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Drei Boote - sie werden wohl irgendwann einmal, wenn die Ebbe gerade unachtsam ist, mit der Flut an Land gespült werden. Aus ihren Holzbrettern wird ein alter Fischer mit zittriger Hand Kreuze bauen - für die vom Leben Getöteten und vom Tode Belebten. Er wird sie liebevoll bemalen in grüner und roter und weißer Farbe, damit sich das Salz des Meeres nicht so schnell in das Holz fressen kann, wird sie hernach tief in den Dünensand stecken, die Kreuze der Meeresblickgräber, sodass sie ja standhalten - dem Wind und den Fluten, den Erinnerungen.
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Seitenzahl: 153
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für
E. & E.
Schwarz ist der Tod.
Schwarz ist die Nacht.
Blut bleibt rot,
beweint, belacht!
Rot ist die Rose
auf Deinem Grab.
Rotes Herz, lose,
in mir ich hab´.
Schwarz ist der Tag.
Rot ist das Blut.
Auf Deinem Sarg
mein Herze ruht.
Kapitel
Hirnunkraut
Der Schatten vor meinem Fenster
Am Ende der Welt
Schattenloses Leben
Das letzte Wort
Lebensblume
Mitternacht
Mondleer
Endloses Schwarz
Aufblende über Weiß
Der Herbst naht
Regentropfen auf meiner Haut
Septemberwind
Windspiel
Dann erst sehen wir zum Himmel
Windschatten
Schattenloses Leben
Stern
Ihrer Augen Grün
Kapitel
Von Angesicht zu Angesicht
Des Lebens toter Geist
Das Salz des Meeres
Atem der Unendlichkeit
Ein kleines Leben lang
Dreifaltigkeit
Hand in Hand
Herbstlichts Schwester
Kind des Meeres
Umhüllt von anderem Himmelszelt
Wer schenkt mir sein Lächeln?
Mit offenen Augen erwacht
Wo ist nur das Licht?
Möwengelächter
Auf schwankendem Boote
Unsichtbares Band
Kapitel
Ungeborene Welt
Im Leuchten der Toten Augen
Vaterloses Kind
Salzwassertränen
Im toten Winkel
Meereswasserfluss
Audienz des Meeres
Bodenkontakt zu Mutter Erde
Weltenmenschenmeer
Ganz alleine
Lied der Zeit
Götter der Vergessenheit
Seite an Seite
Unter den Schaumkronen
Zeuge des Geschehens
Tor zur Ewigkeit
Eckenloser Raum
Unsichtbare Hände
Kapitel
Tausendsternehimmel
Engelsstaub
Himmelstränen
Gedankenlicht
Im Licht des Mondes
Ich wäre mit ihm gegangen!
Das Licht im Leben
Schwebende Gesichter
Elterngrab
Herzensrose
Mein Lebensschiff
Gänseblümchen
Ich habe keine Flügel
Am Ufer des Kerzenmeeres
Im Schein tanzender Kerzen
Namenloses Leben
Der Winter kommt
Atemloses Leben
Am Grunde des Sees
Meine Reise zu Dir
Tod im Wattemeer
Vierteilung
Kapitel
Die Lächerlichkeit meines Seins
Gottes Wein
Einer muss gehen!
