Trugbild - Rolf von Siebenthal - E-Book

Trugbild E-Book

Rolf von Siebenthal

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Beschreibung

Der Basler Einbrecher Raab will bloss seine Ruhe haben. Doch Nora, die Tochter seiner ehemaligen Partnerin Jo, holt ihn aus seinem selbst gewählten Exil. Verzweifelt bittet sie Raab um Hilfe: Jo wurde entlassen, ist verschwunden und hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Raab glaubt nicht an einen Selbstmord. Schnell stösst er auf rätselhafte Hinweise und eine Spur, die in die Kunstwelt führt. Je tiefer Raab gräbt, desto mehr schmutzige Geheimnisse kommen ans Licht. Und das schreckt skrupellose Gegner auf.

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Seitenzahl: 391

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ROLF VON SIEBENTHAL

Trugbild

Friedrich Reinhardt Verlag

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Projektleitung: Manuela Seiler-Widmer

Korrektorat: Daniel Lüthi

Layout: Romana Stamm

Umschlaggestaltung: Bernadette Leus,

Visuelle Kommunikation, [email protected]

Titelbildcollage unter Verwendung von:

Lovis Corinth: Ecce Homo (1925), in: Kunstmuseum Basel, Foto: Martin P. Bühler (gw51_0001539_19911118_001)

Blätzlibajass, Foto: Rolf von Siebenthal

Galeriespeicher, Shutterstock (ID: 2077610734)

Waldlandschaft mit Menschensilhouette, Shutterstock (ID: 2385626259)

Eisernes Kreuz, Shutterstock (ID: 2387296211)

eISBN 978-3-7245-2741-1

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2709-1

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

www.reinhardt.ch

Für Sophie

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Anmerkungen

Weitere Bücher von Rolf von Siebenthal im Friedrich Reinhardt Verlag

1

Schulterlange hellblonde Haare schimmerten am Waldrand in der Abenddämmerung über einem blauen Pullover und schwarzen Hosen.

Spinne ich jetzt?

Raab blinzelte und guckte erneut hin. Tatsächlich! Am Ende der Lichtung, knapp hundert Meter von seinem Küchenfenster entfernt, umklammerte eine Frau mit beiden Händen einen Rucksack vor der Brust und sah sich um. Raab griff nach dem Feldstecher auf dem Geschirrschrank und hielt ihn vor seine Augen. «Shit!»

Er legte das Fernglas auf das Abtropfgestell neben dem Spülbecken, eilte durch Wohnzimmer und Entrée hinaus in den verwilderten Vorgarten bis zur Eiche neben der Hausecke und legte beide Hände wie einen Trichter um den Mund. «Nora!», rief er und winkte mit den Armen. Wie hatte sie ihn nur aufgespürt?

Sie grüsste kurz mit einer Hand, blieb jedoch stehen. Mehrfach drehte sie ihren Kopf in Richtung der Kühe, die am unteren Ende der abschüssigen Lichtung grasten. Das Gebimmel ihrer Glocken drang herauf.

Typisch Stadtkind.

Raab überstieg das Seil, das ihm als provisorischer Zaun diente, und ging über das Gras auf Nora zu. So introvertiert wie sie war, kam sie doch nie im Leben einfach so zu ihm herauf. Irgendeine Katastrophe musste es gegeben haben. Mit jedem Schritt wuchs seine Besorgnis. Die Neunzehnjährige war die Tochter seiner ehemaligen Partnerin Josefine Lerch. Nora mied den Kontakt zu Menschen, die meiste Zeit verschanzte sie sich in ihrem Zimmer hinter dem Computer.

Jetzt setzte sie sich vor den Bäumen doch in Bewegung und kam ihm entgegen, kontrollierte aber immer wieder den Abstand zur Kuhherde. Müde sah Nora aus, sie hatte Tannennadeln in den Haaren und Schmutzflecken auf den Kleidern, die Wangen über den hohen Knochen waren zerkratzt.

«Hey», sagte Raab betont sanft.

«Hallo, Raab.»

Er zögerte kurz, doch dann breitete er seine Arme aus, machte noch einen Schritt und legte sie um Noras zierlichen Körper. Vor zwei Jahren hatte Raab die junge Frau nach einer Entführung befreien können, seither pflegten sie einen regelmässigen Austausch per Chat und Mail. Nach einem kurzen Moment löste er sich von ihr. «Wo kommst du denn her?» Noras Mutter Jo war der einzige Mensch, den er jemals hergebracht hatte.

«Mami hat mir mal erzählt von deinem Haus irgendwo in den Bergen bei Lauwil. Also habe ich mir Karten und Bilder von Google Earth ausgedruckt. Seit gestern laufe ich von einem Gebäude zum nächsten. Ich musste dich unbedingt finden.»

Das passte zu ihr. Nora hatte einige Recherchen für Raab erledigt. Zwar kannte er sich durchaus mit Computern und Datenbanken aus, doch Noras Fähigkeiten überstiegen seine deutlich. «Aber wieso hast du mich denn nicht …?» Er brach ab, die Frage konnte er sich sparen. Seit drei oder vier Tagen hatte er weder das Handy noch den Computer eingeschaltet. «Komm ins Haus, bestimmt hast du Hunger.»

«Du siehst anders aus.» Sie rührte sich nicht, beäugte mit ihren katzenartigen grünblauen Augen stattdessen sein Gesicht und den kleinen Bauch, der sich unter seinem Hemd abzeichnete.

Er fuhr sich mit der Hand über den dichten Bart. «Ich weiss, ich sollte mich rasieren … und trainiert habe ich schon eine Weile nicht mehr. Komm.»

Raab schritt voran, wies mit dem Daumen auf die Kühe unten auf der Lichtung. «Die sind ganz harmlos.»

«Gehören sie dir?»

«Nein, meinem Nachbarn. Der Bauer mäht hier zweimal pro Jahr das Gras und danach leisten mir seine Kühe Gesellschaft.»

«Und dort wohnst du?» Mit dem Arm wies sie auf das Haus, ein altes, verlottertes Gebäude. Risse überzogen die Mauern, Unkraut wucherte darum herum.

«Keine Sorge, drinnen ist es gemütlich.» Die Bruchbude auf dem abgelegenen Stück Land oberhalb von Lauwil im Baselbiet hatte Raab vor Jahren über eine Treuhandfirma gekauft, damit sein Name nirgends in den Papieren auftauchte. Bei der Renovation hatte er sich grosse Mühe gegeben, das heruntergekommene Äussere zu bewahren.

Im Entrée stellte Nora den Rucksack auf die Fliesen und streifte die Turnschuhe ab. In Socken trat sie im Wohnzimmer auf den beigen Schurwollteppich. Ihr Blick streifte das Regal aus Kirschbaumholz, die Tablare mit den südamerikanischen Pfeilspitzen, den römischen Münzen, den mittelalterlichen Türschlössern. Sie umkreiste die Bücherstapel auf dem polierten Eichenboden, stellte sich hinter den Ledersessel und legte beide Hände auf die Lehne. «Mami ist verschwunden.» Tränen füllten ihre Augen. «Seit vier Tagen habe ich nichts von ihr gehört.»

Raab bekam Gänsehaut. Das täte Jo niemals. Nicht freiwillig. Für einen kurzen Moment sortierte er verschiedene Möglichkeiten: Jo hatte eine Auszeit gebraucht, hatte einen neuen Mann kennengelernt, hatte kurzfristig auf Geschäftsreise gehen müssen, weil … Er verwarf alles gleich wieder. Nicht nur lebten Jo und Nora zusammen in einer Wohnung, sie hatten auch eine sehr enge Mutter-Tochter-Beziehung. Es gab kein plausibles Szenario, bei dem Jo einfach abtauchen würde. «Warst du bei der Polizei?»

