Lauerholz - Jobst Schlennstedt - E-Book

Lauerholz E-Book

Jobst Schlennstedt

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Beschreibung

Sein zehnter Fall bringt Andresen an seine Grenzen. Zwei Teenager werden auf einer Wiese an der Lübecker Wakenitz tot aufgefunden. Alles sieht nach Suizid aus, doch ein kleines Detail weckt das Misstrauen der Ermittler. Kommissar Birger Andresen geht der Sache nach und stößt auf Ungereimtheiten im Leben der Schüler. Und auf Menschen, denen der Tod der beiden seltsam gleichgültig ist. Ein ungeklärter Vermisstenfall bringt ihn schließlich auf die richtige Spur, doch plötzlich droht die Situation zu eskalieren ...

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. Hauptberuflich ist er Geschäftsführer eines Beratungsunternehmens für die Hafen- und Logistikwirtschaft. 2006 erschien sein erster Kriminalroman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus iStockphoto.com/gaiamoments; shutterstock.com/Honza Krej

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-562-6

Küsten Krimi

Originalausgabe

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The rest is silence.

Für immer da

Zwölf Wochen zuvor

Er riss die Augen auf. Und schloss sie sofort wieder.

Noch einmal.

Aber es veränderte sich nichts. Er konnte die Bilder nicht einfach ausblenden.

Der Moment hatte sich eingebrannt. Für die Ewigkeit. Er ließ sich nicht herausschneiden wie ein Muttermal. Er ließ sich nicht einmal behandeln. Es gab nichts, was ihm half. Kein Medikament. Keine Menschen, mit denen er reden konnte. Nicht die anderen. Und auch sonst niemanden, der es verstand.

Es gab nur ihn und diesen Moment. Jede Nacht und jeden Tag. Und immer wieder die Frage, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Das Schlimmste war jedoch die Erkenntnis, dass es sich nicht mehr ändern würde.

Niemals.

Was passiert war, würde er sein Leben lang mit sich herumtragen müssen. Die Bilder würden auch nicht verblassen. Oder ganz allmählich aus seinem Bewusstsein verschwinden.

Nichts.

Sie würden immer da sein. Gehörten von nun an zu seinem Leben, obwohl er sich nichts lieber wünschte, als dass er sie greifen könnte. In eine imaginäre Kiste packte und einfach vergrub. Irgendwo ganz weit weg in den Untiefen seines Verstands. Er wollte am liebsten nie mehr damit konfrontiert sein. Einfach so tun, als wäre es nicht passiert.

Ein vergeblicher Wunsch.

Man konnte viele Dinge verdrängen, vielleicht sogar für immer vergessen – das wusste er aus eigener Erfahrung. Aber was passiert war, ließ sich damit nicht vergleichen.

Von nun an musste er lernen, mit den Bildern umzugehen. Sie in den Griff zu bekommen. Zu akzeptieren, dass sie da waren. In den unmöglichsten Momenten an die Oberfläche drängten. Und sie zu bändigen, sobald sie Böses mit ihm vorhatten. Obwohl ihm die Vorstellung schwerfiel, war er sich in diesem Augenblick sicher, dass es ihm irgendwie gelingen würde.

Doch noch etwas bereitete ihm große Sorgen. Etwas, auf das er kaum Einfluss nehmen konnte. Etwas, das zu unterdrücken oder täglich zu bekämpfen außerhalb seiner Kontrolle lag.

Denn er war mit den Bildern nun mal nicht allein.

Und dieser Gedanke löste zunehmend Panik in ihm aus.

Lauerholz

Sechs Wochen zuvor

Die Abstände wurden immer kürzer. Alle zwanzig Sekunden hallte der markante, schrille Ton über die Baumwipfel des Waldes. Das Loksignal des mit Baumstämmen beladenen Zugs, der mitten durch das Lauerholz fuhr, kannte jeder, der in der näheren Umgebung wohnte.

Er schwitzte. Obwohl es kühl war. Die Äste und Sträucher, die ihm ins Gesicht flogen, spürte er kaum noch. Am meisten machte ihm nämlich die hereinbrechende Dunkelheit zu schaffen.

Seit Minuten hatte er die anderen nicht mehr gesehen. Dabei lief ihnen die Zeit davon. Ihnen blieben vielleicht noch fünf, maximal zehn Minuten. Dann mussten sie ihr Versteck wieder erreicht haben. Und noch viel wichtiger: Sie mussten ihn bis dahin aufgehalten haben. Denn nach dem, was passiert war, durfte Leif nicht einfach so entkommen. Sie mussten ihm dringend noch einmal ins Gewissen reden. Ihn davon überzeugen, den Mund zu halten.

Er keuchte jetzt heftig. Wo zum Teufel waren nur die anderen? Und wo war Leif?

Das Loksignal. Da war es wieder. So laut und in diesem Moment noch unheimlicher.

Er rannte noch schneller. Durch das tiefe Laub. Vorbei an unzähligen gesunden und auch abgestorbenen Bäumen. Immer den feuchten Geruch in der Nase, der ihn daran erinnerte, wie er früher als Kind fast jedes Wochenende mit seinen Eltern durch die Wälder Ostholsteins gestreift war.

Das Lauerholz war anders. Rauer. Naturbelassener. Und unheimlicher. Dass sie ausgerechnet diesen Wald für ihr Versteck ausgewählt hatten, war seine Idee gewesen. Er war sich sicher, dass ihr Baumhaus, an dem sie monatelang gearbeitet hatten, unentdeckt bleiben würde.

Aber nicht alle waren einverstanden gewesen. Die Stelle mitten im Lauerholz war nur schwer zugänglich. Außerdem mussten sie Tag für Tag genau darauf achten, wann die Dunkelheit hereinbrach. Ohne Tageslicht war es nahezu unmöglich, sich im Wald zurechtzufinden. Sie mussten rechtzeitig zurück auf den Pfaden sein, um den Weg aus dem Lauerholz zu finden. Andernfalls blieb ihnen nichts anderes übrig, als im Baumhaus zu schlafen.