Binnenalster
Mein Silvestertag
Totenschein, unser
Mutter
Kapitel
Kopfbahnhof
Friedhof der Lebenden
Verbrennungstod
Augenlose Stadt
Lichter im Wasser
Tote Taube
Ein kleiner Punkt
Kraftlos
Fremdkörper
Der Untergeher (bezeichnender Weise)
Kapitel
Endlich
Wiedersehen mit geschlossenen Augen
Zwischen Ebbe und Flut
Das andere Ende des Lebens
Unser Grab
Salz
Drei Boote am Horizont
Meeresblickgräber
Heverstrom
Heversand, 5. September
Schließe ich meine Augen, schmiegen sie sich an mich. Alle sind sie da, alle wollen sie wahrgenommen werden, sich mir zeigen, ja, mich spüren lassen, dass sie mich nicht vergessen haben, wie sie es auch von mir erwarten. Vielleicht aber will ich sie gar nicht sehen oder spüren. Befreit mich von ihnen, ihren scharfen Krallen, ihrem tödlichen Hunger! Befreit mich von meinen Gedanken! Auch ich verspreche, ihrer nicht mehr zu gedenken. Ich will nicht das Fleisch sein, das sie mit ihren spitzen Mündern aus modernden Knochen aussaugen. Ich will nicht ihre rauen Zungenspitzen an meinen Augenlidern spüren, will nicht das Sehen verlernen aufgrund ihrer Blindheit. Sie kriechen in das Unterholz, schleichen sich durch den Türspalt und durchwandern das Ziegelgemäuer hinter der Friedhofskapelle.
Meine Gedanken, sie haben sich verselbständigt, sind längst mir nicht mehr hörig...sind längst nicht mehr nur mein Hirnunkraut. Sie wandern dorthin, wo Licht und Wasser sie umtanzen, wo ihre Wurzeln sich endlos in neue Erde vergraben können, ohne auf einen Sarg zu stoßen.
Und ständig denken sie an mich...
Öffne ich meine Augen, kann ich sie nicht sehen. Ein unsichtbares Leid. Meine Gedanken haben ihren Weg durch zitterndes Fleisch in mein Innerstes gefunden. Stets sind sie zugegen, anwesend, verwesend.
Ich spüre sie kaum, habe kein Empfinden mehr. Spüre nicht den Atem des Meeres auf meiner Haut, spüre nicht die tödlichen Pfeile der Sonne in meiner Brust, spüre nichts mehr.
Um sehen zu können, muss ich meine Augen schließen. Um Dich nur einmal wieder zu sehen, schließe ich sie gerne, sei es auch für immer!
Heversand, 7. September
Der Tag ist tot – kahles Geäst.
Ein Totenfest im Abendrot.
Vom Wind berührt – fahles Gesicht.
Sanft ist das Licht, das zu Dir führt.
Mein Herz, es weint – wehes Gemüt.
Dein Licht verglüht. Nie mehr vereint.
Heversand, 8. September
Wenn ich aus dem Fenster blicke, auf die dicht aneinandergereihten Häuser in der sterbenden Abendsonne, die sie jeden Moment, gleich einem Grab, verschlingen wird, dann denke ich nicht an den Tag, der zu Ende geht, nicht an die anbrechende Nacht oder an den nächsten Morgen, nein, dann blicke ich lediglich in ein Licht, das mich bald alleine lässt...
Ich beobachte den Schatten vor dem Fenster, wie er wandert, sich hinfort schleicht, sich breitmacht und in die Länge zieht, nur, um ja nicht übersehen zu werden, in Vergessenheit zu geraten. Ja, sie scheint sich immer noch zu bewegen, diese Welt, mich aber bewegt sie nicht mehr - weil Du sie nicht mehr bewegst! Bewegungslos also, verwahrlost und abgemagert, ist meine Welt, und doch: sie lebt, scheintot! Du hast Deine Farbe hübsch abgelegt und hinter der Friedhofsthuje vergraben, ehe Du Dich selbst in das gemachte Seidenpolster-Bett legtest.
Die Sterne hast Du schon berührt,
den Mond schon lang´ betreten.
Die Sonne hat Dich weggeführt,
wer hat sie nur gebeten?
Durch Wolkenberge schwebtest Du,
gehst nun auf Gottes Straßen.
Hast in aller Still´ und Ruh´
die Erde längst verlassen.
In Deinem Leben drehte sich alles um den Tod, doch für die Erde dreht sich alles nur um ihre eigene Achse. Wie egoistisch von ihr – doch nur auf diese Weise gibt es sie wohl immer noch. Du hingegen hast nie an Dich gedacht...
