Für Erik war Vic Falls mehr und mehr Tor zur großen, weiten Welt geworden. Seit vierzehn Monaten war er nicht mehr bei der Mutter in Kapstadt gewesen, fast die Hälfte der Zeit seit Vaters Tod. Kapstadt war weit weg gerückt.

Ein schon mehrfach geflickter Schlauch im Motorraum war gerissen. Kühlerflüssigkeit war ausgelaufen und der Motor wieder einmal überhitzt. Zwar hatte Erik ein paar Ersatzteile dabei, aber er würde es heute nicht mehr bis Kamativi schaffen und eine Nachtfahrt weit außerhalb Vic Falls war nicht ratsam. Zu oft kam es zu Zusammenstößen mit wilden Tieren oder zu Überfällen.

Erik richtete sich notdürftig am Straßenrand ein. Proviant hatte er in Vic Falls gekauft, verhungern und verdursten musste er demnach nicht. Am nächsten Tag würde er nach Vic Falls zurückkehren und die Karre doch noch einmal ordentlich checken lassen.

III

Der Abend war frisch, aber angenehm. Der namibische Winter hatte hier nahe der Wüste Namib nichts Eisiges. Die Luft bleibt immer angenehm.

Dana und Enya hatten den restlichen Abend über auf der Veranda gesessen und über vergangene Zeiten gesprochen. Enya schwärmte von ihrem Leben hier und wollte die Freundin überzeugen, ihre alten Auswanderungspläne wieder aufleben zu lassen.

Komm hier her und du wirst ein wunderbar entspanntes Leben haben, warb sie für das Farmleben.

Wir könnten vielleicht sogar gemeinsam eine Farm finden und einen kleinen Hotelbetrieb eröffnen, schlug sie der Freundin vor.

Du und Tutu und ich und Mister X, nehme ich an, das ist doch dein Plan. Enya, ich kenne dich!

Na, das wären doch keine so schlechten Aussichten?

Ich weiß nicht, erstens kenne ich Namibia noch gar nicht und zweitens müsste man meinen Mister X auch erst einmal finden.

Den wirst du finden, da bin ich mir ganz sicher, beschwor Enya die Freundin.

Aber dein Tutu will doch nach Dublin und mit dir dort ein Pub eröffnen, konterte Dana etwas skeptischer. Enya wollte das Gespräch in diesem Moment nicht mehr fortsetzen, irgend etwas schien sie zu stören.

Man vereinbarte am nächsten Tag einen Ausflug auf den Waterberg, um Namibia ein wenig besser zu erkunden. Tutu sollte die beiden begleiten. Annegret und Bernhard gaben dem jungen Mann dazu extra frei.

Nach einer Nacht, in der Dana tief und fest schlief, sich entspannt und erholt fühlte, trafen sich die jungen Leute an einem der Tische im großen Farmgebäude. Annegret ließ durch eine weitere Angestellte Rühreier mit Speck servieren. Der Tisch war brechend voll mit selbst gemachten Marmeladen, Wurst und Käse. Es gab Obst und herrlich frischen Saft. Dana fühlte, wie die Reisestimmung in ihr ein leichtes Gefühl der Entspannung hervorrief. Etwas, das sich immer auf Reisen einstellte, sobald sie den Zielort erreicht hatte und das in Afrika mit noch deutlicherer Ausprägung wahrzunehmen war.

Als sie dann vor dem Fenster die beiden zahmen Erdmännchen erspähte, ging ihr das Herz so richtig auf. Am frühen Morgen hatte sie kurz mit ihrer Mutter zu Hause in Dublin telefoniert, ihr die glückliche Ankunft auf Grassroots bestätigt und bejaht, dass es ihr gut gehe und ihr alles ausgesprochen gut gefiele. Sie beobachtete, die beiden kleinen Tierchen, wie sie erst zaghaft in einem Sandhaufen seitlich des Farmgebäudes gruben, dann immer wilder und ausgelassener. Dana hatte nicht gespürt, dass plötzlich jemand hinter ihr stand und sich ein wenig erschrocken als Annergret ihr Andrew und Fergie, die beiden süßen Familienmitglieder vorstellte.

Die beiden kommen jeden Morgen und wollen ihr Futter. Sie fiepen dich dann ein wenig an und ansonsten verbringen sie den ganzen Tag draußen beim Spielen. Du kannst sie sicherlich mal streicheln, denn sie sind wie Katzen zahm. Nur Hannibal, unseren treudoofen Wachhund, den verjagen sie immer wieder gern.

Dana erkannte den schwarzen Hund, der wie von einem Maler liebevoll in ein Landschaftsbild gesetzt, an einer Hausecke lag, den Kopf auf die Pfoten gesenkt dasaß und aus sicherer Entfernung die beiden tierischen Zeitgenossen beim Sandspiel beäugte.

Bald fanden sich Enya und Tutu ein, um Dana abzuholen. Sie stiegen in den Geländewagen und düsten los in Richtung Osten. Nicht lange später tauchte das Waterberg-Plateau vor ihnen auf - ein sich scharf von der sonst so flachen und sanften Landschaft abgrenzendes Gebirgsplateau auf das die drei steigen wollten. Tutu stellte viele Fragen, er wollte so viel vom Leben in Dublin wissen.

Weißt du, Sister, ich will mit Enya in Irland eine Kneipe aufmachen. Das stelle ich mich total spannend vor. Wir sind eine kleine Familie und haben unser eigenes Business.

Dana bemerkte, dass Enya auch dieses Mal nicht reagierte und ihren Freund erzählen ließ.

Tutu beteuerte mehrfach, dass dieses Pub in Irland sein größter Traum geworden sei und den zu verwirklichen er mit Enya sein geliebtes Afrika verlassen würde.

Nach kurzem Überlegen, ob sie ihrer Freundin damit einen Gefallen tun würde, entschied sich Dana, Tutu zu warnen, dass in Europa nicht alles so einfach ist, wie mancher sich das hier vorstellt.

