Langsamer Abschied - Irina Korschunow - E-Book

Langsamer Abschied E-Book

Irina Korschunow

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Beschreibung

Eine bewegende Liebesgeschichte der großen Erzählerin Irina Korschunow Pierre und Nora, zwei, die zusammengehören, gemeinsam reden und schweigen, sich streiten und vertragen, Pläne machen und wieder verwerfen - bis Pierre mit seinem Auto in die Katastrophe rast und nichts mehr so ist wie zuvor. Ihre Geschichte beginnt zwischen den schrägen Wänden am Göttinger Goldgraben, wo bei klarem Wetter ein Quadrat des Sternenhimmels durch das Dachfenster funkelt. Pierre studiert Physik, Nora Kunstgeschichte, und als sie sagt: "Ja, ich will bei dir bleiben", gilt das für immer - glaubt sie. Doch der Unfall, bei dem Pierre schwer verletzt wird, wirft Nora aus der Bahn. Ein nicht enden wollender Albtraum beginnt. Sie kann sich nicht verzeihen, dass sie im Streit auseinandergingen, bevor das Unglück geschah. Wird sie jemals wieder aus dem Labyrinth von Schmerz und Schuldgefühlen herausfinden? Vielleicht sogar noch einmal von Liebe reden können? "Irina Korschunow besitzt eine Kraft und eine Ruhe, die auch ihre Geschichten mit Kraft und Ruhe und Sicherheit erfüllen." Sybil Gräfin Schönfeldt

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Irina Korschunow

Langsamer Abschied

Roman

Hoffmann und Campe Verlag

Für Alex

Nun also soll Pierre begraben werden, draußen auf dem Einbeeker Heidefriedhof, mit kirchlichem Segen, und selbst als schon die Glocken läuteten, wusste ich noch nicht, ob es richtig war, was ich tat. »Für mich bitte kein Tamtam, nur die grüne Wiese und eine Gitarre mit Yesterday«, hatte er gelegentlich verlauten lassen, früher vor dem Unfall, als Sterben noch irgendwo im Abstrakten hing, nicht seine Sache. Doch dann, gegen Ende des großen Schweigens, hatte er angefangen, die Finger ineinander zu verschränken, erst sporadisch, allmählich häufiger, ein ehernes Bild, Pierre, der Leidensmann, bleich und erstarrt, die gefalteten Hände auf der Bettdecke.

Vielleicht nur eine leere Geste oder der Versuch, sich an sich selbst festzuhalten. Schwester Guda indessen, verantwortlich für das morgendliche Ritual, Säubern, Salben, Lagern und was der Körper sonst noch benötigte, um den Tag zu überstehen, bezeichnete es als Beten, »der Herr Professor betet wieder«, naheliegend für eine in die Jahre gekommene christliche Pflegerin, und keine Frage, dass sie unmittelbar nach seinem letzten Atemzug für eine kirchliche Beerdigung zu kämpfen begonnen hatte, mit dem Argument der gefalteten Hände, und vielleicht sei er im Verlauf seiner Heimsuchung ja längst wieder bei Gott angelangt, »darauf lassen Sie uns hoffen, Frau Nora«.

Aber woher sollte ich wissen, was in Pierres zerstörtem Hirn vor sich gegangen war in der letzten Phase und ob er sich auch jetzt noch die grüne Wiese gewünscht hätte oder doch lieber ein Grab hinter der alten Dorfkirche. Eins konnte so richtig oder falsch sein wie das andere, es gab keine schriftlichen Verfügungen. Weil aber Schwester Gudas Entschlossenheit jeden Einwand zunichte gemacht hatte, stand nun der blumenumwucherte Sarg an dem Altar, wo Pastor Kröger, ein etwas mickriger Mann mit erstaunlich sonorer Stimme, darauf beharrte, den langen Leidensweg eine göttliche Prüfung wie die des Hiob zu nennen, unerträglich, dieser Vergleich. Nein, das nicht, dachte ich oder murmelte es sogar, denn Schwester Guda neben mir, aufrecht, ihre frisch gestärkte Haube über dem Scheitel, griff nach meiner Hand, es sei doch eine schöne Predigt, der Herr Professor würde sich freuen.

