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Ein Leibwächter stirbt, eine Bundesrätin überlebt. Auf den ersten Blick sieht alles nach einem missglückten Anschlag aus, doch Bundeskriminalpolizist Alex Vanzetti hat Zweifel. Als ein weiterer Mord geschieht, steigt die Nervosität in Bern. Während Vanzetti und seine Sonderkommission im Dunkeln tappen, bekommt die junge Journalistin Zoe Zwygart mysteriöse Botschaften. Sie weisen auf einen Serientäter hin. Auf der Jagd nach Exklusivgeschichten sucht sie den Absender, nicht ahnend, dass er jeden ihrer Schritte verfolgt...
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Seitenzahl: 413
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ROLF VON SIEBENTHAL
Friedrich Reinhardt Verlag
Alle Rechte Vorbehalten© 2016 Friedrich Reinhardt Verlag, BaselProjektleitung: Denise ErbLayout: Sandra GuggisbergCovergestaltung: Bernadette Leus,www.leusgrafikbox.chTitelbild: Collage unter Verwendungeines Bildes von Fotolia/borisb17eISBN 978-3-7245-2173-6
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2155-6
www.reinhardt.ch
Für Tobias
Mit drei Metern Abstand hinter Bundesrätin Kölliker schritt Emil Luginbühl am Montagmorgen durch die Herrengasse auf das Berner Münster zu. Er beobachtete Fussgänger, Paare beim Einkaufen, Handwerker beim Imbiss. Sein Blick glitt über die Sprossenfenster der historischen Gebäude. Immer wieder kontrollierte er die Lauben auf der linken Seite der Gasse, hinter jedem Pfeiler konnte ein Irrer lauern.
Sechs Kilometer Lauben gab es in der Altstadt, ein sechs Kilometer langer Albtraum für ihn und seine Kollegen vom Bundessicherheitsdienst. Doch Luginbühl hatte Erfahrung. Seit elf Jahren bewachte er Magistraten aus dem In- und Ausland bei privaten oder beruflichen Anlässen.
Bundesrätin Kölliker machte einen Schwenk um einen Brunnen und blieb dann vor der Buchhandlung Weyermann stehen. Sie kramte in einer Bücherkiste.
Automatisch checkte Luginbühl die Umgebung ab – wie so oft zuvor. Zahlreiche Bundesräte hatte er betreut in all den Jahren: Leuenberger, Cortesi und Calmy-Rey zum Beispiel oder Mangold. Manche von ihnen waren schwierig gewesen, andere weniger. Ursula Kölliker gehörte zu den einfachen Kundinnen, deswegen mochte er sie. Die Vorsteherin des Finanzdepartementes zickte nicht herum wie andere.
Herzverstand. Sie drehte das Buch um und las die Beschreibung auf der Rückseite. Im Schaufenster der Buchhandlung lagen ähnliche Titel: Spiritueller Optimismus, Heilsteine. Ob die auch Krimis verkauften? Mit dem Nesbö auf seinem Nachttisch würde Luginbühl bald durch sein. Nach einem Kapitel gestern Abend waren die Buchstaben vor seinen Augen verschwommen. Er musste sich eine stärkere Lesebrille besorgen.
Kölliker legte das Buch in die Kiste und ging weiter.
Eine korpulente Frau um die 40 kam ihnen entgegen: Kopftuch, schwarze Brille, Pflaster auf dem spitzen Kinn. Neben ihr lief ein alter Mann mit dunklem Bart, er trug einen Wollmantel. Bei 25 Grad im Oktober? Das Paar hielt vollgepackte Migros-Taschen in den Händen. Der Alte musterte die Bundesrätin von Kopf bis Fuss, nickte dann aber freundlich beim Näherkommen.
Die Bundesrätin grüsste höflich zurück.
Luginbühl war froh, dass sie die Sicherheitsmassnahmen akzeptierte. Sie meldete Auftritte frühzeitig an und machte keine Extratouren. Da gab es ganz andere Kunden. Herrgott! Cortesi hatte ihn öfter zum Kaffeeholen geschickt. Oder die junge Mangold. Die bestand darauf, alleine Zug oder Bus zu fahren. Volks nähe wollte sie damit demonstrieren. Luginbühl und seinen Kollegen bereitete die Frau schlaflose Nächte. Würde etwas passieren, bliebe es an ihnen hängen.
Schnelle Schritte näherten sich von hinten, harte Absätze trafen auf das Kopfsteinpflaster. Mit einem Ruck drehte sich Luginbühl um. Eine junge Frau mit Kinderwagen kam auf ihn zu, überholte, schaute weder nach links noch nach rechts. Luginbühl reckte den Kopf. Im Wagen schlief ein Baby.
Das wäre auch ein alter Trick gewesen. Dennoch liess sich nicht alles vorhersehen. Wie die Grossmutter vor drei Wochen. In Lausanne hatte sie sich dem Bundespräsidenten verzweifelt an den Hals geworfen, weil ein Gauner sie mit dem Enkeltrick um ihre Ersparnisse gebracht hatte. Wenn die ein Messer gehabt hätte ...
«Emil, wo seid ihr?» Lukas aus der Einsatzzentrale meldete sich in seinem Ohrhörer.
«Herrengasse, gleich beim Münster», sagte Luginbühl in das kleine Mikrofon am Jackettkragen.
«Verstanden.»
Zwei Schritte vor Luginbühl bog die Bundesrätin auf den Münsterplatz ein. Vor ihnen ragte der 100 Meter hohe Turm auf. Als sie am Portal vorbeigingen, bewunderte Luginbühl kurz die Figuren über dem Eingang. Das Jüngste Gericht.
Genau so hatte Abteilungsleiter Meyer die letzte Besprechung inszeniert. Loswerden wollte der ihn. Nächstes Jahr könntest du in Pension gehen und deine Hobbys pflegen.
Der konnte ihn kreuzweise. Mit 59 fühlte sich Luginbühl gesund wie ein Ochse, in den letzten 20 Jahren war er keinen Tag krank gewesen. Doch Meyer hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Falls der ihn wirklich abschoss, würde Luginbühl wenigstens finanziell nicht darben. Er hatte vorgesorgt.
Mit zügigen Schritten marschierte Kölliker über das Kopfsteinpflaster, er folgte ihr auf dem Fuss. Drei Schüler kickten sich einen Tennisball zu, er hoppelte über den weitläufigen Platz. Ihre Kollegen hatten sich zum Znüni vor dem vergitterten Portal niedergelassen.
Die Bundesrätin bog um die Ecke, sie kamen in die Münstergasse. 20 Meter vor ihnen, an der Aussenmauer des Münsters, lehnte ein junger Kerl. Kurze schwarze Haare unter einer Baseballmütze, verspiegelte Sonnenbrille, Lederjacke. In der linken Hand hielt er eine Zigarette, die rechte steckte in der Jackentasche. Der Bursche stiess sich von der Mauer ab, kam auf die Bundesrätin zu. Er lächelte breit. Zu breit.
Zwei Meter vor Luginbühl schritt Kölliker durch die Gasse, sie hielt den Kopf gesenkt und sah den Kerl nicht kommen.
Luginbühl spürte ein Kribbeln im Nacken. Mit raschen Schritten überholte er die Bundesrätin und bildete ein Schutzschild zum Burschen.
Der hielt geradewegs auf sie zu. Und, verdammt, die Hand steckte immer noch in der Jacke.
Luginbühl griff nach der Pistole im Halfter unter seinem Jackett.
Der Kerl liess die Zigarette auf das Pflaster fallen, zog die rechte Hand aus der Jacke, streckte sie vor. «Hoi, Tante Ursi.» Die Hand war leer.
«Alles in Ordnung, Herr Luginbühl», sagte Kölliker. Sie kam um ihn herum, ging auf den Burschen zu, übersah dessen ausgestreckte Hand und umarmte ihn. «Mark, schön, dass ich dich auch wieder mal sehe.» Sie hielt ihn auf Armeslänge fest. «Wie läuft es denn zu Hause?» Der Bursche zuckte mit den Schultern. «Ach, wie immer. Mami macht voll Stress wegen meiner Lehre. Sie will, dass ...»
Luginbühl atmete auf. Diskret zog er sich ein paar Schritte zurück.
