Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Basler Einbrecher Raab nimmt einen Routineauftrag an: Er soll das Gemälde eines niederländischen Malers stehlen, damit dessen Besitzer das Geld der Versicherung kassieren kann. Doch der Einbruch endet in einer Katastrophe. In der Folge hat Raab nicht nur die Polizei auf den Fersen, er muss sich auch mit skrupellosen Berufskollegen herumschlagen. Raab erkennt, dass der Schlüssel zur Lösung seiner Probleme in der Vergangenheit liegt. Er begibt sich auf Spurensuche in Birsfelden, das er als Teenager fluchtartig verlassen musste. Die Wunden von damals sind bis heute nicht verheilt. Überall stösst Raab auf Feinde – und einer von ihnen will seinen Tod.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 372
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
ROLF VON SIEBENTHAL
Friedrich Reinhardt Verlag
Alle Rechte vorbehalten
© 2023 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Projektleitung: Manuela Seiler
Korrektorat: Daniel Lüthi
Layout: Romana Stamm
Umschlaggestaltung: Bernadette Leus,
Visuelle Kommunikation, [email protected]
Titelbildcollage unter Verwendung von:
–
Luftaufnahme Hafen Birsfelden (DJI_0476), © Port of Switzerland
–
Aufnahmen «Oblt. Oskar Bider vor der Nieuport 23 C-1» (LBS_SR04-037458) und «Zwischenlandung des LZ 127 ‹Graf Zeppelin› auf dem Sternenfeld in Basel» (LBS_SR01-01980), ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
–
Aufnahme Handpistole mit Flugkugelfeuer (532660138), Shutterstock
eISBN 978-3-7245-2642-1
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2598-1
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
www.reinhardt.ch
Für Simon
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Anmerkungen
Kapitel 1
«Es ist ein Kinderspiel.» Laura Moser nippte mit rubinrot geschminkten Lippen an ihrem Aperol Spritz. «Für einen wie dich.»
Raab sass ihr gegenüber im Bahnhofbuffet Olten, das seit seinem letzten Besuch einen erstaunlichen Wandel durchgemacht hatte. Statt zerkratzter Tische und rauchgeschwängerter Luft gab es jetzt Designerleuchten, schickes Mobiliar und rötlich schimmernde Drinks wie den von Laura. Er hatte mit dem Rücken zur Wand Platz genommen, sodass er den ganzen Schankraum im Blick hatte. An diesem Mittwoch Anfang November gab es kurz nach elf Uhr vormittags nur wenige Gäste im Buffet, und alle befanden sich ausser Hörweite. «Wo?»
«In Hölstein, das liegt im …»
«… Waldenburgertal, ich weiss.» Das gefiel Raab nicht. Zu nah. Er arbeitete nicht gern in seiner Wohnregion. Die Schugger könnten sonst auf ihn aufmerksam werden. «Worum geht es genau?»
«Um ein Gemälde von Jan Brueghel, siebzehntes Jahrhundert, eine Landschaft.» Sie lächelte zuckersüss.
«Welches Format?»
Laura fischte einen Aktenordner aus der Tasche, die sie auf dem freien Stuhl neben sich abgestellt hatte. Sie schlug ihn auf und blätterte durch ein paar Seiten.
Er schätzte es, dass Laura immer gut vorbereitet zu ihren Arbeitstreffen kam. Vor anderthalb Jahren hatte sie, vom Hausherrn eigentlich als Escortdame gebucht, Raab beim Einbruch in eine Villa ertappt. Doch statt die Schugger zu alarmieren, hatte sie ihm die Kombination des Tresors verraten. Denn Corona hatte ihre Einnahmen arg schwinden lassen. Natürlich hatte Laura für ihre Hilfe einen Teil von Raabs Beute einkassiert – und täte es auch diesmal. Mit einem unlackierten Fingernagel tippte sie schliesslich auf eine Zeile. «Siebenundzwanzig mal sechsunddreissig Zentimeter.»
Die Grösse des Bildes stellte schon mal kein Problem dar. «Eine Alarmanlage?»
«Am Gemälde nicht, aber im Haus.»
«Ein Einfamilienhaus?»
«Ja, am Dorfrand.» Sie nickte mit ihrem hübschen, schmalen Gesicht, die schwarzen Strähnen des Pagenschnitts schwangen vor und zurück. Laura hatte das jugendliche Aussehen einer Studentin, doch sie musste nach Raabs Schätzung über dreissig sein. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover und enge schwarze Jeans, die ihre gute Figur betonten.
Schritt für Schritt war Laura alias Lady Loretta zu einem wertvollen Geschäftskontakt geworden. Über Tipps aus ihrem Netzwerk hoch bezahlter Prostituierter gelangte Raab an lohnenswerte Zielobjekte. «Geht es um Versicherungsbetrug?»
Mit einem Finger strich sie sich die Haare hinters Ohr. «Ja. Der Besitzer steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Er hat viel Geld mit Aktien verloren. Zwar könnte er das Gemälde verkaufen, es dürfte eine halbe Million wert sein. Doch er hängt sehr daran.»
«Wie viel springt für uns dabei heraus?»
«Sechzigtausend.»
Ein sehr gutes Angebot. «Halbe-halbe?»
«Wie immer.» Laura bedachte ihn mit ihrem schönsten Lächeln, die perfekten Zähne mussten eine Stange Geld gekostet haben.
«Und ich trage das ganze Risiko.»
«Ohne meine Informationen bekämst du hundert Prozent von gar nichts.» Sie schmunzelte den Einwand weg. «Du bist ein grosser Junge.»
Raab hob einen Mundwinkel. Er hatte sie nur ein wenig piesacken wollen, die Abmachung fand er fair. Tatsächlich hatte Laura ihm in den vergangenen Monaten ein paar einträgliche Jobs vermittelt. «Die Hälfte im Voraus?»
Sie legte eine Hand auf die Tasche. «Ja, ich habe fünfzehn dabei. Den Rest bekommst du danach.»
Einfach verdientes Geld. Raab nickte und nahm einen Schluck Kaffee. Draussen vor den Fenstern ratterte ein Intercity durch den Bahnhof. «Welche Unterlagen hast du?»
«Alle.» Sie blätterte durch die Papiere im Aktenordner. «Plan des Dorfs, Grundstücksplan, Grundriss des Hauses, ein Farbfoto des Gemäldes sowie Informationen über die Alarmanlage und die Überwachungskameras.»
«Kameras?» Das war nicht alltäglich bei einem Einfamilienhaus auf dem Land.
«Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Herr Müller, der Auftraggeber, wird dafür sorgen, dass sowohl die Alarmanlage wie auch die Kameras ausgeschaltet sind.»
«Wie will er das der Versicherung erklären?»
«Er wird sie so manipulieren, dass es wie eine technische Panne aussieht. Offenbar kennt er sich aus damit.»
«Wirklich?» So einfach liessen sich die Versicherungsexperten nicht hinters Licht führen. «Was tut er beruflich?»
«Er ist Mitinhaber einer Firma, sie bauen Flugsimulatoren.»
Dann hatte dieser Müller wohl tatsächlich eine Ahnung von Technik. «Hat er dir das alles selbst gesagt? Oder läuft der Kontakt über eine Kollegin?»
