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Eric hatte sich von Anfang an in die falsche Richtung bewegt, denn er hatte sich mit jedem Meter wegbewegt. Weg von zuhause, weg von seiner Frau, weg von seinem Sohn und schließlich weg von sich. Er hatte nicht klassisch gesagt, kurz um Zigaretten zu gehen, nein, nicht einmal das hatte er gesagt, obwohl er tatsächlich Zigaretten holen gegangen war, bevor er seine Familie verließ. Doch danach hatte er sich in sein Auto gesetzt, hatte sich in aller Gemächlichkeit zurückgelehnt, sich eine Zigarette angezündet, die Wall-Kassette in das Kassettenfach geschoben und der Musik gelauscht. Hey You, das erste Lied der zweiten Seite also, und das hatte er auch genauso aufgefasst: Zweite Halbzeit! Der Beginn der zweiten Seite! Nicht nur des Albums, nein, auch seines Lebens!
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Seitenzahl: 196
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Gewidmet
Dietmar Ehrenreich
Und wieder
wehen hernieder
Novembernebellieder.
Kapitel I: Gottes Peitsche
Kapitel II: Grau oder Grün
Kapitel III: Die Luft zum Atmen
Kapitel IV: Perfect Soundtrack
Kapitel V: Fliehender Teppich
Kapitel VI: Nackte Knochen
Kapitel VII: Lebenslänglich
Kapitel VIII: Gottes Flügeln
Kapitel IX: Ende. November
Kapitel X: Die Farben des Lebens
Kapitel XI: Immer irgendwie überall
Kapitel XII: Stummer Stein
Kapitel XIII: Instrumentalstück
Kapitel XIV: Einäugige Sonne
Kapitel XV: Der große Prinz
Kapitel XVI: Zerschmetterling
Kapitel XVII: Morgennebelprinzessin
Kapitel XVIII: Hinter dunklen Wolken
Kapitel XIX: Novembernebelkönig
Kapitel XX: Unbunte Farben
Kapitel XXI: Blumenköpfe
Kapitel XXII: Wo liegt das Herz?
Kapitel XXIII: Fliegendes Zweikopfschwein
Kapitel XXIV: Regenbogen
Nichts Besonderes für diese Gegend. Eben wieder einer dieser achsotypischen Regentage im achsokalten und achsoleblosen Norden. Nichts Besonderes also auch für diesen Monat, dem achsotristen November. Trotzdem gewöhnt man sich wohl nie daran. Nicht an die manchmal, speziell zu dieser Jahreszeit, vorherrschende Leblosigkeit, nicht an diese Kälte und niemals an diesen Regen, diese Peitschen des Himmels. Es ist kein normaler Regen, vor dem man sich mit einem gewöhnlichen Regenschirm schützen kann, nein, das ist er nicht. Bei Gott nicht!
Elaine war als Kind stets brav, wenn auch unfreiwillig, mit ihren Eltern zur sonntäglichen Messe gegangen, hatte auch nie und niemals die Oster - und Weihnachtsmesse ausgelassen, und dennoch frug sie sich bei jedem dieser peitschenden Regengüsse, was sie noch besser hätte machen können müssen. Denn jedes Mal, und ein derartiger Regen überraschte sie stets nur, wenn sie gerade unterwegs gewesen war - ohne Aussicht auf baldige Hilfe eines göttlichen Wesens, wie sie es gerne beschrieb, - war sie eben bis auf die Innereien durchnässt nach Hause gekommen. Freilich nicht ohne Striemen, die sie sich von Gottes Peitsche zugezogen hatte.
Nun war es also wohl wieder einmal so weit. Elaine hatte offensichtlich wieder eine kleine Sünde begangen (sie erinnerte sich an die kleine, nächtliche Fressattacke der letzten Nacht, und war sich augenblicklich ihrer offensichtlichen jüngsten Schuld sogleich bewusst), und verkroch sich im hintersten Winkel des Wartehäuschens. (Ich sehe Dich, Gott, nicht, siehst Du etwa mich?) Den Bus hatte sie versäumt, oder wollte dieser etwa sie versäumen? - denn eigentlich hatte sie sich rechtzeitig an der Haltestelle eingefunden gehabt. Motorgeräuschleere im Regengeplätscher.
