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Walter Jens litt ein Jahrzehnt lang an Demenz. Der einst wortgewaltige Gelehrte versank zunehmend in eine Welt jenseits der Sprache, jenseits der Gedanken. Er starb am 9. Juni 2013. Seine Frau Inge Jens, mit der er mehr als ein halbes Jahrhundert zusammenlebte, hat ihn in seiner Krankheit begleitet und ihn, unterstützt von anderen Menschen, bis zuletzt gepflegt. In vertraulichen Briefen an Freunde und Bekannte hat sie immer wieder geschildert, wie er sich veränderte und wie schwierig es ist, mit einem Demenzkranken umzugehen. «Ich sehe seinem Entschwinden zu – den Mann, den ich liebte, gibt es nicht mehr.» Das Buch dokumentiert mit ausgewählten Briefen und einem längeren Bericht die Leidensgeschichte von Walter Jens. Einfühlsam und respektvoll beschreibt Inge Jens die Veränderungen, die durch die fortschreitende Krankheit verursacht wurden; und offen reflektiert sie die eigene Unsicherheit, wie man sich dem Kranken gegenüber verhalten soll. Zugleich ist sie sich bewusst, wie privilegiert ihre Situation als Angehörige war – und dass die Akzeptanz und die Bezahlung von Pflegepersonal in unserer Gesellschaft dringend verbessert werden müssen. Eine berührende Schilderung und ein wichtiger Denkanstoß.
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Seitenzahl: 114
Veröffentlichungsjahr: 2016
Inge Jens
Langsames Entschwinden
Vom Leben mit einem Demenzkranken
Ihr Verlagsname
Walter Jens litt ein Jahrzehnt lang an Demenz. Der einst wortgewaltige Gelehrte versank zunehmend in eine Welt jenseits der Sprache, jenseits der Gedanken. Er starb am 9. Juni 2013. Seine Frau Inge Jens, mit der er mehr als ein halbes Jahrhundert zusammenlebte, hat ihn in seiner Krankheit begleitet und ihn, unterstützt von anderen Menschen, bis zuletzt gepflegt.
In vertraulichen Briefen an Freunde und Bekannte hat sie immer wieder geschildert, wie er sich veränderte und wie schwierig es ist, mit einem Demenzkranken umzugehen. «Ich sehe seinem Entschwinden zu – den Mann, den ich liebte, gibt es nicht mehr.»
Das Buch dokumentiert mit ausgewählten Briefen und einem längeren Bericht die Leidensgeschichte von Walter Jens. Einfühlsam und respektvoll beschreibt Inge Jens die Veränderungen, die durch die fortschreitende Krankheit verursacht wurden; und offen reflektiert sie die eigene Unsicherheit, wie man sich dem Kranken gegenüber verhalten soll. Zugleich ist sie sich bewusst, wie privilegiert ihre Situation als Angehörige war – und dass die Akzeptanz und die Bezahlung von Pflegepersonal in unserer Gesellschaft dringend verbessert werden müssen.
Eine berührende Schilderung und ein wichtiger Denkanstoß.
Inge Jens, geboren 1927 in Hamburg. Studium der Germanistik, Anglistik und Pädagogik, Promotion 1953. Herausgeberin der Tagebücher Thomas Manns, Mitarbeit an zahlreichen weiteren kulturhistorischen Projekten. Zusammen mit ihrem Mann Walter Jens schrieb sie die Bestseller «Frau Thomas Mann» (2003) und «Katias Mutter» (2005). 2009 erschienen ihre «Unvollständigen Erinnerungen» und wurden ebenfalls ein Bestseller. Sie lebt in Tübingen.
Ich hatte es nicht eilig an diesem Dienstagmorgen, Ende November 2013. Die braune Tür mit dem gelblich-trüben Glasfenster fiel ins Schloss. Das also war es. Am Nachmittag schon wird die Entrümpelungskolonne anrücken. Gut 50 Jahre haben wir in unserem Haus auf dem Tübinger Apfelberg gelebt. Mein Mann und ich hatten hier eine glückliche, intensive und niemals langweilige Zeit – und unsere beiden Söhne, wie ich denke, eine in Freiheit erlebte Kindheit und Jugend.
Mein klappriges Auto stand in der Einfahrt zur Abholung durch den Schrotthändler bereit. Im 86. Lebensjahr stehend hatte ich beschlossen, mich, der Allgemeinheit zuliebe, nicht mehr ans Steuer zu setzen. Als ich die Haustür abschloss, kamen mir noch einmal all die Menschen in den Sinn, die uns hier besucht haben. Studenten, Nachbarn, Freunde, Kollegen. Unbekannte und Prominente, viele von ihnen lange schon tot. Wolfgang Hildesheimer, Theodor Eschenburg, Hans Mayer, Ernst Bloch, Ida Ehre oder die alte Widerständlerin Anneliese Knoop-Graf. Die Sonnenstraße 5 war, so hoffe ich, ein offenes, gastfreundliches Haus.