Ich war ohne verwandtschaftlichen Tross gekommen, zwei Einzelkinder, Pierre und ich, jeder von uns hatte nur den anderen gehabt. Nun saß ich allein inmitten der Menge, die darauf wartete, Erde hinter ihm herzuwerfen, Nachbarn aus dem Ort, in dem wir unser Haus gebaut hatten, die Universität mit ihrem Umfeld, sein Institut natürlich in voller Besetzung, dazu die große Zahl der Freunde und Weggefährten aus vergangenen Zeiten, viel zu viele Menschen für die kleine Friedhofskapelle. Sie drängten sich in den Bankreihen und an den Wänden, und während die Predigt weiterhin um Hiob kreiste, sah ich plötzlich Leo unter der Empore stehen. Unsere Blicke trafen sich, ich wandte mich ab, warum musste er kommen nach allem, was passiert war. »Lass ihn endlich los«, hatte er gesagt, »es ist doch Zeit, wirf dich nicht immer wieder dazwischen«, und nun stand der Sarg am Altar, nein, Leo hätte nicht kommen dürfen.

 

Schwester Guda hielt immer noch meine Hand, »Hiob«, dröhnte Pastor Kröger, »Hiob, ein Knecht Gottes, und gleich ihm hat auch unser nunmehr erlöster Bruder sich in den Willen des Herrn gefügt«, der Moment, in dem ich Pierres Gelächter zu hören meinte. Ich presste die Lippen zusammen. Nur nicht weinen, nicht vor der versammelten Gemeinde, schon gar nicht in Gegenwart jener ehemaligen Kollegen, die sich nach dem Unfall der Materialien seines noch unveröffentlichten Forschungsprojekts bemächtigt hatten, jetzt aber, ohne Zweifel dankbar für den endgültigen Abgang, schwarzbeschlipst zum Trauern erschienen waren. Und als der Dekan an den Sarg trat, um den viel zu frühen Tod des hochgeschätzten Wissenschaftlers zu beklagen, verlor ich doch noch die Fassung, verzeih mir, Pierre, verzeih mir dies und alles, verzeih mir.

Die Beerdigung, das letzte Kapitel unserer Geschichte. Ich gehe an der Spitze des Trauerzuges, mit dem Bild in der Hand, das neben dem Sarg gestanden hatte, Pierre in seinem alten Anorak, schwarz, der rote Pulli darunter. Ein Foto aus unseren Göttinger Anfängen, er, der Überflieger, kurz vor dem Physikdiplom und ich im vierten Semester Kunstgeschichte. Noras Orchideenfach, wie er es nannte, was mir, obwohl seine Halbleiterphysik mich ebenfalls kaltließ, jedes Mal einen Stich gab. Und nun nur noch das Bild.

Ich sehe ihn an, die dunklen Augen, das lachende Gesicht, und die Zeit beginnt sich zu drehen, zurück ins Damals vor zwanzig Jahren. Es ist Sommer, wir gehen durch die Weender Straße Richtung Mensa, der tägliche Weg. »Du und deine brotlosen Spielchen!«, tönt Pierre aus dem Off, »aber egal, du heiratest ja sowieso demnächst«, wonach meine eigene Stimme »ach ja, wen denn?« fragt, und selbst jetzt noch, auftauchend aus dem Dunst der Erinnerung, glaube ich, den Ärger über seine flapsige Antwort zu spüren: »Wen wohl, mich natürlich.«

Nur eine Frotzelei, was sonst auch angesichts unserer eher lockeren Beziehung, die für mich in jenem ersten Sommer, obgleich wir schon seit drei Monaten zusammen durch Göttingen liefen, noch keineswegs nach Dauer schmecken wollte.

»Ich bin Pierre«, hatte er beim Tanzen oben am Rohns gesagt, während die Beatles mit ihrem Yesterday aus den Lautsprechern quollen, Yesterday, jedermanns Ohrwurm, der nun ihm und mir zu gehören begann. Unser Lied und ein Muss geradezu für Pierres Beerdigung, hatte ich gedacht, als kurze Sequenz zumindest zwischen Chorälen und Klassik, warum nicht, auch kirchliche Rituale waren ja nicht unberührt geblieben vom Zeitgeist. Einer unserer Freunde beispielsweise hatte das Programm der eigenen Trauerfeier rechtzeitig festgelegt, worauf zwei Celli ungehindert sämtliche Strophen von Mackie Messers Haifisch-Song an seinem Sarg darboten, feierlich wie ein Largo, man wusste nicht, ob man weinen oder lachen sollte, aber der Wille des Toten wurde erfüllt. Pierre indessen, weil unser alttestamentarischer Pastor Kröger Sakrilege solcher Art nicht zuließ, durfte nur mit einem Bach’schen Geigensolo sowie dem langsamen Satz aus Beethovens zweitem Streichquartett verabschiedet werden. Kein einziger Takt Yesterday, meine Schuld, ich hätte darum kämpfen müssen. Doch jetzt war wohl auch dies nicht mehr von Belang.

