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Auf einem Pilgerweg durch Deutschland trifft die lebhafte Abiturientin Laura auf die Ärztin Katharina, die sich in ihrem Leben neu orientieren muss. Zuerst gehen sie ihre Wege getrennt und geraten bei ihren Begegnungen in Streit. Als Laura jedoch auf Katharinas Hilfe angewiesen ist und sich die beiden besser kennenlernen, werden sie Freundinnen. Und was sie zuvor aneinander kritisiert haben, beginnen sie zu verstehen und zu schätzen. Die Geschichte einer Freundschaft auf dem Ökumenischen Pilgerweg
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Seitenzahl: 362
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Die zitierten Zeilen auf den Seiten → und → stammen aus dem Lied We Are the People aus dem Album Walking on a Dream von Empire ofthe Sun, erschienen 2009 bei EMI.
Vorwort
Mirabellen
Regen
Erste Hilfe
Roberts Anruf
Wiedersehen
Zaungespräche
Im Armenhaus
Gott und die Welt
Gedichte
Gastfreundschaft
Tränen in der Stille
Bad im Steinbruch
Halbzeit
Die lächelnde Muschel
Kirchenlieder
Urlaubsvertretung
Ein guter Vater
Loslassen
Mensch auf Erden
Des Anderen Last
Erichs Bitte
Honigwaffeln
Gewitternacht
Laufen musst du sowieso
Durch den Wald
Die letzte Etappe
Abschied
Epilog
Dies ist keine wahre Geschichte. Aber eine Geschichte, die das Leben genauso hätte schreiben können. Sie spielt auf dem Ökumenischen Pilgerweg, der über 450 Kilometer durch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen führt. Eine gelbe Muschel auf blauem Untergrund weist den Weg Richtung Westen. In einfachen, aber liebevoll eingerichteten Herbergen, können die Pilger übernachten.
Alle Schauplätze sind real und auch die meisten der Herbergen existieren in der Form, wie sie in diesem Buch beschrieben werden. Fiktiv sind nur die Akteure, wenngleich ich einigen von ihnen bewusst eine Ähnlichkeit mit tatsächlichen Herbergseltern und weiteren Menschen am Weg verliehen habe. Denn sie machen das Pilgern zu dem, was es ist. Ohne sie würde es die Geschichte von Laura und Katharina nicht geben.
Anika Mehner
Mit Schwung stemmte sich Laura nach oben. Warum sollte sie auf die ersten Mirabellen des Jahres verzichten, nur weil sie in der obersten Krone hingen? Die Äste waren kräftig und Laura schlank, also tat sie, was eine Pilgerin ihrer Meinung nach tun musste: Den Weg und alles, was ihn umgab, mit allen Sinnen genießen.
Köstlich schmeckten die gelben Früchte. Die Steine der Mirabellen spuckte sie in das angrenzende Maisfeld. Nach dem reichhaltigen Frühstück bei Sonja war kaum eine Stunde vergangen, aber Obst passte immer.
Schließlich war Laura schon ein ganzes Stück gelaufen. Zuerst hatten ihre Füße sie von der Herberge bis zur Neiße getragen. Die erste Markierung klebte an einem Kilometerstein vor der Brücke, die den polnischen Teil von Görlitz mit dem deutschen verband. Dort, unter den Türmen der Peterskirche, hatte ihr Pilgerweg begonnen. Sie hatte sich fotografieren lassen, einen Stempel für ihren Pilgerausweis abgeholt und war einfach losgelaufen. Jeden der zahlreichen neugierigen Blicke hatte Laura mit einem freundlichen und selbstbewussten Lächeln erwidert. Die Strecke stadtauswärts hatte sich länger hingezogen als erwartet. Darum war Laura froh gewesen, als der Weg endlich auf ein Feld abgebogen war, und sie den Stra- ßenlärm hatte hinter sich lassen dürfen.
Hier roch die Luft nicht nach Abgasen. Die Zeit auf dem Land schien deutlich langsamer zu vergehen als in der Stadt. In der Natur leuchtete der Himmel blauer als über den Häusern. Die Wärme der Sonne staute sich nicht und wenn der Wind als leichte Brise wehte, rauschte es im hohen Mais. Passend dazu trällerte eine Goldammer ihr Sri-sri-sri-sriii.
Genauso hatte sich Laura das Pilgern vorgestellt. Obwohl erst wenige Kilometer hinter ihr lagen, fand sie es bereits jetzt wunderschön. So lange hatte sie davon geträumt, diesen Pilgerweg zu gehen. Nun durfte sie es endlich tun.
Eine weitere Mirabelle wanderte in ihren Mund.
Katharina dachte an ihren Bruder.
„Warum fährst du nicht mit uns in den Urlaub?“, hatte er gefragt. „Was willst du denn auf diesem Weg? Und noch dazu ganz allein?“
Sie brauche mal ein bisschen Zeit für sich, hatte sie geantwortet. Sie müsse Abstand von allem gewinnen, den Kopf frei bekommen, zur Ruhe finden … Eben all diese Floskeln, die sie in den Berichten gelesen hatte.
In Wahrheit wusste Katharina selbst nicht, was sie vom Pilgern erwartete.
Die lange Zugfahrt nach Görlitz hatte sie ermüdet. Dennoch hatte sie in der Nacht kaum schlafen können. Der Boden unter ihren Füßen war hart. Schwer drückte der Rucksack auf ihren Schultern. Sie hatte Mühe, an den Häusern und Straßenlaternen die kleinen Markierungen zu finden. Wie sie von den Bewohnern der Stadt angesehen wurde, war ihr unangenehm. Ständig zog sie ihr Handy aus der Tasche. In welcher Hoffnung? Dass irgendjemand sie anrufen und ihre Einsamkeit durchbrechen würde?
Eine Einsamkeit, die sich Katharina mit dieser Reise selbst gewählt hatte?
Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass sie schon seit einer ganzen Zeit keine Muschel mehr gesehen hatte. Irgendwo musste sie einen Abzweig verpasst haben. Sie ärgerte sich, wieder bis dahin zurückgehen zu müssen, wo sie das letzte Zeichen gesehen hatte. Die Karte im Pilgerführer half ihr wenig. Sie war nett gezeichnet, gab aber keine Hinweise auf markante Punkte und Straßennamen. Erst als Katharina wieder auf dem richtigen Weg und das Ende der Stadt in Sicht war, atmete sie ein wenig auf. Laut Beschreibung würde sie ab jetzt nur noch über Felder und durch einen größeren Wald wandern. Lediglich zwei Dörfer, in denen sie nicht gerade viel Leben erwartete, lagen bis zum Tagesziel aufder Strecke. Und das war gut so.
Als sie jemanden rufen hörte, blickte Katharina auf.
„Huhu! Hallo Pilgerin!“ Die Stimme kam von vorn. Im hohen Gras am Wegrand, einige Meter von ihr entfernt, entdeckte sie einen dunkelblauen Rucksack, nicht aber den dazugehörigen Träger.