Eine Touristengruppe schlenderte vorbei, mit lauter Stimme erzählte die Reiseleiterin von der Grundsteinlegung des Münsters im Jahr 1421. Vier Lieferwagen standen vor den Lauben der Münstergasse in einer Reihe, ein fünfter quer dahinter an der Mauer des Münsters. Unablässig restaurierten Handwerker den alten Bau, sonst würde der früher oder später zusammenkrachen. Luginbühl schaute hoch zum Turm, den ein Metallgerüst verschandelte.
Nochmals umarmte Kölliker ihren Neffen, dann strebte sie weiter durch die Münstergasse und schwenkte in die Lauben der Junkerngasse ein. Ihre Stiefelabsätze klapperten auf den Steinplatten. Luginbühl beschleunigte seinen Schritt, bis er auf gleicher Höhe mit der Bundesrätin war. In 50 Meter Entfernung entdeckte er Urs, der vor dem Von-Wattenwyl-Haus Wache stand. Der Kumpel kam ihm gerade recht. Nach dem Sieg der Berner Young Boys gegen den FC Thun konnte Luginbühl gleich die Wettschulden eintreiben. Mit den zehn Franken würde er sich eine feine Bratwurst gönnen.
Sie gingen auf das dunkelbraune Eingangsportal des Patrizierhauses zu, das der Bundesrat für Sitzungen und Empfänge nutzte. Luginbühl grinste Urs an, rieb vor seiner Nase den rechten Daumen und den Zeigefinger aneinander. Neben ihm knöpfte Ursula Kölliker ihren Mantel auf.
Urs nickte ihnen zu, öffnete einen Flügel der Eingangstür.
In dem Moment fühlte Luginbühl einen harten Stoss im Rücken, es krachte in der Junkerngasse – ganz klar ein Gewehr, ein grosses Kaliber.
Die Bundesrätin schrie auf, mit einer Hand bedeckte sie den aufgerissenen Mund, Blutspritzer sprenkelten ihr Gesicht. Und sie deutete auf seine Brust.
Luginbühl schaute an sich herab, sah sein Hemd rot werden, spürte einen irren Schmerz.
Dann wurde alles schwarz.
Vor dem Münster trat Alex Vanzetti hart auf die Bremse des Skodas. Es war ihm egal, dass die Reifen quietschten. Eine Armada von Einsatzfahrzeugen verstellte den Platz, und es schien Vanzetti, als ob sämtliche Polizisten des Kantons Bern zum Tatort gerast waren. Auch er hatte nicht gezögert, als der Alarm über Funk gekommen war.
Vanzetti sprang aus seinem Dienstwagen und schlängelte sich zwischen Krankenwagen und Patrouillenfahrzeugen durch. Maledetto, die Journalisten waren ihm zuvorgekommen. Unten vor der Junkerngasse entdeckte er eine Horde Reporter, Fotoapparate und Videokameras im Anschlag, Mikrofone am Mund. Durch ihre Mitte musste er sich einen Weg bahnen, bis er vor einem rot-weissen Absperrband stand. Er hob es hoch.
«Hier ist gesperrt.» Ein Polizist mit Bürstenschnitt und dunkelblauer Uniform stellte sich in seinen Weg.
«Vanzetti, Bundeskriminalpolizei, Abteilung Staatsschutz.» Er hielt dem Mann seinen Ausweis vor die Nase.
«BKP, soso.» Der Polizist verzog das Gesicht, als stünde er in einem Haufen Hundedreck. «Okay.» Mit dem Daumen wies er über seine Schulter.
Vanzetti ignorierte die Fragen der Journalisten, schlüpfte unter dem Band hindurch und marschierte durch die Lauben auf das Von-Wattenwyl-Haus zu. Die Techniker der Berner Kantonspolizei hatten über dem Tatort ein Zelt aufgebaut, zwei Männer in weissen Schutzanzügen suchten den Boden in der Gasse ab. Ihre Kollegin hantierte an einem 3-D-Oberflächenscanner, der einem Gettoblaster ähnelte. Durch eine Lücke im Zugang zum weissen Zelt sah Vanzetti Halbschuhe, Socken und Hosenbeine, alles schwarz. Das Opfer musste auf dem Bauch liegen.
Ein paar Meter neben dem Zelt sass ein Mann auf einer breiten Steinmauer und lehnte mit dem Rücken gegen einen Pfeiler der Laube. Seine Arme lagen überkreuzt auf den hochgezogenen Knien, die Stirn ruhte auf den Unterarmen. Blutrote Striemen verliefen über seine Hände und das weisse Hemd.
Vanzetti trat auf ihn zu. «Sind Sie verletzt?»
Der Mann hob den Kopf, seine Schläfen waren grau. «Nein.» Rote Tropfen sprenkelten sein Gesicht. «Ich wollte ihn retten ... Emil ... mit Herzmassage.»
Vanzetti zeigte seinen Ausweis und deutete zum Zelt. «Hat es Ihren Kollegen erwischt?»
Er nickte. «Emil Luginbühl.»
Den hatte Vanzetti gekannt, vor Jahren war er in irgendeinem Lehrgang bei Feldweibel Luginbühl gewesen. «Wie heissen Sie?»
«Urs Jost.»
«Wen hat Luginbühl begleitet, Herr Jost?»
«Bundesrätin Kölliker. Sie wollte hier an eine Sitzung.» Mit einer Kopfbewegung wies er die Lauben hinunter.
«Ist sie verletzt?»
«Nein, ich glaube nicht.»
Vanzetti fing seinen Blick auf. «Wo ist die Bundesrätin?»
Jost strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. «Sie ist noch drin, im Haus.»
«Gehen Sie nicht weg, Jost.» Vanzetti wich in die Gasse aus, schritt um das Zelt herum und steuerte auf den Eingang des Von-Wattenwyl-Hauses zu. Vor dem zweiflügeligen Portal stand ein Wachtmeister der Kantonspolizei, auf seinem Namensschild stand P. Tschanz.
«Wachtmeister Tschanz, ich bin Alex Vanzetti von der Bundeskriminalpolizei.»
«Ich weiss, wer Sie sind», sagte Tschanz. «Sie sind der Kerl, der ...»
«Sparen Sie sich den Atem, Wachtmeister.» Vanzetti hielt eine Hand hoch. «Hören Sie mir genau zu. Bundesrätin Kölliker befindet sich im Haus hinter Ihnen. Ich will, dass Sie reingehen, sich neben sie stellen und nicht mehr aus den Augen lassen.»
«Von Ihnen muss ich keine Befehle entgegennehmen.»
Jetzt ging das schon wieder los. Doch auf eine Diskussion über Zuständigkeiten würde sich Vanzetti diesmal nicht einlassen. Er hielt Tschanz seinen Zeigefinger vor die Nase. «Sie gehen jetzt da rein, Tschanz, und passen auf die Bundesrätin auf. Falls die Frau das Gebäude verlassen will, dann verhindern Sie es. Es ist mir egal, wie Sie das anstellen. Bundesrätin Kölliker bleibt dort drin, haben Sie verstanden? Wenn ihr etwas zustösst, werde ich Sie persönlich dafür verantwortlich machen. Ist das klar, Wachtmeister?»
Die Muskeln am Kiefer von Tschanz zuckten. Doch dann quittierte er den Befehl mit einem leichten Nicken und verschwand im Innern des Hauses.
Neben der Eingangstür kniete ein Kriminaltechniker vor einem Spurensicherungskoffer und holte einen Pinsel heraus. Vanzetti entdeckte eine Packung Feuchttücher im Koffer. «Darf ich?»
Der Mann im Schutzanzug nickte, eine hellblaue Maske bedeckte Mund und Nase.
Mit ein paar Feuchttüchern in der Hand ging Vanzetti um das Tatortzelt herum zurück zu Jost, der noch immer an den Laubenbogen gelehnt dasass. Er hielt sie ihm hin. «Ihr Gesicht ist voller Blut.»
Jost nickte dankbar und griff nach den Tüchlein.
Vanzetti setzte sich auf die Mauer. «Erzählen Sie mir, was passiert ist.»
Jost wischte sich das Blut von Stirn und Wangen. «Alles ging so verflucht schnell. Emil kam mit der Bundesrätin vom Münster her auf mich zu. Ich machte ihnen gerade die Tür auf, da hörte ich einen lauten Knall. Emil machte ein Gesicht ... nie im Leben werde ich das vergessen. Dann sackte er zusammen. Ich habe die Bundesrätin ins Haus gestossen, meine Kollegen drin haben den Alarm ausgelöst. Dann habe ich mich um Emil gekümmert.» Er legte ein rotgefärbtes Feuchttüchlein auf die Mauer.