Das Fernsehen, Tutu, zeigt dir nur die halbe Wahrheit von Europa. Irland bedeutet harte Arbeit und nasse Winter ohne viel Sonnenschein.

Ich liebe den Regen, erwiderte Tutu breit strahlend. Dana wusste, dass er einen anderen Regen meinte als den peinigend den Tag verschleiernden Regen, der Dublin im Herbst und Winter quälen konnte. Kalte Tropfen, die wie Nadeln vom Himmel fielen und die Menschen zur Eile anfeuerten...

Bald erreichten die drei das Waterberg-Plateau und Enyas das ist doch mal eine Landschaft, was Dana? beendete die trübsinnigen Gedanken, die die junge Frau für einen Moment gesponnen hatte. Für einen Moment hatte sie sich wirklich überlegt, ob sie nicht doch den Punkt erreicht hatte, der sie ernsthaft in Erwägung ziehen sollte, in Afrika zu bleiben. Spinnerei. Träumerei. Afrikanische Träumerei.

Tutu nahm seine Freundin bei der Hand und führte sie vorsichtig den Pfad entlang. Dabei aber drehte er sich immer wieder nach Dana um, die hinter den beiden spazierte.

Ich muss mich auch um Sister kümmern, bekräftigte er und begründete so, warum er sich immer wieder umwandte und Dana freundlich anlächelte. Dem maßen weder Dana noch Enya Bedeutung bei. Dana fühlte sich wohl und umschmeichelt, denn Tutu war zwar hinsichtlich seiner Vorstellung nach Dublin zu wollen, etwas anstrengend, sonst aber erschien er liebenswürdig und sehr aufmerksam zu sein.

Nach einer guten halben Stunde Fußmarsch erreichten sie den Einstieg in die letzte Bergetappe. Nun folgte der anstrengendste Teil der Wanderung. Das Felsplateau musste erklommen und ein Höhenunterschied von rund zweihundert Metern überwunden werden. Durch Laubwald und dichtes Gehölz ging es in angenehm frischer afrikanischer Winterluft nach oben. Dana und Enya schnatterten über die Vergangenheit und Tutu stapfte hinterher. Seine Laune schien von Minute zu Minute nachzulassen und als nach etwa einer weiteren halben Stunde der Blick frei wurde auf die Weite Ebene unterhalb der Gruppe, bemerkte dies auch Enya.

Was hast du, Darling?

Nichts, alles ist in Ordnung, schnappte Tutu nach Luft.

Du kriegst ja kaum noch Luft. Geht es dir nicht gut? bohrte Enya nach.

Nein, nein. Es geht. Macht euch mal keine Sorgen, Tutu ist ein starker Boy. Er lachte gequält.

Tutu war sauer auf sich selbst. Da liefen die beiden jungen Frauen wie Gazellen anmutig den Berg hinauf und machten keine Sekunde den Anschein als würden sie es als anstrengend empfinden und er selbst machte fast schlapp.

Dana sog die Landschaft um sich herum auf. Sie ließ den Blick in die Ferne schweifen. Bis zum Horizont erstreckte sich die schier unendliche Weite. Grün in allen Schattierungen, durchbrochen von bräunlichen Flächen und struppigem Grasland. Dazwischen, fast rötlich in der Mittagshitze flimmernd, lagen die Straßen, die sternförmig in alle Richtungen führten.

Dana spürte, dass ihr dieses Land guttat. Sie fühlte eine gewisse Leichtigkeit, die sie von ihren früheren Afrikareisen her kannte. Afrikanische Luft.

Enya hatte begonnen, den mitgebrachten Picknick-Korb zu leeren und die Speisen und Getränke für den Lunch auf einer Decke auszubreiten. Tutu ging ihr dabei zur Hand und schielte ab und an in Richtung der in Gedanken verlorenen Dana, die noch immer fast unbeweglich dasaß, sich mit der einen Hand die Haare aus dem Gesicht strich, mit der anderen einen Sichtschutz gegen die blendende Mittagssonne formte. Das ist so ein weites, wundervolles Land, rief sie ihren Begleitern entgegen. Endlos, diese Weite!

Beim Essen entwickelte sich ein interessantes Gespräch über das Wohl und Wehe der afrikanischen Gesellschaft. Enya und Dana ergingen sich in philosophischen Gedanken darüber, wieso dieser landschaftlich weitgehend so paradiesische Kontinent soviel Leid, Armut und Krieg ertragen musste. Sie gaben der kolonialen Struktur der vergangenen Jahrhunderte die Schuld und waren sich einig darin, dass man Afrika aller Möglichkeiten beraubt hätte, sich eigenständig zu entwickeln. Das missfiel Tutu, der eine eigene, völlig andere Sichtweise hatte.

Am Ende kommt ihr noch auf den Trichter, zu behaupten, wir wären in Afrika deshalb so arme Schlucker, minderbemittelt und kriegsgeil, weil wir hier ein so hartes Klima haben, ätzte er in Richtung seiner Freundin.

Enya schüttelte den Kopf, etwas genervt; sie schien nicht gerne mit Tutu über Politisches zu sprechen. Während sich Tutu genüsslich einen Bissen kalten Hühnchens mit etwas Brot in den Mund schob, legte er nach.

Geldgierige Machthaber, blutsaugende Rassisten, das ist nicht mehr das Erbe der Kolonialisten aus London, Paris, Berlin oder Lissabon, das, Enya, das ist unsere Mentalität.An der müssen wir arbeiten. Wir müssen nicht nur von euch lernen, wie man Maschinen baut, Autos konstruiert und Software programmiert. Wir müssen lernen, wie man Menschenrechte wirklich pflegt und lebt. Bei uns ist das doch alles nur auf geduldigem Papier gedruckt und wenn es darum geht, danach zu leben, siegt die Gier der Reichen über die Armen. Klar, eure Konzerne und Rohstoffausbeuter spielen eine wichtige Rolle in diesem Schachspiel; aber die krätzigen Raffkes müssen wir schon bei uns selbst suchen. Nur Schwarz-Weiß-Malerei, Darling, überall. Und du spielst da auch gerade mit, wenn du sagst, dass nur der böse Westen schuld hat am Desaster in Afrika. Das ist nicht fair.