„Hier oben bin ich! Im Mirabellenbaum.“ Es war eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Älter als zwanzig war sie auf keinen Fall. Ihr blonder Pferdeschwanz schaukelte, als sie Katharina freudig zuwinkte.
„Magst du auch? Warte, ich bringe dir ein paar runter!“ Geschwind kletterte sie vom Baum und lief zu ihr. „Die an den unteren Ästen brauchen noch ein bisschen, aber die ganz oben sind reif und schmecken wirklich prima. Hier, nimm!“ Sie hielt ihr eine Hand voll Mirabellen hin. „Ich heiße Laura. Wie heißt du?“
„Katharina“, stellte sie sich zögernd vor. Ihr Gesicht war ernst und zeigte wenig Freundlichkeit.
„Magst du keine Mirabellen?“, fragte Laura verwundert.
Das Reden schien Katharina Mühe zu kosten. „Nein, danke.“
„Schade.“ Laura zuckte mit den Schultern. „Weißt du schon, in welche Herberge du heute gehen willst? Ich glaube, ich werde es nur bis Arnsdorf schaffen, wenn das mit dem Obst am Weg so weitergeht.“ Sie lachte. „Aber eigentlich will ich sowieso nicht mehr als zwanzig Kilometer am Tag laufen. Ich will es ganz ruhig angehen. Und du? Willst du auch bis nach Vacha pilgern?“
„Vielleicht“, antwortete Katharina. Sie schaute auf die Mirabellen. „Du solltest sie waschen, bevor du sie isst.“ Dann zog sie weiter.
Laura wusste, dass sich viele Menschen auf den Pilgerweg begaben, weil es ihnen schlecht ging. Sie erinnerte sich an eine Pilgerin, die den Weg gegangen war, um den Tod ihres Vaters zu verarbeiten, und an einen Studenten, der nur wegen Prüfungsangst sein Studium nicht packte. Ein anderer Mann, der schon seit Jahren arbeitslos war, hatte sich auf Pilgerreise begeben, um sich nicht vollkommen nutzlos zu fühlen, und einer Seniorin war auf dem Weg schmerzlich bewusst geworden, dass sie ihr Leben lang nur für Haushalt und Familie gelebt und nie gewagt hatte, ihren eigenen Wünschen zu folgen. Sein mehr oder weniger großes Päckchen hatte jeder zu tragen. Aber musste man deswegen gleich so abweisend sein? Laura hatte nur freundlich sein wollen. Wenn vor einem der gleiche Weg lag, konnte man darüber ja ins Gespräch kommen und sich vielleicht sogar ein wenig anfreunden. Es war doch schön, bereits am ersten Tag Gleichgesinnten zu begegnen.
Sie schätzte Katharina auf Anfang Dreißig. Es gefiel ihr, wie sie ihr schönes braunes Haar zu einem Zopf geflochten hatte. Ob sie die Pilgerin in der Herberge wiedertreffen würde? Dann wollte Laura sie aber auf jeden Fall fragen, weshalb sie am Vormittag so kühl gewesenwar.
An der Kirche in Ebersbach ließ sie ihre Wasserflasche auffüllen. Der Küster erzählte, dass er vor einer halben Stunde bereits eine Pilgerin habe durchkommen sehen und bot Laura an, die Kirche aufzuschließen. Gern wollte sie das Gotteshaus von innen besichtigen. Sie hatte keine Eile und wollte vom Pilgerweg ja so viel wie möglich mitnehmen. Auch in Liebstein gönnte sie sich eine längere Pause. Viele der Dorfbewohner hielten hier noch eigene Hühner, Gänse und Schweine. Laura machte ein paar Fotos, bat noch einmal um Wasser und wanderte schließlich zu den Königshainer Bergen.
Zuerst verlief der Weg durch den Wald verhältnismäßig eben, doch schon bald stieg er an. Ihre Beine begannen zu schmerzen. Auch der Rucksack drückte; auf den Hüftknochen tat es fast noch mehr weh als auf den Schultern. Es würde eine Weile dauern, bis sich Laura daran gewöhnen sollte. Sie machte einen Abstecher zum Totenstein, einem begehbaren Felsen am Ufer eines kleinen Sees voller Wasserlinsen und erreichte eine Viertelstunde später den Gipfel des kleinen Gebirges, den Hochstein. Der Empfehlung ihres Pilgerführers folgend, bestellte Laura im Gasthaus eine Suppe. Sie schmeckte wunderbar.
Nach dem Essen schrieb sie ein paar Zeilen in ihr Tagebuch. Beim Bezahlen erhielt sie einen weiteren Stempel in ihren Pilgerausweis. Der Wirt fragte, ob sie bereits auf dem Aussichtsturm gewesen sei. Als Laura erwiderte, dass sie sich diesen Gang für später aufgehoben hatte, schlug er ihr vor, solange auf ihren Rucksack aufzupassen. Dankend nahm sie seinen Vorschlag an.
Das Treppensteigen war eine günstige Gelegenheit, den Körper langsam wieder aufzuwärmen. Ein paar Kilometer erwarteten sie noch bis zum Tagesziel; da war es schön, den Endspurt mit einem weiten Blick über das Land einstimmen zu können. Während sie die Aussicht genoss, dachte sie an Katharina. Der Betreiber der Gaststätte hatte gesagt, Laura sei die einzige Pilgerin gewesen, die er an diesem Tag gesehen habe. Dann war Katharina jetzt vielleicht schon in der Herberge, vorausgesetzt, sie hatte sich ebenfalls Arnsdorf als Ziel gewählt.
Endlich verließ der Weg den Wald. Wenn die Zeichnung im Pilgerführer der Realität entsprach, blieben ihr maximal zwei Kilometer auf einem Feldweg. Katharina wollte nur noch duschen und schlafen, obwohl sie natürlich wusste, wie wichtig auch Essen war. Hoffentlich nahm ihr der Pfarrer nicht übel, dass sie so spät kam. Es war schon nach achtzehn Uhr und noch immer blieb die Kirche von Arnsdorf außer Sichtweite.
Erst als Katharina die zweite Feldkuppel überwunden hatte, tauchte die Kirchturmspitze auf. Ein Schild mit der Aufschrift Pilgerstation Arnsdorf ersparte ihr die Suche nach der Herberge. Für Dankbarkeit oder gar Freude war sie jedoch zu erschöpft. Kaum mochte sie an ihren Anblick denken, als sie zögernd die Klingel am Pfarrhaus drückte. Niemand öffnete.