Erinnerst Du Dich? An diese Nacht im Winter? Weißt Du noch, wie kalt es damals war? Und kannst Du Dich noch an die Lichter der schlafenden Stadt am gegenüberliegenden Ufer erinnern? Was haben wir einander bloß alles geschworen!? Ich würde es immer noch tun, und immer noch sehe ich diese Lichter, deren Farben erst in der Kälte der Nacht scheinbar zu leben begannen. Ich sehe es vor mir, das grüne Licht am, wie es für uns schien, Ende der Welt, das doch nur das Licht einer Reklame war.
Die wahre Größe unser gemeinsamen Welt haben wir vielleicht nie wirklich erfasst – befanden wir und doch erst am Rande dieser, doch, auch Distanz schafft Größe. Das Gefühl der Unerreichbarkeit ließ uns klein, und somit alles um uns größer werden...
Die Lichter der Stadt, immer wieder muss ich an sie denken. Sie erinnerten mich an einen Friedhof zu Allerheiligen. Wir haben in der Dunkelheit des verlassenen Ufers nicht viel, und doch das Wesentliche gesehen, denn wir haben einander gesehen. In diesem Augenblick, in dieser Nacht, am Ufer des Lichtermeeres, am Ufer des Lebens, Hand in Hand, unschuldig und unwissend wie der junge Tag, und doch weise wie die sterbende Nacht.
Wohin ist das Licht verschwunden? Wohin der Schatten? Ich lebe ein schattenloses Leben, stehe im Licht, das mich im selben Moment vergisst. Wo bin ich? Ich stehe im Leben, doch Dich kann ich nicht sehen - liegst Du doch vielmehr dem Tode zu Füßen. Dein Leben gabst Du, um Dich dem Tode hinzugeben. Ach, wie ich den ihn um Dich beneide! Lass´ mich es sein, gib´ Dich mir hin! Lass´ mich Dein Tod sein!
Ich liebte das Leben.
Ich hasste den Tod.
Für mein Leben
wäre ich gestorben!
Wir haben einander Treue bis in den Tod geschworen, das Leben und ich, wie auch Mareen und ich es einst einander geschworen hatten. Er wird uns einholen, wird bereits am Ziel auf uns warten. Vielleicht wird er sich ein paar beschönigende Worte zurechtlegen, niemals jedoch wird er sich rechtfertigen, denn, wer sich rechtfertigt, bekennt sich seiner Schuld. Der Tod hat schließlich das letzte Wort. Leider jedoch wird es wohl niemals jemand zu Ohr bekommen.
Heversand, 11. September
Jetzt blüht sie,
Deine Lebensblume,
hier, auf Deinem Grabe erst.
Doch schweigen
wird sie alle Tage,
weil zurück Du nie mehr kehrst.
Jetzt scheint sie,
Deine Lebenssonne,
durch die Wolkenmauer Dir.
Doch lachen
wird sie nie mehr wieder,
bist Du längst doch nicht mehr hier.
Heversand, 13. September
Kurz vor Mitternacht. Gleich beginnt ein neuer Tag. Ein neuer Tag bloß für mein Leben, ein kleines Leben aber für den Tag. Ich gehe diesen Schritt, Hand in Hand mit diesem, und merke, wie der alte, gebrechliche Tag mich mehr und mehr zu sich zieht, Halt suchend, sich nach mir umdrehend. „Bist Du noch da? - lass´ mich nicht alleine!“. Er hat es gesagt, noch ehe ich es zu ihm sagen konnte. Er ist der Schwächere. Dabei wollte ich es doch sein.
Reiß mich mit, in Dein Verderben,
ich will mit Dir geh´n!
Will an Deiner Seite sterben,
mit Dir aufersteh´n!
