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Ein unterirdischer Gang führt Malina in die Gärten von Korknidien. Doch die Idylle eines immerwährenden Sommers mit reicher Ernte trügt. Kinder werden gefangen gehalten und verschwinden plötzlich. Um sie zu retten, muss Malina in die Berge des Steinernen Drachen ziehen. Das perfekte Abenteuer - wenn da nur nicht ihre Mutter wäre ...
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Seitenzahl: 331
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Malina sucht das Abenteuer
Ein seltsamer Besuch
Die Truhe auf dem Dachboden
Durch den Gang
Eine Stimme von oben
Die Gärten von Korknidien
Herbarias Gewächshaus
Die anderen Kinder
Eine Prüfung
Eine Freundin in der Dunkelheit
Etwas hat nicht funktioniert
Ein gemeinsames Abenteuer
Geschichten für einen Wolf
Das Wandermonster
Arianes Wanderkarte
Die Hütte am Teich
Aufstieg in die Berge
Lilith
Neue Geheimnisse
Drachenblut und Menschentränen
Hebes Wiegenlied
Aus Spiel
Gespräche am Lagerfeuer
Gefahr
Wieder in Korknidien
Namensschilder
Die Veredelung
Unmöglich
Von Tochter zu Mutter
Verstärkung
Die hohle Eiche
Liliths Geschichte
Der steinerne Drache
Das Morgen von Gestern
Malina lag im Schatten des Apfelbaumes. Sie hatte die Hände unter den Kopf geschoben und schaute in das grüne Dach aus Blättern und kleinen runden unreifen Äpfeln. In den Zweigen über ihr schnickerte ein junger Gartenrotschwanz, der erst vor wenigen Wochen geschlüpft war. Auf einem anderen Baum saß eine Amsel und gab ein frühsommerliches Konzert. Sriiie, sriiie riefen die Mauersegler am klaren blauen Himmel. Freundlich schien die Sonne und ein leichter warmer Wind ließ die Margeriten sacht hin und her wehen. Im Gras summte und sirrte es. Von Zeit zu Zeit flatterte ein Kohlweißling oder ein Zitronenfalter vorbei. Es war wirklich langweilig.
„Mama, spiel mit mir!“, rief Malina zu den Erdbeerbeeten hinüber. „Wie lange soll ich denn noch auf dich warten? Hundert Stunden oder was?“
Malinas Mutter hieß Esther. Sie unterbrach das Unkrautjäten und blickte lächelnd auf. „Nein, hundert Stunden sind es nicht mehr. Nur noch zweiundsiebzigeinhalb. Und fünfzehn Sekunden. Es sei denn, du hilfst mir. Dann sind es nur neunundvierzig Tage.“
„Ha ha. Neunundvierzig Tage sind viel mehr als zweiundsiebzig Stunden.“ Malina stand auf und schlenderte zu ihr. „Wann sind endlich die Erdbeeren reif?“
„Morgen vielleicht. Oder übermorgen.“
„Morgen, morgen. Immer erst morgen“, maulte Malina.
„Warum nicht schon gestern oder heute?“
Esther zog einen Löwenzahn aus der Erde. „Weil genau dieses Unkraut verhindert, dass genügend Sonne an die Früchte kommt.“
„Dafür kann ich doch nichts.“
„Ach nein? Wer stürzt sich denn im Frühling auf jede Pusteblume, die ihr über den Weg läuft?“
„Pusteblumen können gar nicht laufen“, widersprach Malina.
„Aber du kannst laufen“, sagte ihre Mutter. „So prima, dass du gleich mal den Eimer zum Kompost und wieder zurück bringen kannst. Auf dem Rückweg natürlich ohne Unkraut.“
„Dazu habe ich aber keine Lust.“
„Ich auch nicht.“ Esther küsste ihre Tochter auf die Wange und trug den Eimer selbst. Als sie zurückkam, tätschelte sie Malina den Rücken und meinte versöhnlich:
„Du weißt doch, wie es mit deiner verrückten Gartenmutter ist. Wenn du mich von der Arbeit abhältst, dauert es nur umso länger. Schau dir in der Zwischenzeit ein paar Bücher an. Spiel mit deinem Lego. Oder mal ein bisschen.“
„Dazu habe ich aber keine Lust. Immer nur Bücher angucken oder Lego bauen oder malen ist langweilig“, sagte Malina.
„Dann geh ein Stück spazieren“, schlug Esther vor. „Lauf zum Bach und leg einen Staudamm an. Wir haben so ein herrlich großes Grundstück mitten in der Natur. Als Kind hätte ich dich um die vielen Spielmöglichkeiten beneidet.