Katharina wollte ein zweites Mal klingeln, doch in diesem Moment hörte sie jemanden durch das kleine gegenüberliegende Gartentor in den Hof treten. „Guten Abend“, rief der Mann freundlich. „Sind Sie die Pilgerin, die heute Nachmittag angerufen hat?“
Katharina drehte sich um. Sie bemühte sich um ein Lächeln. „Ja.“
Der Pfarrer reichte ihr die Hand. „Sie sehen ja ganz schön müde aus. Aber so geht es vielen am ersten Tag. Die meisten sind untrainiert und wenn es dann gleich so steil bergauf geht …“
„Bitte entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt komme. Ich habe mich hinter Liebstein verlaufen und musste alles wieder zurück.“
Er winkte gelassen ab. „Kein Problem. Ich hatte schon Pilger, die erst im Dunkeln hier angekommen sind. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Herberge. Eine junge Frau hat sich schon eingefunden.“
Sie liefen über den Vierseitenhofzu einer Scheune.
„Hier unten in der Klause gibt es eine Herdplatte und ein paar Töpfe. Die Schenke nutzen wir für Gemeindefeste und unsere Filmabende. Das Landkino befindet sich gegenüber. Leider kommen Sie einen Tag zu früh; die nächste Vorführung ist erst morgen. Hier haben Sie Dusche und WC. Und zum Schlafen geht es nebenan die Treppe hinauf. Brauchen Sie sonst noch etwas?“
Sie schüttelte den Kopf. „Vielen Dank. Kann ich gleich bei Ihnen bezahlen?“
Der Herbergsvater lächelte. „Immer mit der Ruhe. Die Spendendose und der Stempel liegen oben im Schlafraum. Klingeln Sie, wenn ich noch etwas für Sie tun kann.“
Katharina bedankte sich ein weiteres Mal und stieg die schmalen Treppen empor. Den blauen Rucksack erkannte sie auf Anhieb wieder. Er lehnte an einem einfachen Bett am Fenster. Die dazugehörige Pilgerin war nicht zu sehen. Sie war froh darüber.
Nachdem sie ihren Rucksack abgesetzt hatte, massierte sie sich die schmerzenden Schultern. Am liebsten wollte sich Katharina sofort auf eines der anderen beiden Betten legen, doch dann würde das Aufstehen noch schwerer fallen. Sie suchte ihre Wasch- und Wechselsachen heraus und ging wieder hinunter zur Dusche. Die Fußsohlen hämmerten, aber von Blasen waren sie frei. Besonders auf dem Nacken tat das heiße Wasser gut. Die Haut an den Hüftknochen war ein wenig aufgerieben, doch sie hatte eine gute Salbe dabei. Hunger spürte sie nach wie vor nicht, darum stieg sie wieder hinauf zu ihrem Bett, wo sie sich endlich hinlegte und an die weiße Zimmerdecke starrte.
Laura war noch immer nicht zurück.
Katharina nahm ihr Handy. Sie wählte über die Schnellwahl eine Nummer, um im nächsten Augenblick gleich wieder den roten Hörer zu drücken. Seufzend legte sie das Telefon zur Seite. Es war still. Nur ein paar Vogelstimmen drangen durch das angekippte Fenster.
Laura war ein wenig enttäuscht gewesen, als sie die Pilgerin vom Vormittag in der Herberge nicht angetroffen hatte. Gleichzeitig war sie froh, endlich angekommen zu sein. Das letzte Stück hatte trotz der eingeschobenen Pausen geschlaucht. So lange Wandertouren mit schwerem Rucksack war Laura eben noch nicht gewöhnt.
Die Unterkunft auf dem Vierseitenhof gefiel ihr ausgezeichnet. Besonders schön fand sie die hohen Sonnenblumen und blechernen Froschfiguren, die zwischen den Blumenbeeten steckten. Ein Kinoabend auf dem Land wäre natürlich ebenso schön gewesen, aber sie hatte auch nichts dagegen, zeitig ins Bett zu gehen. Nach dem Duschen machte sie einen kleinen Spaziergang durch das Dorf und beschloss, am Abend unter freiem Himmel zu essen. Weil es Sonntag war, hatte ihr Sonja noch ein wenig Brot und Käse mitgegeben. Nach so einer anstrengenden Wanderung würde es Laura mit Sicherheit doppelt so gut schmecken.
Sie stieg die knarrenden Treppen hinauf.
„Katharina?“ Wenn das keine Überraschung war! „Ich dachte, du wärst schon weiter gegangen. Aber schön, dich hier zu treffen! Wie war denn dein Tag? Tut dir auch alles weh?“
Katharina rappelte sich auf. Sie lehnte sich an die Wand und zog die Knie an ihre Brust. „Geht schon.“
Laura machte es sich im Schneidersitz auf ihrem Bett bequem. „Also, als ich hier angekommen bin, habe ich geglaubt, ich kann mich keinen einzigen Meter mehr bewegen. Eine halbe Stunde habe ich einfach mal nur: dagelegen und nichts gemacht. Aber als ich dann duschen war und nicht mehr die harten Wanderschuhe und meinen Rucksack tragen musste, ging es schon wieder. Ich war sogar noch ein bisschen spazieren.“
Sie wartete darauf, dass ihre Zimmergenossin etwas erwiderte. Doch Katharina blieb stumm.
„Hast du schon gegessen?“
„Nein. Ich habe keinen Hunger.“ Sie beugte sich zu ihrem Rucksack und zog einen grünen Schlafsack heraus.
„Du solltest aber etwas essen“, beharrte Laura. „Du bist heute fast zwanzig Kilometer gewandert. Wenn du nichts hast, kann ich mit dir teilen …“
„Ich brauche nichts“, unterbrach sie Katharina. Erst jetzt sah sie Laura in die Augen. Ihr Blick war kalt, beinahe schon böse.
Obwohl sie nicht wusste, weshalb eigentlich, entschuldigte sich Laura. „Ich wollte nur nett sein. Es geht dir nicht gut, was?“
„Ja.“ Mit ihrem Tonfall zeigte Katharina mehr als deutlich, dass die Unterhaltung für sie damit beendet war.
Nachdenklich sah Laura zu ihr hinüber. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und suchte ihren Proviant und das Tagebuch heraus. „Dann lass ich dich mal in Ruhe. Ich wollte sowieso draußen essen. Bis später.“ Sie lächelte, während Katharina scheinbar noch immer damit beschäftigt war, ihren Schlafsack aufs Bett zu legen.
Obwohl es bereits dämmerte, war es noch immer warm. Laura klappte ihr Tagebuch zu, lehnte sich zurück und blickte zufrieden in den Himmel. Sie wurde müde, aber noch nicht so müde, um Zähne zu putzen und ins Bett zu gehen. Schließlich gab es keine Verpflichtungen, die sie daran hinderten, so lange hier draußen zu sitzen wie sie wollte und sich ihren Gedanken hinzugeben.
Huuu. Hu-hu-hu-huu.
Mit einem Ruck richtete sich Laura auf.
Hu-hu-hu-huu.
„Ein Waldkauz!“ Sie lief zur Gartenmauer und spähte in die Richtung, aus der sie den Ruf kommen hörte. Obwohl sie den Vogel nicht entdecken konnte, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung. Wie lange war es her, als sie das letzte Mal einen Waldkauz gehört hatte? Auf alle Fälle lang genug, um sich nicht mehr daran erinnern zu können.