Elaine blickte aus dem Wartehäuschen durch den Regen hinüber zu dem gegenüberliegenden Feld. Sie kannte dieses freilich zu jeder Jahreszeit und in jeder Phase seines Gedeihens, dennoch konnte sie sich in diesem Augenblick, da es von einer Schar Krähen eingenommen wurde, nicht vorstellen, geschweige denn sich daran erinnern, wie dieses Feld in Frühlings- und Sommermonaten jemals ausgesehen haben mochte.
Mit einem Male aber schoss ihr das Bild jenes Moments in den Kopf, in dem sie als kleines Mädchen mit den Nachbarsjungen die damals auf besagtem Felde stehende Vogelscheuche angezündet hatten. Es musste in etwa die gleiche Jahreszeit gewesen sein wie nun. Jedoch vor vielen, vielen Jahren.
Einer der etwas älteren Jungen hatte die letzte Flasche hochprozentigen Schnapses seines Vaters unter seinem Mantel versteckt gehabt und war auf die Idee gekommen, ihn mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft hinter der alten Scheune zu kippen. Nachdem sich aber bereits die Vorkosterin der Runde - es war klar, dass hier der Dame in der Runde der Vorzug gegeben wurde - hinter jener Scheune nach nur einem kleinen Schluck hatte übergeben müssen, hatte man kurzerhand beschlossen, den Verwendungszweck des Schnapses sinnvoller umzufunktionieren. So hatte die Kinderschar nach einer brennenden Idee Ausschau gehalten, als synchron der Blick aller an der Vogelscheuche inmitten des Feldes hängenblieben war. Gehörte dieses Feld nicht jenem Bauern im Dorfe, der auch Schnaps selbst brannte - und an Väter armer und unschuldiger Kinder verkaufte?
In Filmen hatten sie es manchmal gesehen, doch so wirklich geglaubt hatten sie dennoch nicht daran. Es war ja nur im Film gewesen. Probieren! Selbst erleben wollen - es mit eigenen Augen sehen wollen: Anzünden! Verbrennen! Rache für...äh...naja, wofür auch immer. Hungriges Feuer fragt nicht nach einem Grund – es will gestillt werden!
Den flüssigen Brennstoff hatten sie ja bereits, einen Liter (minus einem Schluck) davon, doch hatte es nun an der zweiten - normalerweise einfacher zu beschaffenden – Komponente gemangelt: Feuer. Da aber niemand sich der Gefahr hatte aussetzen wollen, sich nach Hause zu schleichen, um eine Schachtel Zündhölzer zu beschaffen, schlussendlich dabei erwischt und aufs Zimmer geschickt zu werden, musste eine andere Beschaffungsmöglichkeit her, und zwar schnell! Denn man fror und man gierte nach Rache! In solchen Situationen ist man ja zu allerhand bereit, noch dazu als Kind.
Erneut in die Ferne blickende, starrende Kinderaugen in sich drehenden Kindern. Theo, zwei Jahre älter als Elaine, die jüngste der Runde, und somit der älteste der Runde, hatte den - schlussendlich im wahrsten Sinne des Wortes - zündenden Gedanken gehabt. Die Dorfkirche. Genauer gesagt: das Ewige Licht.
Und so waren im Schatten einer November- oder Dezembernacht fünf Kinder auffällig unauffällig über ein nebeliges, karges Feld, das durchaus eben einem Gedicht Georg Trakls entfallen sein hätte können, hin zur Dorfkirche geschlichen.