Aber nun wartete Frau H., die langjährige Pflegerin meines Mannes, von der in vielen der in diesem Buch versammelten Briefe zu lesen ist, mit ihrem Wagen, um mich in mein neues Domizil zu bringen, eine altersgerechte Drei-Zimmer-Wohnung, am Fuße des Hügels gelegen. Keine Aussicht auf die Wurmlinger Kapelle mehr; aber freundlich und hell ist die wohl letzte Station meines Lebens durchaus. Auch der Blick auf die am Österberg grasenden Schafherden hat seine Reize. Als ich in meiner neuen Bleibe ankomme, sind Tisch, Bett und die Bücherregale bereits aufgebaut. Mein finaler Lebensabschnitt konnte beginnen.
Eingefunden habe ich mich schnell, auch wenn sich mein Dasein nun grundsätzlich veränderte. Zum ersten Mal seit mehr als 60 Jahren lebte ich wieder allein. Ich war nun Witwe. Allein der Begriff ist mir von Herzen fremd. Gewiss, den Ehemann, den Widerpart in der intellektuellen Auseinandersetzung, hatte ich lang schon verloren. Und doch war er, zuletzt im Rollstuhl sitzend, auf schmerzliche Weise präsent gewesen. Seine Krankheit hat in den vergangenen acht Jahren meinen Alltag bestimmt. Und nun, auf einmal, war kein Ächzen, Stöhnen, Rufen und Schimpfen mehr zu hören.
Am Abend des 9. Juni ist er gestorben, 90-jährig, sich selbst in seiner tiefen Demenz schon lange zuvor abhandengekommen. Ein kurzer, gnädiger Fieberschub, dann war es vorbei. Die Trauerfeier in der Tübinger Stiftskirche: eine Aussegnung, wie sie kaum würdiger hätte ablaufen können. Ingo Bredenbachs Musiker intonierten, den schlichten Sarg umrahmend, Mozarts Requiem. Karl Theodor Kleinknecht, der Pfarrer auf der Kanzel, hielt eine ergreifende, streng auf die Liturgie ausgerichtete Predigt. Am Grab auf dem Stadtfriedhof blieb, aus Respekt vor der einstigen Wortmacht des Toten, der Platz des Rhetors verwaist an diesem gleißend heißen 17. Juni. Danach wurden, namens der Stadt, deren Ehrenbürger mein Mann war, im alten Feuerwehrhaus Hefezopf, Laugenbrezeln, Butter und Wein gereicht.
Für mich begannen in der Folgezeit geschäftige Wochen, die mich vom Wesentlichen, vom Trauern, vom Innehalten und Nachdenken, weitgehend abhielten. Die Kondolenzpost war zu beantworten. Auf einmal bemerkte ich, wie schwer mir das Schreiben mit der Hand fiel. Es galt, Versicherungen abzumelden. Der Tod eines Beamten mit Pensionsanspruch zeitigte eine nicht zu unterschätzende Papierflut. Auch der Verkauf unseres Hauses wollte organisiert sein. Kurzum, ich war beschäftigt.
Nun aber, in meiner neuen Wohnung angekommen, hatte ich Zeit, um mich mit mir zu beschäftigen, Ordnung zu schaffen und die Geschehnisse seit dem Beginn von Walters Demenz ungestört zu überdenken. Da ich, anders als er, niemals Tagebuch geführt habe, begann ich mich durch die alten Dateien auf meinem Computer zu wühlen. Die Festplatte hatte einen gewitterbedingten Totalabsturz dank fachkundigem IT-Support glücklicherweise unbeschadet überstanden. Also konnte ich auch auf jene Briefe zurückgreifen, die nun dieser Band in einer Auswahl versammelt. Eigentlich habe ich sie nur als Gedächtnisstütze zu Rate gezogen. Als ich sie in den Jahren 2005 bis 2013 an Freunde und Bekannte, aber auch an mir gänzlich Unbekannte, die Rat suchten, schrieb, habe ich niemals daran gedacht, sie eines Tages zu publizieren.
Aber ich merkte, dass diese Briefe für mich zunehmend wichtig wurden. Geschrieben habe ich sie fast ausschließlich, um einigen Wegbegleitern meines Mannes, die sich nach seinem Befinden erkundigten, Rede und Antwort zu stehen. Das Verfassen der Bulletins war kein Akt der Selbsttherapie gewesen, sondern weit eher dem Bedürfnis geschuldet, freimütig Auskunft zu geben. Doch die Fragen, die ich dort erörtert hatte, schienen im Nachhinein nicht selten von grundsätzlicher Bedeutung: Warum etwa habe ich meinem Mann, was die Diagnose betraf, niemals reinen Wein eingeschenkt?