Hu-hu-hu-huu.
Sie drehte sich um und rannte zur Tür. So verdrossen Katharina auch sein mochte – den Vogel musste sie einfach hören. Hoffentlich schliefsie nicht schon!
Durch den Türspalt drang Licht. Laura drückte die Klinke. „Katharina?“
Sie saß aufihrem Bett und las. „Was ist?“
„Komm schnell auf den Hof! Ich will dir etwas zeigen.“
„Was willst du mir zeigen?“
„Etwas total Schönes. Wirklich! Komm schon. Bitte!“
Es interessierte Katharina nicht im Geringsten, was die Zimmergenossin sie sehen lassen wollte. Aber da sie sowieso noch einmal zum Waschraum musste, folgte sie ihr.
„Komm mit zur Mauer.“ Wieder schaute Laura hinüber zum Nachbargrundstück.
Mit vor der Brust verschränkten Armen lief Katharina ihr nach. „Und?“
„Es ist bestimmt gleich wieder da“, versicherte Laura aufgeregt.
„Was?“
„Mann, jetzt hab doch mal ein bisschen Geduld. Sei einfach leise und warte!“
Nichts geschah. Katharina hob die Augenbrauen. Stumm zählte sie bis drei.
Huuu. Hu-hu-hu-huu.
„Da! Hörst du? Ein Waldkauz!“ Lauras Augen strahlten.
Hu-hu-hu-huu.
„Ist das nicht wunderschön?“
Katharina sagte nichts. Aber sie ging auch nicht fort.
Hu-hu-hu-huuu.
Es wurde dunkel. Am Himmel begannen die ersten Sterne zu leuchten.
Kuwitt.
„War er das auch?“
Laura nickte. „Klingt wie Komm mit, nicht wahr? Aber ich gehe heute nirgendwo mehr hin. Außer ins Bett.“ Sie grinste.
Eine Weile lauschten sie schweigend dem abendlichen Rufen.
„Kennst du dich mit Sternbildern aus?“, fragte Katharina plötzlich.
„Nicht sehr gut“, entgegnete Laura. „Den Großen Wagen und Cassiopeia bekomme ich noch hin, aber das war’s dann auch schon. Kennst du dich besser aus?“
Sie antwortete nicht gleich.
„Nein.“ Ihre Stimme war wieder hart geworden. Katharina drehte sich um und ließ Laura allein.
Drei Uhr Fünfundzwanzig. Mit einem leisen Stöhnen wälzte sich Katharina auf die andere Seite. Wann würde sie endlich wieder richtig schlafen können? Vom Nachbarbett war ruhiges, gleichmäßiges Atmen zu hören. Sie schloss die Augen.
Vier Uhr Zehn. Katharina tippte eine SMS. Als sie die Nummer des Empfängers eingeben sollte, löschte sie den Text. Ihre Zimmergenossin drehte sich um. Ihr Schlafsack raschelte.
Vier Uhr Neununddreißig. Hör endlich aufzu grübeln und schlafweiter!
Fünf Uhr Zwölf. Der Morgen war still. Bald würde die Sonne aufgehen. Ein Geräusch durchbrach die Stille. Regen. Die Tropfen hämmerten auf das Dach. Es klang nicht so, als ob es bald aufhören würde. Kirchenglocken schlugen. Viermal kurz und siebenmal lang. Katharina grub ihren Kopf tief ins Kissen.
Leise suchte Laura ein paar Sachen zusammen und schlich aus dem Zimmer. Es wurde wieder still. Der Regen hatte aufgehört.
Katharina war müde, doch gab sie sich einen Ruck und stand ebenfalls auf. Ihre Wanderkleidung war über Nacht getrocknet. Schnell zog sie sich an, rollte ihren Schlafsack zusammen und packte ihn in den Rucksack.
„Guten Morgen!“, grüßte Laura fröhlich.
„Morgen“, brummte Katharina.
„Hast du gut geschlafen? Hast du mitbekommen, dass es über Nacht geregnet hat? Draußen ist alles nass. Und es sieht nicht so aus, als ob das schon alles war. Hast du dir mal den Himmel angesehen? Da kommt heute bestimmt noch eine ordentliche Ladung. Na ja, dafür wird wenigstens der Rucksack ein bisschen leichter. Wenn man seine Regenklamotten anzieht, muss man sie nicht auf dem Buckel schleppen, stimmt’s?“ Sie verstaute ihr Waschzeug und rollte ebenfalls ihren Schlafsack zusammen. „Ich geh erst mal runter frühstücken. Möchtest du auch einen Tee?“
„Nein, danke“, entgegnete Katharina.
Laura suchte ihren Blick. „Und wie sieht’s heute mit Essen aus? Wenn du schon gestern nichts mehr gegessen hast, bist du jetzt doch bestimmt hungrig, oder?“
„Ich kaufe mir später etwas beim Bäcker.“
„Okay. Eine Bäckerei liegt direkt am Pilgerweg. Ich war ja gestern noch ein bisschen spazieren, da habe ich sie gesehen. Mein Essen reicht noch eine Weile, bis Weißenberg auf alle Fälle. Und dort gibt es laut Pilgerführer eine Einkaufsmöglichkeit. Mal sehen, ob ich gleich dort in der Herberge bleibe, oder noch ein Stück weitergehe. Zum Glück kommt ja alle paar Kilometer eine Herberge. Da kann man ganz spontan entscheiden, wo man hingeht. Klar, manche wollen natürlich, dass man sich vorher anmeldet. Meine Eltern…“
Schroff fiel ihr Katharina ins Wort. „Kannst du auch mal still sein?“
Für einen Augenblick verstummte Laura. „Sorry. Ich wusste nicht, dass du ein Morgenmuffel bist.“ Ihren Beutel mit dem Essen unter dem Arm, lief sie zur Tür. „Hab einen guten Weg heute. Vielleicht sehen wir uns ja später wieder.“
Beim Frühstück ließ sie sich Zeit. Als sie wieder nach oben kam, war Katharina bereits aufgebrochen. Ins Gästebuch hatte sie nichts geschrieben. Dafür zog sich Lauras Eintrag über die ganze Seite. Sie bedankte sich für die herzliche Aufnahme und berichtete ausgiebig vom Waldkauz, den sie am Abend hatte rufen hören. Anschließend stempelte sie ihren Pilgerausweis, hinterließ eine Spende und brachte den Schlüssel ins Pfarrbüro. Sie war froh, dass sie die Herberge schon am Vortag großzügig fotografiert hatte, da sie nun unter dem grauen Himmel nicht mehr ganz so schön aussah und es zu nieseln begann. Mit dem achten Glockenschlag setzte sie ihre Wanderung fort.
Obwohl sich das Wetter nicht gerade von seiner schönsten Seite zeigte, genoss Laura das Laufen. Auf dem Land war der Morgen ruhig und friedlich. Wieder passierte sie Höfe, auf denen Hühner, Schafe oder Ziegen gehalten wurden. Auf einem Feld erblickte die Pilgerin zwei Störche.