Laura spitzte die vollen Lippen. «Sorry. Vielleicht wirst du irgendwann erwischt und …»
«Ich würde nie jemanden verpfeifen.»
«Das Fleisch ist schwach.» Wieder zeigte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Kein Wunder, gehörte sie zu den hoch bezahlten Escortdamen.
Raab konnte ihr die Vorsicht nicht übel nehmen, im Milieu gehörten Lug und Trug zum Alltag. Und doch war über die Monate hinweg eine Verbindung zwischen ihnen entstanden, die über das Geschäftliche hinausging. «Du vertraust mir immer noch nicht ganz, oder?»
«Nein, aber ich mag dich.» Laura stellte das eisgefüllte Glas ab und legte ihre kalte Hand auf seine. Sie flirtete wie jedes Mal, wenn sie sich trafen. Auch wenn sie wusste, dass es zu nichts führen würde. Oder vielleicht gerade deswegen. Sie beide waren Profis mit Erfahrung genug, dass sie Geschäftliches und Privates niemals vermischten.
«Sonst noch etwas, das ich wissen sollte?»
Sie hob einen Finger wie ein Ausrufezeichen. «Etwas gibt es tatsächlich noch.»
«Ja?»
«Der Bruch muss Freitagnacht über die Bühne gehen.»
Raab zog seine Hand weg. «Weshalb?»
«Weil niemand zu Hause sein wird. Seine Frau hat am Freitag Geburtstag, Müller schenkt ihr eine Übernachtung in den Bergen. Sie kommen erst am Samstag zurück. Die nächste Gelegenheit bietet sich sonst erst wieder im Februar. Und er braucht das Geld dringend.»
«Zeitdruck gefällt mir nicht.» Raab schürzte die Lippen. «Das ist zu kurz für eine gründliche Recherche.»
«Du hast alle Informationen hier.» Laura klopfte mit den Knöcheln auf die Papiere. «Es ist ein einfacher Job. Ausserdem hast du ja noch den Donnerstag zur Vorbereitung.»
«Das reicht nicht.»
«Komm, sei jetzt kein Stimmungskiller.» Sie beugte sich vor. «Mein Yogalehrer würde sagen: Du musst deine positive Energie fliessen lassen. Konzentriere dich auf das Gute, dann wirst du ein viel zufriedener Mensch.»
Raab schnaubte. «Yoga, vielen Dank auch. Daran werde ich mich erinnern, wenn ich im Knast Gewichte stemme.»
Laura seufzte, ihr Mund formte einen harten Strich. Sie klappte den Ordner zu und steckte ihn in ihre Tasche. «Ich will dich nicht bequatschen, du bist der Experte. Wenn du ein schlechtes Gefühl hast, blasen wir die Sache ab.»
Er studierte ihr betrübtes Gesicht mit den grossen braunen Augen und musste grinsen. «Verdammt, du bist wirklich gut. Du weisst genau, wie du alte Säcke wie mich manipulieren kannst.»
Sie lächelte verschmitzt. «Gelernt ist eben gelernt.»
Raab griff über den Tisch und zog den Ordner aus Lauras Tasche heraus und zu sich heran. Er blätterte durch die Unterlagen. Das Dossier schien tatsächlich komplett zu sein. «Was weisst du noch über diesen Müller?»
«Gut situiert, seit über zwanzig Jahren verheiratet, engagiert in der Gemeinde. Er macht einen seriösen Eindruck.»
Raab hob eine Augenbraue. «Und doch will er seine Versicherung beklauen.»
«Du weisst, was ich meine. Für den ist das eine einmalige Sache. Das ist jemand, der unverschuldet in eine Klemme geraten ist. Er ist verzweifelt und sucht einen Ausweg.»
Raab liess seinen Blick über gerahmte Fotos von Dampflokomotiven und stolzen Eisenbahnern an den Wänden gleiten. Er vertraute auf ihr Urteilsvermögen. Bisher hatte sie ihn noch nie enttäuscht, alle Informationen hatten sich bei seinen Überprüfungen als zuverlässig erwiesen. Der Einbruch in Hölstein schien unkompliziert, der Lohn verlockend. Und wenn etwas nicht exakt nach Plan verliefe, würde er das mit seiner Erfahrung bestimmt ausbügeln können. «Okay, ich bin dabei.»
Laura hob die Hand und deutete ein Abklatschen über dem Tisch an. «Mein Yogalehrer wäre stolz auf dich.» Sie griff in ihre Tasche, nahm einen fetten Umschlag heraus und schob ihn diskret zu Raab über den Tisch. «Deine Kohle.»
Er griff danach, fühlte aber nicht die gleiche Erregung wie sonst. Von wegen positiver Energie – da floss nichts. Doch er behielt es für sich, weil er Laura die gute Laune nicht verderben wollte. Geschäftskontakte mussten eben gepflegt werden.
Regen prasselte gegen die Scheiben des Nachtbusses, als er im Dorfzentrum von Hölstein anhielt. Raab zog die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und stieg hinter vier Jugendlichen aus. Zischend schlossen sich die Schiebetüren und der gelbe Bus fuhr mit röhrendem Motor an.
Während der Lärm verklang, beobachtete Raab die abgefeierte Dorfjugend, die johlend die Strasse überquerte. Die vier gingen am Rössli vorbei und verschwanden zwischen ehemaligen Bauernhäusern. Seine Uhr stand auf halb zwei, Samstagfrüh.
Raab streifte die Riemen seines kleinen Rucksacks über die Schultern und setzte sich in Bewegung.
Er folgte der Hauptstrasse in Richtung Waldenburg, bog bei der Uhrenfabrik Oris ab, mied unterwegs auf den Quartierwegen die Strassenlampen und hielt auf das südliche Dorfende zu. Das Wetter störte ihn nicht, kalte, regnerische Novembernächte waren gut für sein Geschäft. Kurz nach zwei Uhr erreichte er das Zielobjekt.
Die Villa stand am Rand des Wohngebiets etwas abseits, der Architekt mochte von einem englischen Landhaus inspiriert worden sein. Die Dachgiebel waren kompliziert winkelig angeordnet, zwischen braunen Ziegeln ragte an einem Ende ein Kamin in die Höhe. Im Licht einer Strassenleuchte schimmerten die Hauswände rötlich, darin eingelassen waren eine Holztür mit Rundbogen und Sprossenfenster. Wie ein Teppich umgab ein gepflegter Rasen das Gebäude und den Pool. Wenn das Ehepaar Müller darin badete, schützte es eine dichte, zwei Meter hohe Thujahecke vor neugierigen Blicken.
Raab kannte das Grundstück von Lauras Plänen und einer Motorradtour, die er am Vortag vom dreissig Kilometer entfernten Basel hierher unternommen hatte. Von einer nahen Anhöhe am Waldrand hatte er alles mit einem Feldstecher ausgekundschaftet und ein paar Fotos gemacht. Nichts hatte gegen den Bruch gesprochen.
Zehn Minuten kauerte Raab trotzdem hinter einem Gebüsch und beobachtete das Quartier, die Villa und den Garten. Er hielt sich an den erprobten Ablauf, setzte den Timer seiner Uhr auf zwanzig Minuten und drückte den Startknopf: 20.00, 19.59, 19.58 … War die Zeit abgelaufen, so lautete eine seiner goldenen Regeln für Brüche, würde er sich vom Acker machen – mit oder ohne Beute.