Der Tag weiß über seine Lebensdauer genauestens Bescheid, doch, ist Gewissheit auch immer ein Geschenk? Jeder Tag ist sein eigener Todestag. Welcher Tag wird mir wohl vom Tod zugeteilt werden? Wer weiß, ob mir überhaupt noch ein neuer Tag die Hand zum Gruß reicht? Es ist doch niemals gewiss, wer eine Rose ins Grab des anderen wirft...
Dieser Tag ist dennoch überzeugt davon, dass ich ihn überleben werde. Daher wird wohl seine Angst rühren. Er weiß, dass er ebenso sterblich ist wie ich.
So leben wir der jungfräulichen Zukunft entgegen. Diese weiß nicht, was sie uns bringen wird. Sie weiß nicht, wen von uns sie jemals kennenlernen wird, ja, sie weiß doch noch nicht einmal, dass sie selbst je existieren wird.
Glockenschlag...
Vor meinem Fenster liegt ein toter Sonntag.
Der greise Mond schwebte unsicher über uns, und ich spürte, würde er auch nur einmal die Augen schließen, er würde nie mehr imstande sein, mir sein Licht zum Geschenk zu machen, denn ich würde mich ihm nie mehr stellen. Er muss es wohl geahnt haben, denn er hielt seine Augen offen, weit über sein Leben hinaus. Seine Lider schloss der neue Tag, der ihn leblos, am Himmel hängend, fand. Man nahm ihn sanft ab vom Sternenhimmel. Dies geschah am fünfundzwanzigsten Tage nach seiner vollen Pracht, in der er sich in diesem Jahre zum ersten Male, zur achtzehnten Stunde und dreiundzwanzigsten Minute, gebar. Wahrlich, so steht es geschrieben.
Man erzählt, eine, ihren Kopf nach der mondleeren Stelle gerichtete, Rose soll sein Grab geschmückt haben.
Dein Bild, geliebte Mareen, hängt in meinem Kopf, auf einem Nagel, der sich tief in meine Seele gebohrt hat. Den Wellen des Meeres hält er Stand, doch der Rost frisst ihn auf...
In ein tiefes, tiefes Loch scheine ich gefallen zu sein. Nicht gestolpert dahinein, nein, gestoßen, geschlagen, geprügelt! Ich reiße meine Augen auf, kann dennoch nichts sehen. Meinen Blick wende ich nach oben, und sehe nur noch ein immer kleiner werdendes Licht. Jeden Augenblick erwarte ich einen dumpfen Aufprall - gelandet, sozusagen, doch stattdessen nimmt mich die Dunkelheit auf, wie ein hungriger Wolf einen Bissen Fleisch, als welcher ich mich jetzt auch nur mehr fühle. Ich versuche mich wiederzufinden, habe mich verloren, bin verloren! Oder bin ich gar jemanden verloren gegangen? Dir etwa, Mareen?
Der kleine Lichtpunkt weit über mir verliert sich ebenfalls im endlosen Schwarz. Ausblende.
Die Sonne blinzelt mit immer stärker, aufdringlich werdender Arroganz durch den Vorhang. Ich begebe mich heute zum ersten Mal zum Fenster, ziehe den Vorhang, der doch nur ein ins Fenster eingeklemmtes Leintuch ist, zur Seite, um hindurchzublicken, durch dieses Leichentuch, das mich verhüllt. Ich weiß nicht, wer wen zuerst wahrnimmt, aber plötzlich stehen Sonne und ich einander gegenüber. Mein Blick wendet sich als erster ab – ich habe das Spiel – habe ihr Spiel – verloren!