«Haben Sie eine Ahnung, woher der Schuss kam?»
Jost schüttelte den Kopf.
Mit den Augen suchte Vanzetti die Gasse ab. Sie war etwa zehn Meter breit, Lauben mit dicken Pfeilern verliefen auf einer Seite und schränkten die Sicht stark ein. In diesem Teil der Altstadt gab es weniger Geschäfte, Wohnungen und Büros reihten sich aneinander. Ein Stück weiter oben unter den Laubenbogen hindurch konnte Vanzetti das Kopfsteinpflaster der Münstergasse und die Mauer des Münsters erkennen. Er wandte sich wieder Jost zu. «Ich möchte, dass Sie sich von einem Arzt untersuchen lassen. Und dann müssen wir Ihre Aussage aufnehmen. Bleiben Sie hier sitzen.»
Jost nickte.
Erleichtert stellte Vanzetti fest, dass noch kein hohes Tier der Berner Kantonspolizei den Tatort für sich beanspruchte. Er kannte die Typen, schliesslich hatte er selbst neun Jahre für sie gearbeitet. Bestimmt würde es ein Kompetenzgerangel geben. Doch für Bedrohungen gegen Staatspersonen war die Bundeskriminalpolizei zuständig, da gab es nichts zu diskutieren.
Er schritt auf das weisse Zelt zu und schob eine Stoffwand zur Seite. Eine Rechtsmedizinerin mit Schutzanzug und Latex-Handschuhen untersuchte die Leiche, ein Techniker stand über ihr und machte Bilder. Immer wieder erhellten Blitze die weissen Wände.
Luginbühl lag auf dem Bauch. Seine Arme waren ausgebreitet wie bei einem Fallschirmspringer im freien Fall. Das Einschussloch befand sich im Rücken auf der Höhe der Brust, eine Blutlache hatte sich unter dem Körper gebildet. Der Kopf war nach rechts gedreht, die Augen starrten ins Leere.
Die Ärztin entdeckte Vanzetti, schob die Kapuze ihres Overalls zurück und entblösste einen graubraunen Kurzhaarschnitt. «Übernehmen Sie den Fall?», fragte Alice Rudin vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern. Über die Jahre hatte Vanzetti ihre Professionalität schätzen gelernt.
«Ich weiss es noch nicht. Könnte sein.»
Sie zog den Mundschutz herunter und legte eine Hand auf das Jackett neben das Einschussloch. «Hier ist die Kugel eingedrungen, beim Austritt hat sie die Brust zerfetzt.»
«Ein Teilmantelgeschoss also.»
«Sieht so aus.»
«Und die Waffe?»
«Sehr wahrscheinlich ein Gewehr, der Schuss muss aus einiger Distanz gekommen sein. Genaues weiss ich nach der Untersuchung im Institut.» Sie rückte Mundschutz und Kapuze zurecht und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Vanzetti ging in die Hocke und nahm den Anblick des Toten in sich auf. Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht. Wie recht der Schriftsteller Georg Büchner gehabt hatte. Mit seinen 35 Jahren, neun bei der Kantonspolizei Bern, sechs bei der Bundeskriminalpolizei hatte Vanzetti eine Menge Leichen zu Gesicht bekommen. Abgestumpft hatte ihn dies nicht, im Gegenteil. Mit jedem neuen Opfer kehrten die Geister der alten zurück und forderten Gerechtigkeit. Meist hatte Vanzetti ihnen dazu verhelfen können.
Er wandte sich ab, schritt hinaus in die Junkerngasse, holte eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche und steckte eine an. Als er den Rauch tief in die Lungen einsog, spürte er sich ruhiger werden. Mit der freien Hand zückte Vanzetti das Mobiltelefon und scrollte durch die Namen des Bundesamtes für Polizei. Er wollte diesen Fall. Und dafür musste er ganz oben anklopfen.
«Vanzetti.» Wachtmeister Tschanz winkte in der offenen Tür des Von-Wattenwyl-Hauses.
«Was ist?» Vanzetti drückte die Zigarette auf dem Kopfsteinpflaster aus und steckte den Stummel in die Jackentasche. Dann ging er auf den Eingang zu und blieb vor Tschanz stehen.
Der Wachtmeister neigte ihm den Kopf zu und senkte die Stimme. «Die Bundesrätin will wissen, wie lange ich sie hier noch festhalte.»
Eine laute Frauenstimme dröhnte aus dem Innern des Hauses. «... zurück ins Büro, verflucht nochmal. Ich habe wirklich Besseres zu tun, als hier den ganzen Tag .»
Tschanz zog die Tür hinter sich zu. «Sie ist ziemlich angepisst.»
«Sagen Sie ihr, dass ich gleich da sein werde. Fünf Minuten.» Vanzetti hielt das Handy hoch. «Muss zuerst noch mit der Chefin reden.»
Tschanz blies die Wangen auf und stiess Luft aus. «Aber keine Minute länger. Sonst reisst die mir ...» Er hielt inne, grinste und hob das Kinn in Richtung Junkerngasse. «Ich glaube, den Anruf können Sie sich sparen.»
Vanzetti drehte den Kopf. Vom Münster her stakste Bundesanwalt Beat Marti durch die Gasse, in seinem Schlepptau folgten die Chefin der Bundeskriminalpolizei, der Berner Kripo-Chef und weitere Anzugträger. Porca miseria!
Vanzetti seufzte und steckte das Handy zurück ins Jackett. Dann straffte er die Schultern und schritt auf die Alphatiere zu.
Mit einem Knall fiel die Wohnungstür zu. «Wir sind erledigt!», rief Wahlkampfleiter Markus Rüfenacht.
Diese Reaktion hatte Lucy Eicher erwartet. Sie stand im Wohnzimmer am Stehpult unter dem Dachfenster und machte Häkchen hinter Namen auf einer Sponsorenliste. «Ach, das ist doch bloss ein kleiner Rückschlag.»
«Nein, das ist das Ende.» Markus betrat das Wohnzimmer, warf das Jackett auf das Sofa und lockerte die blaue Krawatte über dem weissen Hemd. «Das Inserat ist heute überall drin: Bund, 20 Minuten, Berner Oberländer, sogar im Blick.» Der kleine, rundliche Mittvierziger liess sich auf das Sofa fallen, das unter seinem Gewicht knarrte. In seiner Hand schwenkte er eine Berner Zeitung.
Lucy nahm auf dem Sessel gegenüber Platz. «Gib mal her.» Sie setzte ihre Lesebrille auf und schaute sich das Inserat nochmals an. Es war gross und teuer: Inlandteil, halbseitig, farbig. Ständerat Viktor Heiniger strahlte vor schneebedeckten Bergen im karierten Flanellhemd, natürlich unter wolkenlosem Himmel. Hinter ihm flatterte die Fahne des Kantons Bern. Der 62-jährige Zahnarzt machte auf Naturbursche und wirkte fast wie ein Jüngling, Photoshop sei Dank. Für eine selbstbewusste und starke Schweiz prangte in grossen Lettern quer über dem Inserat.
Wir unterstützen Viktor Heiniger, weil er ...
... im Kanton Bern geboren und aufgewachsen ist.
Der Text griff ihren Kandidaten an, Oliver Schenk, der aus Basel stammte.
... nicht bloss eine Rolle spielt.
Als Schauspieler hatte der 53-jährige Oli eine ansehnliche Karriere auf der Bühne und im Fernsehen gemacht.
... über langjährige Erfahrung in der Politik verfügt.
Seit nur gerade mal einem Jahr politisierte Oli im Grossen Gemeinderat von Muri.
... einer von uns ist!
Vor 18 Jahren hatte Oli die Tochter eines Thuner Fabrikanten geheiratet, immerhin, aber das machte ihn für die Einheimischen nicht zum echten Berner.
Komitee für die Wiederwahl von Viktor Heiniger
Die folgende Liste mit den Mitgliedern des Komitees las sich wie ein Who’s who der Schweizer konservativen Parteien. Lucy legte die Zeitung auf den Tisch. «Könnte schlimmer sein.»
Markus fuhr sich mit der Hand über die Stirnglatze. «Was, bitte schön, könnte schlimmer sein als das?»