Er überquerte die Strasse und folgte dem schmiedeeisernen Zaun, der die Thujahecke umgab. Vor der Gartenseite der Villa streifte er Latex-Handschuhe über, packte die Metallstäbe des Zauns unterhalb der spitzen Enden und zog sich hoch. Vorsichtig schob er einen Fuss zwischen die Spiesse, hielt gebückt mit angespanntem Bauch die Balance, sprang kraftvoll vom Gitter ab und über die Thujahecke hinweg. Er landete hart auf einem Trittstein in der Rasenfläche und kippte um, wobei ihm ein stechender Schmerz durch das rechte Knie schoss.
Verdellisiech!
Seinen Körper hielt Raab gut in Schuss, doch dreiundfünfzig Lebensjahre forderten ihren Preis und liessen sich auch mit täglichem Training nicht wettmachen. So langsam sollte er einfachere Zugänge suchen. Oder lieber eine Klappleiter mitnehmen. Vorsichtig richtete er sich auf, streckte und dehnte das rechte Bein, bis der Schmerz verklungen war.
Im nassen Gras würden seine Schritte Abdrücke hinterlassen. Der Regen brächte die Spuren bald zum Verschwinden, trotzdem … Seit dem Treffen mit Laura hatte Raab ein Bauchgefühl, das er nicht so richtig benennen konnte.
Seine Freundin Jo Lerch hatte ihn mal gefragt, wie viele Einbrüche er schon gemacht habe in seinem Leben. Keine Ahnung, hatte Raab geantwortet, ohne gross darüber nachzudenken. Das Zählen hatte er später nachgeholt. Mit fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal ein Schloss geknackt – nur für den Kick, ohne etwas einzusacken. Später dann, in seiner Anfangsphase als Profi, hatte er für ein sorgenfreies Leben vielleicht dreissig Brüche pro Jahr machen müssen. Die Erfahrung schärfte schnell seinen Blick für lohnende Zielobjekte, mittlerweile lebte Raab gut von etwa zehn «Projekten» pro Jahr. Wenn er das überschlug, kam er auf vielleicht tausend Einbrüche bisher. Dass er sich nie hatte erwischen lassen, erfüllte ihn mit Stolz.
Wieso bloss bekam er jetzt hier auf dem Rasen bei einem einfachen Auftrag eine Gänsehaut? Die Worte seines Mentors René Niggli schossen ihm durch den Kopf: Wenn du dir in die Hosen scheisst, dann lass es sein. So schlimm war es nicht. Ausserdem konnte Raab jetzt keinen Rückzieher machen. Er hatte den Vorschuss kassiert und er war es seinem Ruf schuldig.
Vielleicht lag es an der Kamera, die über dem Gartensitzplatz an der Hausmauer montiert war. Ihre Linse zielte direkt auf ihn. Laut Laura hatte Müller sie lahmgelegt. Dennoch … Raab zog die Kapuze der Regenjacke tiefer in die Stirn.
Um den abgedeckten Pool herum schlich er zum Sitzplatz, der von zwei efeubewachsenen Rankgittern eingefasst war. Dahinter führte eine doppelflügelige Verandatür ins Haus.
Kleine, rechteckige Sprossen teilten das Glas. Im Innern konnte Raab ein grosses Sofa ausmachen.
Aus dem Rucksack zog er einen kleinen Handbohrer, dessen Spitze er unterhalb des Griffs an der Verandatür ansetzte. Er drehte die Kurbel und bohrte ein kleines Loch in das Holz. Durch dieses führte er einen leicht gebogenen stabilen Draht zum Griff und schob diesen damit in die öffnende Position hoch. Die Tür liess sich geräuschlos zur Seite aufschieben. Na bitte.
Auf der Schwelle hängte sich Raab den Rucksack mit einem Riemen wieder über die Schulter, streifte die Kapuze ab, atmete lautlos durch den Mund und spitzte die Ohren. Es gab verschiedene Arten von Stille. Ein Haus konnte völlig ruhig, aber trotzdem bewohnt sein. Waren Menschen in der Nähe, gab es in der Regel winzige Brummgeräusche von elektrischen Geräten, Dielen knackten, Bettdecken raschelten. Raab vernahm ein Klicken, eine Wärmepumpe begann zu rauschen, eine Wanduhr tickte. Mehr nicht. Das hier klang nach einem menschenleeren Gebäude.
Im Wohnzimmer blieb er noch einen Augenblick stehen, um seine Augen an das schummrige Licht im Innern zu gewöhnen. In dem Raum hätte eine Grossfamilie mit Enkeln und Urenkeln Platz gefunden. Zu viel Zeug stand herum: wuchtige Möbel, Fernseher, Lautsprecher, Beistelltische, Regale mit Büchern und Schnickschnack.
An den Wänden hingen Gemälde von Landschaften, Dörfern und Segelschiffen, niederländische Meister. Raabs Blick blieb an der Holzskulptur einer Madonna hängen, spanisch, siebzehntes Jahrhundert. Sie hatte ihre traurigen Augen gegen den Himmel gerichtet – wunderschön und einen Batzen Geld wert.
13.28 zeigte der Countdown auf seiner Uhr. Los jetzt! Raab betrat einen Flur mit dunklen Fliesen und gewölbter Decke. Das einzige Licht, der schwache Schimmer der Strassenlampe, drang durch eine Milchglasscheibe neben der Haustür. Zu seiner Rechten, das wusste er von den Plänen, lagen ein Abstellraum, ein Gästezimmer mit Bad und ein Billardzimmer, links folgte die geräumige Küche. Er ging hinein.
Kupfertöpfe und Pfannen hingen neben dem Herd, eine grosse Kochinsel mit Marmorplatte stand in der Mitte. Eine Einrichtung für Profis. Neben dem Fenster führte eine Tür nach draussen. Die Gänsehaut war zwar weg, aber Raab schloss sie vorsorglich auf. Ein Fluchtweg.
Der Brueghel war das Prunkstück des Arbeitszimmers im oberen Stock.
Durch den Flur gelangte Raab ins Entrée, wo eine Steintreppe mit einem schönen Eisengeländer nach oben führte. Langsam ging Raab die Stufen hoch, hob den Kopf nach oben, lauschte dabei so angestrengt, dass er das Rauschen des Bluts in seinen Ohren hörte.
Das Treppenhaus schmückten englische Porträtzeichnungen von Reynolds, achtzehntes Jahrhundert. Jede einzelne kostete ein paar Tausend.
Raab erreichte den oberen Treppenabsatz, das Arbeitszimmer schloss sich links um die Ecke an. Etwas liess ihn zögern. Kein Geräusch, eher etwas wie eine elektrische Ladung schärfte die Luft. Er streckte den Kopf um die Ecke vor. Ein Sirren zerriss die Stille, etwas Hartes prallte mit Wucht auf seine Stirn. Raab taumelte rückwärts, sein Fuss glitt von der Kante der Treppenstufe ab und er kippte hintüber. Raabs Rippen stiessen gegen das Geländer, mit Hüften und Schultern krachte er auf die Steinkanten der Stufen. Ein Bild fiel scheppernd von der Wand. Er überschlug sich einmal, zweimal.