Dana ging ein Licht auf. Sie begriff sofort worauf Tutu hinaus wollte. Während sie weiterhin den Blick auf diese unendlich dramatische Weite vor ihr gerichtet hielt, nickte sie. Du hast Recht, Tutu, ich glaub‘ ich hab es verstanden.

Er lächelte Enyas Freundin sanft an und formte ein thank you mit den Lippen, während er die Hand gestenreich an sein Herz hielt. Dann fuhr er fort.

Afrika wird immer wie ein nicht erwachsenes Kind betrachtet. Ihr Gutmenschen in Europa und Amerika sagen, der Westen wäre Schuld daran, dass wir uns nicht erheben können. Aber das hat doch zur Folge, dass wir Afrikaner nicht als Verantwortliche für unseren eigenen Kontinent gesehen werden. Wir müssen doch aufstehen und unser Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Und wenn es schiefgeht, müssen wir zwei Dinge tun: Wir müssen auf Augenhöhe um Hilfe bitten dürfen. Ich hab es satt, wenn ich das Gefühl bekomme, Afrikaner werden im Westen immer als vom Schicksal gepeinigte Bittsteller wahrgenommen, denen man nur den Sack Hirse hinstellen muss, damit die Schwarzen nicht verhungern. Ich hab es aber genauso satt, wenn unsere Leute auf die Weißen losgehen, weil sie meinen, im südlichen Afrika würde alles besser, wenn wir die Weißen vertreiben und die Ländereien unter uns aufteilen. Hey, Girls, das führt zu nichts. Weder seid ihr Weiße alle Ausbeuter und Unterdrücker... Tutu hielt inne. Dann grinste er und nahm seine Freundin in den Arm...

... sonst hätte ich mich ja in eine Ausbeuterin und Unterdrückerin verliebt.

Sanft fuhr er mit seiner Hand über Enyas Gesicht. Erst jetzt fiel Dana auf, dass Tutu riesige Hände hatte, die er bewusst vorsichtig auf den Wangen seiner Freundin bewegte.

Wir Afrikaner sind aber auch nicht alles arme chancenlose Schlucker. Gebt uns die Chance, erwachsen zu sein. Seid Ratgeber und Berater, aber nicht Vater und Onkel, Lehrer und Zuchtmeister in einem.

Dana spürte, dass sie sich genau in jenem Moment auf diesem Kontinent angekommen fühlte. Sie hatte die Landschaft um sich herum vom ersten Augenblick an gemocht, aber sie war immer ein Fremdkörper in Afrika gewesen. Sie war die Irin, die bald wieder geht. Jetzt, obwohl sich daran nichts geändert hatte, fühlte sie sich eins mit Umwelt und Natur und sie verstand Tutu. Sie lächelte ihm zu, was Enya nicht entgangen war.

IV

Ein Klacken weckte Erik im Morgengrauen. Er fühlte sich nicht besonders gut, als er sich und seine Knochen sortierte. Das Klacken war das Geräusch einer Warzenschweinfamilie, die rund um den Wagen nach Fressbarem suchte. Erik spürte jedes Glied und fröstelte. Die Nacht im Busch... was Touristen als spannendes Erlebnis verbuchten, Erik war es verhasst. Weil er seine Farm so liebte, freute er sich auf die Wärme und Geborgenheit seines Farmgebäudes in Kamativi.

Unrasiert und sich schmutzig fühlend aß Erik ein Stück trockenes Brot und etwas Corned Beef aus einer der Dosen, die er am Tag zuvor in Victoria Falls eingekauft hatte. Dann versuchte er erneut, das Auto fahrbereit zu bekommen. Ohne Ergebnis. Mehr als ein jämmerliches Stottern war dem Motor nicht mehr abzuringen. Ein deutliches Scheiße durchhallte die Weite des Buschlands.

Erik postierte sich auf der Ladefläche seines Defenders und drehte das Funkgerät an. Elias war bereits wach. Der Empfang war sehr schlecht und im Rauschen des Funksignals waren Elias‘ Worte kaum verständlich. Erik hoffte, dass sein engster Vertrauter auf der Farm verstanden hatte, dass Erik mehr oder minder genau in der Mitte zwischen Vic Falls und Kamativi feststeckte, nun dort ausharren würde, bis ihn jemand nach Vic Falls zurückschleppen würde. Und nur wenn bis Mittag kein Auto dazu in der Lage wäre, würde er Elias bitten, ihn zu holen. Ein jawohl Sir bestätigte, dass Elias wohl verstanden hatte, was Erik von ihm wollte.

Es dauerte auch zum Glück nicht lange, bis Erik Hilfe fand. Ein klappriger Lastwagen hielt an. Die Fahrer waren auf dem Weg von der Provinzhauptstadt Bulawayo nach Livingston in Sambia. Eine Reise von zwei Tagen, wenn man mit dem fahrenden Schrotthaufen so schnell er konnte vorwärts eilte und die Wartezeit an der Grenze zwischen Simbabwe und Sambia nicht mehr als einen halben Tag betrug. Die beiden Fahrer waren freundliche Gesellen. Sie hatten zwei Eisenketten dabei und ein Seil, mit dem sie Eriks Defender anbinden konnten. So machten sie sich auf den Weg in Richtung Norden.

Aus dem Radio schallte laute Musik immer wieder unterbrochen von krächzenden Anfeuerungen der Partei Robert Mugabes, ZANU-PF, die sich im Dauerwahlkampf befand. Anweisungen, wie das Land zu sein und zu leben habe, welche glorreichen Siege der Präsident errungen hatte und wie viele Opfer der Kampf gegen das Böse und Imperialistische gebracht habe. Erik überhörte die beängstigenden Untertöne und merkte, dass die beiden Laster-Fahrer aufmerksam das Programm verfolgten und entschied, lieber zu schweigen.

