Kakerlakenkind - Nadine Morgenbrink - E-Book

Kakerlakenkind E-Book

Nadine Morgenbrink

4,6

Beschreibung

Kagabo kehrt zurück nach Ruanda. Der Genozid liegt über zwanzig Jahre zurück. Heute ist er Arzt und es geht ihm gut. Er wird geliebt und hat einen kleinen Sohn. Die Vergangenheit hat er komplett verdrängt. Aber die Kiste mit den Erinnerung bahnt sich doch ihren Weg an die Oberfläche.

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…how many times can a man turn his head, and pretend he just doesn't see?

(Bob Dylan)

Alle Personenund Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Lediglich grobe historische Rahmenbedingungen und Ortsnamen entsprechen den tatsächlichen Gegebenheiten. Auch etliche Örtlichkeiten sind fiktiv. Zeitliche Abläufe entsprechen nicht historischen Tatsachen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Epilog

Prolog

Kagabo saß einfach nur still da und ließ den Blick schweifen. Julian gurrte im Kindersitz friedlich vor sich hin und erweckte nicht den Anschein, als habe ihn die lange Reise aus der Ruhe gebracht. Zweiundzwanzig… Zweiundzwanzig. Immer wieder kam Kagabo derselbe Gedanke. Zweiundzwanzig Jahre war es her. Fast ein Vierteljahrhundert. Erkannte er etwas wieder? War das Heimat? War es Fremde? Es war grüne Stille, die ihn umgab. Und der Blick an den Horizont… der versprach endlos weite, grüne Stille.

Almuth war ein paar Schritte den Weg hinabgestiegen. Man hörte sie mittlerweile im hohen Gras rascheln. Sie sah zwischen den hohen Gräsern hindurch und winkte den beiden. Doktor Kagabo Rukundo, dachte sich Almuth, das hat doch Zukunft.

Julian drehte sich sachte von einer Seite zur anderen, dann schlief der fünf Monate alte Junge wieder ein. Kagabo fühlte sich müde und aufgekratzt zugleich. Es hatte ihn so unendlich viel Kraft gekostet diese Reise zu unternehmen. Aber Almuth wollte alles wissen, war so liebenswürdig neugierig. Immer wieder hatte sie gesagt: Es sind über zwanzig Jahre vergangen, Schatz! Aber auch zweihundert Jahre konnten vergehen, der Schmerz, die Leere, das Gefühl der Einsamkeit und Angst, sie alle blieben wie eine bleischwere Weste auf seiner Haut, die er zu tragen hatte - ein Leben lang.

Almuth war den kleinen Hügel wieder heraufgestiegen, nahm neben ihrem Mann Platz auf dem Stein am Straßenrand und ließ den Blick ebenfalls in die Ferne schweifen. Dieser Sonnenuntergang ist wahnsinnig schön, bemerkte sie. Blutrot, wie sie versinkt, fügte sie unbedacht an.

Kagabo stand auf. Blutrot, Schatz! Genau das ist es. Für dich ist es Urlaub, für mich wie Folter. Eine Rückschau in eine lang verschlossene Kiste. Deckel zu, Schnalle drum herum. Aber das geht alles nicht so einfach. Wenn man die Schnalle löst und den Deckel hebt, dann liegen all diese beschissenen Kindheitserinnerungen da immer noch drin in der Kiste. Die bleiben. Zweiundzwanzig Jahre, zweihundertzwanzig Jahre, immer, immer, immer. Auch wenn ich mich an nichts Konkretes mehr erinnere. Ich weiß, was war und ich weiß, wer fehlt.

Almuth legte ihrem Mann einen Arm um die Schulter, streichelte ihm vorsichtig sanft über die Wange und meinte mit ruhiger Stimme: Ich weiß doch. Dann sahen sie sich beide schweigend den Sonnenuntergang an und genossen den Anblick des friedlich schlafenden Kleinen, der von all dem keine Ahnung hatte.

I

Im Krankenhaus hatten sie ihn nie schief angesehen. Auch an der Universität in München hatte er nie Rassismus erlebt. Und zuvor in der Schule? Es gab etliche Schwarze an seiner Schule. Die meisten von ihnen kamen aus Togo oder Nigeria. Wenn er als Jugendlicher gefragt wurde, woher er komme, hatte Kagabo immer München gesagt. Eine andere Heimat hatte er nicht - nicht mehr. Seine wahre Herkunft hatte er oft geleugnet. Dieses schwarze Loch der Seele wurde ausradiert. Was nicht zu erinnern sein sollte, galt es zu leugnen. München, Hasenbergl, Blodigstraße. Das war seine Heimat. Gleich um die Ecke ein Park, dahinter seine Schule.