«Ja. Sie sagen, sie können nicht viel tun.»

«Bei Erwachsenen sind sie zurückhaltend. Bei Kindern würden sie sofort eine Suchaktion starten.»

Mit kreidebleicher Miene nickte Nora, ihre Fingernägel gruben sich in das Leder der Sessellehne, an der sie stand. «Und wegen der Mail …»

«Was für eine Mail?» Eines Entführers, eines Erpressers? Aber dann würde die Polizei doch etwas unternehmen.

«Mami hat sie geschrieben.»

Wie bitte? «Zeig sie mir.»

Nora holte den Rucksack aus dem Entrée, zog ihren Laptop heraus und stellte ihn auf den Couchtisch. Sie setzte sich im Schneidersitz davor. Nach ein paar Klicks schaute sie hoch. «Sie kommt von einer speziellen Website. Dort können Menschen Nachrichten für Angehörige hinterlegen.» Nora schluckte, Tränen liefen über ihre Wangen. «Verschickt werden die Mails erst nach ihrem Tod.»

Das passte überhaupt nicht zu Jo. «Wer benutzt so etwas?»

Nora hob die schmalen Schultern. «Leute, die ihrer Familie noch etwas mitteilen wollen. Vielleicht, weil sie sich im Leben nie getraut haben …» Ihre Unterlippe zitterte.

«Und so eine Nachricht soll deine Mutter geschrieben haben?» Raab zog den Ledersessel heran und setzte sich neben Nora. «Lass sehen.»

Sie drehte den Bildschirm in seine Richtung. Die Mail war am Samstag, dem 9. September, verschickt worden, vor drei Tagen.

Liebe Nora

Wenn du diese Mail liest, bin ich nicht mehr am Leben. Es tut mir schrecklich leid! Ich kann nicht ermessen, wie schlimm diese Nachricht für dich sein muss. Bitte verzeih mir den Kummer, den ich dir bereite.

Es fiel mir nicht immer leicht, eine gute Mutter zu sein. Ich habe zu viel gearbeitet, hätte mir mehr Zeit für dich nehmen sollen. Manchmal regte ich mich über Kleinigkeiten auf, an manchen Tagen hatte ich kein gutes Wort für dich. Es gibt so vieles, das ich bereue. Bitte vergib mir.

Ich habe Vorkehrungen für dich getroffen. Es ist genug Geld vorhanden, damit du ein paar Jahre lang sorgenfrei leben kannst. Du kannst studieren, eineAusbildung oder Weltreise machen – was immer dir Spass macht. Geh zu Andreas, dem Anwalt, er hat alle Unterlagen und wird dich unterstützen. Und natürlich ist auch Papi für dich da.

Ich weiss, dass du deinen Weg gehen und zu einer wunderbaren Frau heranwachsen wirst. Es tut mir unendlich leid, dass ich dich nicht dabei begleiten kann. Du bist der Fixstern in meinem Leben. Mein Stolz und meine Liebe werden dich über den Tod hinaus begleiten.

Ich liebe dich so sehr.

Mami

Stumm starrte Raab auf den Bildschirm. Vor seinem inneren Auge sah er die lebenslustige Jo mit den silbergrauen Haaren, den vielen Sommersprossen, der leicht schiefen Nase und dem grossen Mund. Doch es waren ihre hellwachen, dunkelbraunen Augen gewesen, die ihn von Beginn weg in den Bann gezogen hatten. Vor zehn Monaten hatte er Jo zum letzten Mal gesehen und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht an sie dachte. «Hast du diese Mail der Polizei gezeigt?»

«Ja, klar.» Nora schniefte und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg.

Die Schugger mussten von einem Selbstmord ausgehen, deshalb unternahmen sie nichts. Doch Raab kannte Jo besser, nie würde sie sich auf diese Art davonschleichen. Er legte Nora eine Hand auf die Schulter. «Das ist kompletter Bullshit!»

2

In Windeseile hatte Nora den ersten Teller und danach auch fast die ganze zweite Portion verdrückt. Sie ass wie ihre Mutter: Gabel um Gabel schaufelte sie Bratkartoffeln und Spiegelei in den Mund, zwischendurch spiesste sie ein paar Bohnen auf. Nach einer Dusche hatten Noras Wangen Farbe angenommen, in seinem blauen Trainingsanzug sass sie am Küchentisch und schien wie verwandelt, seit Raab die Mail als Fälschung bezeichnet hatte. Beim Essen hatte sie ausführlich von ihrer Wanderung von Hof zu Hof erzählt, in der vergangenen Stunde hatte sie mehr geredet als in den ganzen zwei Jahren zuvor. Schliesslich lehnte sie sich im Stuhl zurück. «Ich platze gleich.»

«Sehr gut.» Raab sass ihr gegenüber am Tisch, nippte an einem Tee. «Jetzt müssen wir nochmals über diese Mail reden.»

«Klar.» Sie schob die Ärmel der viel zu grossen Adidas-Jacke über die Ellenbogen hoch.

«Du sagst, die Website ist für Menschen, die Nachrichten nach ihrem Tod verschicken wollen. Wie funktioniert das?»

«Man hinterlegt seine Angaben, zahlt einen Beitrag und fertig. Danach bekommt der Urheber in regelmässigen Abständen eine Mail von der Website. Wenn man innert einer selbst festgelegten Frist darauf antwortet, geschieht nichts. Tut man es nicht, wird die hinterlegte Botschaft an die Angehörigen verschickt.»

«Also muss nicht unbedingt Jo diese Nachricht geschrieben haben.»

Nora nagte an ihrer Unterlippe. «Nein.»

«Wer ist dieser Anwalt, Andreas?»

«Andreas Hofer, ein Schulfreund von Mami.»

«Warst du bei ihm?»

Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. «Ich will nicht … Sobald Andy weiss, dass Mami weg ist, wird er Papi anrufen. Der steht bestimmt am nächsten Tag vor der Tür und will mir sagen, was ich tun muss. Darauf kann ich verzichten.»

Noras Vater war ein Kollege von Jo bei der Basler Zeitung gewesen, der vor Jahren einen Job bei der Süddeutschen Zeitung ergattert hatte. Nora und Jo waren vorerst in Basel geblieben und hätten ihm nach ein paar Monaten folgen sollen. Doch in der Zwischenzeit hatte er sich in eine Fotografin der deutschen Zeitung verliebt.

«Du bist volljährig», sagte Raab.

«Papi wird wollen, dass ich zu ihm nach München ziehe und ewig nerven.»

«Du hast also nicht mit ihm geredet.»

«Nein.»

«Das solltest du aber. Er ist dein Vater und sollte Bescheid wissen.»

Sie zuckte mit den Schultern.

Er konnte nachvollziehen, dass sie darauf keine Lust hatte. Er stand auf, griff nach Noras Teller und stellte ihn in das Spülbecken.

Auf dem Stuhl drehte Nora sich ihm zu. «Wer auch immer diese Mail geschrieben hat, weiss einiges über Mami.»

«Gab es denn irgendetwas Auffälliges in ihrem Leben in der letzten Zeit? Hatte sie Streit mit jemandem? Oder sorgte ein Artikel für Ärger?» Jo konnte knallhart recherchieren und schreiben.

Nora starrte ihn mit grossen Augen an. «Verfolgst du denn gar keine Nachrichten mehr?»