Das Schlimmste waren die Geräusche. Im Spätsommer hatten sie noch den Singvögeln gelauscht, aber je kühler es geworden war und je mehr Blätter von den Bäumen gefallen waren, desto unwohler hatten sich vor allem die anderen gefühlt. Die grunzenden Geräusche der umherstreunenden Keiler. Die bedrohlich klingenden Schüsse der Jäger, die vor einigen Wochen zum ersten Mal auf Treibjagd gegangen waren. Und immer wieder dieses durchdringende Warnsignal des Zugs, der durch das Lauerholz in Richtung Hafenstraße fuhr. Das Gefühl des Unbehagens wurde bei ihnen allen in diesen Augenblicken immer größer.

Sein Körper zitterte mittlerweile, obwohl ihm der Schweiß bereits auf der Stirn stand. Aber die Angst davor, dass Leif tat, was er angekündigt hatte, trieb ihn immer weiter an.

Die Dunkelheit brach immer schneller über den Wald herein. Er hatte mittlerweile Probleme, weiter als ein paar Meter zu sehen. Aus seiner Jackentasche zog er die große Maglite, die er immer bei sich trug, und schaltete sie ein.

Da hinten war er! Die hellgrüne Jacke. Er erkannte sie zwischen einigen Sträuchern, nicht weit entfernt von dem Weg, der in Richtung Rittbrook führte.

Er hatte also recht gehabt. Leif wollte tatsächlich abhauen. Nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Aufgeben. Reinen Tisch machen. Und letztlich sie alle mit in den Abgrund reißen.

Obwohl er stark keuchte, rannte er jetzt noch schneller. Die Kratzer im Gesicht spürte er schon längst nicht mehr. Genauso wenig wie die Nässe, die an seinen Beinen emporkroch. In diesem Moment war er nur darauf fokussiert, Leif einzuholen. Er musste ihn daran hindern, ihr Camp zu verlassen und sich nicht an die Absprachen zu halten.

Der Kegel seiner Taschenlampe flackerte wild umher. Die Bäume im Lauerholz wirkten plötzlich wie Riesen. Wie unheimliche Widerstände, die sich unstet hin und her bewegten und den Weg für ihn nicht frei machen wollten.

Vielleicht noch zwanzig Meter, fuhr es ihm durch den Kopf. Er rief Leifs Namen jetzt laut durch den Wald. Immer wieder. Hoffte darauf, dass der endlich zur Vernunft kam. Sich noch einmal vor Augen führte, was auf dem Spiel stand. Aber Leif sah sich nicht einmal um. Er lief einfach weiter durchs Unterholz.

Er stolperte und rappelte sich wieder hoch. Lief ebenfalls weiter. Der Lichtkegel bahnte ihm den Weg. Bis er schließlich selbst den Weg am Rand des Waldes erreicht hatte.

Seine Lunge brannte jetzt förmlich, und der Puls schlug so heftig, dass er einen Moment lang in die Knie ging, um seinen Atem zu regulieren.

Er wartete eine halbe Minute. Dann rannte er los.

Je näher er Leif kam, desto intensivere Gedanken überkamen ihn. Die vergangenen Wochen liefen erneut wie ein Film vor seinen Augen ab. Wie oft hatten sie darüber gesprochen, dass sie keine Wahl hatten. Dass es nur diesen einen Weg geben würde. Sie hatten es sich geschworen. Sie alle. Auch Leif. Immer und immer wieder.

Noch einmal rief er Leifs Namen. Doch dieses Mal erstarb seine Stimme unter dem Pfeifton des Zugs.

Er musste ihm jetzt ganz nah sein. Die Gleise waren keine fünfzig Meter entfernt. Und Leif rannte geradewegs darauf zu.

Jetzt noch zwanzig Meter.

Oder zehn.

Da vorne waren sie. Die Gleise!

Er blieb stehen. Im selben Augenblick sah sich Leif plötzlich um. Er blickte ihm direkt in die Augen. Vollkommen unerwartet. Und da war dieser Gesichtsausdruck. Eine seltsame Mischung aus Entschlossenheit und Furcht. Vielleicht sogar Angst.

»Mach das nicht!«, brüllte er ihm entgegen. »Bleib hier!«

Aber Leif schüttelte fast unmerklich den Kopf. Es kam nur ein leises »Tut mir leid« über seine Lippen. Dann wandte er sich um und lief weiter. Die wenigen Meter bis zum Bahndamm, hinter dem er dann in Richtung Rittbrook verschwinden würde.

Er sah ihm beinahe regungslos nach. Überlegte, doch hinter ihm herzustürzen, um ihn aufzuhalten.

Es waren nur Sekunden, in denen er noch einmal den Gleisen entgegensprintete. Ehe mit einem Mal die gesamte Umgebung hell erleuchtet wurde.

Das Loksignal ertönte. Es war laut und nah. Und es klang warnend.

Wo zum Teufel war Leif?

Scheinwerfer blendeten ihn. Der Zug!

Ächzende Geräusche. Stahl auf Stahl. Quietschende Bremsen.

Er rollte sich weg. Gerade noch rechtzeitig.

Im nächsten Moment schob sich der Zug nur einen knappen Meter entfernt an ihm vorbei.

Er brüllte nach Leif. Und betete, dass er die Gleise überquert hatte, bevor ihn der mit Holz beladene Zug erwischt hätte.

Er zitterte. Spürte die Panik in sich aufsteigen, als die letzten Waggons vorbeifuhren und er seine Taschenlampe wieder auf den Bahndamm richtete.

Er hatte Leif stoppen müssen. Aber doch nicht zu diesem Preis.

Plötzlich zuckte er zusammen. Die anderen waren aus der Dunkelheit in den Lichtkegel getreten. Ihre Gesichter verrieten, dass sie mehr gesehen hatten als er. Und das, was sie gesehen hatten, musste grausam gewesen sein.