Es dauerte noch vier Stunden ehe die drei vor den Toren Vic Falls ankamen und Erik den Ausgangspunkt seiner Reise wieder erreichte.

Die beiden Lastwagenfahrer schleppten Eriks Defender in eine kleine Werkstatt am Rande der Stadt. Er bedankte sich und wollte die beiden zu einem Bier einladen. Aber sie lehnten ab und wollten weiter.

Ist gut, Freund, gern geschehen, die Grenze ruft!

Ehe er sich richtig bedanken konnte, waren die beiden mit ihrem krachend-schnaufenden Lastwagen stöhnend wieder auf die unebene Piste verschwunden.

Erik kannte den Besitzer der Werkstatt und zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Hab ich es dir nicht gesagt, Erik. Der macht es nicht mehr lang.

Erik konterte: Thomas, ich kann mir keinen neuen leisten, also bring ihn wieder zum Laufen und zwar möglichst noch heute.

Thomas war ein geschäftiger junger Mann, der sein Geschäft beherrschte, dem aber Eile zuwider war.

Erik blieb nichts anderes übrig, als geduldig zu warten. Er setzte sich in den Schatten neben die Baracke und beobachtete wie Thomas unter dem Defender verschwand und anfing zu schrauben.

Nach einer Weile, die Erik vorkam wie eine halbe Ewigkeit, kam Thomas zu ihm. Oh Mann, Erik, das wird dauern. Ich muss aus Bulawayo ein, zwei Ersatzteile kommen lassen. Er grinste breit und Erik ahnte, es würde teuer.

Wie lange genau? hakte er bei Thomas nach. Vier bis fünf Tage. Solange müsste er sich schon gedulden. Erik missfiel dieser Gedanke gehörig. Er konnte sich von Elias abholen lassen. Dieser konnte noch am selben Tag nach Victoria Falls kommen und sie würden am Tag darauf zurück nach Kamativi reisen.

Mach, so schnell du kannst, forderte er Thomas zur Eile auf.

Erik, Erik, ich mach was ich kann, aber du kennst Simbabwe.

Kenne ich und ich weiß, dass es dauert, aber ich hab zu tun.

Ich brauche von dir 330 US-Dollar Vorschuss, Erik!

Widerwillig blätterte Erik dem Mechaniker das viele Geld hin. Es waren annähernd die letzten Bargeldvorräte, die Erik dafür ausgab.

Lass mich telefonieren, bat er Thomas.

Erik informierte Elias auf der Farm, dass er wohl oder übel ein paar Tage lang in Vic Falls bleiben musste. Elias war nicht besonders angetan, auf der Farm standen wichtige Arbeiten an. Ein Weidezaun musste erneuert werden und es stand der Monatserste an, da mussten die Mitarbeiter ausbezahlt werden. Das wollte Elias nur sehr ungern übernehmen. Aber der Chef übertrug ihm die Verantwortung und sprach ihm sein volles Vertrauen aus. Elias war ein so zuverlässiger Mitarbeiter, sodass es Erik keine Probleme bereitete, dem Vertrauten diese Aufgabe zu überlassen.

Aber es zog ihn dennoch zurück nach Kamativi, wo er das Land so sehr liebte. Die gleißenden Sonnenuntergänge... Er liebte die Abende, wo er nach getaner Arbeit auf der Veranda seiner Farm saß und über das Land sah. Nicht allzu weit entfernt hatte er ein Wasserloch errichten lassen, an das ab und zu wilde Tiere kamen. Selbst die von vielen so verhassten Elefanten waren ihm willkommen. Rund um die Felder hatten seine Männer und er Zäune errichtet und mit Elefantendung abgedichtet. Es gab nichts, was Elefanten mehr zu hassen schienen wie den Geruch ihres eigenen Dungs. Sie mieden die Felder und beschränkten sich tatsächlich auf Besuche des künstlichen Wasserlochs. Wäre Kamativi nicht so weit von Vic Falls entfernt gewesen, Erik hätte versucht, Feriengäste anzulocken. So aber blieb seine Farm sein und das Paradies seiner Freunde und Mitarbeiter. Nur selten blieb ihm Zeit, nachzudenken und festzustellen, dass er im Grunde alleine war.

Erik lief ein wenig durch die Stadt. Er wollte sich ein Zimmer bei einem englischen Freund nehmen. Vic Falls war eine der wenigen Städte in Simbabwe, wo Ausländer noch arbeiten konnten. Gerald hatte sein Bed and Breakfast in einer Seitenstraße, abseits der geteerten Hauptroute durch die Stadt.

Gerald war gerade unterwegs und so ließ sich Erik von einem Angestellten ein Zimmer geben. Müde und erschöpft fiel er auf das Laken in seinem etwas abgewohnten Raum. Bald fiel er in einen seichten Schlaf.

*

Wirre Träume verfolgten Erik und plötzlich saß er wach im Bett, das Gefühl nicht loswerdend, dass jemand an seiner Tür gerüttelt hätte. Wollte da wirklich irgendwer in sein Zimmer einbrechen? Oder hatte dieses Gefühl etwas mit dem Traum zu tun? Die beiden Lastwagenfahrer, die ihn nach Vic Falls mitgenommen hatten, wiederholten in diesem Traum unaufhörlich die aggressiven Sätze aus dem Radio, die ihm ein wenig Angst gemacht hatten.

Er ging ins Bad, klatschte sich etwas Wasser ins Gesicht und machte sich auf den Weg auf die Veranda, wo Gerald mittlerweile vor einem Rechner saß und seinen alten Bekannten begrüßte.

Die Zeiten werden härter, auch hier in Vic Falls.

Lassen sie dich noch in Ruhe arbeiten? wollte Eric von seinem gut zehn Jahre älteren Bekannten wissen.

Es wird schwieriger, du kannst niemandem richtig trauen und der Laden gehört offiziell eben meinem Partner. Ich selbst darf ja nicht mehr Eigentümer sein. Wie steht es mit deiner Farm?