Eine junge Mutter, die ihr Baby im Kinderwagen spazieren fuhr, begleitete Laura ein Stück. „Ich habe gerade meinen Großen zum Kindergarten gebracht“, erzählte sie. „Der einzige im Umkreis von acht Kilometern. Wir können dankbar sein, hier zu wohnen. Die meisten müssen ihre Kinder mit dem Auto herbringen, bevor sie zur Arbeit fahren. Mein Mann redet auch schon seit Jahren davon, nach Bautzen zu ziehen, wo er seine Stelle hat. Aber ich will meine Eltern nicht allein lassen. Sie haben schon immer in ihrem Haus hier gelebt und brauchen oft unsere Hilfe. Außerdem wohne ich gern auf dem Land.“
„Und für Ihre Kinder ist es bestimmt auch schöner, als in der Stadt zu leben.“
Die Mutter nickte. „Zumindest solange sie noch so klein sind. Wenn sie in ein paar Jahren zur Schule gehen, wird das bestimmt auch wieder anders aussehen. Aber ach, wer weiß, was bis dahin sein wird.“
„Stimmt. Darüber muss man sich jetzt wirklich noch nicht den Kopf zerbrechen.“ Laura schenkte ihrer Weggefährtin ein zuversichtliches Lächeln. Im Gegenzug dafür bekam sie eine kleine Packung Kekse geschenkt.
„Die kannst du als Pilgerin gut gebrauchen“, sagte die Mutter mit einem Augenzwinkern. „Alles Gute für dich.“
Das Nieseln war in leichten Regen übergegangen, doch trübte das Wetter ihre gute Laune keineswegs. Sie kam gern mit den Menschen am Weg ins Gespräch und freute sich, als Pilgerin so offen empfangen zu werden. Zwei Kekse aß sie sofort, den Rest hob sie für später auf. Bis zum nächsten Ort führte der Weg mehrere Kilometer über das Feld. Am Rand standen Windkrafträder, denen Namen gegeben worden waren. Fridolin, Flotte Lotte und Drehrumbum hießen sie. Wie im Spiel Ich packe meinen Koffer sagte sie sich die Namen immer wieder auf, um sie nicht zu vergessen. Der Regen war stärker geworden und machte es unmöglich, die Windräder zu fotografieren oder eine kurze Notiz in das Tagebuch zu schreiben.
Am Ende des Feldweges folgte ein Dorf. Unter dem Dach einer Bushaltestelle machte sie eine Pause. Sie trank ein wenig Wasser und aß drei Kekse, entschied sich aber bald zum Weitergehen. Ihre Regenbekleidung war von guter Qualität, dennoch wurde es schnell kalt, wenn sie sich nicht bewegte.
Es war wirklich schade, dass es so regnete. In Buchholz kam Laura an zwei Seen vorbei, von denen der größere einen Badestrand hatte. Selbst wenn es keine Badestelle gegeben hätte, hätte sie sich gern auf eine der einladenden Holzbänke gesetzt, die Enten beobachtet und Tagebuch geschrieben. Ohne ausgiebige Pausen, die sie am Vortag so häufig hatte einlegen können, kam sie viel zu schnell voran, was ihrer Ansicht nach dem Sinn des Pilgerns vollkommen widersprach. Außerdem ging es in die Beine, wenn sie ihnen so selten Ruhe gönnte.
Ob der Regen im Laufe des Tages wieder nachlassen würde? Laura beschloss, in der Herberge von Weißenberg eine längere Mittagsrast einzulegen. Wenn sich die Wolken lichteten, konnte sie am Nachmittag immer noch ein Stück weiter gehen. Und wenn nicht, dann blieb sie eben. Es war ja keine Schande, eine Tagesetappe schon nach fünfzehn Kilometern zu beenden.
Kurz nach zwölf erreichte sie die Stadt. Erleichtert huschte sie ins Pfarrhaus, schlug die Kapuze vom Kopf und klopfte an die Bürotür.
Die Sekretärin nahm Laura freundlich in der Pilgerherberge auf. „Ich glaube nicht, dass Sie heute noch weitergehen werden. Es soll bis zum Abend regnen. Das Pfefferkuchenmuseum hat heute leider geschlossen, aber es gibt ein paar Bücher im Gemeindesaal.“
Laura nahm es gelassen hin. „Darf ich aber hoffen, dass das Wetter morgen besser wird?“
„Ja, ab morgen soll es nicht mehr regnen. Es soll sogar ziemlich warm werden.“ Die Sekretärin führte sie durch das Haus und zeigte ihr Küche, Dusche und den Schrank mit den Matratzen im Gemeindesaal. „Hier im Regal ist der Stempel für den Pilgerausweis und daneben die Spendendose. Morgen früh wird niemand im Haus sein. Werfen Sie den Schlüssel einfach in den Briefkasten.“
„Mach ich. Gibt es auch einen Wäscheständer?“
„Ja, natürlich. Der steht nur, glaube ich, noch im Pfarrgarten.“
Laura grinste. „Dann hol ich ihn mal schnell. Nass bin ich ja sowieso schon.“
Wieder im Trockenen goss sie sich eine Tasse Pfefferminztee auf. Danach ging sie unter die Dusche und wusch ihre Kleidung. Als sie alles aufgehangen hatte, schnappte sie sich ihre blaue Stofftasche und lief zum Markt. Der Regen hatte glücklicherweise ein wenig nachgelassen.
In einem chinesischen Imbiss bestellte sie sich einen Teller gebratene Nudeln und kaufte im nebenan liegenden Supermarkt Proviant für unterwegs: Ein halbes Brot, ein Stück Weichkäse, eine Gurke und zwei Bananen – eben nur so viel, wie sie bis zum nächsten Geschäft am Pilgerweg brauchte.
Zurück in der Herberge widmete sich Laura ihrem Tagebuch. Sie beschrieb die bisherigen Ereignisse des Tages und listete die Namen der Windräder auf. Im Bücherregal fand sie einen Roman, mit dem sie es sich auf ihrer Matratze bequem machte. Der Regen hatte wieder zugenommen und trommelte gegen die Fensterscheiben. Mit dem Entschluss, an diesem Tag nicht mehr weiterzulaufen, hatte sie eindeutig die richtige Wahl getroffen. Bei solchem Wetter hätte selbst Regenbekleidung nicht mehr viel geholfen und Pilgern alles andere als Spaß gemacht.