Im Rückblick fiel mir auf, dass die kleinen Berichte, im Zusammenhang gelesen, nicht nur eine Menge über den unaufhaltsamen Verfall meines Mannes, sondern auch einiges über mich erzählten, über die Veränderungen, die ich in dieser langen Zeit durchgemacht habe. Und ich denke, Abertausenden von Betroffenen, die in einer vergleichbaren Situation sind, geht es nicht anders. Der Verlust eines Partners, der zwar noch lebt, aber dennoch für immer entschwunden ist, hinterlässt tiefe Spuren. Allein in Deutschland gibt es derzeit weit über eine Million Demenzkranke. Die Tendenz ist steigend.
Am Anfang wollte auch ich es einfach nicht wahrhaben. Ich wusste zu wenig von der tückischen Krankheit und habe mich immer an die Hoffnung auf Genesung geklammert. Beim Wiederlesen der alten Briefe scheint es mir, die ich normalerweise die Dinge beim Namen nenne, geradezu absurd, wie viele Jahre ich brauchte, bis ich die Demenz meines Mannes auch als solche bezeichnen konnte. Wie lange habe ich – aus Unwissenheit, aber wohl auch aus Angst vor der Unumkehrbarkeit des Befundes – um den Kern des Problems herumgeredet. Erst im März 2008 konnte ich offen konstatieren: «Er realisiert seine Lage nicht mehr.»
Von heute aus betrachtet, ließen sich die Symptome bereits im Jahr 2005 nicht leugnen. Die Gespräche mit meinem Mann, vordem wesentliches Fundament unserer Ehe, gestalteten sich zunehmend schwierig. Er war fahrig, traurig und verzweifelt. Er merkte, dass ihm Namen entfielen, dann – nur wenig später – die Orte, an denen er sich aufhielt. Sein Dasein entglitt ihm rapide. All das dokumentieren diese knappen Krankengeschichten, die ich niemals als Klagebriefe verstanden habe. Denn einen Grund, mit meinem Schicksal zu hadern, sah und sehe ich nicht. Ich habe gerade in dieser Zeit eine Menge über das Leben in all seinen Höhen und Tiefen gelernt – und auch über das Wesen der Demut.
Für meinen Mann gehörte die Krankheit zum Leben. Da war er Protestant bis auf die Knochen. Das Asthma von früher Kindheit an, später die Depressionen, die er in einem großen Kraftakt überwand: All dies hat er oft zum Thema von Reden und Reflexionen gemacht. Und ich habe keinen Zweifel: Er hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre, auch über seine Demenz in aller Offenheit gesprochen.
Es war uns vergönnt, eine lange glückliche Zeit miteinander zu verbringen. Die letzten Jahre aber waren bitter. Dieses endlose Siechtum hat er gewiss niemals gewollt. Und doch, da bin ich – gerade nach erneuter Durchsicht der Briefe – sicher: Er wollte bis zuletzt leben, die Angst vor dem Nicht-mehr-da-Sein war einfach zu groß. Die grandiose Pflege, die ihm zuteilwurde, trug ein Übriges dazu bei. Ich habe oft mit mir gerungen, ob es nicht Zeit wäre, ihm das immer wieder so vehement eingeforderte Recht auf Sterbehilfe endlich zu gewähren. Ich habe es nicht geschafft. In einigen der hier, in meinem vermutlich letzten Buch, zusammengetragenen Berichte erschließt sich das Warum.
Selbstverständlich ist mir bewusst, dass man die Dinge auch ganz anders sehen kann. Auch darum stelle ich die Texte nun, nach reiflicher Überlegung, zur öffentlichen Diskussion. Namen spielen dabei keine Rolle. Name-Dropping ist mir fremd. Also habe ich die Adressaten anonymisiert. Mich treibt um, wie wir dieser Demenz genannten Vergessenskrankheit im alltäglichen Umgang begegnen.
Immer wieder werde ich gefragt, ob ich es, wenn ich an die Geschichte meines Mannes dächte, nicht mit der Angst zu tun bekäme, eines Tages selber an Demenz zu erkranken – die altersbedingten Risikofaktoren sprechen schließlich dafür. Nicht zuletzt meine Briefe bestärken mich in meinem Nein. Angst habe ich nicht. Die letzten Jahre meines Mannes waren nicht Schrecken allein. Am Ende hat er, wenn auch spät, einen glücklichen Tod sterben dürfen. Und ich, mit bald 90 Jahren, darf ohnehin auf die Statistik hoffen, die besagt, dass mir in meinem Alter ein ähnlich langes Siechtum aller Wahrscheinlichkeit nach erspart bliebe. Dafür allerdings wäre ich in der Tat dankbar.