»Pierre«, hatte er mir damals beim Tanzen mitgeteilt, »ich bin Pierre. Und du?«

»Nora«, sagte ich.

»Nora«, er zog das O breit auseinander. »Etwa nach der aufmüpfigen Dame von Ibsen?«

»Mag sein«, sagte ich, »da müsste man mit meiner Mutter reden.«

Er lachte: »Wohl eine frühe Emanze?«, was der Sache ziemlich nahe kam, und um der Antwort auszuweichen, fragte ich, ob denn hinter jedem Namen das passende Programm stecken müsse und wie es bei ihm damit stehe. Pierre, da könne man ja sicher etwas Französisches vermuten.

Er runzelte kurz die Stirn, »mag ebenfalls sein, aber das verrate ich erst, wenn wir uns besser kennen. Gibt es eine Chance?«

»Ich bin doch keine Kassandra«, sagte ich, alles nur so hingeworfen, nicht mehr als Geplänkel. Im Übrigen gefiel er mir mit seiner lässigen Art und der Ironie in der Stimme, und dann die Augen, die dunkel waren, neugierig und beredt, französische Augen. Wir tanzten den ganzen Abend zusammen, und gegen Mitternacht, auf dem Waldweg, der vom Rohns in die Stadt hinunterführte, küsste er mich, er mich und ich ihn, nein, keine Rede von Einseitigkeit. Doch auf die damals bereits übliche Frage, ob wir zu mir gehen wollten oder zu ihm in sein Zimmer am Goldgraben, bekam er ein entschiedenes »Weder-noch« hingeworfen, zu meiner eigenen Verwunderung. Ich war, was die sogenannten Beziehungen betraf, bisher nicht besonders heikel gewesen, vielleicht aus Angst vor irgendetwas Ernsthaftem, das mich von meinem Studium hätte entfernen können, und wohl auch, weil es keinem der wechselnden Freunde gelungen war, die Erde erbeben zu lassen, wie ich es einst, gerade vierzehn geworden, in Hemingways »Wem die Stunde schlägt« gelesen hatte. Maria und Roberto unter dem spanischen Sternenhimmel, und die Erde zittert, unvergesslich, dieses Bild, tiefverwurzelt in der Phantasie. Möglich, dass nun, acht Jahre später, Pierre mir als Bote aus Bezirken, wo es Wunder solcher Art zu geben schien, vorgekommen war, ein Wissender, nicht geschaffen für die üblichen Banalitäten, und mein »Weder-noch« die einzig richtige Reaktion.

Gedanken im Nachhinein, von denen der Kopf nichts wusste an diesem ersten Abend, aus dem viele andere wurden, Tage, Abende, schließlich auch Nächte, ein ganzer Sommer, und manchmal bebte sogar die Erde oben zwischen den schrägen Wänden am Goldgraben, wo bei klarem Wetter ein Quadrat des Göttinger Sternenhimmels durch das Dachfenster funkelte, genau über dem Bett.

 

Das Haus gehörte einer wachsamen Professorenwitwe namens Brandes, die bei meinen abendlichen Aufstiegen in den zweiten Stock und erst recht nachts, wenn ich wieder davonschlich, den Kopf durch ihre Tür steckte. Überhaupt lästig, dieses Kommen- und Gehenmüssen, zumal es neben Pierres Mansarde eine zweite gab, die sich eventuell der Witwe Brandes hätte abschwatzen lassen, eine Möglichkeit, von der er zwar gelegentlich sprach, aber nicht der Liebe wegen, sondern eher aus praktischen Erwägungen, »wäre doch praktisch, so Tür an Tür, und bestimmt viel billiger«, was mich irritierte und erleichterte zugleich. Auch mir schien es riskant, von der Liebe zu reden, die Unbedingtheit forderte und sicher nicht dulden würde, dass ich nachts zwar Pierre haben wollte, er und ich unter dem Sternenquadrat, und die Erde zittert, tagsüber aber dem Studium hinterherlief, meiner Kunstgeschichte, deretwegen ich nach Göttingen gekommen war.