Nur ein paar Krähenschreie später waren die kleinen Gestalten, allen voran Theo, bereits wieder am Wege zur zurückgelassenen Vogelscheuche auf des Schnapsbrenners Feld, das Ewige Licht in der Hand der Jüngsten, Elaine, die der Gruppe nachtrottete, und der seit jener Nacht der Beiname Ewiges Schlusslicht ungefragt verliehen wurde, gewesen. Dass keine der Eltern jemals davon erfahren dürften, war freilich allen klar gewesen. Von der nächtlichen Aktion, die mit einem lichterlohen Brand der Vogelscheuche gipfelte, durfte generell nie jemand erfahren. So zumindest hatten sie es sich geschworen, im Scheine des Schnapsvogelscheuchenfeuers.
Tatsächlich war die mit dem Schnaps übergossene Vogelscheuche derartig schnell abgebrannt gewesen, dass tags darauf niemand mehr im Dorfe nur annähernd nachvollziehen konnte, was tatsächlich geschehen war. Zur Erheiterung und Erleichterung der Kinder, war nur mehr eine verkohlte Vogelscheuchenleiche am Tatort vorzufinden gewesen. Alle Beweise, mitsamt der Vogelscheuche, waren also vernichtet gewesen.
Die am frühen Abend eines spätherbstlichen Abends ohne menschlichem Zutuns plötzlich abgebrannte Vogelscheuche war noch lange Zeit Gespräch im Dorfe gewesen. Kommt man gelegentlich heute noch darauf zu sprechen, sind nach derartigen Gesprächen, sehr zur Freude des Dorfpfarrers, stets bemerkenswert viele Kirchgänge und Beichtgespräche zu verzeichnen.
In jener Nacht hatte ein, aus heiterem Himmel herabkommender, noch dazu für diese Jahreszeit eher ungewöhnlicher, Platzregen der glühenden Vogelscheuchenasche ein jähes Ende bereitet gehabt. Auch damals war es einer dieser hier typischen peitschenden Regenfälle gewesen.
"Gottes Peitsche straft uns, seht Ihr", hatte Elaine damals gemahnt. "Ich habe mir gleich gedacht, dass er noch munter ist, und mitbekommt, was wir verbrochen haben. Das Feuer hat er gelöscht mit seinem Regen, doch mit demselben Regen peitscht er uns nun aus!"
Theo hatte sich zur kleineren Elaine gedreht, und zum ersten Mal hatte er nicht, wie gewohnt, von oben herab zu ihr gesprochen, sondern sich vor ihr niedergekniet. Die Prophezeiungen des kleinen Mädchens hatten ihn plötzlich eingeschüchtert gehabt. "Glaubst Du, Elaine, dass er uns bei unseren Eltern verpetzen wird? - kannst Du nicht mit ihm sprechen, ihm sagen, dass wir es nie wieder tun werden?"
Elaine hatte Theo tief in seine auf ihrer Höhe befindenden Augen geblickt und den richtigen Moment erkannt. "Weißt Du, Theo, ich kann mit ihm reden, aber ich weiß nicht, ob er auf ein Mädchen hören wird, noch dazu auf die jüngste in der Gruppe - sprich Du doch mit ihm!"
Theo war blasser und blasser geworden, hatte den kleinen Mittelsmann, beziehungsweise das kleine Mittelsmädchen, Elaine, mit der Geste eines großen Bruders zärtlich in die Arme genommen. "Elaine, unsere Zukunft hängt von Dir ab, wir geben Dir, was immer Du willst, aber bitte, sprich Du doch mit ihm.", hatte er gebeten.
Elaine, in ihrer jugendlich-naiven-gutmütigen Art hatte sich dazu überreden lassen, und war für ein Gespräch unter vier Augen hinter der Scheune verschwunden.