Langsam, wie in Zeitlupe, gingen sie aufeinander zu. Mit Tränen in den Augen, die nicht fließen wollten. Fassungslos darüber, was passiert war.

Sie waren zu weit gegangen. Viel zu weit. Und er wusste, dass mit Leifs Tod nun alles noch viel schlimmer geworden war.

Eng umschlungen

Die letzten Tage waren der pure Horror gewesen. Wie jedes Jahr im Herbst wuchs ihr auch dieses Mal die Arbeit über den Kopf. Der Jahresabschluss rückte näher, und es war ihre Aufgabe, alle Unterlagen zusammenzutragen. Das allein war schon ein fürchterliches Unterfangen. Doch was Vanessa Wilkens am meisten belastete, war die unausgesprochene Forderung ihrer Chefs, bei der Bilanzierung möglichst kreativ zu sein. Dafür zu sorgen, dass die Umsätze so geschickt auf die verschiedenen Gesellschaften verteilt wurden, dass die Steuerbelastung möglichst gering ausfiel. Selbstverständlich nur unter Einhaltung aller legalen Vorgaben. Wie das funktionieren sollte, sagten sie ihr natürlich nicht.

Die gesamte Verantwortung des Jahresabschlusses lag bei ihr. Nicht bei den Geschäftsführern. Auch nicht bei dem Abteilungsleiter für Finanzen. Nicht einmal bei ihrem direkten Vorgesetzten, der wahrscheinlich keinen Schimmer davon hatte, was die von ganz oben von ihr verlangten.

Ausgerechnet sie, die überhaupt erst durch einen glücklichen Zufall an diesen Job geraten war. Weil eine ihrer besten Freundinnen mit einem der wichtigen Menschen des Unternehmens gemeinsam studiert und ihr den Tipp gegeben hatte, sich in Lübeck auf die frei werdende Stelle als Sachbearbeiterin im Rechnungswesen zu bewerben.

Seitdem waren acht Jahre vergangen. Ihre Kinder waren mittlerweile aus dem Gröbsten raus. Ihr Mann hatte sie verlassen und lebte jetzt mit genau der Freundin zusammen, die ihr damals den Tipp gegeben hatte. Natürlich war sie längst nicht mehr ihre Freundin. Sie hasste sie dafür. Genau wie ihren Ex-Mann. Und vielleicht war genau diese schmerzvolle Enttäuschung der Anlass gewesen, warum sie sich auf die Sache mit ihrem Chef eingelassen hatte.

Das Ganze war wie in einem schlechten Sketch verlaufen. Auf der Weihnachtsfeier vor vier Jahren hatte ein dummer Spruch den anderen ergeben. Und dann waren sie in seinem Büro gelandet und hatten Sex miteinander gehabt. Auf seinem Schreibtisch.

In den Wochen danach hatte sie das Ganze noch ein paarmal wiederholt. Warum, das konnte sie sich bis heute nicht erklären. Optisch war Björn kein Highlight. Und der Sex war auch nicht gut gewesen. Nicht einmal der Ansatz von Leidenschaft hatte sie dabei angetrieben. Wahrscheinlich war es wirklich nur eine Reaktion darauf gewesen, dass sie sich tief verletzt gefühlt hatte.

Immer häufiger hatten sie bei ihren Treffen auch über die Arbeit in der Firma gesprochen. Über ihre Aufgaben und darüber, was sie vielleicht speziell für ihn erledigen konnte. Anfangs hatte sie noch nicht voraussehen können, worauf genau er eigentlich hinauswollte. Doch am Ende ihres ersten Jahres hatte sie es schließlich verstanden. Da war es allerdings längst zu spät gewesen.

Sie hatte sich auf das eingelassen, was er von ihr verlangte, und genau das war der Fehler gewesen. Die Affäre mit ihm war irgendwann im Sande verlaufen, aber ihre Aufgaben, für die er sie auserkoren hatte, erfüllte sie weiterhin. Jahr für Jahr.

Ein Zustand, der sie belastete. Vor allem dann, wenn es wieder stressig wurde. Wenn im Herbst jeden Jahres der Jahresabschluss anstand.

So wie jetzt.

Hinzu kam, dass sie unzufrieden war. Obwohl sie sich nicht mehr ganz unten in der Nahrungskette des Unternehmens befand und sich mühsam Stück für Stück in der Hierarchie nach oben gearbeitet hatte, war sie noch längst nicht dort, wo sie ihrer Meinung nach hätte stehen müssen. Vor allem in Anbetracht der Verantwortung, die ihr Chef ihr übertragen hatte. Und des Risikos, das sie einging, indem sie für eine kreative Buchführung sorgte.

Vor ein paar Wochen hatte sie beschlossen, etwas in ihrem Leben zu verändern. Ein Jobwechsel wäre naheliegend gewesen, aber trotz des Stresses und der Situation mit ihrem Chef fiel es ihr schwer, einfach aufzugeben, wofür sie jahrelang gekämpft hatte. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich grundsätzlich mit Veränderungen schwertat.

Stattdessen hatte sie sich dazu durchgerungen, ihren Tagesablauf neu zu strukturieren. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie regelmäßig Sport treiben. Jeden Morgen zu joggen hatte sie sich niemals wirklich vorstellen können. Aber jetzt, nach den ersten drei Wochen, war sie sich sicher, dass es die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen war.

Wenn sie sich einmal aufgerafft und die ersten Meter hinter sich gebracht hatte, wenn die Endorphine freigesetzt wurden, dann stieg ganz langsam dieses Glücksgefühl in ihr hoch, das sie nicht mehr missen wollte. Das sie zuvor gar nicht gekannt hatte.

Um kurz nach halb acht hatte sie Emil heute an der Grundschule am Stadtpark abgegeben. Sie war bereits fertig umgezogen, um anschließend direkt loszulaufen. Drei Runden durch den Drägerpark und wieder zurück. Anschließend duschen, anziehen und sich aufs Fahrrad schwingen. Um neun Uhr würde sie am Schreibtisch ihres Büros in Bahnhofsnähe sitzen und wieder ihrer Aufgabe nachkommen müssen: möglichst kreativ zu sein.