Die Fliesen im Entrée knallten Raab mitten ins Gesicht, Dunkelheit verschluckte den Schmerz …
Ein nervtötendes Vibrieren am Handgelenk weckte Raab. Das Atmen fiel ihm schwer, seine Rippen und der Unterarm taten höllisch weh. Er hob ihn trotzdem, hielt die Uhr dicht vor seine Augen. Die Ziffern des Countdowns blinkten auf 0.00. Er stellte den Alarm ab.
Er lag auf dem Bauch, wälzte sich auf den Rücken. Im schummrigen Licht nahm der Raum langsam Konturen an. Über ihm wölbte sich eine hohe Decke, die Kristalle eines Lüsters funkelten matt. Als er sich aufsetzte, spürte Raab stechende Schmerzen in Kopf und Brust sowie kalte Fliesen unter den Fingerkuppen. Die Erinnerungen kamen zurück: der Auftragsjob, der Brueghel. Okay … Ob er einfach ausgerutscht und die Treppe heruntergestürzt war?
Er blickte zu den Stufen, sein Rucksack hing verkeilt zwischen den Sprossen. Raab betastete sein Gesicht. Nein, jemand hatte ihn angegriffen! Mit einem Knüppel oder Totschläger.
Mit der Handfläche fuhr sich Raab über die Stirn, spürte kein Blut, doch eine sehr empfindliche Beule. Dort hatte ihn der Kerl erwischt. Zum Glück hatte sein Unterarm den Aufprall ein wenig abgeschwächt, sonst wäre Raab vielleicht nie mehr aufgewacht.
Er rappelte sich auf.
Eine Pistole lag keinen Meter entfernt auf den Fliesen, eine Heckler & Koch P30 mit Schalldämpfer. Er wollte danach greifen, bemerkte da erst, dass er keine Latex-Handschuhe mehr trug. Scheisse! Jemand hatte ihn reingelegt. Es gab Fingerabdrücke, DNA-Spuren …
Er musste verschwinden, sofort. Raab stieg die Treppe hoch, riss den Rucksack zwischen den Geländerstäben heraus und wollte bereits kehrtmachen, als sich sein Blick am oberen Treppenabsatz verfing. Dort hatte ihm der Kerl aufgelauert. Wieso?
Raab musste Gewissheit haben.
Er atmete flach vor lauter Rippenschmerzen, holte ein neues Paar Handschuhe aus dem Rucksack, streifte sie über die Finger und den Rucksack über die Schultern. Dann stieg er hinunter und hob die Pistole vom Boden auf, zog den Schlitten ein wenig zurück. Eine Patrone befand sich im Lager. Schussbereit.
Mit der vorgestreckten Pistole stieg er Stufe um Stufe nach oben. Er erreichte die obere Etage, presste seinen Rücken gegen die linke Wand, um die Ecke sollte sich das Arbeitszimmer mit dem Brueghel befinden. Ob es das Gemälde tatsächlich gab? Es spielte keine Rolle mehr.
Raab ging auf die Knie und schob seinen Körper langsam vor. Er spähte um die Ecke, im schwachen Licht erkannte er einen leeren Gang mit vier Türen. Eine stand offen. Er raffte sich auf und bewegte sich mit Trippelschritten vorwärts, bis er die Schwelle erreichte. Die Gardinen vor dem Fenster waren zugezogen. Drinnen konnte er die Umrisse eines Betts erkennen, eine Kommode, einen Schrank. Ein metallisch-süsslicher Geruch hing in der Luft.
Bitte nicht …
Raab fingerte die kleine Taschenlampe aus der Jackentasche und knipste sie an. Im Lichtkegel lagen ein bärtiger Mann und eine Frau mit blondem Kurzhaarschnitt auf der Matratze, beide im Pyjama, beide tot. Ihr Blut hatte die Kissen und Duvets durchtränkt und die weisse Wand am Kopfende des Betts gesprenkelt. Beide hatten, soweit Raab es vom Eingang her erkennen konnte, mindestens eine Kugel in den Kopf abbekommen. Und er, daran gab es keinen Zweifel, hielt die Mordwaffe in seiner Hand.
Raus hier, sofort, weg von diesem Tatort!
Raab steckte die Pistole am Rücken in den Bund seiner Hose und eilte vom Schlafzimmer durch den Flur die Treppe hinunter, dann durch das Wohnzimmer hinaus in den Garten. Draussen hörte er eine Sirene im Tal widerhallen. Er wollte weglaufen, doch sogleich erfasste ihn ein Schwindel. Raab bremste ab und musste sich dazu zwingen, behutsam zu gehen. Sonst könnte er nochmals umkippen.
Mit gemessenen Schritten umging er den Pool, spürte die Linse der Überwachungskamera wie einen Stachel in seinem Rücken. Die zeichnete zweifellos jede seiner Bewegungen auf. An der Hecke zwängte er sich zwischen zwei Thujabüschen hindurch zum Eisenzaun und griff nach den Sprossen. Mit einem Ächzen kletterte er hoch, musste sich auf die Lippen beissen, um nicht zu schreien vor lauter Schmerzen. Er zwang alle Kraft in die Muskeln, überwand die spitzen Stäbe und liess sich auf der anderen Seite des Zauns hinuntergleiten.
Das Polizeiauto mit der Sirene hatte das Quartier erreicht, das Geräusch kam schnell näher.
Raab lief los in die entgegengesetzte Richtung und überquerte eine angrenzende Wiese. Das Gelände stieg steil an, liess ihn keuchen. Die Rippen auf der linken Seite schmerzten von Schritt zu Schritt mehr, er drückte eine Hand darauf. Nach hundert Metern gelangte er an den Waldrand und blickte hinunter. Scheinwerfer und blinkende blaue Lichter tauchten die Villa in ein Farbenspiel, Schugger in Uniform riefen Unverständliches.
Zwischen dornigen Sträuchern, durch Bäume und Gestrüpp kämpfte Raab sich weiter den Hang hoch.
Nach etwa fünfzig Metern erreichte er das Dickicht, in dem er am Donnerstag sein Motorrad abgestellt und unter Zweigen getarnt hatte. Mit schwerem Atem befreite er die KTM-Crossmaschine. Sein Plan wäre es gewesen, sie durch den Wald zu einem Feldweg weiter oben zu schieben. Doch angeschlagen, wie er war, würde das ewig dauern. Mittlerweile hatte die Polizei Grossalarm ausgelöst, in wenigen Minuten stünden die Strassensperren.
Raab holte den Helm aus dem Seitenkoffer des Motorrads und stopfte seinen Rucksack hinein. Er stülpte den Helm über und schwang sich auf den Sattel, spürte die Pistole am Rücken. Bestimmt hatte der Mörder dafür gesorgt, dass sich seine Fingerabdrücke darauf befanden. Raab packte die Waffe ebenfalls in den Koffer. Dann drehte er den Zündschlüssel, setzte seinen Fuss auf den Kickstarter und trat durch. Beim ersten Versuch sprang der Motor an. Vielleicht würden die Schugger den Lärm unten bei der Villa hören. Egal, er hatte keine Wahl mehr.