Tatsächlich hatte sie hinter der Scheune zu Gott gebetet, freilich erst, nachdem sie sich umgesehen hatte, ob dieser nicht vielleicht sogar persönlich für ein Vier-Augen-Gespräch zur Verfügung gestanden wäre. Sie hatte versprochen, nie wieder einen solchen Streich spielen, und nie wieder das Ewige Licht aus der Kirche tragen, und nie wieder eine Vogelscheuche (und sonst auch niemanden) damit entflammen, und nie wieder Gott als Druckmittel verwenden zu wollen, um des Nachbarsjungen Fahrrad damit (übrigens erfolgreich) zu erpressen. Gott hatte nicht geantwortet gehabt, was Elaine zufrieden als zustimmendes, wortloses Nicken interpretiert hatte. Sie hatte sich sogleich entschuldigt, ihn zu dieser späten Uhrzeit (tatsächlich war es erst gegen 18 Uhr gewesen, aber zum einen ist im Winter das Gefühl für Zeit eine andere und zum anderen ist es für ein kleines Mädchen zu dieser Zeit tatsächlich schon bald mitten in der Nacht) gestört, ja, belästigt zu haben, und war mit einem sanften Lächeln auf den Lippen wieder hinter der Scheune hervorgetreten.
Alle waren bis auf ihre Teddybär- bzw. Prinzessinnen-Unterwäsche durchnässt gewesen, hatten sich dennoch für einen kurzen Moment umarmt, hatten Elaine, ihre Retterin hochleben lassen, ehe sie sich jeweils nach Hause begaben hatten, gespannt den Eltern vom mysteriösen Brand am Felde des Schnapsbauern lauschend. Auch Theos Vater hatte so aufgeregt davon erzählt gehabt, dass er erstmals vergessen hatte, seinen abendlichen Schnaps zu trinken.
Gott sei Dank!
Elaines Gedanken wurden schlagartig wieder in die Gegenwart katapultiert, als ein Auto in hohem Tempo an dem Wartehäuschen vorbeirauschte, und sie kurzfristig in eine Welle verdreckten, abgestandenen, silberschmutzigöliggraubraunen Regenwassers eintauchen ließ. Nun, ohnehin bis auf die Spitzenunterwäsche - die Prinzessinnen hatten sich im Laufe der Jahre dann doch empfohlen - durchnässt, hatte die kleine Sturzwelle eigentlich gar nicht mehr so viel am Schicksal der Elaine geändert, denn durchnässt lässt sich nicht mehr steigern, sehr wohl aber besteht ein Unterschied zwischen einer Regenwasserlache und besagter Lache vor dem Wartehäuschen. Und genau so, wie letztere, fühlte sich Elaine in diesem Augenblick. Grau, braun, ölig, silbern, schmutzig und was immer es auch noch gewesen sein mag. Vor allem aber kam ihr folgender Gedanke: endlich ein Schuldiger (unvorsichtig und wild, und also ohne Zweifel männlich) den man schimpfen, anschreien, anheulen darf. Jemand, den man für sein momentanes Unglück verantwortlich machen darf. Jemand greifbarer, sozusagen. Auch Gott war und ist stets greifbar gewesen für Elaine, aber diesmal hatte sie alleine in einem scheinbar gottlosen Wartehäuschen auf einen Bus gewartet gehabt, der nicht vorbeigekommen war und höchstwahrscheinlich – bei derartigem Wetter keine Seltenheit – auch nie vorbeikommen würde.
Und nun war auch noch diese Welle unbestimmbarer Flüssigkeit direkt in ihr Gesicht geschnalzt, und Elaine, das gepeitschte Elend hatte jede nur - in diesem Moment denkbare - Energie, um aus dem Wartehäuschen hinaus - und dem Auto hinterherzustürmen.
Seiner möglichen Schuld sich offensichtlich bewusst, blickte Eric in den Rückspiegel. Zuerst stellten seine Augen auf ihn selbst scharf, denn er bemühte sich ein weiteres Mal, die Sechserlocke, die sich immer nur bei Regenwetter verselbstständigte, glatt auf die Stirn zu streichen. Nach geglücktem Vorhaben nahmen sich seine Augen ganz dem jämmerlichen, spiegelverkehrten Bild im Hintergrund an: eine im Regen, das Auto offensichtlich in immer größer werdenden Abständen, verfolgende junge (soweit erkennbar) Frau.