Tübingen, im Januar 2016 Inge Jens
Aus Briefen 2005–2013
29. November 2005
Wir sind diesen Herbst kräftig gereist. Gottlob macht diese Art Tätigkeit meinem Mann noch immer einigen Spaß, wenngleich es ihn natürlich auch ziemlich anstrengt.
Aber im Allgemeinen gelingt die Balance, und ich freue mich, dass er jedenfalls etwas hat, was sein Selbstvertrauen ein bisschen stärkt, denn ansonsten ist es nicht eben gut um ihn bestellt. Die Depression macht ihm zu schaffen – wobei ich glaube, dass es gar keine echte Depression ist, unter der er leidet, sondern eine Kombination von vielem: dem gelegentlich recht schlimmen Asthma und, nicht zuletzt, der Schwierigkeit, alt zu werden und zu sehen, dass die Kräfte einfach nicht mehr so sind wie früher.
Dennoch: Ich bin froh und dankbar, dass die manifesten Störungen, die er in den ersten Monaten des Jahres hatte, die Sprach- und Wortfindungsschwierigkeiten vor allem, nahezu vollständig verschwunden sind. Offenbar ist das Gehirn wesentlich plastischer, als man denkt.
Aber, natürlich, der Winter mit seiner Kälte ist für ihn nicht eben die beste Jahreszeit, um Kräfte zurückzugewinnen.
Nun ja, andere sind schlimmer dran.
16. März 2006
Abgesehen von dem Vergnügen an den Früchten unserer Arbeit geht es uns im Augenblick nicht so besonders gut. Mein Mann hat seit zwei Jahren – in wechselnder Intensität – eine relativ schwere Depression, die ihn immer häufiger heimsucht. Außerdem wird das Asthma stärker, sodass er – in diesem kalten Winter – schon seit Wochen nicht mehr richtig rauskann, und auch sonst hat er – 83-jährig – zunehmend mit Beschwerden zu kämpfen.
Aber die Lesungen aus unserem Buch kann er immer noch ganz gut bewältigen, und diese Erfolgserlebnisse tragen dann auch jedenfalls kurzzeitig wieder zu einer Besserung seines Befindens bei. Dennoch mache ich mir in den letzten Wochen zunehmend Sorgen um ihn.
Dem gegenüber geht es mir immer noch vergleichsweise sehr gut, auch wenn ich gelegentlich mit Herzrhythmusstörungen zu kämpfen habe. Aber, mein Gott, irgendwie muss man ja lernen, dass man nicht mehr zwanzig ist. Auch wollen die Knochen manchmal nicht mehr ganz so, wie ich es gern hätte. Aber einstweilen, wie gesagt, komme ich noch ganz gut zurecht.
Die von uns geschriebene Biographie «Frau Thomas Mann» war 2003, die über «Katias Mutter», Hedwig Pringsheim, 2005 und die über den «Verlorenen Sohn», Katia Manns ältesten Bruder Erik Pringsheim, 2006 erschienen. Mit diesen Büchern absolvierten wir umfangreiche Lesereisen.
1. Januar 2007
Wir waren Anfang Dezember eine Woche in Berlin, um bei einigen Aufführungen von Mozarts Requiem noch einmal Walters Texte zu lesen. Ich habe ihm die Hälfte der «takes» abgenommen und, neben ihm sitzend, für die richtigen Einsätze sorgen können. Aus eigener Kraft hätte er es nicht mehr geschafft. Wenn es auf die Physis allein ankäme, wäre er noch sehr gut dran … aber die Psyche macht ihm zu schaffen, und die geistige Präsenz ist durch eine Mikro-Angiopathie, sprich: durch (regenerierfähige, aber natürlich Ausfälle verursachende) Mikroinfarkte der kleinsten Gehirngefäße sehr unterschiedlich. Ich war in letzter Zeit ein paar Male geneigt, Ihrem bzw. Géricaults hartem Altersverdikt zuzustimmen, und mein armer Mann ist manchmal doch recht verzweifelt.
Mir hingegen geht es Gott sei Dank eigentlich gut – jedenfalls meistens. Ich fühle mich im Allgemeinen noch ganz leistungsfähig – muss es allerdings auch sein, um ein Totalchaos zu verhindern. Und wenn ich mich ausgeschlafen fühle, verspüre ich sogar wieder Lust, etwas zu tun, was ein bisschen aus der Alltagsmisere hinausführt. Jedenfalls habe ich mit Jahresbeginn wieder etwas Mut geschöpft und bilde mir ein, es schon zu spüren, dass die Tage länger werden.
Der Adressat hatte in seinem letzten Brief geschrieben: «Schon Géricault nannte das Altwerden ein ‹Massaker›.»
15. März 2007