Bei der Explosion einer Tankstelle war Raab im vergangenen November schwer verletzt worden. Er hatte Abstand von der Welt gebraucht und seither wie ein Eremit in den Jurahügeln gelebt. «Habe ich etwas Wichtiges verpasst?»

«Mami arbeitet gar nicht mehr für die Zeitung. Sie ist entlassen worden.»

Er starrte sie an. «Wann?»

«Am Donnerstag sind es drei Wochen.»

Die Vorstellung, dass eine topseriöse und erfolgreiche Journalistin wie Jo von der Basler Zeitunggefeuert worden sein könnte, fand Raab absurd. «Weshalb?»

«Es gab einen grossen Skandal wegen eines Artikels.»

Shit! Und er hatte nichts davon mitbekommen. «Wieso hast du mir denn nichts davon geschrieben?»

«Weil ich dachte, dass du das weisst. Allerdings habe ich mich schon etwas gewundert, dass du nie nachgefragt hast.»

Er hatte sich zu sehr abgeschottet. «Worum ging es in dem Artikel?»

«Ich zeige ihn dir.»

Nora holte ihren Laptop aus dem Wohnzimmer, stellte ihn auf den Küchentisch vor Raab und rief die Website der BaZ auf. Nach ein paar Klicks durch das Archiv hatte sie eine Frontseite als PDF auf dem Bildschirm. Sie stammte vom 5. August. Sie vergrösserte einen Artikel und richtete sich auf. «Das ist die Kurzversion.»

Basler Regierungsrat unter Bestechungsverdacht.

Das Foto unter dem Titel zeigte Regierungsrat Daniel Kaiser, der im schicken Anzug das Bau- und Verkehrsdepartement am Münsterplatz verliess.

Der Basler Baudirektor Daniel Kaiser traf sich im März und April dieses Jahres mindestens drei Mal mit einer exklusiven Escortdame in einem Fünfsternehotelam Titisee im Schwarzwald. Dies bestätigt die 25-jährige Larissa M., die für den Zürcher Callgirlservice City Girls arbeitet. Kunden bezahlen für ihre Dienste bis zu 2200 Franken pro Nacht. Doch die Rechnung beglich nicht der verheiratete Basler Baudirektor. Aus zuverlässiger Quelle hat diese Zeitung erfahren, dass ein Zürcher Architekturbüro dafür aufkam. Es hatte den Wettbewerb um den Neubau des Basler Staatsarchivs gewonnen. Das Kostendach für das Projekt beläuft sich auf 190 Millionen Franken.

Bericht Seite 35.

Kaiser, ausgerechnet! Der Korrupteste von allen. Bei einem Einbruch ins Privathaus des Basler Politikers hatte Raab vor zwei Jahren dessen Tresor leer geräumt. Kaiser wusste das und hatte Rache geschworen. Weil Raab darin aber gestohlene Kunstobjekte gefunden und alles mit Fotos dokumentiert hatte, waren Kaiser die Hände gebunden. Dass der Regierungsrat regelmässigen Umgang mit Prostituierten pflegte, wusste Raab. «Was stimmt nicht mit Jos Artikel?»

«Die Leute behaupten: alles.» Nora verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Geschirrspüler. «Drei Tage nach der Veröffentlichung hat diese Larissa im Blick behauptet, dass alles erfunden sei. Für die Lügengeschichte habe Mami ihr fünftausend Franken bezahlt. Medien in der ganzen Schweiz haben sich wie Geier daraufgestürzt, Mami wurde online und am Telefon beschimpft, die Zeitung musste sich schliesslich entschuldigen. Und dann haben sie Mami rausgeworfen.»

«Wow.» Es fühlte sich an wie ein Faustschlag in die Magengrube. Jo war eine Vollblutjournalistin, der Beruf bedeutete ihr die Welt. Nach dem Rausschmiss musste sie verzweifelt gewesen sein. Womöglich hatte sie tatsächlich nur noch einen Ausweg gesehen … Nein, nicht Jo! Raab rief sich ihre Lebenslust in Erinnerung und ihre unendliche Liebe für Nora. Klar wäre sie am Boden gewesen. Aber nie im Leben hätte sie sich deswegen umgebracht. Ausserdem hätte sie sich bestimmt abgesichert bei ihrer Recherche, sie war doch keine Anfängerin. Also würde sie nachforschen und zum Gegenangriff übergehen. So tickte Jo. Raab deutete auf den Monitor. «Kennst du den Hintergrund der Story? Woher hatte sie den Tipp?»

«Sie wollte nicht mit mir darüber reden.»

«Hat es sie sehr mitgenommen?»

«Es war schlimm.» Nora hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. «Du weisst, wie wichtig Mami der Job war. Aber sie lag nicht einfach tagelang im Bett und heulte. Sie machte viele Spaziergänge. Und dann, vor etwa zehn Tagen, raffte sie sich wieder auf, sass stundenlang am Computer und telefonierte viel.»

«Sie wollte herausfinden, wer sie hereingelegt hatte.»

«Denke ich auch. Mami gibt nicht auf. Aber ich hätte sie besser unterstützen müssen. Nicht bloss einkaufen gehen, kochen, putzen und so. Stattdessen war ich einfach nur froh, dass es ihr wieder besser ging. Jetzt mache ich mir grosse Vorwürfe deswegen.»

«Bestimmt hätte sie mit dir geredet, wenn sie deine Hilfe gebraucht hätte. Doch vermutlich war sie noch nicht so weit.»

Nora senkte den Kopf und spannte die Kiefermuskeln an. «Denkst du, dass jemand Mami entführt hat?»

«Davon gehen wir erst einmal aus.» Oder jemand hatte ihr Schlimmeres angetan. «Wir machen uns jetzt an die Arbeit. Weisst du etwas über dieses Callgirl, diese Larissa? Das ist bestimmt nicht ihr richtiger Name.»

«Nein.»

«Der erste Job für dich. Im Recherchieren bist du spitze. Find heraus, wie sie heisst, wo Larissa wohnt. Einfach alles über sie. Danach werde ich mich mal mit der Dame unterhalten.»

«Okay.» Nora setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch, straffte die Schultern und zog den Laptop zu sich her.

«Wir müssen kontrollieren, ob es Abhebungen vom Bankkonto deiner Mutter gab. Hast du Zugang dazu?»

Sie spitzte die Lippen. «Vielleicht. Mamis Laptop liegt noch zu Hause und sie verwendet fast immer das gleiche Passwort.»

«Okay, besorg die Bankauszüge. Wie sieht es mit dem Handy aus? Hat sie immer noch ein Swisscom-Abo?»

Nora nickte.

«Falls du in das Konto kommst, dann lad die Anrufliste der letzten dreissig Tage herunter.» Raab überlegte einen Moment. «Nein, mach drei Monate daraus. Hat sie immer noch das iPhone? Hast du versucht, es zu orten?»

«Ja, aber bei Apple verwendet sie ein anderes Passwort. Das kenne ich nicht. Die Polizei hat nachgeforscht. Ein Herr Meier vom Polizeiposten im Gundeli kam vorgestern kurz bei mir zu Hause vorbei und sagte, dass Mamis Handy am Freitagnachmittag das letzte Signal aus dem Schützenmattpark gesendet habe.»

Also hatte es Jo oder sonst jemand dort ausgeschaltet. «Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?»

«Am Freitag, beim Mittagessen. So um halb zwei sagte Mami, dass sie noch ein paar Besorgungen mache in der Stadt. Sie nahm den Regenschirm und die Einkaufstasche mit, schien ganz normal.»

«Was wollte sie auf der Schützenmatte?»