Die Sonne glitzerte wie in den letzten Tagen auf der Wasseroberfläche der Wakenitz. Ein sonniger, aber kalter Novembertag stand bevor. Sie atmete tief durch und sog die erfrischende Herbstluft tief in sich auf.

Um diese Uhrzeit war der Park noch weitestgehend leer. Ein paar Schülerinnen kamen ihr entgegen, zwei Jogger und einige abgehetzte Männer und Frauen, offenbar auf dem Weg in die Arbeit.

Sie lief langsam und versuchte, ihre Atembewegungen zu regulieren. In den ersten Tagen hatte sie noch Probleme mit Seitenstechen gehabt, doch seitdem sie auf ihre Atmung achtete, hatte sie ihren ganz eigenen Rhythmus gefunden. Es blieb ihr sogar Zeit, einen Blick auf die schönen Dinge zu werfen.

Sie liebte diese Strecke. Entlang der Wakenitz mit den Enten und Schwänen, die neben ihr herschwammen. Die Altstadtinsel im Hintergrund. Mit allen sieben Kirchturmspitzen, die so imposant in den Himmel ragten.

Dass mit den beiden Personen, die sie plötzlich sah, womöglich irgendetwas nicht stimmte, fiel ihr erst auf, als sie bereits an ihnen vorbeigejoggt war. Sie lagen regungslos auf der großen Wiese. Eng umschlungen. Aber um diese Uhrzeit schien ihr das ungewöhnlich. Und dazu noch zu dieser Jahreszeit.

Sie hielt inne. Trippelte auf der Stelle. Überlegte, was sie tun sollte. Sich den beiden nähern? Was, wenn es Junkies waren?

Hastig griff sie in die Tasche ihrer Trainingsjacke. Das Handy war da, wo es sein sollte. Sie konnte einfach jemanden anrufen. Am besten die Polizei.

Sie hielt den Blick auf die beiden Personen gerichtet und war sich sicher, dass sie den beiden womöglich helfen musste. Wenn ihnen denn noch zu helfen war.

Langsam näherte sie sich. Sie wollte es nicht, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Ein Spiegelbild ihres Lebens. Immerzu pflichtbewusst, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Am Ende würde sie leiden müssen.

Die beiden bewegten sich nicht. Ihre Körper sahen schlaff aus.

Ein kalter Schauer kroch an ihren Beinen hoch. Ein Gefühl von Hilflosigkeit überkam sie.

Vor ihr auf dem Gras lagen zwei Teenager, nicht älter als fünfzehn oder sechzehn. Ein Junge mit blonden, etwas längeren Haaren und ein Mädchen mit dunkelbraunen Locken.

Die beiden waren tot. Da war sie sich absolut sicher. Auch ohne sich zu ihnen hinunterzubeugen. Ihren Puls zu fühlen. An ihnen zu rütteln.

Sie brauchte einige Sekunden, bis sie die Bilder, die sie sah, verarbeitet hatte, dann war sie sich jedoch sicher: Sie kannte den Jungen.

Zitternd trat sie einige Schritte zurück und fischte das Handy aus ihrer Jacke. Während sie den Notruf wählte, schüttelte sie den Kopf. Über das, was sie da vor sich sah. Aber vor allem über sich selbst. Denn sie musste in diesem Moment an ihre Arbeit denken.

Als sich am anderen Ende der Leitung der Polizeibeamte meldete, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die längst überfällig war. Sie würde nur noch ein einziges Mal in ihr Büro zurückkehren. Die Zeit der Kreativität war vorbei.

Edler Ritter

Als der Anruf kam, erhob Birger Andresen sich langsam aus dem Bett und trat auf leisen Sohlen an das große Fenster mit Blick auf die Wakenitz. Erinnerungen an den letzten großen Fall im Sommer stiegen sofort wieder in ihm hoch. Er hatte exakt hier gestanden, als seine Kollegin Ida-Marie ihn damals anrief.

Morten redete laut und deutlich. Aber für Andresens Verhältnisse auch etwas zu viel und vor allem zu schnell.

»Moment«, unterbrach er den jungen Kollegen nach einer halben Minute. »Wo genau habt ihr die beiden überhaupt gefunden?«

»Im Drägerpark, gleich hinter dem Freibad.«

»Wie bitte?« Andresen ließ die Hand samt Telefon vom Ohr hinabrutschen und öffnete die Balkontür. Er trat ins Freie und schüttelte sich kurz, als er die kühle Herbstluft an seinem nackten Oberkörper spürte. Dann kniff er die Augen zusammen und versuchte, zwischen den Bäumen, die für diese Jahreszeit noch ungewöhnlich viel Laub trugen, über das Wasser der Wakenitz hinweg auf der gegenüberliegenden Uferseite etwas erkennen zu können.

Tatsächlich.

Es zuckten blaue Blitze vor der aufgehenden Sonne. Rettungsfahrzeuge und Polizeiwagen konnte er zwar nicht sehen, aber immerhin deren Lichter. Und wenn er seine Ohren spitzte, würde er mit Sicherheit auch die Martinshörner hören.

»Ist Seelhoff schon da?«, fragte er, als er den Hörer wieder ans Ohr hielt.

»Ja, eben angekommen.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Nur kurz. Aber er will auf jeden Fall, dass du so schnell wie möglich hierherkommst.«

»Obwohl alles darauf hindeutet, dass es sich um einen Suizid handelt, wie du eben erzählt hast?«

»Richtig. Zumindest gibt es nach den ersten Erkenntnissen keinerlei Hinweise auf eine gewaltsame Fremdeinwirkung.«

Andresen schüttelte den Kopf. Noch eine Parallele zu dem Fall im Sommer. Damals waren sie in die JVA Lauerhof gerufen worden, weil sich der bekannteste Häftling Lübecks offenbar das Leben genommen hatte.