Als Kinder hatten sie im Park Fußball gespielt. Ahmet, Niko, Milorad, Fuchsi, der eigentlich Fabian Fuchs hieß, Phu, ein Junge aus Vietnam und sein bester Freund Tarkan. Im Hasenbergl war die Welt zu Hause. Da fragte man nicht nach der Herkunft. Und wenn, die Antwort München reichte vollkommen aus. Da fragte man, wo man sich treffen konnte um eine Runde auf dem Computer zu spielen. Da war angesagt, wer ein Skateboard mit anschleppte. Egal, ob die Eltern aus Griechenland, der Türkei, Togo oder aus Vietnam kamen. Eines hatten die Kinder meist gemeinsam: Die Alten arbeiteten hart, denn es waren fast alles Migranten, die als Gastarbeiter kamen und viele Stunden für ihr Auskommen schuften mussten. Tarkans Vater war bei einem kleinen Laden angestellt. Er war schon früh morgens außer Haus um in der Großmarkthalle einzukaufen. Nikos Mutter hatte sich vom Vater getrennt. Der war ein schlimmer Kerl, wie Niko immer sagte, obwohl er seinen Erzeuger nur von Erzählungen der Mutter her kannte. Nikos Mutter, Barbara Greilinger, arbeitete bei einem Friseur in der Innenstadt. Auch sie war früh bis spät auf den Beinen. Wenn es wegen Niko Ärger in der Schule gab, sagte sie oft nur: Bub, mach mir keinen Ärger! Wenn es mir zu arg wird, schicke ich dich zu deinem Großvater. Sepp Greilinger war ein alter, knorriger Mann und der hatte irgendwo im Erdinger Hinterland ein riesengroßes Grundstück. Dort musste Niko immer wieder mal ein paar Tage in den Ferien bleiben, wenn Barbara Greilinger mit einem Verehrer wenigstens drei ungestörte Nächte in der kleinen Wohnung verbringen wollte. Das war dann ihre Art des Urlaubs. Sepp Greilinger war schnell gereizt und konnte mit einem Kind in Nikos Alter nicht umgehen. Er wurde wütend, wenn Niko nicht kochen wollte, was der aber überhaupt nicht konnte. Er schrie Niko sofort an, wenn der fernsehen wollte und nannte ihn undankbar. Einmal durfte Niko während der Ferien einen Freund mitnehmen. Und er entschied sich für Kagabo. Der hatte Zeit und war immer gütig. Opa Sepp empfing den Freund mit: Einen Neger hast mitgebracht! Aber an der Art und Weise wie er es sagte, merkte man, es war noch nicht einmal ablehnend gemeint. Kagabo knackte den Alten, denn er konnte kochen und hatte früh schon gelernt mit anzupacken. Es machte ihm Spaß auf dem Hof im Erdinger Hinterland Holz zu hacken und abends kochte er für den Alten, Niko und sich irgendwas Afrikanisches. Wer nun gedacht hatte, Sepp Greilinger würde sich dessen erwehren und auf Bratensülze, Wurstsalat oder Grießnockerlsuppe bestehen, der irrte. Der würzige Fleischspieß auf dem Grill, die Soße und das gekochte Gemüse hatten es dem Alten angetan. Wir haben im Krieg in Nordafrika immer solche Sachen gegessen… Dann begann er lange Geschichten von Feldzügen und dem Irrsinn damals. Kagabo musste schlucken, denn vom Irrsinn hätte er so viel zu erzählen gehabt. Aber er war einfach nur der Schwarze aus der Blodigstraße. Mehr nicht. Alles andere blieb tief in der Kiste verdeckt und die Schnalle gut und fest verschlossen.

Die Zeit verging so schnell und sie war so abwechslungsreich, dass Kagabo kaum Zeit gehabt hatte, nachzudenken. Onkel Yves und Tante Mutesi waren stolz auf den Zögling. Yves selbst war der ganze Stolz des Großvaters gewesen. Ein fleißiger Bursche. Ihn hielt nichts auf dem Land. Raus, das Leben in der Stadt entdecken. Lernen! Freiwillig alles in sich aufsaugen. Das ging in der kleinen Schule am Hügel nicht, denn dort gab es kaum Bücher und die Kreide auf der Tafel kratzte. Man musste in die Stadt. Und auch da war Yves dann der Beste in seiner Klasse. Nach der Schule wollte er studieren. Geh nach Frankreich! sagte sein bester Freund immer. Aber geh nicht nach Belgien, die haben unser Land verraten, plapperte der Freund seinen Vater nach. Yves ging weder nach Frankreich noch nach Belgien. Er ging nach Deutschland. Waren ja auch einmal unsere Kolonialherren! erklärte er seinem Kumpel als er stolz das Visum im Pass kleben hatte. Statt zu studieren und ein wichtiger Chemiker, Biologe oder Botaniker zu werden wie er das immer vorgehabt hatte, musste Yves eine Ausbildung machen. Er musste rasch zu Geld kommen. Er war fleißig - wie er es schon zu Hause gewesen war. Brachte es zum Meister. Keiner installierte Wasserleitungen schneller und ordentlicher als Yves. Keiner gestaltete schönere Bäder als Yves. Er holte seine Verlobte nach. Mutesi lernte auch schnell deutsch und ging ebenfalls arbeiten. In einem Getränkemarkt. Es war eine beachtliche Leistung die ganzen bayerischen Biersorten aussprechen zu lernen, wenn man eigentlich nur selbst gebrautes Bananenbier kannte. Yves und Mutesi blieben ohne Kinder. Gott hat uns in dieses wundervolle Land gehen lassen, aber dafür keine Kinder geschenkt, beklagte Mutesi immer wieder. Dass das Schicksal ihnen eines Tages den Sohn von Yves’ Bruder Jean Baptiste als Pflegekind zutragen würde, daran dachten sie nach der Hochzeit nicht im Leben und haderten gewaltig mit dem Schicksal der Kinderlosigkeit.

