Er hieß Jan - Irina Korschunow - E-Book + Hörbuch

Er hieß Jan Hörbuch

Irina Korschunow

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Beschreibung

Zeitlos aktuell Zeit der Handlung: Ende des Zweiten Weltkrieges. Zwei Bäuerinnen und ein französischer Kriegsgefangener verstecken die siebzehnjährige Regine. In der Rückblende erfahren wir, was geschehen ist: Regine hat den polnischen Zwangsarbeiter Jan kennen gelernt. Anfänglich wollte sie mit dem »polnischen Untermenschen« nichts zu tun haben. Nach und nach aber beeindruckt sie der junge Mann tief. Die nun beginnende Liebesgeschichte bringt beide in tödliche Gefahr... 

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Zeit:3 Std. 24 min

Sprecher:Irina Korschunow
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Irina Korschunow

Er hieß Jan

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

1

Acht Quadratmeter, mehr nicht. Vier weiße Wände, ein Fenster, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Ofen …

»Geh in die Giebelkammer«, hatte die Bäuerin gesagt, als ich nachts bei ihr klopfte und fragte, ob sie mich verstecken könnte.

Sie stand im Hausflur, einen Kerzenstummel in der Hand. Über ihre linke Schulter fiel der graue Zopf. Auch ihr Nachthemd war grau. Bis dahin hatte ich sie nur schwarz gekannt: schwarzes Kleid, schwarze Schürze, schwarzes Kopftuch. An einen Zopf unter dem Tuch hatte ich nie gedacht.

Jetzt sah ich nichts als diesen Zopf.

»Geh in die Giebelkammer«, sagte die Bäuerin.

Ich spürte ihre Hand auf meinem Arm. Sie schob mich zur Treppe, führte mich die schmalen, ausgetretenen Stufen hinauf, schob mich durch die Tür. Ich ließ mich aufs Bett fallen. Ich war achtzehn Kilometer gelaufen. Achtzehn Kilometer in drei Stunden.

»Schlaf, Regine«, sagte die Bäuerin und deckte mich zu. Durch das Fenster fiel die erste Dämmerung. Der graue Zopf schwebte vor meinem Gesicht.

Das war im Oktober. Seitdem bin ich hier.

Zuerst habe ich gedacht, ich halte es nicht aus. Eingeschlossen sein, nicht wegkönnen, Angst haben, dass die Tür aufgeht, dass sie mich holen, nach mir greifen, mich fortschleppen. Wenn es dunkel wurde und ich dasaß ohne Licht, wollte ich aufspringen, schreien, mit dem Kopf gegen die Wand rennen.

Inzwischen weiß ich, dass es nur eins gibt: warten.

Warum ist alles so gekommen?

Ich sitze in der Giebelkammer des Henninghofes und denke darüber nach. Ich denke, denke, denke. Ich habe Angst und denke und habe Angst. Unten ist die Dorfstraße. Ich habe den Stuhl ans Fenster gerückt, nicht ganz dicht, nur so, dass ich hinaussehen kann, ohne von der Straße aus entdeckt zu werden. Auch die weiße Mullgardine verbirgt mich und der Henninghof liegt am Dorfrand und hat kein Gegenüber. Aber ich sitze auf dem Sprung, immer bereit, wegzulaufen, obwohl ich nicht weiß, wohin. Ich, ausgerechnet ich.

Jan hat einmal gesagt: »Man muss ganz stillhalten. Dann geht alles besser vorüber, so oder so.«

Maurice sagt: »Denk nach, ma petite, jetzt hast du Zeit. Wer denkt, der lernt. Und wenn du hier rauskommst, dann zeig, was du gelernt hast.«

Aber ob ich noch einmal herauskomme? Manchmal glaube ich, das hier ist die Ewigkeit. Immer nur diese Giebelkammer. Der Blick aus dem Fenster. Schnee bedeckt das Kopfsteinpflaster, in der Mitte grau und matschig von den Ackerwagen, die zum Miststreuen auf die Felder fahren. Die Huftritte der Pferde, das Rattern der eisenbeschlagenen Räder sind fast die einzigen Geräusche jetzt im Januar.