«Zum Beispiel ein Foto, das Oli im Bett mit einer Prostituierten zeigt.»
«Haha. Wenigstens dir ist der Humor noch nicht vergangen.»
«Komm schon, Markus. Wir können das viel besser.» Sie legte die Zeitung auf den Couchtisch zwischen ihnen und stand auf. «Möchtest du einen Tee?»
Er winkte ab, legte den Kopf in den Nacken und starrte gegen die Decke.
Der arme Markus, der nahm sich das wirklich zu Herzen. Lucy schritt über das Parkett an ihm vorbei und in den Flur der Wahlkampfzentrale, einer schmucken Vierzimmerwohnung an der Gerberngasse im Mattequartier.
In der Küche stapelte sich Werbematerial in Kartonschachteln an der Wand: Kugelschreiber, Buttons und Pins. Lucy setzte Wasser auf und musterte das Plakat an der Wand über dem Küchentisch. Es brachte Olis braune Augen gut zur Geltung. Das markante Kinn, die spitze Nase und die Locken – eine Mischung aus Burt Lancaster und Hardy Krüger. Mit 71 Jahren stieg Lucys Puls nicht mehr gleich beim Anblick eines schönen Mannes. Doch wenn er so aussah wie Oli ...
Auf dem Plakat richtete er den Zeigefinger auf den Betrachter, links neben seinem Gesicht stand der Slogan, den sich Markus ausgedacht hatte: Sie haben die Wahl! Ziemlich 08/15, fand Lucy.
Eine befreundete Fotografin hatte das Bild gemacht und Lucy den Job als Medienverantwortliche, Redenschreiberin und Grossmutter für alles vermittelt. Mit ihrer Rente kam sie als ehemalige Journalistin gerade so über die Runden. Da machten 15 000 Franken für drei Monate Arbeit einen grossen Unterschied.
Trotzdem hatte sich Lucy nicht kopflos in das Abenteuer gestürzt. Vor ihrer Zusage hatte sie Oli eine Stunde lang gegrillt und erfreut feststellen dürfen, dass sie wichtige Ansichten teilten: Nein zur Atomenergie, Ja zu einem EU-Beitritt, Ja zur Sterbehilfe. Und dass Oli als Unabhängiger kandidierte, betrachtete sie als Bonus.
Von weither hörten sie den Klang von Sirenen. «Bestimmt hat wieder ein Idiot seinen Koffer vor dem Bundeshaus stehen lassen», sagte Markus aus dem Wohnzimmer.
Lucy öffnete das Fenster. Die Sirenen klangen laut, doch in der Gasse tat sich nichts. Nur vor dem Restaurant Santorini diskutierten drei alte Männer gestenreich miteinander.
Sie füllte ihre Lungen mit frischer Luft. Zweifellos bot Oli gutes Rohmaterial. Politisch noch etwas unbedarft, aber durchaus vielversprechend. Wenn er sich nur nicht gleich den Ständerat zum Ziel gesetzt hätte. Klar, die Kleine Kammer des Schweizer Parlaments brachte ein hohes Ansehen mit sich. Doch zu Beginn seiner Karriere hätte Oli besser das Berner Kantonsparlament angepeilt. Oder den Nationalrat, in dem der Kanton immerhin 25 Sitze besetzen durfte. Doch dafür hätte sich Oli einer Partei mit einer Liste anschliessen müssen.
Das Wasser kochte. Lucy legte einen Beutel Schwarztee in eine Tasse, gab einen halben Löffel Zucker dazu und goss Wasser darüber.
Mit der Tasse in der Hand ging sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder in den Sessel. Markus hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Mit dem Bügel ihrer Lesebrille tippte Lucy auf das Inserat. «Wir sollten das positiv sehen.»
Markus hob den Kopf. «Ach ja?»
«Bis jetzt hat uns Heinigers Team ignoriert. Das Inserat zeigt, dass sie uns als Konkurrenz ernst nehmen.» Das war auch an der Zeit, sechs Tage vor den Wahlen. Trotzdem hatte Oli keine echte Chance. Im letzten Wahlbarometer vor einer Woche hatte er unter den acht Kandidaten Rang fünf belegt. Zudem traten die bisherigen Berner Ständeräte erneut an: der konservative Viktor Heiniger und seine linke Kollegin Eva Bärtschi. Beide konnten eine breite Basis mobilisieren und hatten über die Jahre ein grosses Netzwerk aufgebaut. Und sie besassen eine volle Kriegskasse.
«Na, vielen Dank auch.» Markus lehnte sich zurück, das Hemd spannte sich über seinem Bauch. «Und was tun wir jetzt?»
Du bist der Chef, lag Lucy auf der Zunge. Doch sie verkniff sich den Seitenhieb. Rüfenacht war Anwalt und hatte den Job bloss inne, weil er ein alter Freund von Oli war – wie viele andere auch. Im Wahlkampfteam wimmelte es nur so von Bekannten, Verwandten und freiwilligen Helfern. Oli hasste eben die aalglatten Kommunikationsfuzzis. Ein Grund mehr, weshalb Lucy ihn mochte. «Wir müssen zurückschlagen.»
Seine Miene hellte sich auf. «Hast du eine Idee?»
«Wir schalten auch ein Inserat. Übermorgen. Schaffst du das?»
Markus kratzte sich am Kinn. «Klar, kein Problem. Eine halbe Seite, wenn es sein muss. Und Geld für neue Plakate hätten wir auch.»
«Nein, lieber etwas weniger protzig. Wir müssen uns unterscheiden von Heiniger. Dafür aber auf der Frontseite. Dort lesen es mehr Leute. Du kümmerst dich um das Inserat, ich bastle am Text.»
Markus schnalzte mit der Zunge. «Wir könnten auf Heinigers Verbindungen zu den Krankenkassen anspielen.»
Lucy nippte an ihrem Tee. «Gute Idee. Den Angriff wird er noch bereuen.»
An der Haustür klingelte es kurz, dann betrat Nora, die 22-jährige Tochter von Markus, die Wohnung. Die zierliche Germanistikstudentin mit den hellblonden Haaren gehörte ebenfalls zum Wahlkampfteam. Ihre Wangen glühten, sie schien die Treppe hochgerannt zu sein. «Habt ihr gehört? Es gab ein Attentat auf eine Bundesrätin in der Junkerngasse.»
Lucy rutschte beinahe die Tasse aus den Fingern, Tee schwappte über, sie verbrannte sich die Hand. Mein Gott, die lag ja gleich um die Ecke! «Jetzt hat der Terror auch die Schweiz erreicht.»
Der Aristokrat mit der weissen Perücke und dem Stehkragen glotzte düster vom Gemälde an der Wand. Offensichtlich hatte jemand im Sitzungssaal des Von-Wattenwyl-Hauses seinen Tick für Holz ausgelebt: hellbraun getäferte Wände und Decke, Parkettboden, ovaler Eichentisch und passende Stühle. Nur der weisse Kachelofen in der Ecke wirkte deplatziert.
Bundesanwalt Beat Marti hatte entschieden, dass nur ein Grüppchen an der Besprechung teilnehmen sollte. Knapp eine Stunde nach dem Attentat sass Vanzetti mit drei Chefbeamten am Tisch. Marti hatte sich ans Kopfende gesetzt und seine Stellung als Silberrücken markiert. Der hagere Bundesanwalt trug eine neue Titanbrille, war nervös wie immer und schaute in die Runde. «Wir haben viel Arbeit vor uns und wenig Zeit. Herr Vanzetti, Sie waren als einer der Ersten am Tatort. Was wissen Sie zum jetzigen Zeitpunkt?»
Vanzetti sass ihm gegenüber. «Das Opfer heisst Emil Luginbühl, ist 59 Jahre alt, Mitarbeiter des Bundessicherheitsdienstes. In seiner Begleitung befand sich Bundesrätin Kölliker. Sie ist unverletzt, es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Herr Luginbühl wurde durch einen Schuss in den Rücken getötet. Die Verletzungen deuten auf ein Teilmantelgeschoss mit grossem Kaliber hin. Bis jetzt gibt es keine Hinweise auf den Täter.»
Links von Marti schnaubte Daniel Pulver, Kripo-Chef der Kantonspolizei Bern. «Tolle Leistung. Haben Sie auch etwas, das wir nicht schon wissen?» Seit Monaten hatte Vanzetti seinen ehemaligen Vorgesetzten nicht mehr zu Gesicht bekommen, inzwischen war er kahl geschoren. Er starrte Vanzetti an.