Am Nachmittag war die Hälfte des Buches gelesen. Noch immer schüttete es wie aus Kannen. Laura blätterte in ihrem Pilgerführer und dachte an Katharina. Wo sie wohl gerade war? Hoffentlich hatte sie bei diesem Sauwetter inzwischen auch eine Pilgerherberge gefunden. Vielleicht in Gröditz? Wenn sie eine Stunde vor ihr aufgebrochen war, musste sie ja weiter gegangen sein. Obwohl, hatte das Laura nicht auch schon am Vortag vermutet? Weshalb war Katharina so spät gekommen? Hatte sie sich etwa verlaufen? Sonst hätte Laura sie ja irgendwo überholen müssen. Aber wie konnte man hier vom Weg abkommen? Er war doch tadellos ausgeschildert. Schade, dass sie die Pilgerin aus den Augen verloren hatte. Selbst wenn Katharina so wortkarg und schlecht gelaunt war, war es doch trotzdem etwas anderes, die Herberge mit jemandem zu teilen und nicht vollkommen allein zu sein. Außerdem konnten sie sich ja nicht ewig anschweigen.
Es langweilte Laura, den Nachmittag nur lesend zu verbringen, obwohl sie extra weggefahren war, um sich zu bewegen. Sie stand aufund kochte sich einen weiteren Tee. Mit der warmen Tasse in der Hand lehnte sie sich ans Fenster und blickte sehnsüchtig nach draußen.
Katharina war nass bis auf die Haut. Sie bewegte sich zwar, aber die Nässe ließ sie trotzdem frieren. Das Ortseingangsschild von Weißenberg lag hinter ihr. Wenn sie bei diesem Mistwetter nur endlich die Herberge erreichte! Ein Wagen hielt neben ihr. Das Beifahrerfenster wurde heruntergelassen. Wer kam denn bei Katharinas Anblick auf die Idee, sie nach dem Weg zu fragen?
„Hallo! Wollen Sie ins Pfarrhaus? In die Herberge?“
„Ja“, antwortete Katharina überrascht.
„Dann einfach noch eine Viertelstunde dem Pilgerweg folgen. Die Herberge liegt direkt auf der Strecke. Eine Pilgerin ist schon da. Sie kann Ihnen alles zeigen.“
Katharina nickte.
„Kommen Sie schnell ins Trockene.“ Die Sekretärin grüßte und fuhr wieder los.
Sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht streichend zog sie weiter. Kaum hatte sie die Türklinke heruntergedrückt, stürmte ihr ein bekanntes Gesicht entgegen.
„Hallo Katharina!“ Mitfühlend blickte Laura auf ihr Gegenüber. „Dich hat’s ja wirklich voll erwischt! Komm rein, zum Schlafen geht es gleich hier nach rechts. Ich hol dir schon mal eine Matratze aus dem Schrank.“ Sie lief in den Gemeindesaal und platzierte die Matratze unweit von ihrer eigenen.
Vor der Tür zog Katharina ihre Schuhe aus.
Laura ging zu ihrem Rucksack, um den nassen Regenschutz abzunehmen.
„Lass“, fuhr Katharina dazwischen und lockerte den Gummizug selbst. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Regenjacke und wollte sich aus ihr befreien. Weil aber sowohl die Jacke als auch das Shirt darunter durchnässt waren, blieben sie aneinander kleben. Katharina zog kräftiger.
„Warte, ich helfe dir.“ Erneut trat Laura zu ihr. Sie griff nach der Jacke.
Katharina wich zurück. „Es geht schon.“
„Aber das kann doch kein Mensch mit ansehen.“
„Lass mich in Ruhe!“ Ihre Stimme hallte durch den Flur. Aus den Augen sprach Ärger. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich zurecht komme.“
Für einen Moment starrte Laura sie mit offenem Mund an. „Ich hab dir nur helfen wollen.“
„Ich brauche deine Hilfe aber nicht! Lass mich endlich in Frieden!“
Verständnislos schüttelte Laura den Kopf. „Du bist echt ätzend, weißt du das?“ Sie ging zurück in den Saal. Katharina hörte, wie sie ihre Matratze quer durch das Zimmer schob. Als sie durch die Tür trat, sah sie, wie Laura auch noch ihren Rucksack in die hinterste Ecke trug. Wortlos stellte sie den ihren am gegenüberliegenden Ende ab. Sie prüfte, ob die Nässe auch ins Innere des Rucksacks gezogen war und musste feststellen, dass das obere Fach mit dem Pilgerführer Wasser abbekommen hatte. Das Deckblatt und die Ränder waren feucht geworden. Katharina stieß einen leisen Fluch aus.
Laura packte ihre Tasche. Sie zog ihre noch klamme Jacke vom Wäscheständer und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Seufzend ließ sich Katharina auf ihrer Matratze nieder. Sie sah in den Raum. Zu Lauras Schlafplatz. Zu dem Kreuz an der Wand. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und starrte auf das Display. Dann legte sie es wieder zur Seite. Mit ihren kalten Händen fuhr sie sich über das Gesicht.
„Was tue ich hier eigentlich?“
Laura war in ein Café geflüchtet. Sie trank eine heiße Schokolade, schrieb Tagebuch, las den geliehenen Roman weiter und bestellte eine weitere Schokolade. Als sich der Hunger meldete, ging sie zurück zur Herberge.
Katharina hatte sich hingelegt und blätterte im Gästebuch.
Laura sprach sie nicht an. Sie nahm ihr Essen und ging in die Küche. Das Tagebuchschreiben hatte geholfen, reichte aber nicht, um den Abend schön zu finden oder gar zu genießen. Als sie zurück in den Pfarrsaal kam, war Katharina verschwunden. Ihre Jacke hing noch zum Trocknen über einem Stuhl, der Regen hatte aber auch aufgehört. Vermutlich war ihre Zimmergenossin einkaufen oder etwas essen gegangen. Sie überlegte, ihr einen Zettel zu schreiben, ließ es jedoch bleiben. Wenn Laura bei ihrer Rückkehr schon schlafen sollte, würde Katharina hoffentlich von allein daran denken, die Herberge abzuschließen.
Am Morgen fühlte sich Laura ausgeschlafen und erholt. Sie hatte weder mitbekommen, dass es in der Nacht einen weiteren Wolkenbruch gegeben hatte, noch, wie lange Katharina wach gelegen hatte und dass sie zweimal aufgestanden war.
Sie lag mit dem Rücken zu ihr, die langen braunen Haare zerzaust auf einem mit ihrer Schlafsackhülle improvisierten Kopfkissen. Leise zog sich Laura an und schlich aus dem Raum.
Als sie vom Waschen und Frühstück zurück kam, schlief Katharina noch immer tief und fest. Sie hatte sich lediglich auf die andere Seite gedreht. Laura schaute sie an. Ihr Gesicht war blass und wirkte traurig. Welchen Kummer hatte sie nur auf ihren Weg mitgenommen? Sie tat ihr leid. Sicher war sie nicht gerade freundlich zu Laura gewesen. Sie verstand nicht, weshalb Katharina sie so angeblafft hatte, als sie ihr mit den nassen Kleidern helfen wollte. Hatte sie vielleicht einfach nur so böse reagiert, weil sie vollkommen durchnässt und erschöpft war?
Laura bereute es, am Abend gar nicht mehr mit ihr gesprochen zu haben. Wenigstens hätte sie ihr noch den Stempel und die Spendendose zeigen und das mit dem Schlüssel erklären können.