Noch lassen sie mich machen; wie lange noch, weiß ich nicht. Seit mein Vater abgestürzt ist, hat sich da draußen nicht allzu viel verändert, aber ab und an merkt man an den Kommentaren von Fremden, dass es eisiger wird.

Stimmt dein Business noch, Erik, oder lohnt es sich nicht mehr?

Es hat sich nie wirklich gelohnt. Es ist eine Frage des Gefühls. Ich mache es, weil ich in Kamativi einen Teil meiner Jugend verbracht habe, weil ich das Ganze meinem Vater schuldig bin und weil ich gerne da draußen in dieser Wildnis lebe.

Geh zurück nach Kapstadt, leb dort deinen zweiten Traum von einem Weingut, das ist weniger unsicher, meinte Gerald fast trotzig.

Nun machte auch Gerald Erik Angst. Es klang fast wie eine ernst gemeinte Bedrohung, wenn er sagte, Kapstadt sei für ihn weniger unsicher. Sollte Erik den Gastwirt auf das Rütteln an der Türe ansprechen? Er ließ es bleiben.

Ich häng hier für eine Weile fest, weil Thomas die Teile nicht ehr bekommt.

Du meinst, weil er sie nicht eher bekommen will und damit den Preis in die Höhe treibt?

Oder so!

Hat er dich schon vorab abkassiert?

Hat er natürlich, 330 Dollar.

Wie immer. Geh davon aus, dass du in drei Wochen wieder los kommst - mit einer Kiste, die genauso kaputt ist wie jetzt; aber vielleicht hat er dir zum Dank für die Kohle noch ein paar Ersatzteile zusätzlich ausgebaut. Gerald hatte ein gequältes Grinsen im Gesicht, als er diesen Satz zuende brachte.

Du traust Thomas nicht mehr?

Ich traue hier keinem mehr, nicht mal meinem Roomgirl, auch wenn ich die zweimal in der Woche bezahle für zusätzliche, private Dienste.

Erik missfiel das dreckige Grinsen in Geralds Gesicht als er dies sagte. Genau dieses Verhalten trug dazu bei, dass zwischen schwarzer Mehrheit und weißem Kapital in diesem Land so eine Kluft spürbar war. Es war der Nährboden für das schadhafte Spiel des Robert Mugabe. Nur würde es viel nützen, wenn Erik seinem Bekannten nun mitteilte, dass es ihm nicht gefiel, wenn vermeintlich reiche Weiße ihre schwarzen Hausmädchen flachlegten?

,Afrikanische Liebe‘.

Erik ging durch die Stadt. Es war mittlerweile später Nachmittag geworden. Er hatte Hunger. In einem kleinen Laden in einer Seitengasse fand er einen Platz, der ihm gefiel. Er orderte Bier und ein gegrilltes Huhn. Zäh wie Schuhsohle war der Hahn und schmeckte nach Leder. Die Fritten waren in einem ekelhaften Öl gebacken und Erik würgte als er den Geruch wahrnahm. Er spülte ein wenig von dem Fleisch mit seinem Bier hinunter, legte zehn Dollar auf den Tisch und verließ den Laden wieder.

Mistkerl, rief ihm der Wirt hinterher. Erik schauderte. Was hatte er getan? Saß friedlich herum, würgte ungenießbares Essen in sich hinein und hatte gut bezahlt. Warum wurde er so angefeindet?

An der Hauptstraße standen ein paar Touristen vor ihren Geländewagen. Die drei Autos waren neuer als sein Defender. Sie blinkten und blitzten, waren nicht an allen Ecken und Enden verbeult. Die Autos hatten Nummernschilder aus Südafrika.

Die Reisenden luden ihre Taschen von der Ladefläche und lachten. Sie genossen den späten Nachmittag im südlichen Afrika. Vermutlich würden sie am nächsten Tag den Höhepunkt ihrer Reise erleben und die Victoria-Fälle besuchen. Vermutlich musste Erik auch dort hin um wieder auf andere Gedanken zu kommen und die Düsternis aus seinem Hirn zu vertreiben. Mistkerl - noch immer klang es in seinem Kopf nach und verursachte ein leichtes Zittern. Was hatte das zu bedeuten? Der Mensch aus dem kleinen Laden hatte ihn doch nicht gekannt? Das Zerren am Schloss - war es doch nicht nur eine geträumte Einbildung gewesen?

Erik wollte zurück in Geralds Pension, es würde bald dunkel werden. Die Gruppe Touristen machte sich auf den Weg in eines der feineren Hotels der Stadt. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Erik beim Fortgehen die Gruppe. Sie liefen auf den Eingang des Hauses zu. Die Leute lachten fröhlich. Aus Namibia, dachte Erik. Wie lange würde er seine Farm wohl noch halten können? Es rentierte sich doch kaum noch und die Angst, dass die Landreform auch ihn treffen könnte, war zum ersten Mal spürbar an diesem Tag in Vic Falls. Er musste Elias noch einmal anrufen. Er musste wissen, ob in Kamativi alles in Ordnung war.

Ehe er in die Seitenstraße einbog, sah er, dass eine junge Frau wohl gar nicht zu der Gruppe gehört hatte. Sie schlenderte alleine die Hauptstraße hinunter in Richtung Reynard Road, eine schwere Tasche auf Rollen hinter sich herziehend.

Thomas stand am Tresen der kleinen Bar in Geralds Pension und zog genüsslich an einer Zigarette. Mein Freund... begann er seinen an Erik gerichteten Satz. Sätze, die in Afrika mit mein Freund begannen endeten oftmals in langwierigen Verhandlungen über Geld und Ehre. Und Erik ahnte nichts Gutes, wenn Thomas bereits am ersten Abend hier auftauchte und ihn sprechen wollte. Sein Angebot klang wahrlich verlockend. Er würde morgen mit einem Bekannten über die Grenze nach Sambia fahren und könnte dort in Livingstone Eriks Ersatzteile aufspüren. Aber dieser Expressversand würde entsprechend mehr kosten. Erik ahnte, worauf das hinauslaufen sollte. Mehr Anzahlung, ohne Garantie, dass er auch wirklich die Teile bekommen und damit sein Defender rechtzeitig fertig werden würde.