Pink Floyds Hey You ertönte aus dem alten Autoradio, das noch ausschließlich auf Kassetten spezialisiert war, als Eric gnädig zum rechten Straßenrand heranfuhr, um seiner Verfolgerin den - offensichtlich nötigen - zeitlichen Vorsprung zu geben, um endlich ihn und sein Auto einzuholen. Das Lied schlug seine letzten Töne an, als es heftig an der Scheibe der linken, hinteren Türe klopfte, so, als wolle man mal auf jeden Fall auf sich aufmerksam machen, damit das Auto (man kennt es wohl eher vom Bus) noch stehenbleibt, und auf einen wartet, während man vor zur Fahrertüre sprintet.
Eric gab Elaine die Zeit, hätte natürlich aussteigen und ihr entgegengehen können, zog schlussendlich aber doch die gemütlichere und weitaus trockenere Variante des Sitzenbleibens vor.
Is there anybody out there?
Eric ließ die Autoscheibe lässig herunter (zumindest versuchte er, einen lässigen Anschein zu erwecken, während er kräftig und zugleich ruhig in vertikalkreisenden Bewegungen das Fenster herunterkurbelte), drehte die Musik, sein Lebenselixier nach kurzen Überwindungsproblemen etwas leiser.
So also sahen sie einander zum ersten Mal, und waren für einen unbestimmbaren Moment so dagestanden beziehungsweise -gesessen. Sie blickte herab auf ihn, er blickte zu ihr auf. Der Regen ließ sich von seiner Neugier nichts anmerken und tat was er in solchen Momenten immer zu tun pflegt: ganz leise zu Boden tröpfeln, um ja kein Wort zu überhören. Doch es war nicht wie immer....
Elaine blickte auf einen gepflegten Drei-Tages-Bart-Mann, irgendwo zwischen Dreißig und Vierzig, mit Jeans und schwarzem Gürtel, mit einem schwarzen Pink-Floyd-Shirt unter einer weinroten Lederjacke. Achja, und da war so eine komische Sechserlocke, die ihm etwas willkürlich ins Gesicht hing.
Eric blickte auf eine wunderschöne, (in dieser Verfassung sicherlich) ungewollt auf ihn sexy wirkende Frau, in einem nassen, beigen, langärmeligen Winterstoffkleid, mit nassen (nona!) langen, leicht gelockten Haaren, perfekt glänzenden Lippen, die jedoch leicht zu zittern schienen, wie eigentlich auch die ganze Person an ihnen.
Endlich nun stürmte Eric mit einem Satz aus dem Auto, sodass Elaine unweigerlich erschrocken einen Schritt zurückwich, und Eric erkannte, was zu tun sei. Mit einer Bewegung zog er seine geliebte lederne Jacke aus, und legte sie Elaine um ihre zarten Schultern, führte sie vorbei an der Kühlerhaube des Autos zur Beifahrerseite, öffnete die Türe und hielt erst dann - beinahe selbst über seinen ersten Satz zu Elaine erschrocken - kurz inne: "Erlauben Sie mir, Sie ein Stück mitzunehmen, wohin wollen Sie denn?"
Elaine blickte Eric an, ohne einen Laut von sich zu geben.
"Darf ich? - das bin ich Ihnen schuldig, sehen Sie sich an - völlig durchnässt. Alles meine Schuld!" gestand Eric.
"Im Regen wäre ich schließlich genauso nass geworden, Sie trifft also keine Schuld!" schwächte Elaine unglaubwürdig und mit abweisender Handbewegung ab.
"Tja, da war ich wohl schneller als der Regen!" konterte Eric.
"Schneller als Gott!?" fügte Elaine in überzeugtem und zugleich fragendem Tonfall hinzu.
"Auch der liebe Gott muss irgendwann einmal etwas zur Ruhe kommen, etwas schlafen", beschwichtigte Eric, nicht ohne seine Augen zu verdrehen.
"Nein, das macht er nie in der Dunkelheit" - schoss es aus Elaine heraus - "das macht er, wenn alle in der Schule oder Arbeit sind".
"Als könnte dort nicht auch etwas passieren" - warf Eric ein - "Wozu gibt es denn sonst sogar eine Pausenaufsicht in den Schulen?" fügte er hinzu.