»Ich glaube, es wäre tatsächlich gut, wenn du herkommst«, redete Morten weiter. »Selbst wenn sich die beiden umgebracht haben, bin ich mir ziemlich sicher, dass die Sache hohe Wellen schlagen dürfte. Es handelt sich um Teenager, das wird uns noch eine Weile beschäftigen.«

»Ich bin in zehn Minuten da«, sagte Andresen schließlich. »Ruf bitte Ida-Marie an. Sie soll auch kommen. Und sei bitte …« Andresen stockte. »Mach einfach alles so, wie du es gelernt hast«, schob er hinterher.

»Wie denn sonst?«

»Schon gut.« Andresen fiel keine sinnvolle Antwort ein, und er beendete das Gespräch.

Langsam ging er zurück in die Wohnung und legte sein Handy auf den Wohnzimmertisch. Er hatte gehofft, dass Agnes nicht wach geworden war, aber als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, saß sie bereits aufrecht und blickte ihn argwöhnisch an.

»Ist es wieder so weit?«, fragte sie nach einigen Sekunden des Schweigens.

»Ich hoffe nicht«, antwortete er. »Aber es steht zu befürchten.«

»Du weißt aber schon, was du morgen vorhast?«

»Gut, dass du mich noch mal daran erinnerst, sonst hätte ich es wohl vergessen.« Andresen hoffte, seinen Sarkasmus als Witz verkaufen zu können, spürte aber nach wenigen Augenblicken, dass ihm der Versuch misslungen war. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß, dass du dir Sorgen machst.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, entgegnete Agnes. »Ich halte das, was du vorhast, einfach für vollkommen idiotisch. Mittlerweile weiß ich, weshalb deine bisherigen Beziehungen nicht gehalten haben. Aber mir war ja von der ersten Sekunde an klar, worauf ich mich mit dir einlasse, deshalb brauchst du auch keine Rücksicht auf mich zu nehmen.«

»Aber du weißt, dass ich Rücksicht nehmen will.«

»Das wirst du niemals tun«, sagte sie bestimmt. »Ich kann gut damit umgehen. Vor zwanzig Jahren hätte ich das nicht mitgemacht, wahrscheinlich nicht einmal vor zehn. Aber so, wie es zwischen uns beiden ist, ist es völlig in Ordnung.«

»Du klingst so wahnsinnig nüchtern.«

»Wir sind doch keine Teenager mehr. Oder soll ich dir etwa die große Leidenschaft vorspielen?«

»Nein, das ist nicht, was ich will, aber –«

»Hör mal, Birger«, fuhr sie dazwischen. »Ich habe mich für ein Leben mit dir entschieden, weil ich dich liebe. Und daran wird sich so schnell auch nichts ändern. Trotzdem erwartest du wohl hoffentlich nicht ernsthaft Verständnis von mir, wenn du mit diesem Simon Winter nach Norwegen fliegst, um die Mörder seiner Eltern zu finden, oder?«

»Nein, aber ich habe dir schon mehrfach erklärt, weshalb ich Simon und Ida-Marie das schuldig bin.«

»Ida-Marie hält von eurer Reise doch noch viel weniger als ich.«

»Wenn wir erfolgreich sind, wird sie anders darüber denken. Die Beziehung der beiden wird niemals normal sein, solange Simon nicht mit dieser Sache abgeschlossen hat.«

»Du edler Ritter.«

»Mein Altruismus war schon immer meine größte Schwäche.« Andresen zwinkerte, scheiterte jedoch erneut bei dem Versuch, das Gespräch aufzulockern. »Ich muss jetzt leider los«, sagte er schließlich.

»Was ist denn überhaupt passiert?«

»Zwei tote Jugendliche im Drägerpark«, antwortete er nachdenklich, während er in seine Jeans schlüpfte. »Sieht wohl nach Suizid aus.«

»Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich hoffe mal, dass dabei am Ende nicht so eine Geschichte wie bei dem Tod von Ralf Blum im Sommer herauskommt.«

»Ich habe in den vergangenen dreißig Jahren bei der Mordkommission so viel erlebt, dass ich eigentlich immer auf alles gefasst bin. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es für Polizei und Justiz noch einmal so eng wird wie im Fall Blum, halte ich für äußerst gering. Allein die Sache mit Zeichner …« Andresen brach ab.

Die Bilder verfolgten ihn beinahe täglich. Er war es gewesen, der den damaligen Polizeipräsidenten tot in dessen Fahrzeug in der Tiefgarage des Präsidiums gefunden hatte.

Die Ermittlungen nach dessen Tod hatten zahlreiche belastende Beweise gegen Zeichner ergeben. Andresen hatte sich jedoch nicht weiter dafür interessiert. Sein Verhältnis zu Zeichner war in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, trotzdem hatte er nicht wissen wollen, wie tief sein ehemaliger Chef in den Fall verstrickt gewesen war. Vielleicht hatte er auch einfach nur Angst gehabt, Dinge über Zeichner zu erfahren, die er gar nicht hatte hören wollen.

Noch immer ungeklärt war Zeichners Nachfolge. Eine Zeit lang hatte Andresen ernsthaft in Erwägung gezogen, sich selbst auf den Posten des Polizeipräsidenten zu bewerben, aber schließlich eingesehen, dass dieser Job noch viel weniger zu ihm passte als der des Kommissariatsleiters. Ihn trieb auch mit Mitte fünfzig noch die direkte Ermittlungsarbeit an. Dass er aktuell noch immer sowohl die Mordkommission als auch die im Grunde verwaiste X-Einheit, in der die Cold Cases aus Schleswig-Holstein behandelt wurden, leitete, war ebenfalls Zeichners Tod geschuldet. Jeder im Team hoffte darauf, dass sein Posten so schnell wie möglich neu besetzt und endlich die wichtigen Personalentscheidungen getroffen würden.