Nora hob die Schultern.

«Hat dieser Meier gesagt, was die Polizei unternimmt?»

«Sie würden weiter nach Mami suchen. Aber ich glaube, das sind nur leere Worte.»

«Wie kommst du darauf?»

«Er war sehr höflich. Aber er hat einen Flyer auf dem Esstisch liegen lassen. Von einem Verein für Angehörige von Suizidopfern. Für ihn scheint es kein richtiger Fall zu sein.»

«Ich werde mal mit ihm reden.» Obwohl es als goldene Regel in seinem Gewerbe galt, jeden Kontakt zur Polizei zu meiden. «Wie ging es Jo in den letzten Monaten? Hatte sie irgendwelche Probleme über den Job hinaus?»

Nora faltete die Hände und senkte den Blick. «Nach eurer Trennung ging es Mami nicht gut. Vermutlich arbeitete sie deswegen so viel in der Redaktion. Aber ich glaube nicht, dass sie mit sonst etwas oder jemandem Schwierigkeiten hatte. Sonst hätte sie es mir erzählt.» Sie verschränkte die Arme und gab ein kurzes, verzweifeltes Schluchzen von sich. Wieder liefen Nora Tränen über das Gesicht. «Bitte hilf mir, sie zu finden. Bitte bring Mami zurück zu mir.»

Raab stand vom Stuhl auf und kniete sich neben sie. Er legte seinen Arm um Nora. «Wir werden das gemeinsam durchziehen, du und ich. Wir sind ein super Team. Und wir werden Jo finden.»

Das war er Jo schuldig.

3

Raab erwachte mit einem Ruck. Einen Moment lang lag er verwirrt im Bett, die Hände schweissnass, sein Herz raste. Doch dann tauchten aus den Schatten des Schlafzimmers vertraute Möbel auf. Und als er draussen die Kuhglocken bimmeln hörte, beruhigte sich sein Puls.

Mit den Fingern fuhr er sich über den Schädel. Der Verband war schon seit Monaten weg, aber unter den kurzen Haaren konnte er die Narbe fühlen: dicke Knoten aus hartem Fleisch. Es war das markanteste Überbleibsel vom Angriff bei der Tankstelle in Reigoldswil, als ein Mafiaarschloch ihn hatte umbringen wollen. Neben einer Hirnprellung und einem Schädelriss hatte Raab Rippenbrüche, Verbrennungen und kleinere Schnittwunden davongetragen. Die körperlichen Schmerzen waren mittlerweile fast verheilt, auch wenn ihn ab und zu üble Kopfschmerzen plagten. Schlimmer war, dass er in regelmässigen Abständen in Albträumen wieder durchlebte, wie er inmitten von Feuer und Rauch in einem zerbeulten Auto gefangen gewesen war.

Raab griff nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch. 4.10 Uhr. Er starrte gegen die Holzbalken unter der Zimmerdecke und fragte sich, ob es bloss Wunschdenken war, dass er Jo keinen Selbstmord zutraute. Weil er nicht über die Trennung von ihr hinweggekommen war. Im vergangenen November hatten sie sich … Nein, nicht getrennt. Jo hatte ihn abserviert. Obwohl sie ihn liebte, wie sie ihm damals in ihrer Küche versichert hatte. Jo war nicht mehr klargekommen damit, dass er von Einbrüchen lebte und mit der Tatsache, dass er eben kein Spiesserleben mit Pensionskasse und Sonntagsbrunch führen wollte. Danach hätte er es sich einfach machen und ihr die ganze Schuld an der Trennung zuschieben können. Hätte Schwamm drüber, die Nächste sagen können – wie früher auch.

Doch das wäre eine Lüge gewesen. Sein Job hatte auch Jo in Gefahr gebracht: Denn die Mafiaidioten hatten im vergangenen November nicht nur ihn, sondern auch sie als seine Freundin attackiert. Weil sie ihn nicht in die Finger bekommen hatten. Nicht zuletzt aus Sorge um Noras Sicherheit hatte Jo Schluss gemacht. Das konnte er ihr nicht mal verübeln.

Raab schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Durch das Fenster konnte er Sterne am Himmel sehen in dieser klaren, kalten Septembernacht. Er zog Jeans und ein Sweatshirt über. Ob Nora noch wach war? Bis gegen zwei Uhr hatte er sie im Büro nebenan herumtapsen hören. Er trat hinaus in den Flur. Die Bürotür stand einen Spalt offen, doch drinnen brannte kein Licht. Er schob seinen Kopf hindurch. Nora lag in seinem Schlafsack auf der Isomatte, ein Teil seiner Ausrüstung für Nachteinsätze. Sie atmete lang und tief. Leise schloss er die Tür.

Im Wohnzimmer machte Raab Licht, zerknüllte Zeitungspapier, legte es in den Kaminofen, stapelte dünne Holzscheite darauf und entfachte ein Feuer.

In der Küche füllte er ein Glas mit kalter Milch und gab zwei Löffel Ovomaltine dazu – das Frühstück seiner Kindheit. In der Fensterscheibe betrachtete er sein Spiegelbild. Früher hatte Raab oft zu hören bekommen, dass er mit den kühlen blauen Augen, den kohlrabenschwarzen Haaren, dem markanten Kinn, der schmalen Nase und dem bräunlichen Teint jünger aussehe als seine vierundfünfzig Jahre. Es mochte auch daran gelegen haben, dass er seinen Körper mit regelmässigem Training gut in Schuss gehalten hatte. Doch in den vergangenen Monaten hatte er sich gehen lassen.

Damit muss jetzt Schluss sein.

Mit dem Glas in der Hand setzte er sich in den Sessel vor dem Ofen, in dem das Holz knisterte. Um ihn herum auf dem Eichenparkett stapelten sich Bücher, die er in den letzten Monaten gelesen hatte: Biografien über Bundesrat Emil Frey und B. B. King, die Trilogie von Hilary Mantel über Thomas Cromwell, historische Bände über Pharaonen, Troja und das alte Rom. Er hatte es genossen, einfach in den Tag hineinzuleben – für eine Weile zumindest. Doch je länger seine Auszeit gedauert hatte, desto mehr hatte Raab sich Gedanken über seine Zukunft gemacht. Es waren nicht nur die Verletzungen, die ihn plagten; er war nun mal kein gelenkiger und flinker Jungspund mehr.

Er trank einen Schluck Ovo, beobachtete die Flammen, lauschte dem Knistern.

Fast noch beängstigender fand Raab die Tatsache, dass er gar keine Lust hatte, neue Projekte auszubrüten und in die Tat umzusetzen. Falls er derart unmotiviert an die Arbeit ginge, würde er früher oder später erwischt. Garantiert! Zwar hatte er knapp vierhunderttausend Franken in verschiedenen Schliessfächern gebunkert, damit käme er lange Zeit ohne Einbrüche über die Runden. Doch er wollte nicht für den Rest seines Lebens Biografien lesen.

Er griff nach dem Handy auf dem Beistelltisch und schaltete es ein. Um zwanzig nach zwei hatte ihm Nora eine Nachricht geschickt:

Ich habe die Datenbank von City Girls mit SQL-Injection knacken können. Ganz schön gruselig, diese Website. Und mieser Datenschutz. Larissa heisst Olivia Messerli. Sie wohnt an der Erlinsbacherstrasse in Aarau.

Raab schmunzelte. Er hatte keine Ahnung, was SQL-Injection bedeutete, doch nur das Ergebnis zählte. Zwar hatte er Jo einst zugesichert, dass er Nora nie um illegale Recherchen bäte. Doch jetzt hatten sich die Prioritäten verschoben.