Ich weiß, sie fahren vorbei, niemand hebt den Kopf. Doch wenn ich einen der Wagen höre, drücke ich mich an die Wand und bekomme feuchte Hände vor Angst. Haben die Frau oder der alte Mann auf dem Kutschbock meinen Schatten hinter der Gardine gesehen? Zeigen sie es an? Verraten sie mich?

Anzeigen ist Pflicht.

Man wird bestraft, wenn man es nicht tut.

Ich habe das immer richtig gefunden, früher, in der Zeit vor Jan. Aber vielleicht sind die Leute hier in Gutwegen anders, in diesem kleinen Dorf, so weit weg von der Stadt, Heide und Wald rundherum und nichts als ihre Arbeit. Schon in den Sommerferien, bei der Erntehilfe, habe ich mich gewundert, wie wenig sie sich um die Vorschriften kümmern. »Tach«, sagten sie statt »Heil Hitler«, »Morjen«, »Nabend«, und die französischen Kriegsgefangenen, die bei ihnen arbeiten, haben sie von Anfang an mit am Tisch essen lassen.

Auch auf den Mistwagen sitzt oft einer von ihnen, obwohl es verboten ist, dass sie ohne Begleitung die Höfe verlassen. Aber alle Männer, außer den alten, sind an der Front oder verwundet oder gefallen, und irgendjemand muss die Arbeit schließlich tun.

»Die können doch nicht hinter jeden von uns eine Wache stellen«, sagt Maurice. »Brauchen sie auch nicht. Wir laufen nicht weg, jetzt nicht mehr, wo der Krieg zu Ende geht.«

Maurice ist schon über zwei Jahre auf dem Henninghof. Er wohnt in der Kammer über dem Stall, weil Kriegsgefangene und Deutsche nicht unter einem Dach schlafen dürfen. Aber sonst bewegt er sich im Haus wie einer, der dazugehört. Jeden Tag kommt Unteroffizier Kropp auf seiner Kontrollrunde vorbei, lehnt sein Rad gegen die Scheunenwand, isst in der Küche ein Wurstbrot und fährt weiter. Hauptsache, Maurice ist nicht verschwunden.

Habe ich mich im Sommer wirklich noch darüber empört?

Ich denke an den Tag, als wir den Hafer mähten, der nach dem Unwetter am Boden lag und sich von den Messern der Maschine nicht greifen ließ. Maurice geht mit schwingender Sense über das Feld, Gertrud und ich folgen ihm und binden die Garben, von morgens bis mittags, immer im gleichen Takt. Dann sitzen wir unter der Linde. Die Bäuerin hat uns Brote und Kaffee mitgegeben, wir sind müde und verschwitzt, und es ist nur ein einziger Becher da.

Maurice trinkt, Gertrud trinkt. Sie reicht mir den Becher. Ich schüttele den Kopf.

»Hast du keinen Durst?«, fragt Gertrud.

Ich schüttele wieder den Kopf.

»Ach so«, sagt sie.

»Konnte deine Mutter nicht zwei Becher einpacken?«, frage ich.

»Die hat anderes im Kopp«, sagt Gertrud, und ich bin still.

»Du kannst es ja melden«, sagt Gertrud.

Sie sieht mich an mit ihrem abweisenden Blick und ich komme mir klein und albern neben ihr vor, obwohl sie nur neun Jahre älter ist als ich, sechsundzwanzig.

Sie trinkt noch einmal, gibt mir den Becher, und ich trinke auch.

Damals waren schon drei von ihren Brüdern gefallen und die Bäuerin sah starr und dunkel aus wie eine der geschnitzten Figuren in unserem Dom. Nur wegen der Bäuerin habe ich den Becher genommen. Doch mit Maurice sprach ich höchstens, wenn es unbedingt nötig war, und bei Tisch habe ich getan, als ob er nicht da wäre.

Wann ist das gewesen? Vor sechs Monaten erst? Jetzt sind sie meine Freunde, Gertrud und Maurice, schon seit dem ersten Morgen hier in der Giebelkammer.