"Die Pausenaufsicht gibt es, damit Lehrer auf ihre bezahlten Stunden kommen" argumentierte Elaine, ganz untypisch für ihre Art.
"Sie treffen mich damit nicht, falls Sie mich etwa für einen Lehrer halten, was ich doch nicht hoffe“, konterte Eric und fuhr fort: „das Leben bietet doch wesentlich mehr, als kreidebeschmutzte Hände, verhasste Kinderblicke im Rücken - und eben Pausenaufsichten! Auf jeden Falle - erlauben Sie mir, sie nach Hause oder wo auch immer Sie hinwollen, zu begleiten?" gab er nun leicht gereizt und ebenso mittlerweile ebenso durchnässt von sich, und er hoffte, dass er es hier nicht mit einer Lehrerin zu tun hatte. Er war nie ein guter Schüler gewesen und hatte demnach auch nicht allzu viel Sympathie für Lehrkörper (oder hieß es gar LehrkörperInnen??) übrig. Den einzigen Grund, Lehrer zu werden, sah Eric schließlich darin, aufgestauten Aggressionen aus der Schulzeit dadurch endlich ein Ventil zu bieten, wenn auch auf Kosten unschuldiger Kinder und Jugendlicher. (Man lebt aber schließlich nur einmal – sollten diese eben auch irgendwann einmal Lehrer werden!)
Eric hatte nichts gegen den Gedanken an Gott, auch nichts gegen den Gedanken einer Pausenaufsicht. Beide jedoch müssten seiner Meinung nach wissen, wann sie ihre Bühne zu betreten hätten und wo sich schließlich der Bühnenrand befände.
Als Kind hatte Eric stets davon geträumt, Regisseur zu werden.
In diesem Spätherbst-Moment, im Regen, im Auto, in Gegenwart dieser hübschen, durchnässten, distanzierten, ebenso etwas gereizten und dadurch irgendwie erstrecht reizenden jungen Dame aber wollte Eric weder an den lieben Gott noch an eine Pausenaufsicht, überhaupt an gar keine Aufsicht denken. Er wusste auch gar nicht mehr, wie es zu diesem Gespräch gekommen war, aber er wusste auch, dass, wenn er jetzt nicht handle, alles, das ganze Gespräch, das ganze Kennenlernen, alles eben einfach, in eine andere, in eine falsche Richtung laufen würde. Doch - welche Richtung würde eigentlich die richtige sein?
Eric hatte sich von Anfang an in die falsche Richtung bewegt, denn er hatte sich mit jedem Meter wegbewegt. Weg von zuhause, weg von seiner Frau, weg von seinem Sohn und schließlich weg von sich. Er hatte nicht klassisch gesagt, kurz um Zigaretten zu gehen, nein, nicht einmal das hatte er gesagt, obwohl er tatsächlich Zigaretten holen gegangen war, bevor er seine Familie verließ.
Doch danach hatte er sich in sein Auto gesetzt, hatte sich in aller Gemächlichkeit zurückgelehnt, sich eine Zigarette angezündet, die Wall-Kassette in das Kassettenfach geschoben und der Musik gelauscht. Hey You, das erste Lied der zweiten Seite also, und das hatte er auch genauso aufgefasst: Zweite Halbzeit! Der Beginn der zweiten Seite! Nicht nur des Albums, nein, auch seines Lebens!
Eric hatte also sein Auto gestartet gehabt. Motorgeräusch, Regen, eine eben angefangene Packung Zigaretten am Beifahrersitz liegend, Pink Floyds The Wall, Seite zwei, und dann Elaine!
Elaine im Regen, Elaine, die schließlich zugestiegen war, und nun im fahrenden Auto (auf jener Packung Zigaretten) saß. Elaine, von der er noch nicht einmal den Namen wusste. Auf den plätschernden, allwissenden Regen hatte er in diesem Moment nicht gehört – vielleicht hätte dieser ihn ihm verraten.