»Ich gehe dann mal duschen«, unterbrach Agnes plötzlich seine Gedanken. »Heute Abend gehen wir gemeinsam essen, dann reden wir weiter.«

»Heute Abend?«, wunderte sich Andresen. »Der Flieger geht um zehn nach sechs, wir müssen morgen früh spätestens um halb fünf los.«

»Wir gehen essen«, sagte Agnes unmissverständlich. »Ich habe um sieben Uhr einen Tisch reserviert. Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

»Jetzt machst du mir aber Angst. Hast du es dir etwa anders überlegt und willst mich doch noch heiraten?«

»Mit Sicherheit nicht. Es geht um etwas völlig anderes.«

»Um das du so ein Geheimnis machen musst? Ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes?«

»Das wird sich zeigen.«

Andresen nickte, aber Agnes’ Worte verunsicherten ihn. »Treffen wir uns hier und gehen gemeinsam?«

»Nein, komm einfach um sieben ins Onni. Ich warte auf dich.«

»Du verrätst nicht, worum es geht?«

»Nein.«

Agnes trat noch einmal auf ihn zu und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Dann wandte sie sich ab, ließ ihren Morgenmantel hinabgleiten und verschwand im Badezimmer.

Genug gesehen

Die Verabredung zum Essen und ihre Geheimniskrämerei hatten ihm den gesamten Weg bis in den Drägerpark keine Ruhe gelassen. Agnes hatte ganz ruhig gewirkt. Im Grunde so wie immer. Wenn sie nur nicht plötzlich darauf bestanden hätte, ausgerechnet heute Abend mit ihm ins Onni zu gehen.

Sie wusste doch genau, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Was gab es so Wichtiges zu besprechen, dass es nicht bis nach seiner Rückkehr aus Norwegen warten konnte? Er hatte sich extra einen Tag Urlaub genommen, der Rückflug war für morgen Abend gebucht. Bis dahin mussten sie mehr über die Mörder von Simons Eltern in Erfahrung gebracht haben, andernfalls würde Simon allein nach ihnen suchen. Dieser Deal war das Maximum an Hilfe, zu dem er sich bereit erklärt hatte.

Schon von Weitem sah Andresen, dass in Höhe des Marlibads die Rasenfläche des Parks großflächig abgesperrt worden war. Ein halbes Dutzend Rettungswagen und Einsatzfahrzeuge der Polizei parkten zum Teil mitten auf den Grünflächen. Als er näher kam, erkannte er sofort Ida-Marie Berg, die gerade telefonierte und gleichzeitig einigen Kollegen von der Spurensicherung mit wilden Handbewegungen Anweisungen gab. Sie musste schon auf dem Weg hierher gewesen sein, als er noch mit Morten telefoniert hatte.

»Die Zeitungen«, sagte sie leise in seine Richtung, »haben schon Wind von der Sache bekommen. Ich versuche, sie abzuwimmeln.«

Andresen nickte und ging langsam an ihr vorbei. Knapp zwanzig Meter entfernt hatten die Techniker bereits etliches Equipment aufgebaut. Die beiden toten Teenager lagen direkt daneben, zugedeckt von einer schwarzen Plane.

Er zögerte. Es gab nichts, das ihn in diesem Moment antrieb, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Er hatte kein Problem damit, einfach darauf zu verzichten, einen Blick auf die Toten zu werfen.

»Gut, dass du so schnell hergekommen bist.«

Andresen fuhr herum. Vor ihm stand Morten Sandt und sah ihn aus erschöpften Augen an. Er gehörte seit einem knappen Jahr ihrem Team an und übernahm nach und nach immer mehr Verantwortung. In Augenblicken wie diesen war ihm allerdings anzumerken, wie unerfahren er noch war. Er versuchte gar nicht erst zu verbergen, wie sehr ihm der Anblick der beiden Leichen zu schaffen machte. Sein ohnehin blasses Gesicht war so farblos, dass Andresen befürchtete, er würde jeden Moment kollabieren.

»Alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtig. »Ehrlich gesagt siehst du nicht gerade gut aus.«

»Bei zwei toten Jugendlichen auf leeren Magen kein Wunder, oder?« Morten fuhr sich mit der rechten Hand durchs Gesicht und durch seine kurzen blonden Haare. »Die beiden liegen da so friedlich und eng umschlungen, schwer zu glauben, dass sie tot sind.«

»Eng umschlungen?«

»Ja, als wären sie ein Paar.«

»Vielleicht waren sie es?«

»Möglich.«

»Habt ihr schon eine Ahnung, wer die beiden sind?«

»Noch nicht, aber das herauszubekommen sollte relativ schnell gehen. Seelhoffs Leute haben einige persönliche Dinge sichergestellt.«

»Und wir können uns sicher sein, dass die beiden noch Teenager sind?«

»Absolut, sie sind höchstens sechzehn, wenn du mich fragst«, antwortete Morten. »Am besten siehst du sie dir selbst an.«

»Später vielleicht«, sagte Andresen ausweichend. »Weshalb sollte ich eigentlich unbedingt hierherkommen, obwohl alles danach aussieht, dass sich die beiden das Leben genommen haben?«

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, antwortete Morten leise. »Aber ich kann nicht genau sagen, was es ist.«

»Denkst du, dass es vielleicht doch kein Suizid gewesen sein könnte?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht ist es so, wie es auf den ersten Blick aussieht, gar nicht gewesen.«

»Es wäre gut, wenn du das näher erklären könntest«, drängte Andresen.

»Tut mir leid, das kann ich leider nicht. Es ist mehr mein Bauchgefühl, das mir das sagt.«

Andresen ging ein paar Schritte weiter in Richtung der Stelle, an der die beiden toten Körper unter der Plane lagen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass Morten ihm folgte. Er wartete, bis der junge Kollege schließlich wieder neben ihm stand.

»Bringt es mich weiter, wenn ich sie mir ansehe?«, fragte Andresen nach einer Weile des Schweigens.