Nun, am geöffneten Fenster sitzend, starrt mein Blick in eine taubstumme Leere. Obgleich es doch so viel Schönes zu sehen, zu hören gäbe. Ich schließe meine Augen für einen Moment, und öffne sie erwartungsvoll wieder. Leere. Die Sonne, Zeugin meiner Vergangenheit, war nicht immer zugegen in meinem Leben und doch hat sie mich nie aus den Augen verloren. Sie ist wohl auch eine kleine Göttin für uns Menschen, der wir hier in dieser Welt ausgesetzt sind. Sosehr sie es vielleicht auch will, sie kann beim besten Willen nicht allen Menschen auf dieser Welt im selben Moment ihr Licht schenken.
Gott hat wohl sein Ebenbild in ihr erschaffen, um an ihr die Unmöglichkeit des Allzeit-Zugegen-Seins zu demonstrieren! Gewiss, Gott und seine Sonne sind stets wach, schlafen nie und niemals auch nur eine Sekunde, dennoch – was bringt ein aufmerksamer Wachhund am Hof des Nachbarn, wenn in meinem Haus eingebrochen wird?
Schatten auf meinem Schreibtisch. Wo ist die Sonne nun? Am anderen Hofe? Eine Wolkenmauer nimmt ihr die Sicht auf mich, gestattet mir endlich die Sicht auf sie, hinter grauem Nebel hängend.
Ich senke meinen Blick, und sehe auf rote Dächer dieses mir fremd gewordenen Dorfes. Rote Dächer eines fremden und zugleich vertrauten Ortes. Eine Wolkenmauer schützt mein hilfloses Dasein in dieser fremden Welt. Ich wende meinen Blick ab von ihr, drehe mich weg vom Fenster. Dennoch spüre ich sie, diese fremden Blicke, die sich durch den grauen Himmelsvorhang brennen, als warteten sie nur darauf, dass dieser sich endlich öffne, und mich ihnen am Opfertisch darböte.
Ferner Welten starre Blicke
peitschen mir den Rücken aus.
Dreh´ mich um, in tausend Stücke
fällt mein Sein zur Welt hinaus.
Rote Dächer fremder Orte
blicken selig auf mich hin.
Dumpf im Nebel, tote Worte
schweigen, dass ich hilflos bin.
Ich blicke hinab vom Fenster, auf ein paar alte Fischer, die sich gerade an meinem Haus vorbei bewegen. Einer von ihnen, jener mit der weinroten Strickjacke, Frederik heißt er, glaube ich, geht nicht im Gleichschritt mit den anderen. Ob er weiß, dass ich mich an ihn erinnere? Ich habe ihn schon oft an meinem Fenster vorbei streunen sehen, und jedes Mal frage ich mich, ob es nicht ein alter Bekannte meines Vaters sein könnte. Ob er somit nicht ein Stück meiner Vergangenheit, an die ich selbst mich nicht mehr erinnere, in sich trägt. Ein Stück meines Lebens, als mein alter Herr noch unter uns weilte?
Ich glaube nun, bei genauerer Betrachtung, dass es sich gar nicht um Frederik handelt, ja, ich glaube sogar mich zu erinnern, letztens an dessen Grabe vorbeigegangen zu sein.
September, horch, der Herbst schon naht,
den Wind schickt er voraus,
und bald schon fliegt er aus,
es bleibt Dir nicht erspart.
Im Nu umtauscht ein Blättermeer
Dein liebliches Gemüt -
so sehr es sich bemüht,
es setzt sich nicht zu Wehr!
Es ist September, nicht mehr Sommer und doch auch noch nicht Herbst - so fühlt dieser Ort. Es ist September, nicht mehr Leben und doch auch nicht Tod – so fühle ich.
Ich will das Haus verlassen, will auf den Wegen dieses sich im jahreszeitlichen Niemandsland befindlichen Ortes einen Fuß vor den anderen setzen, und sehen, welcher zuerst aufgibt.
Meine Zeilen beende ich hier, um mich also tatsächlich aus dem schützenden Gemäuer zu wagen, um vielleicht zum toten Baum bei der Kirche zu gehen, und ihm einen Gruß des Lebens zu übermitteln, oder aber auch nur, um, dem Opfertisch entflohen, die Sonne aus der ersten Reihe mit Applaus zu begrüßen, wenn der Vorhang fällt.