Der erste Morgen nach dieser schrecklichen Nacht. Ich hatte geschlafen, die Tür ging auf, ich wurde wach, fuhr hoch, sprang aus dem Bett …

»Ich bin’s doch nur«, sagte Gertrud.

Sie stand auf der Schwelle, ein Tablett in der Hand.

»Was haben sie bloß mit dir gemacht?«, fragte sie.

Sie trug das Tablett zum Tisch, goss mir Malzkaffee ein, strich Schmalz auf eine Brotscheibe.

»Iss man«, sagte sie. »Das hilft.«

Ich hatte Hunger und Angst und schluckte die Bissen halb zerkaut herunter. Gertrud stand an der anderen Seite des Tisches und sah mir zu, mit anderen Augen als früher, beinahe so, wie sie die Kälber ansieht, wenn sie ihnen Milch bringt.

»Mutter hat mir alles erzählt«, sagte sie. »Hier oben bist du sicher.«

Später kam Maurice und brachte Holz. Der Ofen war jahrelang nicht benutzt worden. Maurice reinigte ihn, nahm das Rohr ab, klopfte den festgebackenen Ruß aus dem Knie, setzte es wieder ein. Er arbeitete schweigend vor sich hin. Erst als das Feuer brannte, drehte er sich zu mir um.

»Jetzt wird es warm, ma petite«, sagte er.

Ma petite. So nennt er mich seit diesem Morgen.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Die Zeit vergeht. Lange dauert der Krieg nicht mehr.«

Er sah auf meinen geschorenen Kopf mit den angesengten Haaren.

»Die wachsen auch wieder nach.«

Ich sagte: »Danke, Maurice.«

Ich schämte mich.

Nein, sie werden mich nicht verraten, die Bäuerin nicht, Gertrud nicht, Maurice nicht. Abends, wenn die Türen abgeschlossen sind und die Fenster verdunkelt, gehe ich zu ihnen hinunter und wir sitzen um den großen Tisch herum. Die Bäuerin hat die Hände im Schoß gefaltet, schwarz und schweigsam blickt sie auf die fünf Bilder, die über dem Sofa hängen – ihr Mann und ihre vier Söhne. Keiner lebt mehr. Der Bauer ist 1943 gestorben, ein Sohn nach dem anderen gefallen: Der Erste gleich zu Anfang in Polen, der Zweite bei Stalingrad, der Dritte in Frankreich, als die Amerikaner und Engländer dort landeten, der Vierte erst jetzt im September, irgendwo an der Ostfront. Walter, der Jüngste, den ich gekannt habe.

Die Bäuerin sitzt da und sieht sie an. Immer wieder kehrt ihr Blick zu ihnen zurück. Manchmal liest sie in der Bibel, Psalme zumeist, und laut. Ich glaube, sie kann nur laut lesen. »Wohl dem, der nicht wandelt im Tal der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder … Auf dich, Herr, traue ich, mein Gott. Hilf mir von allen meinen Verfolgern und errette mich …«

Ihre Worte tropfen in das Gespräch zwischen Maurice, Gertrud und mir: Der Krieg, der Krieg, immer wieder der Krieg. Um acht kommen die Nachrichten vom Deutschland-Sender, der Wehrmachtsbericht, die Durchhalteparolen. Und später Radio London. Nachrichten aus England in deutscher Sprache – dass es so etwas gibt, habe ich im Sommer noch nicht gewusst. Maurice stellt das Radio so leise ein, dass wir unsere Ohren an den Lautsprecher drücken müssen. Nur die Bäuerin steht am Fenster. Sie horcht nach draußen, ob nicht das Hoftor knarrt, der Hund anschlägt, Schritte im Kies knirschen. Wenn jemand kommt, müssen wir das Radio ausschalten. Selbst das Abhören von Feindsendern wird mit dem Tod bestraft.