»Du musst nicht, wenn du nicht möchtest«, antwortete Morten ernst. »Aber so schrecklich es auch ist, ich bin der Meinung, dass man begreifen muss, weshalb man das alles tut. In der Ausbildung wird immer nur von Opfern und Tätern gesprochen. Aber wir haben es vor allem mit Menschen zu tun.«

»Sehr weise Worte für so einen Jungspund wie dich. Aber du hast natürlich vollkommen recht, man sollte sich immer alles im Detail ansehen. Trotzdem verzichte ich heute darauf. Ich bin mittlerweile sechsundfünfzig Jahre alt und habe so viele grauenhafte Dinge gesehen, die mich täglich in den Schlaf begleiten, dass ich mich in diesem Fall einfach auf dich und Ida-Marie verlasse. Ich sehe mir später die Fotos an, das berührt mich emotional weitaus weniger.«

»Wirklich interessant«, sagte Morten, während er die Plane lupfte und einen Blick darunter warf. Als wollte er sich selbst davon überzeugen, dass die beiden noch immer dort lagen.

»Wenn ich mir deine Gesichtsfarbe so anschaue, solltest du vielleicht einen Gang zurückschalten«, sagte Andresen. »Nicht, dass du hier gleich auch auf dem Rasen liegst.«

»Nein, schon in Ordnung. Ich muss lernen, wie man einen Tatort liest.«

»Tatort?«

»Na ja, du weißt schon, wie ich das meine.«

»Um ehrlich zu sein, nein. Aber wir reden später weiter.«

Andresen entfernte sich von Morten und den abgedeckten Leichen der Teenager. Innerlich wollte er sich nicht zu sehr auf die Situation einlassen. Wenn tatsächlich Suizid vorlag, war es eine tragische Angelegenheit und würde die Kripo in den nächsten Tagen durchaus beschäftigen. Aber sofern sie ausschließen konnten, dass irgendeine Form von Fremdeinwirkung vorlag, zöge das keine langwierigen Ermittlungen nach sich. Er würde morgen früh nach Bergen fliegen und hoffentlich das Kapitel Simon Winter ein für alle Mal abschließen können, ohne sich zu große Gedanken um den Tod zweier Jugendlicher machen zu müssen.

Wieder ließ er seinen Blick kreisen. Er mochte diesen Ort. Der Blick auf das glitzernde Wasser der Wakenitz und die Altstadt waren immer wieder aufs Neue faszinierend. Früher war er oft hierhergekommen, wenn die Sonne über der Stadt untergegangen war. Dann hatte er sich einfach auf die Wiese gesetzt und darüber nachgedacht, was in seinem Leben bisweilen schiefgelaufen war. Dass er nicht fähig gewesen war, ein guter Ehemann und Vater zu sein, dass er kaum Freunde hatte. Er war sich sogar darüber im Klaren, von vielen seiner Mitmenschen nicht unbedingt gemocht zu werden.

Aber diese Zeit war vorbei. Zumindest vordergründig. Seitdem er mit Agnes zusammen war, hatte sich vieles in seinem Leben verändert. Er war froh, wenn er einfach in ihrer Nähe war. Es erfüllte ihn mit Zufriedenheit und Glück. Die Unruhe, die ihn jahrelang angetrieben hatte, verschwand zusehends. Ein wesentlicher Grund hierfür war sicherlich sein Alter. Aber vor allem Agnes mit ihrer ausgeglichenen Art hatte ihn in den vergangenen Monaten gelassener werden lassen.

Im letzten Moment gelang es Andresen noch, auszuweichen und nicht hineinzutreten. Direkt vor ihm auf dem Gras befand sich Erbrochenes. Angewidert wandte er sich ab, nur um im nächsten Moment noch einmal genauer hinzusehen.

Es schien relativ frisch zu sein.

Sein Blick wechselte hin und her. Zwischen dem Fundort der beiden Leichen und der unappetitlichen Sache vor seinen Füßen. Mit einem Mal war da dieser Gedanke, der hochkam und sich binnen weniger Augenblicke verselbstständigte.

Andresen speicherte ihn ab und ging zurück in Richtung Ida-Marie. Plötzlich war er sich sicher, dass sein Kollege Morten richtiglag. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und zwar ganz und gar nicht.

Beklemmung

Harald Seelhoff zu sehen war ein vertrautes und gleichzeitig beunruhigendes Gefühl. Allein die Anwesenheit des Leiters der Kriminaltechnik vermittelte bereits das Gefühl, es handele sich bei dem Tod der beiden Teenager um einen Fall für die Mordkommission. Mit angespannter Miene trat Andresen auf ihn zu.

»Seid ihr schon fertig?«, fragte er, ohne den Kollegen zu begrüßen.

»Wir sind dann fertig, wenn du unseren Bericht auf deinem Schreibtisch liegen hast«, antwortete Seelhoff nüchtern.

»Ist euch das Erbrochene nicht aufgefallen?«, fragte Andresen hartnäckig. »Keine zwanzig Meter vom Fundort entfernt. Wie kann denn so etwas passieren?«

»Ich wiederhole mich ungern, aber wir sind noch nicht fertig. Ich würde mich überaus freuen, hier einfach in Ruhe unserer Arbeit nachgehen zu können. Wenn ich mich hier allerdings umschaue, erscheint mir das nahezu unmöglich.«

»Lassen wir das«, sagte Andresen. »Kannst du mir sagen, was ihr schon herausgefunden habt?«

»Offenbar nicht so viel wie du.«

»Ernsthaft jetzt? Vielleicht ist es besser, das Gespräch später im Präsidium fortzusetzen. Scheint ja alles nicht so wichtig zu sein.« Andresen wandte sich ab und ließ Seelhoff stehen.

»Warte«, rief Seelhoff plötzlich. »Hören wir mit diesen Kindereien auf. Natürlich haben wir schon etwas herausgefunden, das du wissen solltest.«

Andresen wartete noch ein paar Sekunden, ehe er sich schließlich umdrehte.