Raab schaltete das Licht ein und drehte am Gashebel. Der Hinterreifen drehte kurz durch, Laub und Erde spickten hoch. Dann fand seine KTM Bodenhaftung und schoss den Hang hinauf durch den Wald.
Nach knapp hundert Metern erreichte Raab den Feldweg, verliess den Wald und löschte den Scheinwerfer. An zwei Bauernhöfen vorbei erreichte er kurz darauf die Bennwilerstrasse, wo er nach rechts abbog in Richtung Autobahn. Der Regen hatte seine Jeans durchnässt, er prasselte auf das Visier des Helms. Darunter lief ihm der Schweiss übers Gesicht.
Auf der breiten Strasse gab Raab Gas. Doch bereits nach kurzer Strecke sah er ein Polizeiauto von der Autobahn her auf sich zukommen. Raab schaltete schnell das Licht des Motorrads wieder ein und drosselte das Tempo zu dem eines Nachtschwärmers oder Schichtarbeiters auf dem Heimweg. Er umklammerte die Lenkergriffe, der Einsatzwagen schoss mit Blaulicht, aber ohne Sirene auf ihn zu, an ihm vorbei. Raab atmete auf und guckte in den Rückspiegel. Rote Bremslichter leuchteten auf. Das Polizeiauto stoppte und machte eine Kehrtwende.
Shit!
Raab schaltete das Licht der KTM aus, nahm die Abzweigung nach Bennwil und gab Gas. Hinter ihm dröhnte die Polizeisirene, die Schugger machten Jagd.
Im schwachen Mondlicht flitzten die ersten Häuser des kleinen Dorfs an Raab vorbei, das Polizeiauto folgte keine hundert Meter hinter ihm. Im winkligen Zentrum, sichtgeschützt von alten Bauernhäusern, trat Raab voll auf die Bremse, der Hinterreifen schlitterte über den nassen Asphalt. Sobald er die KTM wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, bog Raab in eine enge Gasse ab und drehte wieder am Gashebel. Wenigstens hatte er die Fluchtroute am Donnerstag genau erkundet.
Die schmale Strasse stieg leicht an und führte aus Bennwil hinaus. Er passierte einen Schiessstand, dann erreichte er einen Wald. Raab drosselte das Tempo und hielt kurz an. Er lauschte und hörte mehrere Polizeisirenen, weit entfernt. So weit, so gut.
Raab bog in einen Waldweg ab und steuerte die KTM in gemässigtem Tempo in Richtung Dielenberg. Nach ein paar Hundert Metern legte er einen Stopp ein und stieg an einem Dickicht vom Motorrad. Aus dem Koffer holte er die Pistole und zerlegte sie mit geübten Fingern in sechs Einzelteile. Raab wischte den Schalldämpfer sorgfältig mit einem Lappen ab und vergrub ihn ein gutes Stück entfernt vom Weg unter Sträuchern.
Ein Stück weiter oben tat er das Gleiche mit dem Magazin der Pistole, nachdem er die Kugeln entfernt hatte.
Schliesslich erreichte Raab klatschnass die Kuppe des Dielenbergs, wo er das Motorrad abstellte, den Helm vom Kopf zog und erst einmal durchatmete. Auch jetzt noch hörte er über dem Plätschern der Regentropfen die leisen Sirenen, die aus Oberdorf heraufdrangen. Doch hier oben fühlte sich Raab relativ sicher, zumindest im Schutz der Dunkelheit.
Er stieg vom Motorrad, während er den Unterarm gegen die schmerzenden Rippen presste. In einem weiten Umkreis vergrub er zunächst die restlichen Teile der Pistole. Dann nahm er eine Armeeblache in Tarnfarben aus dem Motorradkoffer, spannte sie ächzend zwischen zwei Bäumen auf und verankerte sie im Boden.
Es gab einige Dinge, über die Raab nachdenken musste. Doch nicht jetzt, die Schmerzen und das Adrenalin liessen keine vernünftige Analyse zu.
Er breitete eine weitere Blache auf dem nassen Laub aus. Dann holte er einen Schlafsack und einen Plastikbeutel mit Ersatzkleidern aus dem zweiten Motorradkoffer. Im Schutz der Blachen zog er sich aus, wischte den vom Schweiss und Regen nassen Körper mit einem Tuch trocken und streifte die frischen Sachen über. Dann schob er seine schmerzenden Glieder vorsichtig in den daunenweichen Schlafsack. Bis zum Morgengrauen würde er auf dem Dielenberg ausharren und hoffentlich drei, vier Stunden schlafen können.
Und danach fände er heraus, welcher Dreckskerl ihn gelinkt hatte.
Zweimal fuhr Raab an Lauras Haus vorbei und guckte hoch zur Wohnung im ersten Stock. In den Fenstern darüber und darunter brannte Licht, doch nicht bei ihr. Er stellte seinen Golf zwei Querstrassen entfernt ab, blieb im Auto sitzen und dachte nach.
Hatte sie ihn reingelegt?
Raab versuchte es ein letztes Mal auf dem Handy. Laura ging wieder nicht ran. Er biss sich auf den Daumennagel.
Die Uhr am Armaturenbrett stand kurz vor Mittag. Wie eine Betondecke überzogen graue Wolken den Himmel, bloss eine Katze schlich durch das Wohnquartier. Fünf unruhige Stunden hatte Raab im Schlafsack auf dem Dielenberg verbracht. Den misstrauischen Gedanken hatte er nicht verdrängen können: Hatte Laura ihn beschissen? Ihre ganze Story erschien Raab auf einmal seltsam. Wieso hatte sie ihm keine genauen Informationen über diesen Müller geliefert? Und weshalb hatte der Bruch derart überhastet vonstattengehen müssen?
Jetzt könnte er sich in den Arsch treten.
Im Schlafsack hatte er Stunden darüber gebrütet. Bei Tagesanbruch hatte Raab schliesslich seine Sachen gepackt und war mit dem Motorrad ins wenige Kilometer entfernte Bubendorf gefahren, wo er in einer gemieteten Garage den Golf stehen hatte. Er hatte die Fahrzeuge getauscht und war über Zürich an den Talweg in Uster gefahren, in dieses moderne Quartier mit schicken Mehrfamilienhäusern.
Keine Ehre unter Dieben. Den Spruch würde Raab jederzeit unterschreiben. Er kannte eine Menge Lügner und Betrügerinnen, die gebrechliche Alte beklauten, gestreckte Drogen an Freunde verhökerten und Kolleginnen an die Schugger verpfiffen. Es hätte ihm eine Warnung sein sollen, dass Laura bei ihrem ersten Zusammentreffen einen Stammkunden hintergangen hatte.
Er stieg aus, ging um den Golf herum und öffnete die Hecktür. Die Rückbank hatte Raab vor längerer Zeit ausgebaut und durch ein kleines Regal mit Schubfächern ersetzt. Zuoberst befanden sich Prospekte für Alarmanlagen, darunter Werkzeug und Elektronik. Das alles gehörte zu seiner Tarnung als freiberuflicher Sicherheitsexperte. Durch ein verstecktes Schloss unter der Innenverkleidung löste Raab eine Sperre und schob die Schubfächer nach vorn. So gelangte er an den Fundus im Hohlraum darunter: Kleider, Schminke, Haarteile. Als er sich bückte, schoss ein stechender Schmerz durch seine Rippen. Verdelli. Langsam richtete er sich flach atmend auf.