Ihr Verhältnis war schon immer schwierig gewesen, denn Pulver schmückte sich gerne mit fremden Federn. In den fünf Jahren bei der Berner Kriminalpolizei hatte Vanzetti mehrere knifflige Fälle lösen können. Die Meriten hatte jedoch Pulver eingeheimst, sowohl in den Medien wie auch bei der Regierung. Damit hätte Vanzetti leben können. Doch die Truppe hatte Pulver den Spitznamen «Usain» verliehen – wenn etwas schiefging, machte er sich schneller aus dem Staub als Bolt.
Rechts von Marti räusperte sich Claudia Oppliger, Leiterin der Bundeskriminalpolizei. «Herr Vanzetti hat letztes Jahr einen Lehrgang beim FBI in Quantico besucht. Ich bin sicher, dass er uns eine erste Einschätzung geben kann.» Als etwas übergewichtige Frau mittleren Alters wirkte seine Chefin so fehl am Platz wie der weisse Kachelofen. Mit ihren braunen Locken, der übergrossen Brille und der Strickjacke schien Oppliger auf der Suche nach einem Häkelkurs das falsche Zimmer erwischt zu haben. Vanzetti fragte sich regelmässig, ob sie diesen Look absichtlich pflegte. Denn er verleitete dazu, sie zu unterschätzen. Doch weder er noch sonst jemand würde es wagen, ihr so etwas ins Gesicht zu sagen. Oppliger würde den Rüpel in mundgerechte Stücke schneiden und zum Frühstück verspeisen.
Sie schaute ihn herausfordernd an. Den Lehrgang hatte Vanzetti auf seinen eigenen Wunsch hin besucht, er fühlte sich auf einmal wie ein Schüler bei einer mündlichen Prüfung. «Die amerikanischen Behörden teilen Morde generell in zwei Kategorien ein: organisiert oder chaotisch. Dieser Fall gehört zweifellos in die Kategorie der organisierten Taten. Erkundung, Vorbereitung und Ausführung waren makellos.»
Pulver schüttelte den Kopf. «Blödsinn, dann wäre die Bundesrätin jetzt tot.» Sein Gesicht glich mehr und mehr einer reifen Tomate. Wenn Blicke töten könnten.
Vanzetti nahm es ihm nicht übel. Pulver hatte allen Grund, ihn zu hassen. Der Grund dafür lag sechs Jahre zurück. An einem sonnigen Maitag hatte ein Scheisskerl im Streit um das Sorgerecht seine eigenen Kinder erstochen. Noch heute suchte die Tat Vanzetti in schlaflosen Nächten heim. Mit fürchterlichen Bildern von zwei Kinderleichen im Kopf hatte er den Tatort verlassen.
Als er in der Berner Quartierstrasse auf sein Auto zugewankt war, hatte er sie gesehen. Auf dem Beifahrersitz eines Einsatzwagens hatte sie gesessen, mit offener Tür und dem Laptop auf den Knien. Kurz hatte sie den Kopf gehoben und Vanzetti das Gefühl gegeben, als ob jemand ein Licht angeknipst hätte. Als er bei der offenen Tür stehen geblieben war, hatte sie den Kopf gedreht. «So ein schöner Tag. Und dieser Drecksack löscht einfach zwei junge Leben aus.» An dem Tag hatte Vanzetti noch nicht gewusst, dass die schöne Staatsanwältin mit seinem Chef Pulver verheiratet war. Er hatte die Tränen in ihren Augen gesehen und ihr zugehört. Dann hatte er ihr seinen eigenen Horror geschildert. Vier Monate später hatte Tamara ihren Mann verlassen und war bei ihm eingezogen. Und Vanzetti hatte sich einen neuen Job gesucht.
Er kratzte sich am Kinn. «Ich bezweifle, dass Bundesrätin Kölliker wirklich das Ziel war.»
Pulver setzte zu einer Erwiderung an, doch Bundesanwalt Marti stoppte ihn mit einer Handbewegung. «Wieso sollte jemand einen Sicherheitsmann erschiessen?»
Vanzetti verschränkte die Hände. «Darauf kann ich keine Antwort geben. Noch nicht.»
Pulver schnaubte wie ein Stier. «Klasse Arbeit, Vanzetti. Soll erst ein Bundesrat sterben?»
Mit dem Zeigefinger tippte Vanzetti auf den Holztisch. «Politische Attentäter sind in der Regel schlecht organisiert. Oft sind es Verlierertypen oder frustrierte Einzelpersonen. Sie wollen eine Zielperson ausschalten und eine Botschaft in die Welt setzen. Deswegen unternehmen sie wenig, um sich selber zu schützen. Die meisten von ihnen wollen sogar identifiziert und gefasst werden. Denn die Tat gibt ihrem Leben eine Bedeutung, sie wollen damit prahlen. In unserem Fall hat der Attentäter seine Flucht aber genau vorbereitet.»
Marti und Oppliger wechselten einen Blick. «Ihre Theorie in Ehren», sagte er. «Trotzdem können wir nicht ausschliessen, dass die Bundesrätin das eigentliche Ziel war. Wo befindet sie sich?»
«Wir haben sie unter Polizeischutz ins Finanzdepartement bringen lassen. Sie ist jetzt in ihrem Büro.»
«Gut. Ich will, dass die Sicherheitsmassnahmen für alle Bundesräte augenblicklich verstärkt werden.»
«Ich kümmere mich darum», erwiderte Oppliger.
Marti richtete den Kugelschreiber auf sie. «Ihr Bundesamt übernimmt die Federführung bei den Ermittlungen.» Er wandte sich an Pulver, der bereits protestieren wollte. «Die BKP wird die Kantonspolizei selbstverständlich laufend informieren.» Er richtete sich wieder an Oppliger. «Wen setzen Sie ein für die Ermittlungen?»
Oppliger spitzte die Lippen wie bei einer Teeverkostung. «Herr Vanzetti ist einer unserer besten Ermittler. Und da er schon mal hier ist ...»
Marti nickte knapp. «Dann ist das geklärt. Fragen?» Er wollte schon aufstehen.
Vanzetti stoppte ihn mit einer Handbewegung. «Welche Informationen geben wir der Öffentlichkeit?»
Wieder dieser Blick von Marti zu Oppliger. «Die Bundesanwaltschaft wird eine Pressemitteilung veröffentlichen», sagte er. «Sämtliche Auskünfte laufen über uns.»
Das war äusserst ungewöhnlich. Vanzetti runzelte die Stirn. «Gibt es etwas, das ich wissen sollte?»
Marti und Oppliger nahmen ihr stummes Zwiegespräch wieder auf. Dann nickte er knapp.
Oppliger bückte sich und holte ein dünnes blaues Mäppchen aus ihrer Tasche auf dem Fussboden. «Dieser Fall ist möglicherweise kompliziert.» Sie schob das Mäppchen Vanzetti hin.
Streng vertraulich!
Er widerstand dem Reflex, den Deckel aufzuklappen. «Was ist das?»
Für ein paar Sekunden studierte sie den Kronleuchter an der Decke. «Jemand hat ein Kopfgeld von einer Million Franken ausgesetzt. Bekommen soll das Geld, wer einen Bundesrat tötet.»
Vanzetti schluckte leer.
Zoe Zwygart legte das Springseil auf den weichen Boden, ging in den Spagat, senkte den Kopf bis aufs Schienbein und umfing den rechten Fuss mit beiden Händen. Das Dojo hatte keine Fenster, eine blau-rote Matte bedeckte drei Viertel des Raumes, es roch nach Schweiss. Sie fühlte sich wie zu Hause.
Helen Liniger, ihre Kollegin aus der Lokalredaktion, machte neben ihr ein paar Kniebeugen und schob die schwarze Hornbrille hoch. «Ich wünschte, ich wäre so beweglich wie du.»
Zoe nahm das andere Bein nach vorne. «Dafür sind meine Gelenke im Eimer. Zwölf Jahre Kunstturnen hinterlassen Spuren.»
«Wann hast du aufgehört?»
«In der Pubertät bin ich in die Höhe geschossen. Leider. Deswegen war vor elf Jahren Schluss, mit 17.» Zoe machte einen seitlichen Spagat und ging in den Handstand. Die Position hielt sie mühelos für ein paar Sekunden, dann richtete sie sich auf. Der Schweiss lief ihr über den Rücken, ein schönes Gefühl.