*

Kagabo hatte seine beste Hose angezogen und Mutesi hatte auf ein dunkelblaues Sakko bestanden, das sie eine Woche zuvor in der Innenstadt gesehen hatten. Vor der Turnhalle der Schule standen sie alle und warteten auf den Einlass. Fuchsi, wie immer unbequem und gegen den Zeitgeist. Ohne Anzug, ohne schicke Klamotten, in Jeans und weißem T-Shirt. Ist nur ein Zeugnis, sagte er. Die anderen waren alle fein gestylt. Wie man das im Jahr 2001 so hatte. Die Jungs in Anzügen, die samtig glänzten und die Damen in langen oder kurzen Kleidern. Die Mädels hatten sich ordentlich poliert. Samira, auf die hatte Kagabo ein Auge geworfen. Aber die eingebildete Schnepfe hatte ihn schon während der letzten beiden Schuljahre abblitzen lassen. Würde also auch am allerletzten Tag nichts werden mit einem Anbandeln. Trotzdem schielte Kagabo im blauen Samtsakko ab und an zu ihr rüber und bestaunte unverhohlen das rote Kleid mit den ewig langen Beinen.

Yves und Mutesi nahmen in der letzten Reihe Platz. Auch sie hatten sich fein angezogen. Es war schließlich ein freudiger Tag. Lange gab es nichts vergleichbar Erfreuliches mehr. Erst sprach der Direktor. Es war ein älterer, weißhaariger Mann, gütig, freundlich und witzig. Er sprach von Chancen, die es zu nutzen galt, Leistungen, die erbracht worden waren und Hoffnungen, die erfüllt werden mögen. Die Schülerinnen und Schüler hörten mit halbem Ohr zu, waren in Gedanken schon auf der Party, die nach der offiziellen Feierlichkeit stattfinden würde. Irgendwo in der Stadt, weit weg von den Lehrern und Eltern.

Kagabo nahm sein Zeugnis entgegen. Gemocht hatte er seine Klassenlehrerin schon, aber dass sie ihn nun vor allen umarmte und lauthals ins Mikrophon trötete, wie stolz sie doch auf ihren Kagabo aus Afrika sei, das nervte ihn schon gewaltig. Stolz allerdings war er dann auf die Urkunde und den Gutschein, den er bekam - als Jahrgangsbester.

Weißt du, Niko, sagte Kagabo zu seinem Freund, der den Realschulabschluss nur mit Ach und Krach geschafft hatte, ich hab nie wirklich gemerkt, dass das Lernen harte Arbeit für mich ist. Es ist einfach so, ich mache es gern. In Ruanda waren die Kinder so stolz und glücklich, wenn sie in die Schule durften. Das ist mir wohl geblieben. Niko schüttelte ungläubig den Kopf. Die spinnen schon ein bisschen da unten in Afrika, fügte er dann an. Und dann lachten beide, ihre Abschlusszeugnisse in der Hand.

Als Kagabo an diesem Abend nach der Party sehr spät nach Hause kam, war die Hölle los. Er war betrunken. Das erste Mal in seinem jungen Leben war er sturzbesoffen. Fuchsi hatte ihn abgefüllt und er wollte den Mädels imponieren. Es war kurz nach Mitternacht. Um Mitternacht hätte er zu Hause sein müssen. Keine Widerrede! hatte Onkel Yves gesagt und ihn streng angeblickt. Da hatten sie im Halbrund vor Yves und Mutesi gestanden - Fuchsi, Tarkan, Niko und Kagabo - und hatten um Ausgang gebeten. Mitternacht! Und nun zeigte die Uhr an der Wand: Null Uhr Siebzehn. Yves stand in seinem Schlafanzug im Flur, hatte seine Lederlatschen angezogen und den Finger drohend in die Luft gereckt.