Er streifte ein Paar Latex-Handschuhe über, öffnete mit einem kleinen Schlüssel eine Metallbox und holte seine Glock heraus, lud durch. Die Pistole steckte er in die rechte Aussentasche seiner Lederjacke und schloss den Kofferraum. Er liess noch ein Auto vorbei und überquerte die Strasse.
Wie ein Spaziergänger schlenderte er die zwei Querstrassen zurück zu Lauras Wohnblock. Als er darauf zuging, beobachtete Raab das burgunderrot gestrichene kastenförmige Gebäude. Eine junge Frau in blauem Mantel schob einen Kinderwagen vorbei, in einer Einfahrt wechselte ein glatzköpfiger Rentner die Räder seines Toyotas. Nichts weckte Raabs Argwohn.
Er nahm einen Fussweg um den Block herum zur Rückseite. Auf der Bank eines verlassenen Spielplatzes mit Schaukeln, Rutsche und Sandkasten liess er sich nieder. Mit dem Blick zählte Raab die Balkone zu Lauras Wohnung ab. Ein Fenster war einen Spalt geöffnet. Hinter dem Haus führte eine Treppe hinab zu einem Kellereingang. Raab holte ein Taschenbuch aus seiner Jacke, irgendeinen Krimi, und tat, als ob er lese. Über den Rand checkte er aber den Hintereingang mit der Milchglasscheibe. Das Schloss liesse sich leicht knacken, doch hinter den Fenstern ringsherum verbargen sich an einem Samstagmittag zu viele potenzielle Zuschauende.
Zu gern würde Raab glauben, dass alles bloss ein dummer Zufall gewesen war. Dass er kurz nach einem Berufskollegen in ein Haus eingebrochen war. Dass der das Ehepaar aus einer Kurzschlussreaktion heraus erledigt hatte. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Raab einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, tendierte gegen null. Jemand hatte ihn ja abgepasst und gezielt k. o. geschlagen. Und der Mörder hatte ihm die Waffe in die Hand gedrückt.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis die Milchglastür von innen aufgezogen wurde. Raab sprang auf. Eine junge Frau mit stoppelkurzen Haaren und einem Piercing in der Augenbraue schob ein Fahrrad die kurze Rampe vom Keller hoch und radelte los. Raab zwang sich zu einem Schlendern und erwischte die Tür gerade noch, bevor sie ins Schloss fiel.
Durch den muffigen Velokeller erreichte er das helle Treppenhaus.
Im ersten Stock schmückten zwei Yuccapalmen den Treppenabsatz, gerahmte Fotos von Landschaften hingen an den weiss gestrichenen Wänden. Raab fand Lauras Namensschild an der zweiten Tür links, Ländlermusik plärrte aus der Nachbarwohnung. Seine rechte Hand umfasste den Pistolengriff in der Jackentasche, mit der linken drückte er die Klingel. Drinnen hörte er ein melodisches Ding-Dong, sonst nichts. Raab drückte nochmals, bevor er das Etui mit den Picks aus der Jacke holte. Er nahm den Spanner heraus, einen dünnen Stift in L-Form, und griff nach dem Haken, dessen Ende leicht gebogen war. Tausendfach bewährt.
Raab schob das kurze Ende des Spanners ins Schloss und drehte das lange Ende im Uhrzeigersinn, was den Zylinder unter Druck setzte. Mit der anderen Hand steckte er den Haken in den Zylinder, erspürte die Sicherungsstifte und drückte sie sanft hinunter, einen nach dem anderen. Das Schloss klickte, der Spanner liess sich drehen und die Tür war offen.
Langsam schlüpfte Raab in die Wohnung, die Glock schwer in der Hand. Drinnen machte er die Tür hinter sich zu. Ein Luftzug? Raab folgte ihm durch den Flur in die Küche, sie führte hinaus auf den kleinen Balkon. Das Fenster war leicht geöffnet, es gab keine Einbruchsspuren. Raab schloss es.
Lauras Küche war klein und aufgeräumt, auf einer Arbeitsplatte stand Geschirr zum Trocknen, an der Kühlschranktür hingen eine Kinderzeichnung und Fotos: Laura mit einem Baby im Arm, neben einer jungen Frau im Bikini am Strand, mit Sonnenbrille und einem Grinsen vor dem Eiffelturm. Auf der Anrichte stand eine Kaffeemaschine, das Lämpchen leuchtete grün. Sie blubberte noch und der Kaffee roch frisch. Laura war hier und hätte ihn längst hören müssen.
Raab holte tief Luft und wappnete sich. Mit lautlosen Schritten ging er zurück in den Flur, stiess die Wohnzimmertür auf. Ein Sofa und ein Sessel von Rolf Benz, ein grosser Sony-Fernseher. Zeitschriften lagen verstreut über den Couchtisch: Kochen, Mode, Reisen. Stummel füllten einen Aschenbecher, eine angebrochene Packung Lucky Strike lag daneben. An den Wänden hingen alte Filmplakate, Bacall und Bogart, Fred Astaire, Hedy Lamarr. Weiter.
Das Badezimmer, sauber, aufgeräumt und leer.
Vor dem Schlafzimmer machte er sich auf alles gefasst. Er stiess die Tür auf.
Nein …
Laura lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Schlafzimmerteppich, ihre blauen Augen starrten ins Leere. Raab kniete sich neben die Leiche, entdeckte verkrustetes Blut in den Haaren und Striemen am Hals. Vermutlich war sie niedergeschlagen und erdrosselt worden. Lauras übergrosses weisses T-Shirt-Nachthemd war über den pinkfarbenen Slip hochgerutscht. Ein Lammfellpantoffel war ihr vom Fuss gefallen und befand sich neben der Hüfte, ihre Zehennägel waren dunkelrot lackiert.
Die Vorhänge des Schlafzimmers waren geöffnet. Laura war aufgestanden, hatte die Kaffeemaschine eingeschaltet. Hatte sich der Mörder irgendwo versteckt? Es gab keinerlei Spuren eines Einbruchs oder Kampfs. Nein, sie hatte ihn hereingelassen. Weil sie ihn kannte. Laura war ins Schlafzimmer gegangen, hatte sich anziehen wollen. Und dort hatte der Drecksack sie von hinten niedergeknüppelt, vielleicht mit dem gleichen Totschläger wie in Hölstein. Raabs Blick streifte über den offenen Kleiderschrank und die herausgezogenen Schubladen der Kommode. Danach hatte der Kerl offenbar alles durchsucht und mögliche Hinweise eingesackt.
Welcher Mistkerl hatte ihr das angetan? Der Mörder musste damit gerechnet haben, dass Raab hier auftauchen würde. Und wartete draussen. Oder beobachtete alles und versuchte den gleichen Trick wie in Hölstein. Hatte der Kerl bereits die Schugger alarmiert?
Raab erhob sich, er musste raus aus der Wohnung. Doch dann bückte er sich nochmals zur Leiche und zog ihr das T-Shirt über den Slip.
Es tut mir so leid, Laura.
Im Flur kontrollierte er durch den Türspion, ob die Luft rein war.