Helen lockerte die Beine, Hungerhaken Leo Sutter vom Sportressort machte ein paar Liegestütze – oder das, was er dafür hielt.
Zoe zog die Jacke enger um ihren Körper und straffte den weissen Gürtel. Wochenlang hatte Chefredaktor Nyffeler in der Redaktion für den Kurs in seinem Karateclub geworben. Nichts Besseres zur Teambildung gebe es und fit mache das. Drei Freiwillige – Zoe, Helen und Sutter – hatten sich schliesslich gemeldet. Und nun sass Nyffeler im Anzug und mit Strümpfen auf einer Holzbank an der Wand und beobachtete seine neue Kampftruppe.
Instruktor Edi stellte sich breitbeinig vor sie und verbeugte sich. Der Schwarzgurt-Träger war um die vierzig, etwa 1,90 Meter gross, hatte kurz geschorene hellbraune Haare und machte ein Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Gesicht.
Die drei Anfänger stellten sich ihm gegenüber in einer Reihe auf. «Kommst du nachher noch einen Happen essen?», raunte Helen in Zoes Ohr.
«Kann nicht, ich muss ...»
«Schweigt!» Edi bellte wie eine Bulldogge. «Euer Benehmen ist ungehörig. Respekt gegenüber dem Sensei gehört zu den Grundregeln von Karate.»
Hatte der sie noch alle? Zoe stöhnte laut auf. Sie liebte die Bewegung, trainierte viel und intensiv – doch Spass gehörte dazu.
«Hast du ein Problem?» Edi schaute sie herausfordernd an.
Stumm verschränkte Zoe die Arme vor der Brust. Diesen Ton hatte sie schon in der Kaserne gehasst.
«Ich opfere meine Freizeit, um euch Karate beizubringen. Im Gegenzug erwarte ich Disziplin.»
Zoe biss sich auf die Zunge.
«Ist das klar?» Edi hob die Stimme.
«Ja», murmelte Sutter, dieser ABBA-Hörer. In Redaktionssitzungen hob der immer die Hand und schnippte mit den Fingern.
Zoe spürte Edis Augen von unten nach oben über ihren Körper gleiten. Wehe, der machte jetzt einen Spruch.
«Eine Querulantin erkenne ich aus einem Kilometer Entfernung.» Er kam einen Schritt näher. «Beim Karate geht es in erster Linie um Respekt und Disziplin. Sogar ein Turnhäschen wie du kann hier eine Menge lernen.»
In ihrem Hinterkopf rief ein verschrecktes Gen nach Diplomatie. Dieses nette kleine Ding. Wie immer in solchen Fällen ignorierte es Zoe. «Turnhäschen? Du hast sie wohl nicht mehr alle.»
Er seufzte theatralisch. «Oje, eine Feministin.»
Zoe spürte die Hitze in ihren Kopf steigen. Sie könnte einfach rauslaufen, duschen, in Ruhe an der Aare ihr Müsli essen. Sie würde jetzt wirklich besser den Mund halten. «Du bist wohl einer der Letzten, die von den Bäumen gestiegen sind und den aufrechten Gang gelernt haben. Typen wie du gehen mir echt auf den Geist.» Die Worte prasselten einfach aus ihrem Mund. «Chefwitz-Lacher, die ihre Hemden von Mami bügeln lassen. Und die sich immer im Recht sehen, nur weil sie am lautesten schreien.»
Rote Flecken traten auf Edis Wangen, seine Kiefermuskeln zuckten. «Bestimmt möchtest du es einem Typen wie mir mal so richtig zeigen.» Er machte ein paar Schritte rückwärts ins Zentrum der Matte und winkte mit seiner Hand.
Chefredaktor Nyffeler trat an den Rand der Matte und stemmte die Hände in die Hüften.
Zoe zögerte. Edi war doch eigentlich gar nicht der Grund für ihren Ärger. Sie hatte den Anruf am Morgen bekommen, ihr hatte die Leserin von einer Schiesserei auf dem Münsterplatz erzählt. Zoe hatte Notizblock und Digitalrecorder in Windeseile gepackt und Nyffeler informiert. Und der? Hatte einfach Walker losgeschickt, diesen Lackaffen. Klar, der hatte ihr ein paar Jahre Erfahrung voraus. Aber Mensch, diese Riesenstory wäre ihre Chance gewesen.
Edi winkte immer noch. «Hajime», brüllte er.
Ach, Herr, lass Hirn vom Himmel regnen. Zoe machte ein paar langsame Schritte auf ihn zu. Sie atmete durch und stellte sich ganz entspannt hin.
Edi breitete die Arme aus. «Und jetzt gib dem Macho mit der grossen Schnauze mal so richtig eins auf die Fresse.»
«Wie hart?»
«Tu dir keinen Zwang an, Turnhäs ...» Zoe riss ihre rechte Faust hoch und rammte sie Edi auf das Nasenbein. Es klang wie die Walnüsse, die sie an Weihnachten mit der Faust zu knacken pflegte. Ein schönes Geräusch.
Wie eine gefällte Eiche fiel Edi auf seinen Hintern und hielt sich die Nase mit einer Hand. Blut strömte zwischen seinen Fingern hervor. Ungläubig glotzte er Zoe an, dann starrte er auf seine blutige Hand. Mit einem Wutschrei sprang er auf.
Zoe hob die Fäuste und wich keinen Schritt zurück.
«Stopp!» Chefredaktor Nyffeler rannte auf die Matte und drängte sich dazwischen. «Es reicht, Edi ... Und Sie, Frau Zwygart, halten jetzt Abstand.»
Zoe atmete durch, liess Edi nicht aus den Augen und trat schliesslich zurück in die Reihe neben Helen. Die feixte, Sutter stand der Mund offen.
«Lass mich das mal ansehen.» Nyffeler nahm Edis Gesicht zwischen seine Hände und inspizierte dessen Nase. «Könnte gebrochen sein.» Er drehte sich zu Zoe um. «Wieso haben Sie das getan?»
«Ich habe nur die Anweisungen des Sensei befolgt. Von wegen Disziplin und so. Na ja, eigentlich doch nicht ganz. Ich hätte noch härter zuschlagen können.»
«Du Schlampe.» Edi knurrte und wollte sich auf sie stürzen, Bluttropfen spritzten durch die Luft.
Nyffeler hielt ihn an der Jacke zurück, dann umfing er Edis Körper mit beiden Armen wie ein Schraubstock. «Du brauchst eine kalte Dusche, Edi. Und danach einen Arzt.»
Edi grunzte, funkelte Zoe für ein paar Sekunden an, dann machte er sich los, stampfte quer durch das Dojo und aus der Tür, die er hinter sich zuknallte.
«Schöne Schweinerei.» Sutter zeigte auf die rote Tropfenspur auf der Matte.
Helen legte eine Hand auf Zoes Arm. «Das Putzen übernehme ich. Das Spektakel war es allemal wert. Bin gleich zurück.» Sie ging Edi hinterher.
«Gut, dann wäre das geklärt. Wir sehen uns in der Redaktion, Herr Sutter.» Mit seinem Blick und einem Wink mit der Hand wies Nyffeler den Dünnen an, sie allein zu lassen.
Mist. Hoffentlich würde er sie nicht gleich feuern. Zoe grub ihre Zehen in die kühle Matte.
Nyffeler wartete, bis Sutter die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er musste um die 1,80 sein, genauso gross wie Zoe. Buschige Augenbrauen dominierten sein Gesicht. Sie spannten sich wie Regenschirme über die grauen Augen. «Edi ist ein guter Kollege von mir. Weshalb sind Sie so ausgerastet?»
«Ich lasse mir nicht alles gefallen.»
Die Augenbrauen hoben und senkten sich. «Edi ist manchmal etwas ... ungehobelt. Bestimmt hat er es nicht so gemeint. Ich entschuldige mich für ihn.»
«Danke.» Bisher war Nyffeler fair zu ihr gewesen. In den drei Monaten, die Zoe bei den Berner Nachrichten arbeitete, hatte er ihr viele Tipps gegeben. Doch bislang keine tolle Story. Und sie brannte darauf, sich zu beweisen.
Er hob einen Mundwinkel. «Sie haben einen harten Schlag drauf.»