Am Tisch neben dem Kamin fuhr er seinen Computer hoch. Die Website von City Girls verfügte über ein sorgfältig gestaltetes Design mit professionellen Fotos. Rund dreissig Frauen boten ihre Dienste an, sie waren zwischen zwanzig und Mitte dreissig Jahre alt, trugen elegante Kleider. Sie nannten sich Sofia, Mabelle, Amira oder Stella und waren im Hauptberuf angeblich als Studentin, Immobilienmaklerin, Architektin oder Krankenschwester unterwegs. Laut der Eigenwerbung von City Girls betrachteten sie den Job als kleines erotisches Abenteuer, das sie neben ihrem Studium oder Beruf ausüben.

So ein Scheiss!

Raab klickte auf das Foto von Larissa alias Olivia Messerli. Er gelangte zur Bildergalerie der jungen Frau mit geraden schwarzen Haaren, die bis über ihre Schultern reichten. Sie hatte zart gewölbte Augenbrauen, eine kleine Nase, schön geschwungene Lippen. Photoshop konnte zwar einiges kaschieren, doch Olivia war zweifellos eine gut aussehende Frau. Sie posierte im Abendkleid, im teuren Spitzenbustier und im Tanga in Netzstrümpfen. Unter den Fotos war zu lesen, sie sei fünfundzwanzig Jahre alt, 165 Zentimeter gross und 52 Kilo schwer, spreche Deutsch, Englisch und Französisch, habe braune Augen. Angeblich liebte sie Sonnenblumen, Champagner und Dessous von Agent Provocateur und natürlich auch Taschen von Louis Vuitton. In der Freizeit tanze sie oder mache Yoga. Unter Charakter stand leidenschaftlich, ehrgeizig und neugierig. Ihren Kunden bot sie Küssen, Fusserotik, Dildospiele und den Verkehr nur mit Kondom an. Das Honorar für Olivia lag bei 900 Franken für zwei Stunden, eine Nacht kostete 2200 Franken.

Interessant fand Raab den letzten Eintrag: Zurzeit geniesst Larissa Ferien. Ein Enddatum für den Urlaub war nicht im Profil eingetragen. Dass sie nach der ganzen Aufregung abgetaucht war, überraschte ihn nicht.

Das war also die Prostituierte, deren falsche Aussagen Jo in den Abgrund gestürzt hatten. Immerhin wusste Raab jetzt, wie sie aussah. Vermutlich hatte sie für das Schmierentheater von der angeblichen Bestechung durch Jo so viel kassiert, dass sie tatsächlich für eine Weile irgendwo in der Sonne liegen konnte. Das ersparte ihr unangenehme Fragen von Medien oder Schuggern.

Hatte es die heimlichen Treffen von Olivia und Regierungsrat Kaiser im Schwarzwald gegeben? Spuren liessen sich nie ganz verwischen. Und Jo war ein Profi. Sie musste doch bei den Recherchen auf Beweise gestossen sein, die ihre Geschichte untermauerten: Kreditkartenabrechnungen, Bilder von Überwachungskameras oder Aussagen von anderen Gästen. Würde jemand sie entführen oder umbringen, damit sie nicht nachlegen und die Lügen entlarven konnte?

Die andere Möglichkeit war, dass es die Zusammenkünfte tatsächlich nie gegeben hatte. In dem Fall hätte jemand viel Aufwand betreiben müssen, damit Jo in diese Falle tappte. Bestimmt hätte sie sich nicht auf die Aussage eines Callgirls allein verlassen. Es musste gefälschte Unterlagen geben, die einer gründlichen Überprüfung standhielten. Solche liessen sich fabrizieren, keine Frage. Aber sicher nicht von heute auf morgen, dafür bräuchte es Zeit und Geld.

Doch weshalb der Riesenaufwand? Ging es gar nicht um Jo, sondern darum, mit dem Skandal eben doch Regierungsrat Kaiser anzuschwärzen? Dass der Dreck am Stecken hatte, wusste Raab. In der Vergangenheit war jedoch nie etwas am smarten Politiker hängen geblieben. Oder ging es gar nicht um Kaiser, sondern um die Zürcher Architekten?

Irgendwo musste Raab anfangen. Er entschied sich für Aarau. Im Lauf des Vormittags würde er einen Ausflug in die Kleinstadt machen. Möglicherweise versteckte sich Olivia Messerli ja gar nicht am Meer.

4

Am Mittwochmorgen um Viertel vor zehn spazierte Raab unter einem bedeckten Himmel am Wohnblock in Aarau vorbei: modern, vier Stockwerke hoch, hellblauer Verputz, beste Lage. Zu Fuss war er in zehn Minuten von der Altstadt über die Kettenbrücke hierhergelangt. Er trug die dunkelbraune Uniform eines UPS-Boten mit Baseballmütze, dazu hatte er sich mit blonden Haaren, einem dunkelblonden Bart und einer Hornbrille getarnt. Eingeklemmt unter dem Arm hielt er ein Polstercouvert, adressiert an Olivia Messerli.

Einmal umkreiste Raab das Haus, checkte die Zugänge, Balkone, Regenrinnen und Fenster ab, bevor er zielstrebig auf den Eingang neben einer Forsythie zusteuerte.

Hinter einer gläsernen Tür hingen drei Reihen von Briefkästen im Entrée. Die Anzahl bestätigte seine Vermutung, dass es zwölf Wohnungen gab. Die Türklingeln unter einer Gegensprechanlage rechts davon deuteten darauf hin, dass Olivia im dritten Stock wohnte. Er drückte den Knopf und wartete. Sein Plan sah vor, sie wegen einer Unterschrift zum Eingang zu locken. Danach würde er improvisieren.

Keine Reaktion. Raab versuchte es erneut und wartete länger, aber wieder tat sich nichts.

Kurz schaute er sich im Entrée nach neugierigen Nachbarn um, bevor er die Klappe von Olivias Briefkasten aufschob. Darin lag ein Stapel Briefe und Broschüren. Offenbar war sie tatsächlich abgehauen.

Er testete die Tür zum Treppenhaus – abgeschlossen –, wollte bereits den alten Kuriertrick anwenden und ein paar beliebige Klingeln drücken. Doch drinnen rannte ein Teenager mit Rucksack und Ohrstöpseln die Treppe herunter, warf die Glastür auf, hetzte durch das Entrée und verschwand nach draussen.

Schnell schlüpfte Raab ins Treppenhaus und fuhr mit dem Lift in den dritten Stock. In der Kabine streifte er Latex-Handschuhe über und entfernte die UPS-Logos von Hemd und Mütze – beide waren nur mit Klettbändern befestigt. Er ersetzte sie durch Abzeichen von Schlüsseldienst Tobler aus seiner Hosentasche. Das mochte Raab an der dunkelbraunen UPS-Uniform: Sie war vielseitig einsetzbar.

Im dritten Stock schmückten Topfpflanzen den Treppenabsatz, gerahmte Ausdrucke von Klee-Gemälden hingen an den weiss gestrichenen Wänden, Marmorfliesen bedeckten den Boden. Der Geruch von frischem Kaffee lag in der Luft. Raab fand Olivias Namensschild an der zweiten Tür rechts. Vorsichtshalber drückte er nochmals die Klingel, im Innern hörte er ein melodisches Ding-Dong. Niemand öffnete.