Und dann auch noch besoffen! Schämen solltest du dich! Du bist nicht mehr zu retten! Kaum einen Abschluss in der Tasche, säufst du dich zu! Ich bin enttäuscht von dir, Kagabo!

Dann kehrte er schimpfend um und ließ den Jungen stehen. Trotz des Alkohols, der den frisch gebackenen Absolventen umströmte, merkte Kagabo, dass er den Onkel gekränkt und verletzt hatte. Es tut mir leid, stammelte er noch.

Da war Yves aber schon wieder im Türrahmen zum Schlafzimmer und machte auch keinerlei Anstalten, sich noch einmal zu Kagabo umzudrehen. An Mutesi gerichtet sagte Yves: Eine Schande für unsere Familie und Seine Eltern würden sich für ihn schämen.

Diese beiden Sätze trafen Kagabo ins Mark. Er, eine Schande! Er, Anlass dafür, dass seine geliebten Eltern - Maman, Papa! - sich schämen hätten müssen! War es doch ein unausgesprochenes Versprechen gewesen, ihnen nie eine Schande zu sein.

Müde und mit dröhnendem Kopf, Übelkeit in sich aufsteigen spürend, ließ sich der angetrunkene Kagabo auf sein Bett fallen. Bevor er einschlief, flossen schwere, salzige Tränen in sein Kissen. Alte Bilder durchfuhren seine Gedanken. Die verbannte Kiste der Erinnerungen an die frühe Kindheit war geöffnet, einen Spalt breit nur, nur kurz und dennoch klar genug um ihn mit traurigen Bildern zu verfolgen. Maman! Papa! Jean Baptiste, geliebter großer Bruder!

II

Der Chefarzt war ein fröhlicher, älterer Mann, der ein klares Französisch sprach, bei dem auch Almuth einiges verstand.

Ich freue mich sehr, Sie beide bei uns zu haben, sagte er und schüttelte Kagabo zuerst und dann Almuth die Hand. Gerne zeige ich Ihnen unser Haus. Er sprach das so aus, als sei die Krankenstation in der Provinzstadt ein Viersternehotel. Stolz schwang in seiner Stimme mit als er von seinem Hospital sprach. Kagabo sah sich um. Vergleichbar mit der deutschen Klinik, an der er arbeitete war hier wenig. Die Betten standen klapprig in schäbigen Zimmern, Farbe blätterte von der Wand. Penetranter Geruch nach beißendem Desinfektionsmittel in der Luft. In den Operationssaal können wir gerade nicht, dort wird gearbeitet, fügte Chefarzt Doktor Fabien Gasana an. Wir haben hier zwei Brutkästen für Frühchen, keine Selbstverständlichkeit, zeigte er den beiden Gästen die Kinderabteilung. Für den Kinderarzt Kagabo war das besonders interessant.

Almuth war sich nicht sicher, ob sie das eben Gesehene nun abschrecken sollte oder ob sie es als für hiesige Verhältnisse ganz fortschrittlich verbuchen konnte. Sie kannte die früheren Zustände nicht.

Ihr Mann stand mittlerweile mit Doktor Gasana vor der Türe eines der kleinen Gebäude. Darin lagen zwei ältere Damen, die sich aufgeregt unterhielten. Sie schienen nicht so krank zu sein, dass sie nicht lauthals lachend miteinander reden hätten können.

Doktor Gasana sprach nun auf Kinyarwanda mit Kagabo. Almuth gesellte sich dazu, blieb aber einige Schritte abseits und ließ ihren Blick über den weitläufigen Garten schweifen.

Sie merkte, dass Doktor Gasana langsam sprach und Dinge wiederholte. Dem Gesichtsausdruck ihres nachdenklichen Mannes zufolge schämte er sich, dass er die Sprache seines Vaters nicht mehr richtig verstand. Almuth trat wieder nahe zu den beiden heran und der freundliche Chefarzt wechselte ins Französische. Nachdem Almuth bei zwei Fachbegriffen auf Deutsch nachfragte, wechselte Doktor Gasana noch einmal die Sprache und bat um Verzeihung, dass er nicht gleich Englisch mit den beiden deutschen Gästen gesprochen hatte. So setzten sie ihre Unterhaltung auf Englisch fort. Zu Hause in München sprachen Yves und Mutesi in der Zwischenzeit fast immer Deutsch und so hatte Kagabo genügend Zeit gehabt, Kinyarwanda fast zu verlernen.

Die Krankenstation bestand aus mehreren Gebäuden. Es wirkte alles neu und dennoch sehr einfach. In der Nase hatte Kagabo immer noch den Geruch des Desinfektionsmittels, wenngleich sich dieser hier im Garten des Hospitals mit dem süßlichen Duft betörender Blüten mischte.