Ein weites, weites Land, grau und grün und grüngrau. Nebel, schwarze Krähen und weite, weite Felder. Vereinzelt schlummernde Lichter weitentfernter Häuser. Spätherbst. Durch diesen hindurch fuhren sie momentan, Elaine und Eric. In einem alten Fiat, grau oder grün, schwer zu erkennen, bei dieser Dunkelheit.
Eric hatte Yvette kennenlernt bei einem verhältnismäßig schlechtem Pink-Floyd-Cover-Concert. Yvette hatte ohnehin nicht allzu viel mitbekommen, da sie die Tage zuvor als Aushilfe damit beschäftigt war, möglichst viele Menschen der Marke Zielgruppe auf das Konzert mittels pinkfarbener Flyer - aufmerksam zu machen. Das tat sie auch besten Gewissens, gekleidet in einem engen, pinkfarbenen Dark-Side-Kleidchen. Aufgrund des großen Erfolges wurde Yvettes Vertrag prompt verlängert, und sie durfte auch am Tage des eigentlichen Konzertes als Pink Flyer dabei sein.
Eric hatte an diesem Tag schon sehr lange an der Bar gestanden, war gleich nach der Arbeit zum Konzert gefahren, mit einem Arbeitskollegen, der sich jedoch ziemlich schnell abseilte – mit einer jungen Dame mit pinkfarbenen Haaren und Nagellack. Yvette war ihm damals sofort aufgefallen, weil sie die einzige war in seinen Augen, die tatsächlich für etwas Werbung machte, wofür sie auch dahinter zu stehen schien. Vor allem aber war sie ihm aufgefallen, weil sie einfach auffallend war. Yvette - anfangs hatte er nie daran geglaubt, dass dies tatsächlich ihr wirklicher Name sei - hob ihre dunklen Augen stets mit extrem viel, wie er anfangs meinte, blauen Lidschatten oder so hervor. Auf jeden Fall wurden ihre Augen stets von blauem Schimmer umgeben, aber nicht aufdringlich, einfach nur schön, wie Eric es empfand. Yvettes Augen waren es gewesen, in die Eric sich zuallererst verliebt hatte. Yvette, sie hatte tatsächlich einen Namen, von dem eigentlich nur teure Parfums oder Luxuslimousinen, ja, oder allerhöchstens vielleicht noch unbezahlbare Gitarrensondermodelle pflegen, sich selbigen zu eigen zu machen. Doch Yvette war genau sein Parfum, seine Luxuslimousine, sein unbezahlbares Sondermodell. Yvette war einfach alles für ihn gewesen!
Eric war verliebt! In Yvettes Ehrlichkeit, in ihren Einsatz, in ihren Humor! Er liebte Pink Floyd, liebte seine, vor etlichen Jahren ins Leben gerufene Metal-Band Dark Side Of The Runes! Eric liebte seine Frau und er liebte Arthur, ihren gemeinsamen Sohn, bis aufs pinkfarbene Blut!
Yvette und Eric waren inzwischen im vierzehnten Jahr ihrer Beziehung, geheiratet hatten sie erst nach Arthurs Geburt, vor acht Jahren, damals war Arthur bereits fünf Jahre alt. Eric hatte nie viel von der Idee einer Hochzeit gehalten, aber in kleineren Ortsgemeinden, besonders hier, in dieser Gegend um Malden, in der Yvette seit ihrem neunten Lebensjahr lebte, gehöre es dazu, so Yvette, wenn man ein Kind hatte, und Yvette war ohnedies nicht abgeneigt, von Eric geehelicht zu werden. So geschah es also an einem kühlen Frühsommertag, vor einigen, viel zu schnell vergangenen Jahren.
Eric, der erst nach Malden gezogen war, nachdem er Yvette kennenlernte hatte, ja, der bis dahin nicht einmal die Idee davon hatte, dass diese Ortschaft überhaupt existiere, war hier von Anfang an klarer Außenseiter gewesen, hatte sich aber auch nie sonderlich darum bemüht, vom Gegenteil zu überzeugen. Mit seinen Tätowierungen, seinen Lederhosen und -jacken, seinem alten Fiat war er schon vom ersten Tage an negativ aufgefallen. Und was man ihm, aufgrund seines Aussehens, so Eric, dann erst noch alles so nachsagte...