Utopisch offenbar, beides zu verlangen. »Man kann nicht zwei Herren dienen«, hatte meine Mutter mir eingeträufelt. »Eine Frau muss sich entscheiden, sonst steht sie am Ende mit leeren Händen da, und ein ordentlicher Beruf ist verlässlicher als irgendwelche Treueschwüre am Altar.« Noch immer hallte es in mir nach, sodass ich dem Wort Liebe geradezu automatisch »auf Zeit« anhängte, Liebe auf Zeit, ohne Kinder und Küche, und mir etwas anderes wichtiger schien als die zweite Mansarde am Goldgraben: eine Doktorarbeit nämlich über englische Damenportraits aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, die plötzlich von mir Besitz ergriffen hatten, in London, wo ich mich nach dem Abitur als Au-pair-Mädchen verdingt hatte, um hinterher Englisch zu studieren. Englisch fürs Lehrfach, halbherzig zwar, aber etwas Besseres fiel mir nicht ein, und Studienrätinnen, meinte meine Mutter, brauchten wenigstens keinen Mann mit Pensionsberechtigung.

Ihre fixe Idee, durchaus verständlich angesichts der Erfahrungen mit meinem Vater, den sie mitten im Krieg von der Breslauer Schulbank weg geheiratet hatte, Liebe auf den ersten Blick und die bestmögliche Partie in aller Augen, weil ein Flugzeugingenieur nicht Soldat werden musste. Ihn freilich schien das Privileg zu beunruhigen, immer heftiger, sodass er sich noch 1944, kurz vor meiner Geburt, freiwillig an die Front gemeldet hatte, wo er zu Tode kam und sie mitsamt Baby der Nachkriegszeit im fremden Kassel auslieferte, eine berufslose Flüchtlingsfrau für niedere Arbeiten, schlecht bezahlt und auch sonst nichts wert.

»Dieser kluge Mensch und so verbohrt«, pflegte sie ihn angesichts ihrer Mühsal inmitten des rundherum allmählich wachsenden Wohlstands anzuklagen. »Verbohrt und töricht, nun müssen wir es büßen, und sieh nur zu, dass du aus eigener Kraft durchs Leben kommst.«

Der Dauerton über meiner Kindheit, auch noch, nachdem es uns besser ging, und obwohl das Lamento mir mit der Zeit unerträglich wurde, blieb manches davon hängen. Doch dann war ich in die Londoner Galerien geraten, wo die goldgerahmten Ladys, umgeben von ihren Parks, Kindern und Hunden, mich zu erwarten schienen. Gesichter voller Geheimnisse. Sie besetzten meine Träume, bis am Ende des Au-pair-Jahres nicht mehr irgendwelche Pensionsberechtigungen zählten, sondern nur noch Bilder, und da meine Mutter sich der ihrer Meinung nach brotlosen Kunstgeschichte verweigerte, beschloss ich, das Studium ohne sie durchzuziehen. Kein Pausenfüller also, dieses neue Fach, wie Pierre in seiner von Zahlen und Formeln geprägten Sicht vermutet hatte, der tiefere Grund meines Ärgers damals auf dem Weg zur Mensa, und überhaupt: Falls ich jemals heiraten sollte, dann, so viel war sicher, nur einen Mann, der meine Lust an gemalter Vergangenheit nicht als Spielerei abtun würde.

Das freilich hörte Pierre erst, als über die Liebe und wie es damit weitergehen sollte, doch noch geredet wurde, von ihm zumindest, wogegen ich mir alle Mühe gab, das Thema, je mehr es sich in den Vordergrund drängte, weiterhin kleinzuhalten. Dabei war es ja schön mit uns, immer schöner eigentlich, so viel Gemeinsames trotz der Unterschiede, und jeder verstand die Zwischentöne des anderen, meistens jedenfalls. Ich mochte die gleichen Menschen wie er, die gleichen Filme, die gleichen Dinge, mochte vor allem, wie er sich anfühlte und bewegte und roch und sprach und lachte, und auch meine englischen Damen schienen ihn durchaus nicht mehr ganz kaltzulassen, weniger jedenfalls als mich die Physik, was Pierre jedoch keineswegs übel nahm. Im Gegenteil, eine derart komplizierte Materie, fand er, wäre dem Laien ohnehin kaum zu erklären, und im Übrigen, ich hätte meine Sache und er seine, und alles Drumherum gehöre uns gemeinsam, was wolle man mehr.

Ich nickte, ja, so war es. Aber wenn er von der Zukunft anfing, unserer Zukunft, »und du meinst doch auch, dass wir zusammengehören, nun sag es mir endlich«, geriet ich in Panik, womöglich alles zu verlieren, was sonst noch mein Leben ausmachte. Ein uferloses Hin und Her, bis Pierre es schließlich zickig nannte und neurotisch und beiseitefegte.