Für so vieles gilt inzwischen die Todesstrafe. Wenn man beim Bäcker sagt: »Warum macht Hitler nicht endlich Schluss mit seinem verdammten Krieg?«, hängen sie einen schon auf. Vielleicht auch für das, was ich gemacht habe. Und wenn man eine wie mich versteckt.

»Der Tod ist bei euch billiger als Kohlköpfe«, sagt Maurice.

Ich sitze in der Giebelkammer. Es ist Januar, die letzte Januarwoche 1945. Schnee liegt auf der Dorfstraße, London sagt, dass der Krieg zu Ende geht. Die Amerikaner sind schon über Aachen hinaus, die Russen greifen in Schlesien an und ich sitze hier oben und warte, dass es endlich vorbei ist. Dass wir endlich den Krieg verloren haben.

Ich möchte, dass wir den Krieg verlieren, obwohl ich Angst vor seinem Ende habe. Was werden die Sieger mit uns machen? Alle hassen uns. Wir haben ihnen so viel angetan und sie werden sich rächen. Aber nur, wenn wir den Krieg verlieren, kann ich nach Hause. Kann ich erfahren, ob Jan noch lebt. Kann ich ihn vielleicht wieder sehen.

Ich möchte, dass wir den Krieg verlieren. Vor vier Monaten – wenn ich vor vier Monaten diese Worte irgendwo gehört hätte, ich wäre zur Polizei gegangen. Ein Verräter. Einer, der uns in den Rücken fällt, den Soldaten, der Heimat, dem Führer. Ich hätte es angezeigt, vor vier Monaten noch. Auch damals hieß ich Regine Martens, hatte blonde Haare, graue Augen, war einsachtundfünfzig groß, schlank, mit zu dicken Beinen. Genau wie heute. Doch sogar das Äußere stimmt nicht mehr. Die Haare sind nachgewachsen, sie bedecken schon wieder die Ohren, und trotzdem sehe ich anders aus. Vielleicht liegt es daran, dass sich auch sonst alles verändert hat, mein ganzes Leben, und wenn ich es geahnt hätte, damals, als es anfing, am zwölften September – wahrscheinlich wäre ich ins Bett gekrochen und hätte die Decke über den Kopf gezogen. Nein, nicht einmal das. Ich hätte es nicht geglaubt. Ich hätte gelacht, mit den Schultern gezuckt. Weil ich ja noch die Regine Martens von früher war und mir nicht vorstellen konnte, dass ich mich in einen wie Jan verliebe.

Jan. Ich sage seinen Namen vor mich hin und denke, er müsste hereinkommen, durch diese Tür, und vor mir stehen, groß, die Schultern ein bisschen nach vorn fallend, mit seinen strähnigen Haaren und diesen ganz hellen Augen. Hereinkommen, mich ansehen, die Hände nach mir ausstrecken.

Aber er wird nicht kommen.

2

Der zwölfte September, mein Geburtstag.

»Schlaf gut«, hatte meine Mutter am Abend vorher gesagt. »Morgen bist du siebzehn. Hoffentlich gibt es keinen Fliegeralarm. Hast du deinen Koffer gepackt?«

Unser Luftschutzgepäck stand griffbereit an der Flurgarderobe. Aber jeden Abend, bevor sie einschlief, fragte sie: »Hast du deinen Koffer gepackt?«

Es ging mir auf die Nerven. Auch ihr Schnarchen ging mir auf die Nerven. Ich lag neben ihr und dachte, wenn mein Vater Ingenieur oder Chemiker gewesen wäre statt Buchhalter, hätten sie ihn nicht an die Front geschickt. Dann hätte die Konservenfabrik ihn für unabkömmlich erklärt, so wie Dr. Hagemann und Herrn Franke und die beiden Lieberechts, und ich könnte in meinem Zimmer liegen statt hier im Ehebett neben meiner Mutter, die es nicht aushielt, allein zu schlafen, seitdem mein Vater in Russland vermisst war.

Kurz nach zwölf heulten die Sirenen.

»Steh auf Regine«, sagte meine Mutter und zog mir die Decke weg. »Die fliegen wieder nach Berlin.«

»Bei uns passiert sowieso nichts«, sagte ich.