Genau das war es, was Thomas wollte. Noch einmal hundert Dollar für den Express-Dienst müsste es Erik wert sein. Und was, wenn du die Teile morgen in Livingstone nicht bekommst? stellte sich Erik dumm und bemerkte dabei wieder dieses gequälte Grinsen in Geralds Gesicht, der hinter der Bar dem Gespräch der beiden lauschte.

Dann gebe ich dir das Geld natürlich zurück, mein Freund.

Erik kannte Afrika, er war hier aufgewachsen, er war selbst Teil dieses Afrikas. Er hatte erlebt, wie sich Simbabwe seit der Unabhängigkeit verwandelt hatte - von der Kornkammer zur Rumpelkammer -, er hatte erlebt, wie die Menschen immer findiger werden mussten, um zu überleben. Und doch hatte er ihnen meist vertraut. Nun sollte er Thomas nochmals hundert Dollar geben, damit dieser in Livingstone nach ein paar Ersatzteilen Ausschau hielt, die er mit dreihundertdreißig Dollar bereits bezahlt hatte. Würde er sie finden, wäre das Auto möglicherweise in ein oder zwei Tagen fertig. Aber würde Thomas die Teile in Sambia nicht bekommen - was nicht ganz unwahrscheinlich war -, wäre er sicherlich um keine Ausrede verlegen, Erik das Geld nicht wieder zu geben. Reisekosten. Auslagen. Grenzpapiere. Bier. Zigaretten. Kleine Bestechungen. Was auch immer ihm einfallen würde, das Geld wäre verloren. Lehnte Erik aber das scheinbar großzügige Angebot ab, nach den Ersatzteilen im Nachbarland zu suchen, würde dies von Thomas als Misstrauen verstanden werden und Erik müsste womöglich noch länger auf die Teile und sein Auto warten müssen.

Er grübelte ein bisschen, Thomas blies graue Schleier in die abendliche Luft auf der Veranda und Gerald schwieg beharrlich. Irgendwo schepperte laute Musik und Erik fühlte sich erstmals seit langem unangenehm unter Druck gesetzt.

Ich komme mit, wenn es dir Recht ist. Dann kann ich auch vor Ort die Teile selbst bezahlen.

Etwas Besseres war Erik in diesem Moment nicht eingefallen. So konnte er aber Thomas prüfen, ob es eine ernst gemeinte Offerte war oder nur der Versuch, den vermutlich reichen Farmer auszunehmen. Thomas sah Erik eindringlich an und begann auch den folgenden Satz mit dem so typischen Mein Freund.

Mein Freund, traust du mir nicht zu, die Teile zu besorgen?

Doch, sehr wohl, aber ich hänge hier fest und kann dir helfen.

Du denkst, ich will nur an dein Geld.

Nun war es an Erik, zu schwindeln. Freilich war es das, was er dachte. Es lag auch auf der Hand, dass Thomas seinen Kunden nicht dabei haben wollte, um womöglich nicht zugeben zu müssen, dass er gar keine Absicht hatte, die Ersatzteile zu suchen.

V

Am Abend trafen sich die drei jungen Leute auf der Veranda. Sie hatten sich zum Sundowner verabredet. Dana war müde von dem vielen Schütteln im Geländewagen. Enya und Tutu hatten sich daran scheinbar längst gewöhnt. Sie würden am nächsten Tag wieder ihrer Arbeit nachgehen. Dana wurde von Annegret gefragt, ob sie sie nach Otjiwarongo begleiten wolle. Dort gab es einige Erledigungen zu tun und der Wocheneinkauf stand an.

Dana nahm dieses Angebot gerne an und freute sich schon auf neue Eindrücke in einer für sie fremden Stadt.

Tutu strahlte als er auf die Veranda kam. Er hatte bereits zwei Gläser Rock Shandy, das namibische Getränk für den Sundowner, in der Hand. Dana bemerkte, dass er auffallend gut duftete und nahm ihm lächelnd das eine Glas aus der Hand.

Wo ist Enya? wollte Tutu von Dana wissen, die diese Frage erstaunte.

Enya wollte eigentlich schon hier sein. Sie telefonierte auf ihrem Zimmer mit ihrer Mutter daheim in Dublin. Nach ein paar Minuten stand sie auch auf der Veranda, etwas zerzaust, aber scheinbar gut gelaunt. Die drei stießen an auf einen schönen Tag am Waterberg und Dana freute sich auf das gemeinsame Dinner mit den beiden und den Farmleuten.

Tutu fragte Enya, ob mit ihrer Mutter alles in Ordnung sei. Seine Freundin wischte die Frage in Danas Augen etwas zu barsch mit einem Was soll schon sein? auf die Seite und die drei nahmen Platz vor einem knisternden Holzofen. Das langsam verbrennende Holz verströmte einen ungemein würzigen Geruch und Dana war mal wieder hin und weg von Afrika.

Ihr waren aber diese kleinen Misstöne zwischen Enya und Tutu aufgefallen und sie grübelte, ob sie ihre Freundin doch darauf ansprechen sollte.

Annegret kam und trug Kudusteaks auf. Gebacken und paniert mit Bratkartoffeln und Gemüse, fett und deftig; aber genau das Richtige nach einem langen Tag auf einer Farm. Tutu aß mit großem Appetit, bemerkte nicht, dass Enya ihn zwei-, dreimal seltsam erzieherisch von der Seite anblickte, als wollte sie ihm sagen: Iss langsamer und schling nicht so. Vielleicht aber hatten diese Blicke auch einen ganz anderen Hintergrund; Dana tat sich schwer, dies einzuordnen.

Annegret brachte später in Cognac eingelegte Birnen und Orangenscheiben zum Desert und sprach mit Dana kurz die Fahrt nach Otjiwarongo durch. Sie wollte bereits um acht aufbrechen, um zu Mittag eine alte Freundin in der Provinzstadt besuchen zu können. Dana war freilich einverstanden. Sie schnappte sich ein letztes Glas Wein und setzte sich allein auf die Stufen der Veranda und lauschte dem nächtlichen Treiben auf dem fernen Farmgelände. Afrikanische Stille.