Aus dem Polstercouvert zog er das Etui mit seinen Picks. Raab nahm den Spanner heraus, einen dünnen Stift in L-Form, und griff nach dem Haken, dessen Ende leicht gebogen war. Vor dem Türschloss ging er in die Hocke. Es verfügte über eine einreihige Stiftanordnung und fünf Stiftpaare, mittelmässige Qualität. Raab schob das kurze Ende des Spanners in den Schlüsselkanal und drehte das lange Ende im Uhrzeigersinn, was den drehbaren Teil des Schliesszylinders unter Spannung setzte. Mit der anderen Hand steckte er den Haken in den Zylinder, erspürte die Sicherungsstifte und drückte den ersten sanft hinunter. Doch er entglitt ihm wieder und Raab merkte, dass seine Finger etwas eingerostet waren. Er begann nochmals von vorn.

Hinter sich hörte er eine Klinke. «Hallo, Sie?»

Von der anderen Seite des Flurs beobachtete ihn eine Frau mit grauen Locken durch den Türspalt: Ende sechzig, rundliches Gesicht, schmale Nase und Lippen, schwarzgraue Haare. Sie trug einen braunen Rock, eine beige Bluse und braune Pantoffeln.

Raab drehte den Kopf, präsentierte das Logo auf seiner Mütze und hielt die Latex-Handschuhe sowie die Picks vor seinem Körper versteckt. «Guten Morgen.»

«Was tun Sie da?»

«Das Schloss von Frau Messerli klemmt. Sie hat uns angerufen und um Hilfe gebeten.»

«Ich dachte, sie sei in den Ferien.»

Raab hob die Schultern. «Davon hat mir die Zentrale nichts gesagt.»

Noch gab sie sich nicht zufrieden. «Schlüsseldienst Tobler? Sind Sie aus der Gegend?»

Er lächelte sie an. «Unser Hauptsitz befindet sich in Zürich. Aber wir haben auch eine neue Filiale in Aarau.» Raab wandte sich wieder dem Schloss zu und drückte den nächsten Stift hinunter.

Leise schloss sie die Tür hinter ihm.

Nach dem Setzen des letzten Stifts liess sich der Spanner drehen und das Schloss knackte beim Entriegeln. Vielleicht zwei Minuten hatte er dafür gebraucht, doppelt so lange wie üblich. Raab betrat die Wohnung und schob die Tür hinter sich zu. Im Gesicht der Nachbarin hatte er das Misstrauen deutlich lesen können. Den Schlüsseldienst könnte sie ruhig überprüfen, den gab es tatsächlich. Aber falls sie die Schugger anriefe, hätte Raab vielleicht fünf, maximal zehn Minuten Zeit. Er startete den Timer seiner Armbanduhr.

Durch den kurzen Flur ging er am offenen Bad und einer geschlossenen Tür vorbei zum Wohnzimmer. Hinter gläsernen Schiebetüren sah Raab einen kleinen Balkon mit Metallgeländer, die Sonne beschien ein Rechteck auf dem grauen Spannteppich. Die Einrichtung bestand aus einem schwarzen Ledersofa, ein paar passenden Stühlen und einem Couchtisch, an den Wänden hingen Fotos von Meeresstränden. Auf der rechten Seite führte ein offener Durchgang in die Küche: weisse Fliesen, weisse Kacheln, aufgeräumt und sauber. Er trat an die Schiebetüren, der Balkon bot einen Blick auf den Parkplatz vor dem Gebäude. Unten war keine Polizei in Sicht.

Im Flur lauschte Raab an der geschlossenen Tür, nichts. Langsam drückte er die Klinke, trat ein. Im Schlafzimmer stand ein gemachtes Bett mit hellblauer Bettwäsche. Auf dem schwarz lackierten Nachttisch neben dem Doppelbett befanden sich eine Lampe, ein Reiseführer für New York und ein Armband aus Gold.

Drei Minuten waren vergangen. Ihm blieb keine Zeit, den grossen Einbauschrank zu filzen.

Zurück im Wohnzimmer warf Raab erneut einen Blick nach draussen, wenigstens fuhren unten immer noch keine Polizeiautos vor. Stattdessen entdeckte er einen Laptop auf dem Beistelltisch neben dem Ledersofa, einen HP mit Aufklebern von Coldplay. Er setzte sich auf die Couch, zog den Laptop auf die Knie, klappte ihn auf und startete ihn. Ohne Passwort gelangte Raab zum Desktop. Er öffnete Google Chrome, klickte auf den Browserverlauf und hatte Glück. Wie die meisten Menschen löschte Olivia den Verlauf nicht.

Unten auf dem Parkplatz hörte Raab ein Auto hart bremsen. Er erhob sich vom Sofa und machte drei Schritte in Richtung Balkon.

Shit, die Schugger!

Die Nachbarin hatte tatsächlich Alarm geschlagen und die Polizei hatte schnell reagiert. Ihm blieben höchstens ein, zwei Minuten, bis sie den Abwart mit dem Generalschlüssel aufgetrieben hatten. Danach würden sie mit dem Lift nach oben fahren und Messerlis Wohnung kontrollieren. Der Aufzug befand sich links davon, das Treppenhaus rechts. Sein Fluchtweg.

Er schnappte sich den Laptop, klickte auf den vierten Eintrag im Browserverlauf: UBS E-Banking Login. Er rief die Seite auf, netterweise füllten sich der Benutzername und das Passwortfeld automatisch aus. Olivia hatte beides gespeichert. Doch nun müsste Raab einen QR-Code mit der richtigen App auf Olivias Handy scannen. Sackgasse.

«Mist!»

Es kam ihm aber noch eine Idee. Raab klickte auf den Ordner Downloads auf dem Desktop. Tatsächlich, Olivia hatte die Abrechnungen der Kreditkarte heruntergeladen, drei Stück waren aufgelistet. Er öffnete ein Outlook-Fenster, fügte eine seiner Tarnmailadressen ein, hängte die Abrechnungen an und schickte die Mail ab. Er klappte den Laptop zu, stellte ihn zurück auf den Beistelltisch.

Raab huschte zur Wohnungstür, guckte durch den Türspion und drückte sein Ohr gegen das Holz. Er hörte den Aufzug klingeln, die Schiebetür glitt auf. Stimmen erklangen im Flur.

Verflucht!

Er eilte zurück ins Wohnzimmer, trat durch die Glastür hinaus auf den Balkon und schloss sie hinter sich. Im Polizeiauto unten sass niemand. Raab befand sich fast zehn Meter über dem Boden, direkt unter ihm, zwischen Haus und Parkplatz, lag ein schmaler Grünstreifen mit Sträuchern. Es war zu hoch zum Springen. Auch die Nachbarbalkone waren zu weit weg. Er lehnte sich über das Geländer, sah den Balkon darunter.

Eine kleine Chance ist besser als keine …

Durch die Scheibe hörte Raab gedämpftes Hämmern vom Wohnungseingang. Er klammerte sich ans obere Ende des Staketengeländers mit senkrechten Metallstreben, schwang die Beine darüber und stellte die Füsse auf die untere Querstange. Raab ging in die Hocke, nahm die Füsse vom Metall und verlagerte sein Gewicht ganz in die Arme. Dann liess er die Hände an zwei Streben bis zum unteren Ende rutschen. Ein Blick zwischen seine Füsse nach unten verriet, dass sie noch etwa einen halben Meter über dem Geländer im zweiten Stock baumelten. Er schwang die Beine, zwei, drei Mal, zielte auf den Balkonboden unter ihm, dann liess er los.

Hart landete Raab auf dem Beton und rollte sich seitlich ab. Schmerzen schossen durch seine Knie und den Rücken. Liegend schaute er durch halb geöffnete Vorhänge ins Wohnzimmer. Dort brannte Licht.