Als Raab aus der Wohnung trat, liess er die Tür angelehnt. Irgendjemand würde die Leiche bald entdecken.
Kurz nach zwanzig Uhr nahm Raab eine Frischhaltebox mit Spaghetti Bolognese aus dem Tiefkühler, stellte sie in die Mikrowelle und drückte den Startknopf. Auf der Digitaluhr zählten die Sekunden herunter.
Er entspannte sich ein wenig. Doch noch immer beschäftigte ihn die Frage, ob die Spurensicherung seine Fingerabdrücke oder DNA in der Villa in Hölstein gefunden hatte.
Von Uster war er direkt nach Lauwil im oberen Baselbiet gefahren. Dort hatte er den Golf in einem Wald zwischen Büschen abgestellt und war die letzten paar Hundert Meter über einen schmalen Pfad gewandert. Das alte Bauernhaus stand auf einer abgeschiedenen Lichtung hoch über dem Dorf. Schon vor Jahren hatte er es erworben und mehrheitlich selbst instand gestellt. Den Kauf hatte Raab über eine Treuhandfirma in Zug abgewickelt, sein Name tauchte nirgends in den Papieren auf. Wer auch immer es auf ihn abgesehen hatte, konnte nichts von seinem Rückzugsort wissen.
Vor dem Spiegel im Badezimmer inspizierte er seine Verletzungen. Mit den kühlen blauen Augen, dem bräunlichen Teint und seinem ausgeprägten Kinn unter der schmalen Nase sah er jünger aus als dreiundfünfzig Jahre. Doch die markante Beule auf der Stirn trübte das Erscheinungsbild. Er hob den Pullover hoch, betastete die Haut über den Rippen auf der linken Seite, die sich bläulich verfärbte. Er wusste, wie sich Brüche anfühlten; das hier tat nicht so weh. Zum Glück hielt er seinen Körper gut in Schuss. Siebzig Kilo bei einer Körpergrösse von eins sechsundsiebzig waren auch nicht zu viele.
In der Küche klingelte die Mikrowelle.
Raab nahm die Box heraus, setzte sich an den kleinen Küchentisch, streute Parmesan aus einer Tüte über die Teigwaren.
Er schob sich die erste Gabel in den Mund. Die Stille wurde nur vom Regen durchbrochen, der gegen das Küchenfenster trommelte. Er liebte das Geräusch. Schon als Kind schien ihm, als würde sich die Welt auf diese Weise von Schmutz und Trauer befreien. Wenn er drinnen sass und dem Prasseln lauschte, fühlte er sich warm und sicher.
Doch noch immer konnte er sich nur ärgern über seine Blödheit. Hatte er denn nicht gelernt, dass Planung und Vorbereitung drei Viertel des Jobs ausmachten? Nur deswegen war er über all die Jahre nie geschnappt worden.
Hör jetzt auf zu jammern!
Es half ihm nicht, wenn er nur an seinen Fehlern herumstudierte. Stattdessen musste er herausfinden, wer ihm die Falle gestellt hatte. Wie war Laura zu diesem Auftrag gekommen? Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte Raab solche Fragen noch akribisch abgeklärt, hatte Eigentümer und Grundrisse der Zielobjekte selbst unter die Lupe genommen. Doch Laura hatte immer solide Vorarbeit geleistet. Deswegen war er nachlässig geworden. Deswegen steckte er jetzt in der Scheisse. Und Laura war tot.
Er streute mehr Käse über die Spaghetti.
Möglicherweise kam der Angriff aus Raabs eigenem Umfeld. Wen hatte er so aufs Kreuz gelegt, dass er ihm einen Mord anhängen wollte? Da gäbe es einige, keine Frage. Menschen zum Beispiel, die er beklaut hatte. Oder der Berliner Clan, der noch eine Rechnung mit ihm offen hatte. Andererseits hatte er niemandem etwas von seiner Kooperation mit Laura erzählt. Und sie war klug genug gewesen, zu schweigen. Es lag näher, dass der Täter einen Einbrecher als Opferlamm gesucht hatte und zufällig auf Raab gestossen war.
Es blieb bloss eine Möglichkeit: Er musste bei den Opfern ansetzen, dem Ehepaar Müller. Wer wollte es tot sehen? Und weshalb?
Mit der rechten Hand schob Raab eine Gabel Spaghetti in den Mund, mit der linken nahm er seinen Laptop von der Sitzfläche des zweiten Küchenstuhls, stellte ihn auf den Tisch und holte ihn aus dem Ruhemodus. Er legte die Gabel weg und gab Müller, Flugsimulatoren bei Google ein. Der Signalton für private Nachrichten seines Telefons unterbrach ihn. Raab nahm das Handy von der Ablage neben der Spüle, tippte auf den Bildschirm. Sie stammte von Jo.
Warst du letzte Nacht in Hölstein? Geht es dir gut?
Der Ruck, der ihn durchfuhr, liess seine Rippen schmerzen. Stocksteif sass Raab auf seinem Stuhl. Wie in aller Welt kam seine Freundin darauf? Jo wusste zwar im Prinzip, womit er sein Geld verdiente. Aber er verriet niemals etwas von konkreten Aufträgen. Sie hiess diese zwar nicht gut, doch seit er ihrer Tochter Nora das Leben gerettet hatte, hinterfragte sie sie auch nicht mehr. Raab tippte.
Alles okay. Wie kommst du auf Hölstein?
Die Antwort kam prompt.
Schau dir die Nachrichten bei Telebasel an.
Er legte das Handy hin und rief auf dem Laptop die Website des Lokalsenders auf. Dort wählte er die Mediathek und klickte die Nachrichtensendung an, die eine Stunde zuvor ausgestrahlt worden war. Er lehnte sich zurück an die Stuhllehne.
Nach dem Signet folgten die Schlagzeilen: «Kaltblütiger Mord in Hölstein – Zwei neue Mitglieder im Fasnachts-Comité – Automobilisten sollen im Stossverkehr mehr zahlen». Es folgte der Schnitt zum Nachrichtensprecher im eleganten Anzug, er stand vor einer grünblauen Videowand. «Guten Abend.» Der Computerlautsprecher schepperte ein bisschen. «In der vergangenen Nacht hat sich in der Baselbieter Gemeinde Hölstein ein brutaler Mord ereignet. Wie die Polizei Baselland mitteilt, wurden ein Mann und eine Frau in ihrem Bett erschossen. Bei den Opfern handelt es sich um einen sechsundfünfzigjährigen Mann und seine achtundvierzigjährige Frau. Laut der Polizei ereignete sich die Tat zwischen ein und zwei Uhr nachts. Sie geht davon aus, dass das Ehepaar von einem Einbrecher erschossen wurde. Eine Überwachungskamera hat den Täter erfasst, die Polizei hat ein Fahndungsbild veröffentlicht.»
Nach dem Bildschnitt sah Raab sich selbst von vorn neben dem Schwimmbecken im Garten der Villa. Zum Glück verdeckte die Kapuze den Grossteil seines Gesichts, nur das halbe Kinn und der Mund waren von der Seite zu sehen.