 

Wieder war es auf dem Weg zur Mensa, November, ein plötzlicher Wolkenbruch. Wir hatten uns unter den nächsten Torweg geflüchtet, und dort, während der Regen rauschte, forderte Pierre die Entscheidung: »Schluss mit der Zickerei, jetzt reicht es, entweder ganz oder gar nicht, ja oder nein, was willst du?«

Seine finale Frage, vor der die Barrieren wie von selbst in sich zusammenfielen, trotz der Bemühungen meiner Mutter, aus ihrer Tochter eine Frau zu machen, die es versteht, allein für sich zu sorgen, unabhängig von männlichem Geld und männlicher Dummheit. Und falls ihre Sprüche die Ursache waren für meine Wechselspiele während der ersten Göttinger Zeit, keine Beziehung von Dauer und jede leicht zu verschmerzen: Bei Pierre, das wurde mir klar in diesem Moment, wollte ich bleiben. Ich wollte beides, meine Arbeit und ihn, der die Erde beben ließ, und so sagte ich ja statt nein, »ja, dich will ich behalten«, und bestätigte den Entschluss im Mai 1968 mit Brief und Siegel: Nora Lohring, geborene Pfeil.

 

Lohring, ein Name, der mir gefiel. Ich hatte ihn schon oft vor mich hingeschrieben, ganze Seiten voll, probeweise fürs Standesamt. Doch nun, im Ernstfall, geriet mir das O unversehens zum Stolperstein. Wie um Himmels willen ging es weiter? Mit h oder ohne? Loring, Lohring? Eine Schrecksekunde, die Hand, könnte man sagen, verdorrte, lauf, rief es von irgendwoher, lauf, so weit du kannst. Es traf mich wie ein spitzer Schlag, da und schon vorbei, sodass es mir später, unter der Glocke des Schweigens, als die Vergangenheit sich mehr und mehr ins Gegenwärtige drängte, so vorkam, als hätte es dieses Signal gar nicht gegeben. Nur eine Eskapade der Erinnerung, die Geschichte vom verlorenen H. Man erzählt sich so manches in der zerfließenden Zeit, und die Zeit war zu Brei geworden, seit Pierre, der lachende Pierre, sich und mich verlassen hatte, damals, während der Frist zwischen Leben und Tod, nachdem er auf der Autobahn kurz vor Hamburg unter den Laster geraten war.

Es geschah im Februar, am 26. Februar neunzehnhundertfünfundachtzig, ein blauer Wintertag, in der Luft hing schon etwas vom Frühling. In der Nacht davor waren wir, er und ich, von der Reise zurückgekehrt, jeder für sich allein und dennoch zusammen. Schon als das Garagentor sich schloss, sah ich Pierres grauen Peugeot um die Ecke biegen, schön, diese Gleichzeitigkeit nach den Tumulten fünf Wochen davor, und schön, wieder neben ihm auf das warme Haus zuzugehen. Ein Gefühl wie in den Anfängen, ohne das Gewicht von siebzehn Ehejahren im Schlepptau mit ihren hellen und schwarzen Stunden, der Liebe, die bleiben wollte, dem Streit, der sich dazwischendrängte, immer lauter, bis es wegen der Sache mit dem Kind fast zum Bruch gekommen wäre: Annika, die kleine Tochter, von deren Existenz Pierre erst drei Jahre nach ihrer Geburt etwas erfahren hatte, ein Schatten, über den wir, er und ich, nicht gemeinsam springen konnten. Wir waren auseinandergelaufen, dahin und dorthin, für immer eigentlich, und nun glaubten wir an einen Neubeginn.

 

»Diesmal werden wir es schaffen«, sagte Pierre, bevor das Licht gelöscht wurde. »Verzichten und verzeihen, das müssen wir lernen, wir beide. Und lass mich nie mehr allein.«

Es tat gut, seine Haut zu spüren und wie er roch und sich anfühlte und bewegte und sprach und lachte. Es war schön, immer noch, genauso wie früher unter dem Sternenquadrat. Nicht vorstellbar, ich ohne ihn.