«Sie kennen meinen Lebenslauf. Zwischen Matura und Uni war ich in der Armee. Nahkampf gehört zur Ausbildung bei der Militärpolizei.»
«Respekt.» Er strich sich mit einem Daumen über die Augenbrauen. «Vielleicht habe ich Sie falsch eingeschätzt. Kommen Sie nach der Mittagspause in mein Büro. Dann besprechen wir die Berichterstattung über dieses Attentat nochmals.»
«In Ordnung.» Zoe gab ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang. Doch innerlich machte sie einen Rückwärtssalto mit Doppelschraube.
«9.34 Uhr.» Auf dem Stuhl vor Vanzetti tippte Reto Saxer mit dem Finger auf den Monitor. Das Video, das eine Webcam vor dem Münster aufgenommen hatte, zeigte einen weissen Transporter, der durch die Münstergasse fuhr. Er bog nach links in die Kreuzgasse ab und verschwand aus dem Bild. «Wann wurde Luginbühl erschossen?»
«9.33 Uhr. Die Zeit passt.» Vanzetti blickte über Saxers Schulter, der Ein-Meter-neunzig-Schlacks mit den dichten grauen Haaren nahm ihm fast die Sicht. «Was ist das für ein Fahrzeug?»
«VW T5 Transporter, ziemlich weit verbreitet.»
Sie befanden sich im zweiten Stock der BKP-Zentrale im Galgenfeld. Der Besprechungsraum sollte als Einsatzzentrale für die «Sonderkommission Wattenwyl» dienen, die Vanzettis Chefin Oppliger zusammengestellt hatte. Neben ihnen beiden gehörten der Soko 13 Beamte an, die erste Sitzung war auf 14 Uhr angesetzt, in zehn Minuten. Dann würde Vanzetti kostbare Zeit mit Organisieren und Delegieren verplempern.
«Eiskalt, dieser Kerl. Die meisten hätten sich mit Vollgas aus dem Staub gemacht», sagte Saxer.
«Geh nochmal zum Anfang.»
Saxer liess das Video, das sie bei Bern Tourismus beschafft hatten, zurück zum Start springen. Auf dem eingefrorenen, etwas verschwommenen Bild stand der Transporter in der Münstergasse nahe der Kirchenmauer und mit dem Heck gegen die Junkerngasse gerichtet. «Und?»
Vanzetti schob seinen Kopf über Saxers Schulter. «Kannst du auf das Kennzeichen einzoomen?»
Saxer drückte seine Nase fast auf dem Bildschirm platt. «Nein, die Auflösung der Webcam ist miserabel.»
Saxer war das einzige Mitglied der Soko, das Vanzetti selber angefordert hatte. Die meisten anderen Kollegen trieb zu viel Ehrgeiz an, sie wollten sich einen Namen oder Karriere machen. Saxer hingegen schien zufrieden mit sich, seinem Job und seinem Leben. So maulte der 46-Jährige, der mit seinem Partner in der Länggasse wohnte, nie herum, wenn er Telefonlisten abarbeiten oder Befragungen von Tür zu Tür machen musste. «Wie sicher bist du, dass der Schuss aus der Münstergasse kam?»
Vanzetti richtete sich auf. «Luginbühls Verletzungen und die Ortsverhältnisse deuten darauf hin. Gewissheit werden wir nach dem Bericht aus der Gerichtsmedizin haben. Trotzdem werden wir alle Anwohner der Junkern- und der Münstergasse befragen müssen. Vielleicht taucht doch noch ein Zeuge auf.»
«Klar, Personal haben wir ja genug.»
Mit einem Klick startete Saxer das Video erneut. Der Transporter stand noch ein paar Sekunden da, bevor er im Schritttempo in Richtung Münsterplatz fuhr. «Das war kein Amateur.»
«Ganz meine Meinung.» Vanzetti nahm ein Klemmbrett vom Computertisch und notierte VW T5. «Ich will eine Liste mit allen weissen VW-Transportern, die im Kanton Bern angemeldet sind. Vielleicht werden wir die Suche auf die ganze Schweiz ausdehnen müssen.» Er schaute wieder auf den Monitor, vor den Pollern am Münsterplatz machte der Transporter eine 180-Grad-Wende. «Stopp.»
Saxer hielt das Video an.
«Der VW ist beschriftet.» Er richtete seinen Finger auf die Seite des Wagens.
Saxer vergrösserte das Bild. Drei Streifen in Rot, Gelb und Blau verliefen senkrecht über die Karosserie, daneben waren unscharfe Buchstaben zu erkennen. Er zoomte ein, doch das Bild löste sich in einzelne Pixel auf. «Vielleicht können unsere Techniker noch mehr herausholen. Ich werde mich darum kümmern.»
«Gut. Kannst du das auf dem Beamer abspielen?» Mit dem Daumen deutete Vanzetti auf den Apparat unter der Decke.
«Kein Problem.» Saxer klickte ein paar Mal, der Beamer surrte an und projizierte nach ein paar Sekunden das Bild auf die Leinwand am Kopfende des Saals.
Vanzetti liess seinen Blick über die blauen Stühle und grauen Tischplatten des Besprechungsraums gleiten. Die Chefin hatte sich nicht lumpen lassen, innerhalb kürzester Zeit war alles Nötige installiert worden: Tische und Stühle, Telefone, Computer mit Internetanschluss, ein Drucker und Whiteboards.
Es fehlten nur ein paar Feldbetten. Wenn Vanzetti sich in einen Fall verbiss, übernachtete er schon mal in der Zentrale. Und er verlangte den gleichen Einsatz von allen Beteiligten. Er wusste, dass er deswegen als schwieriger Kollege galt, als Dickkopf und Eigenbrötler. Und wenn schon. Nicht kleinreden konnten die Kritiker seine Aufklärungsquote von 89,7 Prozent.
Vom Pult nahm Vanzetti das Mäppchen mit der Aufschrift Streng vertraulich. «Und dann müssen wir uns noch um das hier kümmern?»
«Was ist das?»
Vanzetti klappte es auf. «Vor fünf Wochen ist der Nachrichtendienst des Bundes auf eine Webseite gestossen. Sie heisst ‹tod-dem-bundesrat.com›.»
«Du machst Witze.»
«Es kommt noch besser.» Vanzetti zog ein Blatt Papier aus dem Mäppchen und legte es vor Saxer auf den Computertisch. Es zeigte einen Ausdruck der Webseite. Weisse Buchstaben prangten auf rotem Hintergrund, kleine Schweizerkreuze bildeten einen Rahmen um den Text.
Töte einen Schweizer Bundesrat und erhalte 1 Million Franken in bar.
Er tippte auf die Schriftzeichen unter dem deutschen Satz. «Hier steht das Gleiche noch auf Russisch, Arabisch und Englisch. Und das darunter ist die Kontaktadresse: ‹[email protected]›.»
Saxer stand der Mund offen. «Hat der Nachrichtendienst herausgefunden, wer dahintersteckt?»
«Nein. Der Provider sitzt in Rumänien. Bis heute versucht der NDB vergeblich, an den Urheber der Webseite zu kommen. Doch das brächte sowieso nicht viel. Bestimmt wurde die Seite unter einem falschen Namen registriert. Und auch die Mailadresse ist eine Sackgasse. Die Mails werden automatisch über Konten in verschiedenen Ländern weitergeleitet.»
Saxer tippte www.tod-dem-bundesrat.com in seinen Browser, eine Fehlermeldung erschien auf dem Bildschirm. «Wie lange war die Seite online?»
«Offenbar nur ein paar Tage.»
«Das ist doch nichts als ein dummer Scherz.»
«Vermutlich. Trotzdem macht sich der Nachrichtendienst jetzt in die Hose. Der Bundesrat ist in den vergangenen Jahren einer Menge Leute auf die Füsse getreten. Bankern zum Beispiel, die sich nicht mehr in die USA trauen. Oder afrikanischen Diktatoren, deren Geld er hat beschlagnahmen lassen. Wir dürfen das also nicht ausser Acht lassen. Ich werde jemanden darauf ansetzen.»
«Deiner Stimme höre ich ein Aber an.»
Vanzetti nahm Bleistift und Lineal vom Pult und trat an die Karte der Berner Altstadt, die an der Wand hing. «Nehmen wir mal an, dass der Täter hinten in diesem Transporter lag und schoss. Der Wagen stand hier.» Er machte neben dem Münster ein Kreuz auf die Karte. «Luginbühl wurde vor dem Von-Wattenwyl-Haus getroffen, also hier.» Er malte ein zweites Kreuz und mass den Abstand mit dem Lineal. «Das sind etwa 90 Meter. Auf diese Distanz würde sogar ich treffen.»