»Beeil dich«, sagte meine Mutter. »Sonst kommt Feldmann.«

»Der braucht doch auch eine Freude«, sagte ich, denn damals fand ich Feldmann noch komisch, besonders als Luftschutzwart, wenn er durchs Haus rannte und »In den Keller! In den Keller!«, schrie. Dabei kam sowieso jeder von selbst, wer traut sich schon, in einem Haus mit lauter Werkswohnungen aus der Reihe zu tanzen. Und die Männer mussten zum Löschen bereitstehen, der Maschineningenieur, der Chemiker, die Werkmeister.

»Ist ja auch richtig«, sagte meine Mutter. »Wenn sie schon nicht an der Front sind, sollen sie wenigstens dafür sorgen, dass die Fabrik nicht abbrennt, diese kriegswichtigen Herren.«

Feldmann war nur wegen seiner kaputten Hüfte nicht Soldat geworden. Er hinkte, arbeitete als Bürobote, wohnte unten in der Kellerwohnung und musste jeden im Haus zuerst grüßen. »Heil Hitler!«, rief er immer schon von weitem, hob die Hand und machte gleichzeitig einen Diener. Er wurde immer krummer vor lauter Unterwürfigkeit. Aber bei Fliegeralarm verwandelte er sich, bekam eine Kommandostimme, brüllte jeden an, der gegen die Vorschriften verstieß, sogar Dr. Hagemann. Wir fanden ihn lächerlich und fürchteten ihn. Ich bin fast sicher, dass er es war, der mich angezeigt hat. Aber ich weiß es nicht genau. Vielleicht war es auch ein ganz anderer, einer von den Netten im Haus, der mich am Tag vorher noch angelächelt hat und von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass er schuld ist an allem.

Während wir die Kellertreppe hinuntergingen, dröhnten schon die feindlichen Bomber in der Luft. Aber ich hatte keine Angst. Unsere Stadt war nie angegriffen worden.

»Die armen Berliner«, sagte meine Mutter. »Oder ob sie heute nach Magdeburg fliegen?«

Unten waren bereits alle versammelt – Hagemanns, Frankes, Frau Kunowski, die drei Lieberechts, Frau Bübler, Frau Albrecht mit ihren Zwillingen, Feldmanns, die alte Frau Schulz, die ihrem Enkelsohn den Haushalt geführt hatte und, nachdem er gefallen war, die Wohnung so verkommen ließ, dass es unter der Tür hervorstank.

Ich sehe sie im Keller sitzen, jeden auf seinem Platz, uns zunicken, ein paar Worte mit uns wechseln. Wir kannten uns seit langem, wussten übereinander Bescheid, gratulierten uns gegenseitig zum Geburtstag. Meine Mutter hatte extra einen Kalender in der Küche hängen, damit sie niemanden vergaß. Natürlich wurde auch geklatscht. Zur Zeit regten sich alle über die alte Schulz auf. Aber die Frauen aus dem Haus kauften trotzdem für sie ein und brachten ihr mittags abwechselnd etwas Warmes. Eigentlich lauter nette Leute.

Einer von ihnen muss es gewesen sein.

»Mundschutz umbinden!«, befahl Feldmann gerade, als wir zu unseren Stühlen gingen.

»Das ist doch wirklich überflüssig, solange nichts passiert«, schimpfte Frau Albrecht. »Man kann ja kaum atmen unter diesen Dingern.«

Aber sie gehorchte, genau wie die anderen.

Ich musste lachen. Wir sahen so komisch aus mit den feuchten Tüchern über Mund und Kinn und den aufgerissenen Augen.

«Was gibt es da wohl zu lachen?«, nuschelte Feldmann hinter seinem Mundschutz, und ich nuschelte zurück: »Lachen ist erlaubt, Herr Feldmann. Lachen ist gesund.« Meine Mutter stieß mich mit dem Ellbogen in die Seite und schüttelte warnend den Kopf.

In diesem Augenblick fing es an.