Heversand, 14. September
Es fing an zu regnen an, als ich schließlich doch erst heute Morgen das Haus verließ. Und dennoch setzte sich die Sonne durch. Ich trat den Weg zum Meer an, und musste zwangsläufig innehalten, als ich diesen Regenbogen plötzlich über der alten Friedhofsmauer erblickte. Ich sah zum Himmel, ließ mich auch nicht vom Regen, der mir den Blick dahin verwehren wollte, daran hindern und wusste, in Anbetracht des Regenbogens, augenblicklich, wer mir die Farben meines Lebens aus den Augen gesogen hatte.
Unweit ein weites Meer. Scheinbar endlos, wie auch der Weg dahin. Ich sah meine Umrisse, meine Schatten am nassen Steinboden, mir zu Füßen liegend, sah mich, meine Füße sich heben und senken. Mein Gesicht konnte ich nicht erkennen und nicht das Leben in meiner Gestalt. Ich wusste, dass ich es war, der sich hier im nassen Boden widerspiegelte, und nur darum schien ich mich wohl wiederzuerkennen. Wie viel unseres sogenannten Wissens ist uns doch nur gegeben aufgrund unserer Gewissheit?
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich den Wind, die Regentropfen auf meiner Haut. Sie war also doch noch nicht ganz abgestorben. Wie wohl auch ich nicht...
Berührst Du mich,
oder ist es bloß der Abendwind?
Bist Du hier?
Verführst Du mich,
oder ist es ein Gedankenkind,
tief in mir?
Ich küsse Dich,
oder auch nur den Sommerregen
auf meiner Haut.
Begrüße Dich
auf all´ meinen nächtlichen Wegen,
ewig vertraut.
Ich nehme wahr, und werde wahrgenommen. So zumindest ziehe ich den Schluss, wenn mir entgegenkommende Menschen aus dem Wege gehen. Sie müssen mich doch sehen. Sie weichen, von unsichtbaren Weichen geführt. In meinem Kopf: Verblutende Stille.
Wer oder was aber lässt mich nun tatsächlich wissen, dass ich noch am Leben bin? Wer oder was flüstert es mir zu, wagt es, diese Stille zu durchbrechen?
Eine silbergraue Möwe!
Sie kreiste über meinem Kopf, hätte wohl so viel zu erzählen gehabt. Kreischend glitt sie mit edler Geste über mir, ließ sich, wie es schien, vom Winde zurücktragen, nur um wieder und noch lauter über meine lebenden Überreste ihren Schrei in meine ungewisse Welt loszulassen.
Auch sie hatte mich also wahrgenommen, sah mich erbärmlichen Punkt, weit unter sich, scheinbar nur langsam sich fortbewegend in Richtung Meer. Sie wusste, dass ich das Meer nicht erreichen würde. Sie wusste es, weil sie mich ansah, und erkannte, dass ich viel zu schwach dafür sei.
Ich bin nicht fähig, Heversand zu verlassen. Mein Haus habe ich ja kaum verlassen, seit…
Dieses Ziegelhaus mit seinem Reetdach, das eine fröhliche Maske trägt. Doch durch diese Maske blicken leblose Augen. Und sie blicken nicht einmal auf mich, nein, sie blicken in den Himmel, als trüge er die Schuld für ihr Leid.
Ich habe mich hier eingesperrt, in der Hoffnung, mich in dieser Isolation wiederzufinden. Alte Mauerreste meines Lebenshauses darin zu bergen, das war wohl meine eigentliche Hoffnung. Sie sollten Teil einer neuen Mauer werden. Diese Mauer wollte ich mir aufbauen, Stück für Stück, und sie sollte mich schützen. Doch wer weiß, ob der Feind sich nicht schon innerhalb des schützenden Gemäuers befindet?