Doktor Gasana war sehr erfreut, dass ein deutscher Kollege das Hospital besichtigte. Der junge Kinderarzt wäre genau das Richtige für seine Krankenstation. Aber er würde ihn nicht zum Bleiben überreden können. Das Geld reichte hinten und vorne nicht, um ihn zu bezahlen. Kagabo hatte Familie, eine deutsche Frau und ein süßes kleines Kind. Julian hatte Doktor Gasana zweimal lieb angestrahlt und somit den zweifachen Großvater sofort von sich überzeugt.

Die Distriktregierung würde nicht mehr für den Arzt aufwenden als für jeden anderen Arzt auch. Aber er musste es versuchen. Er lud Kagabo und Almuth zum Essen zu sich nach Hause ein.

Wann werden Sie wieder nach Deutschland reisen? wollte er wissen und vermied damit zu sagen, nach Hause reisen, denn wo war für Kagabo letztendlich das Zuhause? Kommen Sie zwei Abende zuvor zu meiner Frau und mir zum Abendessen in unser Haus. Wir würden uns riesig freuen. Kagabo wollte die Einladung erst nicht annehmen. Almuth aber willigte ein und freute sich.

Vor dem Krankenhaus fragte sie Kagabo, warum er so gezögert hatte. Er legte den Kopf ein wenig auf die Seite, fuhr sich durch die krausen Haare und überlegte. Schatz, für mich ist das alles so fremd und vertraut zugleich. Ich fühlte mich überfordert. Wir wollten uns ein Krankenhaus ansehen, aber dass der Arzt uns gleich einlädt, das war mir etwas zuviel.

Wieso zuviel? Er hat uns nur zum Essen eingeladen!

Ich weiß doch, aber ich brauche scheinbar noch Zeit, mich wieder auf dieses Leben hier einzulassen. Es kommen so schrecklich viele Erinnerungen in mir hoch. Wir wollen das Land bereisen, wir wollen die Gorillas sehen. Daher war ich mir nicht sicher, ob ich mich auch noch von dem Chefarzt einladen lassen wollte.

Almuth schüttelte den Kopf: Ich verstehe deine Sorgen, aber das kriegen wir hin! Ich verspreche dir, wenn du dich zu sehr unter Druck gesetzt fühlst, sagen wir Doktor Gasana einfach wieder ab!

Nein, jetzt gehen wir hin! konterte Kagabo und versuchte dabei nicht trotzig zu wirken.

Almuth hatte den eisigen Blick in Kagabos Augen bemerkt. Irgendetwas musste ihn an der Einladung gestört haben, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was es war.

Sie trugen Julian abwechselnd auf dem Arm, denn der kleine Kinderwagen ließ sich auf den Straßen Gisenyis schlecht schieben.

Mittags aßen sie in einem schönen Lokal am Strand des Kivus-Sees, der verträumt unterhalb der Restaurant-Anlage lag. Alles wirkte friedlich und leicht. Auf einer aus Stein errichteten Sitzbank lagen bunte Stoffkissen, darunter stand ein kleiner Tisch aus Holz. Idyllisch - so konnte man die Atmosphäre am See beschreiben. Ein Boot in der Nähe, davor Menschen, die Waren feilboten. Rot glänzten Tomaten, die man selbst aus der Ferne noch erkennen konnte. Almuth sog die Szenerie in sich auf, ihr gefiel es, dem Treiben zuzusehen. Afrika! So hatte sie sich das Leben hier vorgestellt. Die tiefen grauen Furchen, das blutrote Trauma, dies blendete sie aus, denn sie konnte all das nicht wirklich erfühlen. Almuth war Touristin.

Aber sie hatte es gespürt, wie sich Kagabo verändert hatte die letzten Tage vor der Reise. Beim Check-in am Flughafen gab es Probleme mit dem Gepäck. Keine große Sache… Aber der sonst so besonnene Doktor aus München wurde zu einem ungeduldigen, aggressiven Mann, der den türkischen Angestellten anfuhr - wegen einer Kleinigkeit. Es ging um den Kinderwagen und die Frage, wie man beim Umsteigen in Istanbul wieder an das gute Stück kam. Nichts Weltbewegendes, aber für Kagabo Auslöser eines Anfalls von plötzlicher Aggression. Almuth hatte den sonst so sanften Mann in die Arme genommen, ihn zart am Oberarm gekniffen und gesagt: Liebling, wenn jemand nicht versteht, warum für dich dies eine schwierige Reise ist, dann dieser arme Mann am Schalter. Kagabo hatte tief Luft geholt, schob den Rucksack mit dem Babysachen auf die Seite und sich bei dem Angestellten entschuldigt. Dieser nickte etwas betrübt und meinte lapidar: Schon in Ordnung.