Die Stimme des Moderators sprach aus dem Off dazu: «Laut der Polizei ist der Täter zwischen einem Meter fünfundsiebzig und einem Meter achtzig gross und von schlanker Statur. Er konnte mit einem Motorrad in Richtung Bennwil entkommen. Die Polizei traf kurz nach der Tat in Hölstein ein, sie war von einem bislang unbekannten Zeugen alarmiert worden. Die Polizei Basel-Landschaft bittet diesen Zeugen, sich bei ihr zu melden. Auch alle anderen Personen, die Angaben zum Täter machen können oder etwas Verdächtiges beobachtet haben, sollen die Einsatzleitzentrale in Liestal kontaktieren.»
Das Bild schnitt zurück auf den Moderator. «Das Basler Fasnachts-Comité …»
Raab stoppte die Wiedergabe. Darauf, dass sich der gesuchte «Zeuge» melden würde, konnte die Polizei lange warten. Dieser Drecksack! Raab scrollte zurück zum Foto und drückte die Pausentaste. Im Garten war es stockdunkel gewesen, doch die Aufnahme war gut. Viel zu gut. Wer ihn kannte, brauchte nur zweimal hinschauen. Jo zumindest hatte es getan. Sogar das Jackenlogo und die Fussabdrücke im Gras waren zu erkennen. An der Villa hing eine Infrarotkamera, ein Spitzenmodell, kein Zweifel. Er stiess einen Schwall Luft aus.
In dem Moment klingelte sein Handy. Jo!
«Hast du die Nachrichten jetzt gesehen?», fragte sie mit gesenkter Stimme. Im Hintergrund hörte Raab das Klappern von Tastaturen.
«Ja.»
«Was ist schiefgelaufen?»
«Was genau, weiss ich noch nicht. Aber ich werde es herausfinden.»
«Wer will dir etwas anhängen?»
«Danke.» Raab spürte sich lächeln. «Dafür, dass du nicht denkst, dass ich die beiden auf dem Gewissen habe.»
«Red keinen Quatsch. Ich weiss, womit du dein Geld verdienst. Aber niemals würdest du jemanden körperlich verletzen. Sonst hätte ich dich schon lange selbst an die Polizei verpfiffen. Aber du steckst ganz schön im Dreck. Kann ich etwas tun?»
Auf keinen Fall wollte er Jo in die Sache hineinziehen. Andererseits kam sie als Journalistin bei der Basler Zeitung bestimmt an ein paar nützliche Informationen. «Weisst du etwas über das Ehepaar?»
«Zwei Leute sind an der Geschichte dran, das wird morgen der Aufmacher unserer Titelseite. Was willst du wissen?»
«Alles, was du hast.»
«Moment, ich logge mich schnell ins System ein.» Eine Computermaus klickte mehrfach. «Okay, hier. Thomas Müller war über zwanzig Jahre Pilot bei der Swissair und der Swiss. Danach stieg er bei der Flight Simulation Company ein, einer Firma, die Flugsimulatoren baut und auch Trainings darin anbietet. Seine Frau Judith unterrichtete Biologie am Gymnasium Liestal.»
«Hatten sie Kinder?»
«Hmm … Nein, keine Kinder.»
Keine Waisen, wenigstens etwas Positives. «Sonst noch etwas Interessantes?»
«Nicht wirklich. Die Frau kam aus Herisau und hatte offenbar wie ihr Mann ein Faible für die Aviatik. Bei einer Flugshow lernten sie sich kennen. Er stammt aus dem Baselbiet, ist in Birsfelden aufgewachsen, hat das Gymnasium …»
Birsfelden, ausgerechnet! Ein Ort, eine Zeit, die er tief in sich vergraben hatte. Raab sah sich mit kurzen Hosen zum Schulhaus rennen, beim Kicken auf dem Rasenplatz mit Kollegen, alle vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Swissair … Unter ihnen befand sich ein Schlaks mit hellbraunen Haaren, der oft ein rotes T-Shirt mit den Konturen eines weissen Flugzeugs und genau der Aufschrift getragen hatte. Ein mieser Fussballer war der gewesen, zu langsam auf dem Flügel oder in der Abwehr, bloss als Torhüter hatte er etwas getaugt. «Mülli» hatten sie ihn genannt. Tom Müller …
«Hörst du mir überhaupt zu?»
Der forsche Ton in Jos Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. «Das gibt es nicht! Ich kenne den Mann von früher, aus Birsfelden.»
«Echt?», fragte Jo ungläubig.
«Ich habe ihn seit vierzig Jahren nicht gesehen! Damals habe ich …» Den Rest verschluckte er lieber. «Ich muss einiges recherchieren, okay? Morgen rufe ich dich zurück. Schlaf gut, Liebes.»
«Pass auf dich auf.»
Er legte das Handy auf den Tisch und seine Gedanken wanderten zurück ins Jahr 1984, in einen trockenen Sommer voller Träume und Ernüchterungen.
Die Spaghetti auf dem Tisch wurden kalt.
Früh am Sonntagmorgen hatte der Regen nachgelassen, Pfützen verteilten sich über die Strassen von Birsfelden. Kurz nach neun Uhr stieg Raab aus dem Golf und schloss ihn ab. Sein Blick glitt über den Fussballplatz rechts, auf dem er vor vierzig Jahren jeden freien Nachmittag gekickt hatten, und weiter über die Migros links. Geradeaus, abgeschirmt durch einen schmiedeeisernen Zaun, ragte der rechteckige Klotz des Kirchmattschulhauses in die Höhe.
Seit 1984 war er nicht mehr hier gewesen. Raab hatte nichts davon vermisst. Doch er musste hier beginnen, wenn er mehr über das Ehepaar Müller herausfinden wollte.
Er schlenderte die Strasse hoch, vor der Migros stand eine Blick-Zeitungsbox. Doppelmörder auf der Flucht lautete die Schlagzeile auf der Titelseite, ein Foto der Überwachungskamera zeigte ihn, schwarz gekleidet, drei Spalten breit.
Was für eine Scheisse!
Raab folgte der Kirchstrasse ein Stück, überquerte sie und stiess das vergitterte Tor auf. Auf dem Pausenplatz überkam ihn ein Gefühl, als wäre er als Goliath eben vierzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden, als stünde er in einer Miniaturversion seiner Erinnerungen. Alles schien ihm auf Anhieb vertraut und rief tief vergrabene Erlebnisse wach. Seine erste Liebe, die falschen Freunde, der Einbruch …
Raab spazierte bis zur Mitte des Platzes, das Kirchmattschulhaus auf seiner linken Seite hatte eine moderne Hülle erhalten. Er zögerte, bevor er den Blick nach rechts wandte zur Höllenburg, in der er tausend Tode gestorben war: der Schwimmhalle. Birsfelden rühmte sich, dass die Kinder im schuleigenen Bad von früh auf schwimmen lernten. Doch für einen Jungen mit einer ausgeprägten Wasserscheu hätte es keinen schlimmeren Unterricht geben können. Jahr für Jahr hatten die Lehrer von Neuem versucht, seine Blockade mit Zureden und Drohungen zu durchbrechen. Erbarmen zeigten sie jeweils erst, nachdem Raab ein weiteres Mal fast ersoffen war – unter dem dröhnenden Gelächter der anderen Jungs. Danach durfte er vom Beckenrand aus zusehen, was ihn aber zum Gespött der Schule machte.