»Niemals mehr«, wiederholte Pierre. »Versprich es mir«, und »ja, ich verspreche es«, höre ich mich sagen, viel zu feierlich jetzt in der Rückschau, nicht unser Ton normalerweise. Ein Quäntchen Lässigkeit hätte eher gepasst, »keine Sorge, ich bleibe dir erhalten«, zum Beispiel. Aber mein Bedürfnis nach Pathos scheint dringlich gewesen zu sein, so, als hätte etwas in mir gewusst, dass es nie mehr eine Nacht wie diese geben würde, nie mehr seine Haut an meiner, und dass die Zukunft neue Töne brauchte, feierlich wie in der Kirche, ja, ich verspreche es.

War es so? Oder fange ich wieder an, vor mich hin zu spekulieren? Kann sein, nicht weiter wichtig. Und was den Ton betrifft: Vermutlich hätte selbst eine Spur mehr Lässigkeit nichts geändert am Lauf der Dinge, gesagt war gesagt.

Der nächste Morgen begann mit frischen Brötchen, der Zeitung und ihrem Inhalt, unser gewohntes Programm. Auch, dass wir zu lange beim Frühstück sitzen blieben, gehörte dazu, und Pierre, als ich ihn an seine Vorlesung erinnern wollte, schob die Mahnung wie üblich vom Tisch, »ach, nur noch ein paar Minuten.«

Dieses schludrige Verhältnis zur Zeit. »Fahr doch endlich«, sagte ich, »warum musst du wieder wie ein Verrückter durch die Gegend rasen«, und für alle Ewigkeit wird mir sein seltsames Lachen im Ohr dröhnen: »Hauptsache, wir reden noch miteinander.«

Sein Lachen an diesem Morgen und wie er vor der Tür die Hand hebt und mir übers Gesicht streicht zum Abschied und durch den Garten geht, nur ein paar Schritte, dann aber stehen bleibt und sich umdreht. Ich sehe es, fühle es, will die Bilder vertreiben und hole sie doch immer wieder zurück, als wäre er es, den ich nicht loslassen dürfte, um keinen Preis.

»Du und deine Gefühle«, hatte Pierre gespottet, falls er in meinem Umgang mit den englischen Ladys Sentimentalitäten zu riechen meinte. »Hör auf, in Gefühlen zu baden, halt dich an die Fakten«, und ja, er hatte recht. Aber schwierig, wenn es hart auf hart kommt, Fakten und Gefühle zu trennen.

Da also stand er und sagte: »Ich kann es nicht.«

»Was?«, fragte ich.

»Annika«, sagte er. »Statt zu schlafen, habe ich mir in der Nacht vorgestellt, wie sie Papa ruft und durch die Wohnung läuft und nach mir sucht und weint, weil sie mich nirgendwo findet. Nein, es geht nicht. Ich kann sie nicht einfach abhängen und aus meinem Leben streichen.«

»Nur mich«, rief ich, »mich kannst du abhängen«, und »nein«, sagte er wieder, »nein, dich auch nicht, sonst wäre ja alles nur halb so schlimm. Aber du bist erwachsen, du kannst nachdenken und Entscheidungen treffen, das Kind dagegen kann nur weinen«. Worauf ich die Nerven verlor und wissen wollte, wieso er denn gestern Nacht noch alles Mögliche versprochen, geplant und von mir verlangt hätte, »das Blaue vom Himmel herunter, wieso bitte?«

Erst eine Pause, dann die Antwort. »Weil ich daran geglaubt habe. Und dich nicht verlieren wollte. Und mich noch nicht richtig kannte. Tut mir leid.«

»Natürlich«, sagte ich. »Erst ein bisschen Betrug und danach tut es leid.«

Pierre sah mich an. Sein bräunliches Gesicht war noch nie so weiß gewesen. »Wie du meinst«, sagte er, drehte sich wieder um und ging zur Garage. Und das war es.

Die Fakten also von jenem Februartag, an dem Pierre in die Katastrophe hineinfuhr. Die alte Uhr in der Diele schlug zehn. Zehn helle, silberne Schläge, da verließ er das Grundstück. Ich stand am Fenster, sah, wie der Peugeot die Straße entlangrollte und verschwand. Ich faltete die Zeitung zusammen, brachte das Zimmer in Ordnung, goss mir noch einen Kaffee ein, drückte auf die Fernbedienung, Nachrichten, Kommentar, das Wetter. Dann kam der Anruf, ein Unfall am Ende der Autobahn, der Rettungshubschrauber bereits unterwegs. Ich raste zum Eppendorfer Klinikum, ließ den Wagen im Parkverbot stehen, hörte, dass Pierre im Operationssaal sei, so fing es an, so ging es weiter, Fakt auf Fakt, unablässig, das musste ich lernen.