Nach der Landung in Kigali mitten in der Nacht war es so als würde Kagabo heiße und kalte Wechselbäder nehmen, die sich ebenso rasch auf sein Gemüt legten. Mal war er gelöst, locker und deutete aufgeregt auf Gebäude, Läden, Menschen und Tiere. Dann wieder saß er zusammengesackt in dem gemieteten Wagen und schwieg ewige Augenblicke trübsinnig vor sich hin, dass Almuth Angst und Bange wurde. Mit ihrem Fahrer sprach er nur wenig und wenn auf Englisch, vermied seine Muttersprache Kinyarwanda so gut es ging.

*

Ein freundlicher Kellner brachte das Essen. Es gab gegrilltes Hühnchen mit Reis, Kartoffeln und verschiedenen Gemüsesorten. Es roch betörend gut. Dazu orderte Kagabo eine scharfe Soße. Die, Schatz, gibt es nur hier bei uns… Sofort merkte er selbst, was er eben gesagt hatte: bei uns! Da war also doch noch ein Gefühl der Heimat in ihm, eine innere Verbundenheit trotz der ewigen Zeit seiner Abwesenheit.

Nach ein paar Augenblicken kehrte der Kellner zurück mit einem Fläschchen, das aussah wie Augentropfen. Darin befand sich ein teuflisch scharfes Öl aus Piri-Piri-Schoten. Zwei Tropfen reichten Almuth über dem Reis und sie hatte das Gefühl die örtliche Brauerei in Gisenyi leer trinken zu müssen oder sich im Kivu-See vom Brennen in ihrem Mund zu befreien. Sie beließ es mit einem Das ist ja höllisch und gönnte Kagabo den Triumph. Auch zu Hause in München aß er gern feurig-scharf, was Almuth manchmal zur Verzweiflung brachte, wenn er kochte.

Hast du dieses Zeug schon als Kind gegessen? wollte sie von Kagabo wissen. Ich vermute schon, sonst würde ich mich weder an den Namen Akabanga erinnern, noch hätte ich den Geschmack auf der Zunge gehabt, als ich nur daran gedacht hatte.

Almuth freute sich für ihren Mann, dass er langsam Dinge von früher wiederfand, die nichts mit dem Schrecken der Vergangenheit zu tun hatten. Etwas, das er aus der Truhe fischen konnte, ohne dass es zu Trauer, Angst und Bitterkeit führte. Dieses scharfe Piri-Piri-Zeug war vielleicht ein Anfang dafür, Ruanda heute aus einer völlig anderen Sicht zu sehen.

Almuth hatte bereits zu Hause in München versucht, Kagabo davon zu überzeugen, dass er sich in Ruanda auf die Suche nach Verwandten machen sollte. Aber er war sich mit Onkel Yves einig, dass dies nur zu unnötigem Leid führen würde. Keiner mehr am Leben. Das war die hoffnungslose und knappe Aussage von Yves gewesen. Schon als Kagabo noch ein Kind war hatte es das geheißen. Alle umgekommen! Aber Almuth und insgeheim auch Mutesi wünschten sich, dass Kagabo den Mut fasste, nach der Vergangenheit zu suchen. Nach Wurzeln zu graben. Aber dazu brauchte er den Mut, die Kraft und die Energie, die Sinnlosigkeit des Sterbens und Mordens von einst zu verkraften, ohne selbst seelischen Schaden zu nehmen. Und Kagabo wusste heute genau, dass er nicht frei war von Seelenqualen. Seit seiner Kindheit war er belastet. Nur weil Yves und Mutesi ihm eine fröhliche und beschwerte Kindheit in Deutschland ermöglichten, hatte er die Chance gehabt, erst zarte Pflänzchen des Vergessens über den Wahnsinn zu legen und dann alles zu begraben. Aber Mutter und Vater und der große Bruder, sie fehlten. Tag für Tag. Sie hatten gefehlt, als er schlechte Noten in der Schule hatte. Sie hatten gefehlt, als er ihnen voller Stolz das Abschlusszeugnis hatte zeigen wollen. Maman und der Bruder waren nicht da, als er zum ersten Mal die Freundin vorstellen wollte. Papa war nicht zu erreichen, als er stolz ein Auto startete um damit alleine zu fahren. Wo waren sie alle, als er zum ersten mal einen weißen Kittel tragen durfte und auf dem Namensschild das Wort Stationsarzt prangte?