Einfache Menschen verlangen nach einfachen Bildern. Eine Zeichnung am Arm zeichnet mich Armen. Meine Texte sprechen sowieso aus mir und also für mich. Lange Ärmeln im Sommer haben wohl ihren Grund und drehe ich meine Zigarette selbst, dreht sich damit plötzlich schon alles um mich. Und am Bauernmarkt fragen sie scheinheilig nach Frau und Kind, jedoch nicht, ohne mich zuvor schon angezeigt zu haben als Vergewaltiger und Kinderschänder.
Das erste Konzert von ihm und seinen Kumpels, die damals nur für diesen Auftritt nach Malden angereist waren, war nicht grundlos auch das einzige in der gesamten näheren Umgebung gewesen. Biergelage, Raufereien, Gegröle, nächtliche Ruhestörung weit nach Ende des Konzerts. Man wolle die - wenn auch nur zugeheirateten – Söhne Maldens unterstützen, hatte es noch tags zuvor vom Bürgermeister geheißen, doch mit einem derartigen Überstrapazieren der Gastfreundschaft, sei freilich nicht zu rechnen gewesen. Yvette hatte damals nicht hinter Eric gestanden, zu groß war der Einfluss ihres Vaters, selbst nicht gebürtiger Maldener, und dennoch nun Bürgermeister der Ortschaft. Sie hatte sich ihrer Stimme enthalten, was Eric dennoch als Gegenstimme ihm gegenüber auffasste. Damals hatte wohl alles angefangen, in die falsche Richtung zu gehen. Über ihre beste Freundin,
Nora, hatte Yvette seinerzeit auch deren Cousin Theo kennengelernt. Er war gerade getrennt gewesen von seiner langjährigen Freundin, und hatte sich in Yvette verliebt, wie diese auch - zunächst noch erfolgreich - nicht länger mehr ihre Gefühle für Theo verbergen wollte. Ihr war aber natürlich bewusst, dass sie nicht nur Ehemann, sondern auch noch ein gemeinsames beinahe dreizehnjähriges, Kind, Arthur, hatte.
Eric jedoch war kaum zuhause gewesen in dieser Zeit, mit seinen Kumpels, den Dark Runes, wie er sie stets nur zu nennen pflegte, war er über mehrere Monate auf Tournee in Mitteleuropa gewesen. Er hatte sich zwar beinahe täglich bei seiner Familie gemeldet gehabt, jedoch kaum sehen lassen.
Yvette hatte damals noch ihrer eigenen Arbeit als Fotografin nachzugehen. Abhängig von fixem Einkommen ließ sie sich schließlich sogar dazu herab als Schulfotografin zu fungieren und sich für ländliche Hochzeiten buchen zu lassen. Früher hatte sie Ausstellungen ihrer Kunstfotografien veranstaltet, war auch stets als Band-Fotografin mit bei Erics Konzerten gewesen. Dies war freilich vor Arthurs Geburt. Yvette hatte es Eric nie wirklich vorgehalten, dass dieser - auf ihre Kosten - seinem Hobby, seiner Arbeit, ja, seinem Leben nachgehen durfte, im Gegenteil, sie hatte ihn immer bestärkt dazu, hatte immer hinter ihm gestanden. Als er sich dann aber zu sehr in seiner Welt, und es war tatsächlich nur die seine gewesen, verlor, und schließlich auch, infolge wachsenden Erfolgs, in immer größeren Abständen nach Hause gekommen war, wenn auch inzwischen sogar ein Heimspiel gegeben hatte, waren die Weichen für Yvette und also der gemeinsamen Zukunft mit Eric bereits längst gestellt.
Die Weichen unseres Lebens lassen uns unserem gemeinsamen Leben weichen, hatte sie es einmal Nora prophezeit.