Er bewegte kurz seine Glieder, nichts fühlte sich gebrochen oder verstaucht an. Vorsichtig rappelte er sich auf. Die Beine waren noch etwas wackelig vom harten Aufprall. Weil er viel zu lange nicht trainiert hatte.

Idiot!

Raab testete die Schiebetür – nicht abgeschlossen. Er holte Luft, öffnete sie einen Spalt und betrat die Stube. Im Schlafzimmer nebenan plärrte ein Werbespot für Katzenfutter im Fernseher, hoffentlich lag der Bewohner oder die Bewohnerin im Bett.

Okay, geradeaus durch den Flur und raus.

Raab machte leiseste Trippelschritte durch den Flur. Er erhaschte einen Blick auf den Bildschirm und das Fussende des Betts davor. Leider war es leer.

Gegenüber rauschte die Toilettenspülung hinter einer schmalen Tür.

Raab rannte zum Eingang, löste die Sicherheitskette und drehte den Schlüssel, der Gott sei Dank samt Anhänger im Schloss steckte. Das Metall knackte laut – egal. Raab riss die Tür auf, zog sie aber so leise wie möglich hinter sich zu.

Im Korridor ging er möglichst normal, aber schnell zum Treppenhaus vor. Raab checkte die Stockwerke über ihm, musste sich dazu zwingen, dass er nicht einfach wie ein Anfänger losrannte. Stattdessen stieg er betont gemächlich die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Unterwegs befestigte er schnell wieder die UPS-Logos an der Uniform.

Auch den Ausgang sicherte kein Schugger.

Raab verliess den Wohnblock durch die Eingangstür, wie es jeder Paketbote getan hätte und atmete erst auf, als er die Altstadt von Aarau erreichte. Dort meldeten sich pochende Schmerzen in Knöcheln und Hüften. Raab seufzte.

Er wurde zu alt für diesen Scheiss.

5

Die Kartonverpackungen des späten Mittagessens in Jos und Noras Wohnung – Pizza für Nora, Thai-Curry für Raab – hatten sie zur Seite geschoben und sich noch Mineralwasser eingegossen. Raab hatte wie Nora den Laptop aufgeklappt. Er sass ihr am Esstisch gegenüber. Seit der Trennung von Jo vor zehn Monaten war er nicht mehr hier im Basler Gundeldingerquartier gewesen; nichts hatte sich verändert. Rechts vom Tisch teilte ein Tresen die offene Küche ab, links lag das geräumige Wohnzimmer mit Regalen voller Bücher, DVDs und CDs. Ein bunter Quilt bedeckte das Ledersofa, zwei einladende Sessel füllten die Ecken. Ein antiker Spiegel, ein Picasso-Druck sowie Familienfotos zierten die Wände, ein dicker Teppich aus Schurwolle lag auf dem Parkett.

Er war immer gern hier gewesen.

Vor sich auf dem Monitor hatte Raab eine Liste der Rechnungen, die Olivia Messerli mit ihrer Kreditkarte beglichen hatte: Einkäufe bei der Migros, der Central-Apotheke in Aarau, bei Zalando und Louis Vuitton in Zürich. Dazu kamen Ausgaben für ihren Mobilfunkanbieter Sunrise, viele Uber-Fahrten, Starbucks, ein Sushi House und diverse Pizzakuriere. Die Frau kochte wohl nicht gern – ganz im Gegensatz zu Jo, die mit Leidenschaft hier in der kleinen Küche gewerkelt und dabei unablässig geplaudert hatte. Ihr Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti war der Hammer.

Nora hob den Kopf. «Auf Mamis Bankkonto sehe ich nichts Ungewöhnliches.»

Er vertraute ihr. «Wie sieht es mit dem Handy aus? Hast du die Anruflisten?»

Sie nickte. «Aber die helfen uns nicht wirklich weiter. Es sind bloss Nummern, keine Namen. Ich kenne ein paar davon, die Zeitung zum Beispiel oder Grosi. Ein paar habe ich im Netz gefunden, Institutionen und so. Aber die übrigen sagen mir nichts. Soll ich die mal anrufen?»

«Wie viele sind es denn?»

Sie senkte den Blick und ihre Lippen bewegten sich leicht, als sie zusammenzählte. «Sechsunddreissig Nummern in den letzten drei Monaten.»

Raab schüttelte den Kopf. «Zu aufwendig. Schick mir die Nummern, die du nicht kennst. Ich werde die Namen besorgen.»

«Wie?»

«Über einen Bekannten bei der Swisscom.»

«Woher kennst du den?»

«Es ist der Freund einer Bekannten, der seinen Job hasst. Nach solchen Leuten halte ich immer Ausschau, das sind gute Quellen.»

«Bezahlst du die dafür?»

«Einige ja. Andere geben sich aber auch mit Tickets für Konzerte oder einem Blumenstrauss zufrieden. Denen geht es vor allem darum, dass sie mal ein Lob zu hören bekommen. Oder sie wollen es ihrer Firma heimzahlen. Und dann gibt es noch ein paar Leute, die mir einen Gefallen schulden.»

Nora hob die Augenbrauen. «Weil du für sie irgendwo eingebrochen bist?»

«Ja, Auftragsjobs. Manchmal verzichte ich auf einen Lohn und verlange Informationen.»

Nora lehnte sich zurück in ihrem Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust. «Es ist ganz schön deprimierend, dich so reden zu hören. Man könnte meinen, dass es überall nur so wimmelt von Dieben und Betrügern.»

Raab wägte ab, wie viel er ihr erzählen sollte. «In meiner Welt schon. Allerdings sind die meisten Menschen meiner Erfahrung nach ehrlich. Sie füllen die Steuererklärung richtig aus, geben zu viel Retourgeld zurück. Doch je mehr Kohle im Spiel ist, desto mehr schwindet die Moral. Die wirklich erfolgreichen Gauner kennt keiner, denn die werden nie erwischt. Es gibt hochgeachtete, mit Preisen ausgezeichnete Persönlichkeiten, die ihr Leben lang klauen und betrügen.»

«Wirklich?»

«Absolut.» Shit! Was tat er da eigentlich? Nora hatte bereits genug Probleme, er musste nicht auch noch ihr Weltbild ruinieren. «Aber das sind nur wenige. Die meisten Schwindler sind zu blöd oder zu eitel, früher oder später werden sie erwischt.»

«Hast du Angst davor?»

«Geschnappt zu werden?» Er zuckte mit den Schultern. «Natürlich sässe ich ungerne ein paar Jahre im Bau. Doch ich würde es überleben. Risiko gehört nun mal zum Geschäft. Allerdings bin ich immer sehr vorsichtig und lasse lieber mal einen gut bezahlten Bruch aus, wenn mir etwas nicht gefällt. Deswegen mache ich mir nicht zu viele Sorgen, dass das passiert.»

Nachdenklich betrachtete Nora ihn ein paar Sekunden lang. «Okay.» Dann wandte sie sich wieder ihrem Laptop zu und hämmerte mit rasendem Tempo auf der Tastatur herum. «Die Liste mit den Nummern müsstest du schon im Posteingang haben.»

Er griff über den Tisch und nahm sich ein Stück Pizzarand aus Noras Schachtel – sie schnitt den immer weg. Beim Knabbern fragte er nach: «Weisst du, woran Jo in den letzten Monaten noch gearbeitet hat? Ich meine neben dieser Geschichte mit Larissa.»

«Meinst du, dass jemand einen Artikel verhindern wollte?»

«Könnte doch sein.»