Zuerst ein Zischen und Heulen. »Luftminen!«, schrie jemand. Dann krachte es. Ich sah, wie einer der Stützpfeiler im Keller zitterte. Es krachte wieder und über die weiß gekalkte Decke über mir lief plötzlich ein schwarzer Riss. Von den Wänden brach der Putz, das Licht flackerte und erlosch, meine Nasenlöcher und Augen waren voller Staub.

Wir alle schrien. Meine Mutter griff nach meinem Arm. Rechts vor mir saß der älteste Sohn von Feldmann, so ein dünner Junge, etwa acht, der stotterte und niemandem ins Gesicht sehen konnte, genau wie der Vater. Seine Mutter war vor drei Jahren gestorben, Feldmanns neue Frau hatte zwei kleine Kinder mitgebracht, die hielt sie auf dem Schoß. Um den Jungen kümmerte sie sich nicht.

Als die zweite Bombe fiel, streckte er die Hand nach mir aus. Ich legte den Arm um ihn und er kroch dicht an mich heran. So hockten wird da, meine Mutter, der Junge und ich, aneinander gepresst und zusammen atmend. Es pfiff, es krachte. Der Boden schwankte und wir dachten, jetzt stürzt die Kellerdecke ein, und dies ist das Ende.

Dann hörte es auf. Es wurde still. Unheimlich still. Bis die Sirenen wieder losheulten. Entwarnung.

Feldmann knipste seine Taschenlampe an.

»Los!«, brüllte er. »Franke und Hagemann auf den Boden und Brandbomben suchen. Alle anderen raus zum Löschen!«

Wir stürzten ins Freie. Brandgeruch schlug uns entgegen, Rauch, Ruß, Staub. Ich war froh, dass ich den Mundschutz hatte.

Die Fabrik war an mehreren Stellen getroffen worden. Das Verwaltungsgebäude, die Maschinenhalle, das Lagerhaus – nur noch Schutthaufen, aus denen Flammen schlugen, eine rote Wand in der Nacht.

Auch die Baracke der polnischen Fremdarbeiter brannte. Die Polen standen auf dem Hof, in Decken gewickelt, manche nur in Unterzeug. Es gab keinen Luftschutzkeller für sie. Wahrscheinlich hatten sie geschlafen, als die Bomben fielen.

Auf der Erde lagen Verletzte. Einer von ihnen, ein Älterer, hatte eine große Wunde am Arm. Neben ihm hockte ein junger Mann. Er sah auf meine Verbandstasche.

»Helfen Sie. Bitte!«, sagte er.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es war der erste Verwundete, den ich zu sehen bekam, mit dem ersten richtigen Blut. Außerdem ein Pole. Einer von diesen Untermenschen.

Untermenschen, Juden, Polen, Russen – alles Untermenschen. Habe ich das wirklich geglaubt? Ich denke an Jan. An seine Augen. An seine Hände. An seine Stimme. An die Dinge, die er sagte.

»Ich will nicht hassen«, sagte er einmal. »Es ist so viel Hass in der Welt. Ich will keinen dazutun. Ich will, dass es weniger wird.« Aber in der Bombennacht, als ich den Polen verbinden sollte, da dachte ich es; dieses Wort: Untermensch. Ich wollte mich umdrehen, weggehen.

Der Verwundete stöhnte. Sein Gesicht war grau.

»Helfen Sie doch! Bitte!«, wiederholte der andere.

Er hatte eine merkwürdige Stimme. Heiser, rauh. Und trotzdem sanft. Mir fällt kein anderer Ausdruck ein. Sanft.

Ich öffnete die Verbandstasche und Lisabeth Hagemann, die neben mir stand, rief: »Du willst doch wohl nicht die Polacken verbinden!«

Sie war drei Jahre älter als ich. Früher hatten wir zusammen gespielt. Jetzt arbeitete sie im Büro und war mit einem Leutnant verlobt.

Ihr ausgestreckter Arm zeigte auf das Feuer. »Die sind doch schuld daran! Lass die Hände von denen!«

Sie kreischte direkt. Ihr Gesicht sah verzerrt aus.