Nun musste ein Stück Papier die Aufgabe übernehmen. Vorsichtig riss sie eine Seite aus ihrem Tagebuch. Sie erschrak, weil das Geräusch in der Stille des Zimmers so laut erschien, aber auch davon wachte Katharina nicht auf. Sorgsam legte sie das Blatt auf ihren Rucksack.
Liebe Katharina,
ich wollte dich nicht wecken, deswegen schreibe ich dir diesen Zettel. Das Pfarrbüro ist geschlossen, es kommt heute also niemand mehr (außer vielleicht ein Pilger : )). Wenn du zugeschlossen hast, kannst du den Schlüssel einfach in den Briefkasten werfen.
Ich wünsche dir einen schönen Tag und ein angenehmes Pilgern!
Liebe Grüße,
Laura
Der Vormittag verlief ausgesprochen schön. Er begann nicht nur mit einem strahlend blauen Himmel und warmem Sonnenschein, sondern auch mit einer märchenhaften Wanderung durch die Gröditzer Skala. Auf einem Trampelpfad folgte Laura dem Löbauer Wasser, einem schmalen Fluss, durch den Wald. Sie genoss die Ruhe und das sommerliche Grün, legte immer wieder Pausen ein und fotografierte ohne Unterlass.
Heidelbeerbüsche ließen Laura jubeln. Über eine Stunde war sie mit Pflücken und Essen beschäftigt. Hände und Gesicht wusch sie mit dem klaren Wasser des Flusses. Das kühlende Nass fühlte sich so wunderbar an, dass die Pilgerin Schuhe und Socken auszog, zu einem Stein watete, die Füße eintauchte und mit den Zehen wackelte. Winzige Fische berührten die nackte Haut. Weil es sie kitzelte, begann Laura wie ein kleines Mädchen zu kichern. Es war ihr egal, wenn jemand sie so sah. Aber seit sie die kleine Stadt verlassen hatte, war ihr ohnehin noch niemand begegnet.
Als ihr das Wasser zu kalt wurde, zog sie sich wieder an. Der Weg führte nun bergauf. In einer Biegung erblickte sie zwischen den Bäumen das Gröditzer Schloss. Weiß leuchtete es über das Tal und Laura freute sich schon, es von nahem zu sehen. Der Anstieg war steil, lohnte sich aber. Oben angekommen wunderte sie sich, dass die Kirchturmuhr bereits die Mittagsstunde anzeigte. Sie hätte nicht gedacht, im Wald so viel Zeit verbracht zu haben. Im Schatten der Schlossmauer hielt sie eine längere Mittagsrast. Sie schaute in ihren Pilgerführer und stellte fest, dass sie die Hälfte der Tagesetappe bereits geschafft hatte.
Nach dem Mittagessen ließ der Nachtisch nicht lange auf sich warten. An einem Feldweg wuchsen Mirabellen, diesmal rote, die ebenso wunderbar schmeckten wie die gelben. Bei dieser Sorte waren auch die Früchte an den unteren Zweigen ausgereift, sodass es sich Laura ohne Kletteraktionen schmecken lassen konnte. Sie pflückte sich eine reichliche Portion in ihre Plastedose und setzte sich damit direkt an den Weg. Wie bei einem Wettbewerb versuchte sie, die Steine so weit wie möglich auszuspucken.
Ein Radfahrer fuhr an ihr vorbei. „Guten Appetit“, wünschte er lachend.
„Danke! Und einen schönen Tag noch“, rief Laura ihmnach.
Keine Minute später traf der Radfahrer die nächste Pilgerin. „Guten Tag, die Dame“, grüßte er sie fröhlich. „Beeilen Sie sich, sonst ist bald nichts mehr von den Mirabellen übrig.“
Katharina drehte sich nach ihm um, doch er war bereits pfeifend verschwunden. Müde setzte sie ihren Weg fort.
„Hallo Katharina!“, rief Laura freudig. „Ist das nicht ein herrlicher Tag heute?“
„Hm“, brummte sie im Gehen.
„Hast du meinen Zettel gelesen?“
„Ist alles zugeschlossen.“
„Du warst gestern wirklich ganz schön fertig, was?“
Katharina zog weiter. Sie sah die Weggefährtin nicht an. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“
Laura wurde wütend. „Was bist du denn schon wieder so mies drauf? Kannst du das Pilgern auch mal schön finden? Und zu mir vielleicht mal nett sein?“
Katharina blieb stehen. Mit verärgertem Blick schaute sie Laura an. „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, warum ich nicht nett zu dir bin?“
„Ja! Aber ich kapier’s nicht. Was hast du denn gegen mich?“
„Du!“ Katharina wurde laut. „Jedes Mal du! Ich kann mich nicht erinnern, dir das Du angeboten zu haben.“
„Aber …“ Irritiert hob Laura die Augenbrauen. „Wir sind hier doch auf dem Pilgerweg. Wir sind doch beide Pilger. Warum soll ich denn Sie zu dir sagen?“
„Weil wir uns fremd sind und du deutlich jünger bist.“
Laura brauchte einen Moment um zu begreifen, dass Katharina ihre Worte wirklich ernst meinte. „Aber hier ist das doch egal“, widersprach sie entschieden. „Wenn man den gleichen Weg geht, dann verbindet einen das doch. Da muss man doch nicht auf irgendwelche Etiketten bestehen. Das ist ja gerade das Schöne am Pilgern! Dass keiner besser oder mehr wert ist als der andere, dass wir alle nur Menschen sind und dass die sozialen und sonstigen Grenzen zwischen uns überwunden werden! Was soll ich denn da mit Sie anfangen, bloß weil du ein paar Jahre älter bist als ich?“
„Weil es sich so gehört! Es ist eine Frage des Respekts.“
„So ein Quatsch. Weißt du, wie viele Kulturen es gibt, in denen die Leute nur du zueinander sagen? Da gibt es überhaupt keine Form von Sie. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass sie keinen Respekt voreinander haben.“
„Wir sind hier aber in keiner anderen Kultur.“
Laura fragte sich, ob das Rot in Katharinas Gesicht Folge des Wanderns oder ihrer Aufregung war. „Oh Mann, bist du vielleicht spießig!“ Seufzend steckte sie sich eine Mirabelle in den Mund.
„Und du bist vorlaut!“, schimpfte Katharina. „Überleg’ dir mal, was du sagst, ja?“ Zornig stapfte sie davon.
Laura schaute ihr hinterher, bis sie sie nicht mehr sehen konnte.
„Pilger, die sich siezen … Die Frau hat echt Probleme!“ Sie wusste nicht, ob sie über Katharinas Ansichten lachen oder wütend sein sollte. Es nicht so ernst zu nehmen, wäre sicherlich das Beste. Aber dass sie auf ihre freundlichen Annäherungsversuche jedes Mal so abweisend reagierte, nervte langsam wirklich. Wenn es Katharina nicht gut ging und sie lieber allein sein wollte, war das ja in Ordnung. Es wäre nur schön, wenn sie dies etwas netter kommunizieren würde. Ob sie heute noch bis Bautzen liefoder nur bis nach Neubelgern, wie Laura es beabsichtigte?