«Und das will etwas heissen», spöttelte Saxer.
«Deswegen setze ich mein Geld auf ihn.» Vanzetti griff nach einem Foto von Luginbühl auf dem Tisch und befestigte es mit einem Magneten an einem Whiteboard. «Was wissen wir über den Mann?»
Saxer liess den Drehstuhl herumfahren. «Offenbar lebte er alleine, Angehörige haben wir bis jetzt nicht ausfindig machen können. Seit acht Jahren im Sicherheitsdienst des Bundes, zuvor beim Kanton Bern, Verkehrspolizei. War zuverlässig und beliebt bei den Kollegen, soweit wir bis jetzt wissen.»
Vanzettis Magen knurrte laut hörbar, er legte eine Hand auf den Bauch. «Sorry, habe das Mittagessen ausgelassen.»
«Ich hätte eine Banane dabei», bot Saxer an.
Vanzetti winkte ab. «Danke, ich hole mir nach der Sitzung etwas.» Oder er liess es ganz bleiben. Seit jeher musste Vanzetti auf sein Gewicht achten, das hatte er seiner verstorbenen Nonna zu verdanken. Was bist du für ein toller Esser, Alessandro, hörte er sie sagen. Nur weiter so, dann wirst du gross und stark. Klein Alessandro hatte jeweils bis über beide Ohren gegrinst und noch eine Extraportion Schmorbraten in den Mund gestopft. Seinen Platz in Nonnas Ruhmeshalle hatte er nicht riskieren wollen. Genau wie Zia Elvira, die ebenfalls eine herausragende Esserin gewesen war. Mit 42 Jahren war sie an einem Herzinfarkt gestorben.
Die Tür öffnete sich, mit einem Kopfnicken betrat Kollege Wegmüller den Besprechungsraum. Ihm auf dem Fuss folgten Seiler und Bach. Die Uhr an der hinteren Wand stand auf 13.58 Uhr.
Vanzetti ordnete die Akten auf dem Tisch, sodass sie parallel zur Kante lagen. Daneben platzierte er zwei neue BIC-Kugelschreiber, Crystall medium, blau. Erregung packte ihn. «Es geht nichts über das Suchen, wenn man etwas finden will. Zwar findet man bestimmt etwas, aber gewöhnlich ist es nicht das, was man gesucht hat.»
Saxer verdrehte die Augen. «Ist das wieder eines deiner berühmten Zitate?»
«Tolkien. Passt doch perfekt.» Punkt 14 Uhr würde Vanzetti mit der Suche beginnen.
Wer zu spät auftauchte, konnte gleich wieder verschwinden.
Vor der Heiliggeistkirche kramte Lucy 30 Werbebriefe für Wählerinnen und Wähler aus der Tasche. Sie strebte unter dem gläsernen Baldachin über den Bahnhofplatz und machte vor dem Briefkasten halt. Am Einwurf drängelte sich ein junger Kerl mit Baseballmütze vor. Er prallte mit der Schulter gegen ihre Hand, die Briefe flogen in hohem Bogen auf das staubige Pflaster. «Können Sie nicht aufpassen?»
Der Teenager mit einer Kippe im Mundwinkel reagierte nicht. Keine Entschuldigung, kein grimmiger Blick, nichts. Er ignorierte sie völlig, stopfte etwas in den Schlitz und stolzierte davon wie ein Gockel.
Lucy sammelte die verstreuten Couverts vom Boden auf, Taubendreck und Kaugummireste klebten auf einigen davon. Nein, so etwas konnte sie im Namen von Oli Schenk natürlich nicht verschicken. Lucy sortierte die schmutzigen Briefe aus und stopfte sie in ihre Tasche. Die anderen steckte sie in den Briefkasten. Dann ging sie auf den hässlichen Klotz aus Beton und Glas zu, der sich Hauptbahnhof nannte.
Eine dieser alten Schnepfen, die lauthals über die Jugend von heute klagten, würde Lucy nicht werden. Weiss Gott, sie hatte es damals ja auch krachen lassen. Sie hatte im Gambrinus-Keller an der Schauplatzgasse auf Tischen getanzt, bevor er dem Warenhaus Spengler hatte weichen müssen. Und bei den Zürcher Globus-Krawallen im Juni 1968 war sie mitten drin gewesen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Sie hatte Jimi Hendrix im Zürcher Hallenstadion bejubelt und den jungen Urs «Polo» Hofer mit den Jetmen bewundert.
Trotzdem. Manchmal musste sich Lucy schon wundern über die jungen Leute. Wie letzte Woche in diesem Geschäft für Dessous an der Marktgasse, wo zwei stark geschminkte Verkäuferinnen munter über einen «saaagenhaften Yogakurs» geplaudert hatten, während sie zwischen den Gestellen suchend auf und ab gegangen war. Schliesslich hatte sich Lucy mit ihren ganzen 160 Zentimetern vor ihnen aufgebaut. Ihre Frage nach roter Spitzenunterwäsche war ignoriert worden, als ob sie gar nicht existiert hätte.
Bei Grün überquerte Lucy den Fussgängerstreifen vor dem Bahnhof.
Erst als eine der beiden Verkäuferinnen im Hinterzimmer verschwunden war, hatte die andere mit einer Mitleidsmiene Notiz von Lucy genommen. Ob sie irgendwie helfen könne. Als Lucy ihr dann erklärt hatte, dass die rote Unterwäsche nicht etwa für eine Enkelin, sondern für sie selber sei, wäre das Mädchen beinahe aus den Louboutins gekippt. Am Vegi-Restaurant Tibits vorbei betrat sie das Bahnhofsgebäude, der Duft von Kardamom und Kreuzkümmel lag in der Luft.
Vom Erdgeschoss blickte Lucy auf die untere Ebene der Bahnhofshalle, wo der Wahlkampf-Stand unter der riesigen Anzeigetafel aufgebaut war. Über einen Mangel an Aufmerksamkeit musste er sich keine Sorgen machen. Oli bewegte sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln zwischen Senioren, Müttern mit Kinderwagen und Teenies. Er schüttelte eine Hand hier, klopfte dort auf eine Schulter, begrüsste neue Passanten und unterhielt sich mit ihnen.
Bewusst einfach hatten sie den Stand gehalten, nichts Aufwändiges oder Luxuriöses. Auf dem Holztisch mit Markise lagen Flugblätter, Buttons und Schokoladentaler, links und rechts hingen Plakate mit Olis Konterfei. Sie haben die Wahl!
Pendlerströme schoben sich am Stand vorbei zu den Zügen. Trotzdem blieben erstaunlich viele Leute stehen, um ein Wort mit dem Ständeratskandidaten zu sprechen. Studentin Nora Rüfenacht schenkte Gratiskaffee aus und verteilte heliumgefüllte Luftballons. Die zerbrechlich wirkende junge Frau mit dem hellblonden Zopf unterschied sich kaum von den Kindern, die vor ihr anstanden – sie sah deutlich jünger aus als 22. Ihre Haut war bleich wie Alabaster und wirkte fast durchscheinend.
Lucy stellte sich auf die Rolltreppe, fuhr hinunter und schaute dabei Oli zu. Er lächelte und schüttelte den Kopf wie der Gast bei einer Überraschungsparty, gleichzeitig überwältigt und etwas verlegen. Nur wegen mir seid ihr alle hier? Wirklich? Aber nicht doch! Und Oli nahm sich Zeit.
Er hatte das gewisse Etwas, keine Frage.
In ihrer Karriere als Journalistin hatte Lucy Bill Clinton, Helmut Kohl und Margaret Thatcher interviewt – sowie viele weitere Politikerinnen und Wirtschaftskapitäne. Einige von ihnen hatten es gehabt, die meisten nicht: Charisma. Es war keine Frage von Körpergrösse, Geld oder gutem Aussehen. Es war etwas, das Lucy nach wie vor nicht richtig fassen konnte – eine Art Aura, die gewisse Männer und Frauen umgab. Ihre Körper, ihre Bewegungen und Stimmen sagten: Ihr könnt mir vertrauen, Leute, ich habe alles im Griff.
Oli hatte jede Menge davon.