Kagabo hatte das Vergessen und Verdrängen gemeistert, irgendwie. Er hatte während des Studiums seiner eigenen Seelenarbeit einen wissenschaftlichen Rahmen gegeben. Kinderpsychologie, Jugendpsychologie. Er wusste um die Tricks des Gehirns, um die Möglichkeiten, Dinge zu verdrängen und er war ein wahrer Meister der Verdrängung geworden. Er war Doktor Kagabo Rukundo, ein in Deutschland aufgewachsener Kinderarzt aus München - mit ruandischen Wurzeln. Aber sie waren abgetrennt. Durchschnitten. Zerfetzt, zertrümmert. Abgestorben und verkümmert. Dass Almuth das nicht akzeptieren konnte, hatte ihn zu Hause mächtig geärgert. Was geht dich meine Vergangenheit an? hatte er sie einmal fast angebrüllt, als sie über diese Reise gesprochen hatten. Almuth liebte ihren Mann über alles und hatte während all der Jahre des Zusammenseins immer wieder gespürt, dass Kagabo trotz der fest verschlossenen Kiste mit den Erinnerungen an die Vergangenheit immer wieder um diese Kiste neugierig herumschlich und sie beäugte. Das hatte sie ihm gesagt. Schatz, die Vergangenheit ruhen lassen ist das eine, das Vergessen und Verdrängen das andere. Aber sich immer wieder daran zu erinnern, dass man etwas verdrängt und vergessen will, das belastet dich. Da war der Streit auch schon vorüber und Kagabo verbarg das Gesicht hinter den Händen um nicht zugeben zu müssen, wie nahe er den Tränen war.

Almuth hatte die Initiative ergriffen. Als in der Klinik in München ein Arzt aus Uganda zu einem Austausch eintraf und man Kagabo bat, den Kollegen aus Afrika zu unterstützen, lud sie den Gast zu sich zum Essen ein. Da hatte man den Entschluss, nach Ruanda zu reisen, bereits gefasst. Almuth erzählte dem Kinderarzt aus Uganda von Kagabos Plänen. Dieser legte die Stirn in Falten und meinte: Sie reisen zurück, das erste Mal nach fast einem Vierteljahrhundert. Kagabo, Sie werden dort zwei Möglichkeiten haben. Entweder Sie fühlen nichts als Leere in Ihrem Herzen, weil das Land nicht mehr Ihres ist. Und wo Ihre hübsche Gattin die Naturschönheit sieht, werden Sie Hass und Elend erkennen. Oder aber - und das wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen, mein lieber Kagabo - Sie werden vom Feuer der Heimat so sehr entflammt, dass Sie für Ihre alte Heimat eine Energie entwickeln, die Sie zum Bleiben bewegt. Das stellt Sie beide dann auf eine ganz andere Probe.

Das beunruhigte Almuth zu diesem Zeitpunkt ein wenig. Wir müssen ja nicht gleich für immer bleiben, denn es wäre schon meine Absicht, Julian in München groß zu ziehen. Aber Kagabo soll ein Gefühl für seine Heimat bekommen und Beziehungen aufbauen können.

Ich stamme nicht aus Ruanda, aber auch wir in Uganda wissen, wie schwer das ist für Menschen, die das mitgemacht haben, was 1994 über Ihr Land kam, Kagabo, fügte der Kollege an und wischte sich mit der Serviette über den Mund und dankte Almuth für die Einladung. Er fuhr dem zu diesem Zeitpunkt nur ein paar Wochen alten Julian fürsorglich über den Kopf, stand auf und wandte sich zum Gehen. Dann blieb er stehen und meinte: Wenn Sie wollen, Kagabo, dann kann ich Ihnen den Kontakt zu Doktor Gasana herstellen. Er ist ein freundlicher älterer Herr. Zur Zeit des Genozids war er in Frankreich. Er leitet heute das Hospital in Gisenyi. Er ist wie wir Kinderarzt. Wir hatten uns auf einer gemeinsamen Tagung in Mombasa kennengelernt. Danach hat er mich in Uganda besucht und ich ihn in Gisenyi. Er ist Spezialist für Hauterkrankungen und ich kenne mich ganz gut mit Bakterien aus, die den Darmtrakt befallen. Da haben wir uns immer wieder gegenseitig beraten. Er würde sich mit Sicherheit riesig freuen, wenn Sie ihn besuchen kämen.

Kagabo hatte geschwiegen. Er hatte das Gefühl, ein solcher Termin könnte ihn unter Druck setzen. Aber Almuth war Feuer und Flamme. Sie hatte ja bereits den Kollegen aus Uganda nach Hause eingeladen. Sie war es nun auch, die Kagabo zu dem Treffen in Gisenyi überreden wollte. Sie selbst war neugierig auf eine Klinik in Ruanda und sie sah eine Chance, Kagabo mit Leuten aus seiner Heimat in Kontakt zu bringen, die fernab des Krieges Einblicke vermitteln konnten. Und wenn dieser Doktor Gasana 1994 im Ausland war, war er frei von all dem, was Kagabo so ängstigte. Zwei Tage später hatte Kagabo eingewilligt und war bereit, eine Mail nach Gisenyi zu schicken.