Sie setzte ihren Rucksack auf. Mirabellen hatte sie genug gegessen.
Der Weg endete an einer Straße, der Laura Richtung Süden folgte. Nach zweihundert Metern zeigte ein blauer Pfeil wieder nach rechts auf einen Feldweg. An einer Bank legte die Pilgerin eine Pause ein. Nachdem sie etwas getrunken hatte, zog sie ihr Tagebuch aus dem Rucksack und vertraute ihm ihre Gedanken an. Anschließend breitete sie im Gras ihre Isomatte aus und befreite ihre Füße von den schweren Wanderschuhen. Es war ein schöner Ort für eine längere Mittagspause, ruhig gelegen und mit Schatten spendenden Bäumen.
Eine reichliche halbe Stunde hatte Laura bereits geschlafen, als sie sich auf die andere Seite drehte. Plötzlich schrie sie auf. Etwas hatte sie in den Oberarm gestochen. Reflexartig schlug sie es von ihrer Haut. Es war eine Biene. Sie landete im Gras. Der Kampf mit dem Tod ließ sie wild zappeln. Mit ihrem Schuh erlöste Laura das Insekt von seinem Leid.
„So ein Mist!“ Sie rieb sich die schmerzende Stelle, die bereits rot wurde und anschwoll. Laura zog ihr Handtuch aus dem Rucksack und tränkte es mit dem restlichen Wasser aus ihrer Flasche. Es war lächerlich, den Stich damit zu kühlen. Längst hatte die Flüssigkeit die Temperatur von außen angenommen. Trotzdem nahm sie das Tuch nicht ab. Rasch packte sie alles zusammen, setzte den Rucksack auf und lief weiter, diesmal jedoch wesentlich schneller als sonst. Nach einem Kilometer stieß Laura auf einen Bach. Sofort hielt sie das Handtuch in das kalte Wasser. Für einen kurzen Augenblick wurde der Schmerz gelindert. Sie wiederholte die Anwendung einige Male, dann ging sie weiter. Durch den Pilgerführer wusste sie, dass das nächste Dorf nicht mehr weit entfernt sein und sie dort um Eiswürfel bitten konnte.
Katharina klingelte.
Das Gehen hatte ihre Wut gedämpft und ihre Müdigkeit zurückkehren lassen. Dabei hatte sie bis in den späten Vormittag geschlafen und nicht einmal zehn Kilometer geschafft. Sie fand es zu früh, die Strecke für heute schon zu beenden und bereits um eine Unterkunft zu bitten. Aber noch weniger wollte sie zu weit laufen. Die nächste Herberge lag erst im vierzehn Kilometer entfernten Bautzen. Selbst wenn sie sich unterwegs einmal nicht verirren sollte, würde sie am Ende wieder mit ihren Kräften am Ende sein.
Eine ältere Frau mit munteren Augen öffnete die Tür.
„Guten Tag“, sagte die Pilgerin freundlich. „Mein Name ist Katharina Lihser. Wir haben heute Vormittag miteinander telefoniert, ob ich bei Ihnen übernachten kann.“
Die Herbergsmutter lächelte und reichte ihr die Hand. „Herzlich willkommen, Katharina! Ich heiße Gerda. Magst du gleich hereinkommen oder dich erst ein wenig in den Garten setzen?“
Wortlos schaute Katharina sie an.
„Nimm erst mal deinen Rucksack ab.“ Gerda machte eine einladende Geste.
Verlegen nahm die Pilgerin ihr Gepäck von den Schultern.
„Von deinen Schuhen wirst du dich sicher auch gleich befreien wollen, was? Ist das nicht immer ein schönes Gefühl beim Ankommen?“
„Äh … ja“, hauchte Katharina überrumpelt. Sie bückte sich, um die Schnürsenkel aufzubinden. „Dann sollte ich vielleicht gleich hereinkommen?“
„Aber gern! Fühl dich wie zu Hause.“ Gerda führte ihren Gast in die Küche. „Setz dich. Ich gebe dir frisches Wasser.“ Sie stellte Katharina ein bis oben gefülltes Glas auf den Tisch. „Bitte schön.“
„Danke.“ Das kühle Getränk tat gut. In wenigen Zügen trank sie aus.
„Noch etwas?“, bot Gerda an.
„Wenn es Ihnen keine Umstände macht“, entgegnete Katharina vorsichtig.
„Du“, berichtigte sie die Großmutter. Ihre Stimme war mild, aber deutlich. „Sag du zu mir.“ Sie füllte das Glas erneut und setzte sich zu ihr. „Wir sind hier doch auf dem Pilgerweg.“
Zum zweiten Mal verschlug es der Pilgerin die Sprache.
„Weißt du, was peregre, also Pilgern, bedeutet?“, fragte Gerda mütterlich. „Es bedeutet in der Fremde. Meine Aufgabe als Herbergsmutter ist es, Pilgern für eine Nacht eine Heimat zu geben und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht mehr fremd fühlen. Und das geht doch am besten, wenn wir uns mit du ansprechen, nicht wahr?“ Sie lächelte. Wieder fielen Katharina ihre munteren Augen auf. „Wo bist du denn heute losgelaufen?“
„In Weißenberg.“
„Dann gehst du lieber kürzere Etappen?“
Katharina schüttelte den Kopf. „Ich wollte schon gestern zu Ihnen …" Sie berichtigte sich. „Ich meine zu dir kommen. Aber es hat fast den ganzen Tag geregnet und ich habe mich verlaufen.“
„Ja, der Pilger, den ich gestern bei mir hatte, war ganz schön durchnässt.“
Es war Katharina peinlich, gerade in diesem Augenblick gähnen zu müssen. Sie entschuldigte sich.
„Willst du dich hinlegen? Komm, ich zeige dir, wo du duschen und schlafen kannst.“
Als Laura das Ortseingangsschild von Neubelgern und das erste Haus sah, atmete sie erleichtert auf. Es war die Nummer elf. Laura musste zur zehn. Doch hinter dem Grundstück wuchsen lediglich ein paar hohe Bäume. Der Rest des Dorfes lag noch einmal einen Kilometer entfernt.
Entgeistert schüttelte sie den Kopf. „Wer hat sich denn so was ausgedacht?“
Sie klingelte, aber es war niemand zu Hause, der sie mit einer neuen Packung zum Kühlen versorgen konnte. Also biss sie die Zähne zusammen und lief weiter.
Katharina hätte nicht gedacht, dass sie noch einmal so fest schlafen würde. Sie hatte nur die Augen schließen und ein wenig dösen wollen. Nun waren fast anderthalb Stunden vergangen, seit sie das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte. Eine Weile blieb sie noch liegen und schaute nachdenklich auf ihren Rucksack.