Sie machte ein reumütiges Gesicht. «Wir haben selten über ihren Job geredet. Sie hat viel geschrieben, bestimmt zwei oder drei Artikel pro Woche.»

Raab deutete mit dem Finger auf den Laptop. «Vielleicht findest du da drauf etwas über ihre Recherchen.»

«Nein. Mami brachte selten Arbeit mit nach Hause. Ihre Artikel schrieb sie meist auf einem Computer im Büro. Und in den Server komme ich nicht rein.»

Er schluckte das Stück Pizzakruste herunter, griff nach seinem Wasserglas und nahm einen Schluck. «Möglicherweise geht es auch um einen Artikel, den sie bereits veröffentlicht hatte. Weil sich jemand rächen wollte. Gab es da etwas?»

Nora senkte den Blick und nagte an ihrer Unterlippe. «Ich weiss nicht, was sie geschrieben hat. Ihre Artikel habe ich nie gelesen.» Ihre Stimme brach.

Er streckte den Arm aus, legte seine Hand auf ihre. «Mach dir keine Sorgen darüber. Ich werde mit Jos Kolleginnen und Kollegen reden.»

Nora schniefte und nickte. «Okay.»

Raab wandte sich wieder der Kreditkartenrechnung Messerlis zu, scrollte zur nächsten Seite. Ein Eintrag fiel ihm auf:

Park-Hotel am Rhein, Rheinfelden, 7 Nächte, Doppelzimmer Deluxe, Halbpension, 3051 Franken.

Bezahlt hatte Olivia das Zimmer vor elf Tagen. Mit Google fand er eine schön gestaltete Website.

Ruhiges 4-Sterne-Hotel direkt am Rhein, eingebettet in einen herrlichen Park und mit direkter Verbindung zur Wellness-Welt «sole uno».

Hätte Olivia dort einen Kunden bedient, hätte sie das Zimmer kaum selbst bezahlt. Ferien also. Und die Rechnung hatte sie am Ende beglichen, sie war also bereits wieder abgereist. Schade. Raab nahm ein weiteres Stück Kruste aus der Box. Es sei denn … sie hätte das Zimmer im Voraus bezahlt. Manche Hotels gewährten dafür einen Rabatt. Raab griff nach dem Handy, tippte die Nummer von der Website ein.

«Park-Hotel Rheinfelden.» Er klang wie ein junger Mitarbeiter aus dem Badischen.

«Messerli hier.» Raab legte eine aufgekratzte Fröhlichkeit in seine Stimme. «Können Sie mir sagen, ob meine Schwester Olivia noch bei Ihnen im Hotel ist? Sie wollte sieben Tage wellnessen. Olivia Messerli.»

«Einen Moment, ich schaue gern nach.»

Raab hörte eine Computertastatur klappern. «Ja, Frau Messerli ist noch bis Ende Woche unser Gast. Soll ich Sie mit ihrem Zimmer verbinden?»

«Nein, danke, ich werde vorbeikommen. Und bitte sagen Sie ihr nichts, ich will sie überraschen.»

«Natürlich, gerne.»

Raab trennte die Verbindung und sah, wie Nora ihn über den Laptop hinweg ungläubig anblickte. «Du bist wirklich gut.»

«Gelernt ist eben gelernt. Olivia Messerli entspannt sich im Park-Hotel in Rheinfelden.»

«Urlaub?»

«Sieht so aus. Oder sie versteckt sich.» Er blickte auf seine Uhr, zwanzig nach vier. Raab stand auf.

«Was willst du tun?»

Er lächelte und legte wieder aufgekratzte Ferienlaune in die Stimme. «Ich besuche mein Schwesterherz, sie wird sich bestimmt freuen.»

6

Träge floss der Rhein in der Abenddämmerung am Park-Hotel vorbei. Das Interieur des Cafés dominierten die Farben Beige und Braun, die Tische waren weiss gedeckt, die Stühle mit cremeweissem Leder bezogen. Mitte Nachmittag waren nur wenige davon besetzt.

Raab sass mit Abstand zu den anderen Gästen an der Glasfront zum Fluss, rührte in seinem Schwarztee und beobachtete den Eingang. An der Rezeption hatte er sich als Angestellter des Blick ausgegeben und Olivia Messerli ausrichten lassen, dass er sie im Café erwarte. Das war vor einer Viertelstunde gewesen. Womöglich hatte er falsch gepokert und die Escortdame hatte kein Interesse an einem Gespräch mit der Zeitung. Er fände es eigenartig, wo doch der Blick dank ihrer Aussagen Jos Artikel als Fälschung entlarvt hatte.

Raab zupfte die dunkelbraune Echthaarperücke zurecht, die er seit Monaten nicht mehr getragen hatte. In seiner Basler Wohnung hatte er den Bart abrasiert und die erprobte Kostümierung für die Rolle als Geschäftsmann oder Anwalt aus dem Schrank geholt: schwarzer Wollmantel, dunkelbrauner Leinenanzug und teures weisses Hemd. Unter seinen Wangen steckten kleine Silikonpolster, die sein Gesicht fülliger wirken liessen und ein bisschen drückten. Getönte Kontaktlinsen verliehen seinen kühlen blauen Augen einen warmen Braunton.

Raab griff nach der Speisekarte. Wenn er schon vergebens nach Rheinfelden gefahren war, konnte er sich zumindest ein Abendessen gönnen. Lachsfilet auf Blattspinat mit Weissweinrisotto. Das klang lecker. In den Einsiedlermonaten auf dem Berg hatte er zumeist Spaghetti oder Kartoffeln verschlungen.

Aus den Augenwinkeln nahm Raab beim Eingang des Cafés eine Bewegung wahr. Eine zierliche schwarzhaarige Frau mit Pferdeschwanz stand an der Kuchenvitrine, sie trug eine rahmenlose Brille, Jeans und ein übergrosses Sweatshirt mit der Aufschrift Viva la Vida. Ihr Blick tastete den Raum ab.

Raab nahm die neueste Blick-Ausgabe vom Nebenstuhl und winkte damit.

Olivia Messerli sprach ein paar Worte mit dem Kellner und kam dann auf ihn zu. Sie war ungeschminkt, die Haut in ihrem Gesicht gerötet, als käme sie direkt aus der Sauna. Vielleicht hatte er deswegen so lange warten müssen. «Wer sind Sie?», fragte sie misstrauisch.

«Andreas Kessler.» Er fischte eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie, auf die er das Blick-Logo, die Anschrift der Zeitungsredaktion in Zürich sowie seine eigene Handynummer gedruckt hatte. Er reichte sie ihr.

Messerli las den Text darauf und kniff die Augen zusammen. «Sie sind Anwalt? Ich verstehe nicht.»

«Der Verlagsleiter will, dass ich alles nochmals überprüfe.»

Zögerlich steckte sie die Visitenkarte in die Gesässtasche ihrer Jeans und setzte sich ihm gegenüber. «Was ist mit Carla? Bisher hatte ich nur mit ihr zu tun.»

Die Journalistin Carla Simonazzi hatte den Blick-Artikel verfasst. «Mit ihr habe ich bereits gesprochen, deshalb sind noch ein paar Fragen aufgetaucht. Die möchte ich mit Ihnen klären.» Raab zog ein ledergebundenes Notizbuch und eine Füllfeder aus dem Jackett und legte beides auf die Tischdecke. «Frau Simonazzis Artikel über Frau Lerch hat grossen Wirbel verursacht. Seit ihrem Verschwinden ist auch die Polizei involviert. Wir wollen sichergehen, dass die Story wirklich wasserdicht ist.»