Es quiekte und zirpte, zischte und knackte. Das Leben ging, schien es, auch in der Nacht unvermindert weiter. Andrew und Fergie, die beiden Erdmännchen waren um diese Zeit nicht mehr zu sehen, sodass Hannibal in Ruhe sein Territorium genießen konnte. Er trottete auf Dana zu und ließ sich in unmittelbarer Nähe zu ihr nieder. Es sah förmlich nach einer Aufforderung aus und so begann die junge Frau den alten Hund liebevoll zu kraulen und merkte gar nicht, dass von hinten jemand zu ihr herantrat. Es war Enya.

Gefällt es dir?

Es ist traumhaft schön. Der Waterberg hat mir sehr gefallen und Grassroots ist ein Paradies.

Ich weiß. Sie hielt inne und ihre Antwort hatte etwas Zögerliches.

Enya, ist etwas mit dir? Mir ist das heute schon den ganzen Tag lang aufgefallen. Du bist mal still, mal auch ein bisschen barsch zu Tutu gewesen.

Nein, Dana, im Grunde ist schon alles in bester Ordnung.

Im Grunde? hakte Dana nach.

Es ist wegen... sie hielt erneut einen Augenblick lang inne.

Wegen?

Ich habe mit meiner Mutter telefoniert. Sie möchte, dass ich zurückkomme. Schon seit Monaten liegt sie mir mit dem Wunsch in den Ohren. Meinem Vater geht es nicht besonders gut. Er ist gerade einmal etwas über sechzig und bekommt große Probleme mit seinem Gedächtnis.

Alzheimer? wollte Dana unverblümt von der Freundin wissen.

Wir wissen es nicht. Er findet sein geparktes Auto nicht mehr, vergisst Namen und legt die Briefe aus dem Briefkasten direkt in den Kühlschrank.

Und nun sollst du zu deinen Eltern nach Hause?

Mama möchte, dass ich wieder in Dublin lebe, ihr ein wenig helfe und meinem Vater nahe bin.

Und was möchtest du?

Ich liebe Afrika. Dieses Leben hier ist mein Leben geworden. Das Leben, das ich mir immer erträumt habe. Im Moment könnte ich mir vorstellen, auf Grassroots zu bleiben. Annegret und Bernhard haben keine Kinder...

Tutu? Welche Rolle spielt Tutu dabei?

Der ist mit ein Problem bei der Sache. Er will unbedingt in Europa leben, du hast es ja mitbekommen.

Ja, er träumt von eurem gemeinsamen Pub in Dublin. Was ist schlecht daran? Du könntest deinen Eltern nahe sein und mit dem Mann zusammen sein, den du liebst.

Wenn ich mir so sicher wäre, ob diese Liebe wirklich Bestand hat und ob sie Europa verkraftet. Tutu war noch niemals dort.

Enya, das wirst du nur erfahren, wenn du einem Leben in Dublin eine Chance gibst. Dana legte den Arm um die Schultern ihrer Freundin.

Dana, denkst du auch, es ist egoistisch, dass ich hierbleiben möchte, obwohl Mama und Tutu wollen, dass ich nach Dublin zurückgehe.

Dana überlegte sich die Antwort einen Moment lang, wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, sah Enya tief in die Augen. War es egoistisch? War es nicht einfach die Verwirklichung eines Lebenstraums? Dabei blieben Bindungen auf der Strecke.

Ich weiß es nicht. Du hast immer von einem Leben wie diesem hier geträumt. Nun, wo du es lebst, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand dich davon abbringen sollte. Aber vielleicht könntest du ja für eine gewisse Zeit zurück nach Europa gehen.

Und Tutu?

Nimm ihn mit, zeig ihm Dublin. Vielleicht erkennt er bald, dass es in Afrika viel freier und angenehmer ist als dort.

Wenn er aber bleiben will?

... habt ihr alle Optionen!

Das Risiko ist mir zu groß. Wenn alleine ich es bin, die zurück will, muss ich gegen den Willen meiner Eltern und gegen Tutu ankämpfen. Das ist zu viel, dann werde ich bleiben und nicht glücklich sein.

Dann flieg nur für ein paar Wochen und mache ihm klar, dass er so schnell kein Visum bekommt. Sei ein wenig für deinen Vater da.

Kann ich das Mama antun, dann wieder zu gehen?

Ich verstehe dich, Enya, du hast Angst, dass du am Ende länger bleiben wirst und dann Tutu hier in Namibia verlierst.

So ist es. Es gibt keinen Königsweg. Alle Alternativen sind gefährlich für meine Beziehung und für mein Glück.

Könnten deine Eltern dich hier besuchen?

Mama muss arbeiten, Dad wird Ende des Jahres in Pension gehen. Ohnehin zwei Jahre zu früh. Sie hoffen, dass er es überhaupt noch so lange schafft zu arbeiten, ohne dass es auffällt. Sein Vorgesetzter hat schon einmal mit ihm über seine ,kleinen‘ Schwierigkeiten gesprochen.

Also bis Ende des Jahres gibt es da keine Möglichkeit, richtig?

Richtig, bekräftigte Enya.

Flieg alleine, Enya. Aber es ist nur ein Rat aus dem Bauch heraus.

Die beiden Freundinnen blieben Arm in Arm noch eine Zeitlang auf den Stufen der Veranda sitzen, starrten gemeinsam in die weite Ebene hinaus, die schwarz-blau mit dem Horizont verschmolz. Darüber funkelte ein blinkendes Firmament. Hannibal hob schwerfällig den Kopf und sah die beiden Frauen mit einem seltsam menschlichen Ausdruck im Blick an. Dann bewegte er sich in Richtung seiner Schlafstelle und fiel wieder zu Boden. Enya wünschte Dana eine gute Nacht und verabschiedete sich. Noch im Gehen bedankte sie sich bei ihr für den freundschaftlichen Rat und meinte, sie würde sich bis morgen entscheiden.