»Wir haben erste Anzeichen dafür gefunden, wie sich die beiden das Leben genommen haben.«

»Und zwar?«

»Hautverfärbungen«, antwortete Seelhoff nachdenklich. »Wir müssen sie natürlich in der Rechtsmedizin überprüfen lassen, aber einiges deutet darauf hin, dass es sich um eine Vergiftung durch Zyankali handelt.«

»Zyankali?« Andresen war überrascht.

»Ist zumindest unsere vorläufige Vermutung. Für die genauen Ergebnisse ist wie gesagt die Rechtsmedizin zuständig.«

»Das Erbrochene«, setzte Andresen erneut an. »Kann das in einem Zusammenhang stehen?«

»Du meinst, ob sich jemand infolge der Vergiftung erbrochen hat?«

»Zum Beispiel.«

»Denkbar. Das Erbrochene muss jedenfalls auch überprüft werden. Ich habe vorhin bereits mit Danuta telefoniert.«

»Danuta, aha.«

»Professor Kapustka.«

»Schon klar. Ihr duzt euch?«

»Weshalb denn nicht? Wir arbeiten eng zusammen, außerdem ist sie eine spannende Frau.«

»Spannend?« Andresen blickte seinen Kollegen herausfordernd an. Seelhoff war etwa in seinem Alter, also bestimmt zwanzig Jahre älter als Danuta Kapustka. Außerdem war er verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern.

»Nach den vielen Jahren mit Kollege Birnbaum war ich mir anfangs nicht sicher, wie die Zusammenarbeit mit ihr werden würde«, sprudelte es plötzlich aus Seelhoff heraus. »Aber ich muss sagen, ich finde sie äußerst erfrischend. Und verdammt attraktiv ist sie natürlich auch.«

»Natürlich.« Andresen verzichtete auf weitere Frotzeleien, schüttelte jedoch irritiert den Kopf über Seelhoff, als Ida-Marie mit ernster Miene auf sie zutrat.

»Es ist an der Zeit«, sagte sie.

»Wofür?«

»Wir wissen jetzt, wer die beiden sind. Jannik Wegener und Lisa Nolde, beide sechzehn Jahre alt, Schüler der elften Klasse am Christianeum. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen so schnell wie möglich mit den Eltern der Kinder reden.«

Andresen schluckte schwer. Es gab so einige Momente im Rahmen einer Ermittlung, auf die er gut und gerne verzichten konnte. Das Gespräch mit den Angehörigen eines Opfers war jedoch mit weitem Abstand der unangenehmste. Etwas, das in drei Jahrzehnten als Kriminalkommissar niemals zur Routine geworden war. Jedes Mal aufs Neue fühlte er sich hilflos. Unfähig, die richtigen Worte zu sagen. Zweifelnd, ob er genug Empathie zeigte. Taktlos, weil er für die Ermittlungen wichtige Fragen stellen musste. Doch nicht selten hatten genau diese ersten Gespräche entscheidende Informationen geliefert.

»Na schön«, sagte er schließlich. »Ich hoffe allerdings, dass wir nicht die Überbringer der Nachricht sind?«

»Nein, wir haben bereits Streifenwagen geschickt. Außerdem sollen später Seelsorger dazukommen.«

»Mir sagen die Namen der beiden nichts«, sagte Andresen. »Wissen wir irgendetwas über sie oder ihre Eltern?«

»Noch nicht«, antwortete Ida-Marie. »Ich habe Morten gebeten, sofort ins Präsidium zurückzufahren und so viel wie möglich über die beiden herauszufinden.«

»Wo steht dein Auto?«

»Oben an der Marlistraße. Aber wir können auch zu Fuß gehen. Beide Familien wohnen auf der Altstadtinsel. Ein kleiner Spaziergang tut uns vielleicht ganz gut.«

Als die beiden eine halbe Stunde später auf halber Höhe der Wahmstraße in den Von-Höveln-Gang einbogen, spürte Andresen sofort wieder den Kloß im Hals. Die leichte Übelkeit, die in ihm aufstieg, verdrängte er mit Atemübungen.

»Du darfst gerne das Gespräch führen«, sagte er, als sie vor der Haustür der Familie Nolde stehen blieben. »Ich glaube, du triffst den besseren Ton.«

»Es gab Zeiten, in denen du mich niemals vorgeschickt hättest, aus Angst, ich würde ihn mit ziemlicher Sicherheit nicht treffen.« Ida-Marie blickte Andresen einige Sekunden lang tief in die Augen. Dann zwinkerte sie fast unmerklich und klingelte.

Die Frau, die ihnen wenige Momente später öffnete, schien durch sie hindurchzusehen. Als suchte sie nach kleinen Kindern, die sich einen Klingelstreich erlaubt hatten.

»Maren Nolde?«, fragte Ida-Marie. »Wir sind von der Kripo Lübeck. Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie noch einmal stören müssen, obwohl unsere Kollegen bereits hier waren. Zuallererst möchten wir unser tiefstes Beileid ausdrücken.« Ida-Marie streckte der Frau die Hand entgegen, ohne dass jedoch eine Reaktion von ihr erfolgte.

»Wir verstehen, dass Sie unter Schock stehen. Darum versichere ich Ihnen auch, dass es nicht lange dauern wird. Wir haben nur ein paar wenige Fragen an Sie.«

»Sie war meine Tochter, meine einzige«, sagte Maren Nolde. Ihre Stimme klang seltsam monoton. Irgendwie ganz weit entfernt. Keine Spur von Trauer, und trotzdem hatte Andresen das Gefühl, dass die Frau jeden Augenblick zusammenbrechen würde.

»Lisa war mein Sonnenschein«, redete Maren Nolde weiter. »Der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich werde damit nicht zurechtkommen. Verstehen Sie das?«

»Vermutlich nicht.«

»Nein, Sie verstehen es mit Sicherheit nicht. Haben Sie selbst Kinder?«

»Ja, das habe ich«, antwortete Andresen.

»Tote Kinder?«

»Nein.« Obwohl Andresen der Verlauf des Gesprächs gegen den Strich ging, versuchte er ruhig zu bleiben. Er akzeptierte, dass sie ihre Wut an ihm ausließ.