*

Nach dem Essen schlenderten sie zusammen mit ihrem Fahrer noch ein wenig durch die Stadt. Almuth versuchte ein Gefühl für das Leben der Menschen in Ruanda zu bekommen. Was war vergleichbar mit dem Leben zu Hause, was war fremd? Sie sah keine Hütten aus Reisig und Wellblech so wie sie es vermutet hatte. Die Häuser waren zwar einfach gebaut - aus Ziegel und Holz, aber die Dächer trugen Schindeln und überall gab es Strom. Sie schüttelte sich und schämte sich, dass sie davon ausgegangen war, dass ein Land wie Ruanda, das zumal von diesem schrecklichen Genozid gepeinigt worden war, alles am Boden liegen musste. Aber bereits am Flughafen in Kigali war sie das erste Mal überrascht worden. Das Gebäude war modern und überhaupt nicht so, wie man es sich bei einem Entwicklungsland vorstellte. Und dann kam die nächste Überraschung. Keine Plastiktüten im ganzen Land! Ruanda und Tansania als Vorreiter in Sachen Umweltschutz. Das hatte Almuth tief beeindruckt. Seit der ersten Minute am Flughafen suchte sie nun nach den Müllbergen. In Afrika - war das nicht so? - lag der Dreck doch überall am Straßenrand, wurde der Müll einfach vor dem Haus abgelegt. Nichts von alledem. Sauber und ordentlich war es. Sicherlich hingen Kabel herum und wirkten die meisten Wohnhäuser ärmlich und in Almuths europäischen Augen provisorisch, aber die Menschen schienen größten Wert darauf zu legen, im Rahmen ihrer Mittel alles ordentlich und schön herzurichten. Das imponierte ihr und sie schämte sich schon wieder für die abfälligen Gedanken über das bitterarme rückständige Afrika.

Abends saßen sie beide auf der Terrasse ihres Hotelzimmers mit Blick auf den Kivu-See. In der Ferne funkelten einzelne rote Punkte. Es waren Feuerstellen, an denen die Menschen kochten. Der See lag friedlich unter ihnen und wirkte wie das Meer. Gut viermal so groß wie Ibiza, hatte Almuth gedacht, als sie sich in einem Reiseführer über den See informierte. Julian lag schlafend in einer Babyschale und gurrte vor sich hin. Die Stille und die Weite des Landes ließen Almuth eine innere Ruhe spüren, wie sie sie von Deutschland her nicht kannte. Keine Eile. Keine Hektik. Gelassenheit machte sich breit. Es war eine Art Urlaubsstimmung, die sie empfand. Die putzigen Feuerstellen in der Ferne, das leise Zirpen von Insekten, irgendwo surrte ein Dieselgenerator und irgendwo anders erklang afrikanische Musik aus einem Lautsprecher.

Für Kagabo war es ein ganz anderes Gefühl. Der Kivu-See war für ihn kein Ort fröhlicher Lagerfeuerromantik. Schockstarre. Innere Panik. Enge in der Brust. Atemnot. Feuer. Und dann dieses ekelerregende Geräusche der Macheten. Danach ein gellender Schrei… Erneut Stille. Warum hab ich das zugelassen? dachte er bei sich. Ich war soweit, es nicht mehr fühlen zu müssen, jetzt kommt es wieder! ging er selbst mit sich ins Gericht.

Almuth musste Kagabos ängstliche Gedanken gespürt haben, legte ihm sanft eine Hand um die Schultern, die andere auf den Oberschenkel. Wir stehen es durch! sagte sie zu ihm und gab ihm einen Kuss. Dann gingen sie beide ins Zimmer und genossen den Anblick, den der ruhig schlafende Sohn bot. Unbelastet von all dem, was der Vater als Kind durchmachte, lag Julian dort und schlief tief und fest, die Augen zusammengepresst, die Hände und Beine in die Höhe gereckt. Wegen der Wärme ohne Decke. Er darf so etwas nie in seinem Leben erleben müssen! forderte Kagabo ein. Almuth nickte. Was in unserer Macht steht, werden wir tun! versprach sie ihm, wenngleich es sich für sie so seltsam anhörte. Almuth war Jahrgang 1987, ein Jahr jünger als Kagabo. Kurz vor der deutschen Wiedervereinigung in München auf die Welt zu kommen hieß in einem Nachkriegshaushalt aufzuwachsen, in dem bereits die beiden Eltern nur mehr Wirtschaftswunder und Wohlstand erlebt hatten. Umweltbewusstsein und Friedensbewegung, das waren ihre politischen Themen. Sie kannte weder wahre Angst noch echten Hunger. Ihre Gefühlsregungen schwankten in der Kindheit zwischen Neid, Eifersucht und Freude. Kindliche Leichtigkeit war ihr Begleiter bis in die späte Jugend. Während Kagabo mit acht Jahren die innere Freiheit für immer verlor, mehr oder weniger über Nacht erwachsen werden musste, durfte Almuth sich in einer Münchner Reihenhaussiedlung frei entfalten.

III

A