Seltsam aufgewühlt folgte Dana nur ein paar Minuten später ins Haus. Von ihrem Fenster aus konnte sie ebenfalls die Weite des Farmgeländes erblicken. Die Finsternis der Nacht ließ die Ebene noch größer und mächtiger erscheinen. Noch halb wach und doch schon schlaftrunken mischten sich Diskussionen über die unangenehm besserwisserische Haltung mancher im Westen Aufgewachsener über Afrika mit Tutus im Traum nun wie ein Mantra wiederholt geäußertem Wunsch nach einem Pub in Dublin. Dazwischen saß sie selbst, Dana, an einem klapperigen Holztisch auf dem Waterberg. Bei Nacht. Milliarden von Sternen funkelten über ihr. Was sollte sie einem Paar raten, das sich an einer Weggabelung befand, sich aber nicht zu trauen schien, miteinander zu sprechen. Der schwere Traum vermischte sich mit den leisen Tönen zweier sich Liebender aus dem Nebenraum.

Irgendwann klopfte es an ihrer Zimmertüre und Dana schreckte hoch. Die Sonne schien bereits wieder hell in ihr Zimmer und der Verwirrung stiftende Traum war verschwunden und wie ausradiert. Dana war also doch irgendwann eingeschlafen. Dana, wir müssten in ein paar Minuten losfahren, mahnte Annegret zur Eile.

Links und rechts der Straße fegte staubiges Grasland vorüber. Genussvoll biss Dana in ein Sandwich, das Annegret ihr vor der Abfahrt gegeben hatte, denn Zeit für ein ausführliches Frühstück war nicht geblieben.

Die Fahrt von Grassroots nach Otjiwarongo dauerte nicht einmal zwei Stunden. Dana genoss es, durch die offenen Fenster des Geländewagens die wärmende Sonne zu spüren. Annegret hatte sie allerdings gebeten, das Fenster erst zu öffnen, wenn sie die Staubstraße verlassen haben würden und auf die große Teerstraße B1 einbogen.

Ihre Haare flogen durch den Wind und Dana band sie zu einem kleinen Zopf zusammen. Verträumt sah sie aus dem Fenster und genoss Afrika. Afrikanischer Windhall.

Annegret schien sie aus ihrer Abwesenheit herauslocken zu wollen. Erzähl mir von dir, Dana! forderte Annegret sie auf.

Dana legte die Hände auf den Schoß. Wo beginnen? Dreißig Jahre auf dem halben Weg nach Otjiwarongo.

Aufgewachsen bei meinen Eltern in Rathmines, Dublin. Schon als kleines Kind haben Enya und ich zusammen gespielt und unsere Zeit geteilt. Wir gingen in dieselbe Schulen. Erst in die St Louis Primary, dann aufs College. Mein Vater, George, arbeitete für das irische Außenministerium. Er war viel unterwegs und mein Bruder Garbiel und ich waren oft mit Mama alleine. Gabriel ist zwei Jahre älter als ich und arbeitet heute in den USA. Er hat eine Mexikanerin geheiratet und sie haben einen kleinen Sohn. Wir sehen uns kaum noch. Wir schreiben uns e-mails, das war es. Kalifornien ist so verdammt weit weg von Irland und Gabriel ist so verdammt anders geworden seit er dort ist.

Draußen zog eine Warzenschweinbache mit ihren Jungen am Straßengraben entlang. Auf der Suche nach Futter. Annegret steuerte den Wagen vorsichtig in die Straßenmitte und rückte ihre Sonnenbrille auf der Nase zurecht. Ihr seid also ganz schon verstreut. Was macht deine Mutter?

Therese, so heißt Mum, blieb nach Gabriels Geburt zu Hause und hat auch nicht mehr zu arbeiten angefangen. Dads Posten hat uns gut ernährt. Ich konnte studieren und auch Gabriel hat immer alle Unterstützung bekommen. Und 1997, ich erinnre mich so gut, waren wir zum ersten Mal in Afrika. In Tansania. Es war wundervoll. Noch gut erinnere ich mich an den Tag, als Dad uns sagte, wir würden bald nach Afrika reisen. Er sollte irgendein Schriftstück nach Daressalam bringen. Gabriel war siebzehn, ich fünfzehn. Er hatte keine Lust auf einen Familienausflug nach Afrika. Am Ende setzte er sich durch und durfte alleine zu Hause bleiben, weil die Eltern seines besten Freundes versprachen, ein Auge auf ihn zu werfen. Ich musste mit. Und was bin ich heute froh darum. Auf dieser Reise wurde das afrikanische Fieber in mir entfacht. Jedes Jahr an meinem Geburtstag wünschte ich mir etwas Afrikanisches.

Und dann ist Enya hier her gezogen... ergänzte Annegret.

...und hat das Leben begonnen, das ich mir immer gewünscht hatte. Aber ich wollte bei meiner Familie bleiben. Bei den Freunden. Ich hatte diese unendlich schmerzvolle Trennung von ihrem Freund mitbekommen. Enya war am Boden zerstört. Es freut mich zu sehen, dass sie hier glücklich ist.

Annegret wurde still. Sie wartete einen kurzen Moment ab, dann fragte sie doch nach. Ist sie das? Ist deine Freundin hier glücklich?

Es musste also auch für Annegret diese Momente geben, die sie zweifeln ließen, ob Enya wirklich glücklich war. Dana überlegte kurz, ob sie das Gespräch des Vortags erwähnen sollte, entschied sich aber dagegen. Annegret war schließlich Enyas Chefin und Dana wusste nicht, wie gut die beiden miteinander konnten.

In der Ferne tauchten die ersten Häuser auf. Otjiwarongo. Annegret parkte den Wagen in einer Seitenstraße und bezahlte einen jungen Schwarzen mit einer gelben Weste dafür, dass er auf den Wagen aufpassen würde.