Hier ist es so viel schöner als in unserer alten Wohnung mitten in der Stadt, zwischen den engen Straßen und …“
„Ja, ja, ja“, sprach Malina dazwischen. „Dann geh ich eben zum Bach.“
Hinter dem Schuppen führte ein Trampelpfad den kleinen Hügel hinab und endete an dem schmalen Gewässer zwischen den Streuobstwiesen. Ärgerlich rupfte Malina mehrere Büschel Grashalme ab und warf sie ins Wasser.
Nach einer Weile ließ sie sich ins Gras plumpsen und blickte nachdenklich über die Wiese.
Es war tatsächlich ein schönes Grundstück, auf das sie vor wenigen Wochen gezogen waren. Auch das Haus mochte Malina, obwohl es alt war und einige Stellen hatte, die noch aufgeräumt und sauber gemacht oder sogar repariert werden mussten. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche, das Bad und die Wohnstube mit einem Kamin, der dunkle und kühle Abende äußerst gemütlich machte. Im Geschoss darüber lagen Esthers Schlafzimmer, ein kleines Arbeitszimmer und Malinas Zimmer. Es hatte ein großes Fenster mit knallroten Vorhängen. Auf dem Schreibtisch lagen Mal- und Bastelsachen. Das Regal steckte voller Bücher und an den Wänden hingen zahlreiche, selbst gezeichnete Bilder. Sie zeigten die Helden aus Malinas Lieblingsgeschichten, Dinosaurier, Zauberer, Drachen und weitere Fantasiegestalten, Landschaften mit steilen Wasserfällen, finsteren Höhlen, Vulkanen und Gespensterburgen.
Malina liebte die spannenden und gruseligen Dinge. Darum stöberte sie auch gern auf dem staubigen Dachboden mit den Spinnweben und den dunklen alten Möbeln herum. Selbst bei helllichtem Tag konnte es aufregend sein, unter den dicken Holzbalken zu spielen und Geheimverstecke zu finden. Leider wurde es mit der zunehmenden Sommerhitze immer wärmer und stickiger auf dem Dachboden, sodass Malina schon seit ein paar Tagen lieber draußen gewesen war.
Im Garten gab es Obstbäume, Beerensträucher und Gemüsebeete. Weil sich aber so lange niemand darum gekümmert hatte, war alles verwildert und von Unkraut überwuchert. In den nächsten Wochen würde Esther noch viele Stunden draußen arbeiten, um alles wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Sie hatte das Haus von ihrem Großonkel geerbt und obwohl sie jetzt so viel Arbeit damit hatte, war sie sehr glücklich darüber.
Malina wusste noch nicht so recht, ob sie glücklich oder traurig sein sollte. Manchmal fand sie es toll, am Rande eines Dorfes und nicht mehr in der lauten Stadt zu wohnen. Hier konnte sie viel öfter draußen sein und sich freier bewegen. Manchmal vermisste sie aber auch ihren Lieblingsspielplatz mit der silbernen Röhrenrutsche, der Wippe, dem Klettergerüst und der Wackelbrücke. Vor allem aber vermisste sie ihre Freunde.
„Na, wolltest du keinen Staudamm bauen?“ Esther bückte sich hinab zum Bach und wusch sich die Hände. „Erdbeerbeete – abgehakt. Na ja, eher durchgeharkt. Jetzt kann ich mich an das Gemüse machen. Wenn es nur noch nicht zu spät für die Gurken ist. Ich hänge einen ganzen Monat hinterher.“ Sie setzte sich neben das Mädchen ins Gras. „Nächstes Jahr wird alles besser. Da kann ich die Beete schon im Frühling vorbereiten.“ Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatte, las sie Malina zwei Kapitel aus Jim Knopf und die Wilde 13 vor.
Malina schmiegte sich an ihre Mutter und betrachtete verträumt die Illustrationen. Mit einem goldenen Drachen der Weisheit reden und auf offenem Meer gegen Piraten antreten – was wäre das für ein Leben!
„Ich will auch ein Abenteuer erleben“, sagte sie entschlossen. „So ein richtig spannendes, wo man andere Länder entdeckt und mutig sein muss. Ein Abenteuer, das auch mal gefährlich wird und wo man gegen Bösewichte kämpfen muss. So wie bei Jim Knopf und Lukas.
Aber am Ende geht natürlich alles gut aus.“
„Woher willst du denn wissen, dass das Abenteuer von Jim Knopf gut ausgeht?“, fragte Esther.
„Aber Mama! Das ist doch ein Kinderbuch. Kinderbücher gehen am Ende immer gut aus.“
„Na wenn du meinst. Ich fürchte nur, dass du hier auf dem Land kein Abenteuer erleben wirst.“
„Ja, das glaube ich auch“, erwiderte Malina verdrießlich.
„Hier ist es nur langweilig.“ Passend zu ihren Worten schien der Bach noch einmal besonders sanft und friedlich zu plätschern. „Wie war das, als du ein Kind gewesen bist? Wolltest du nicht auch Abenteuer erleben?“
„Doch, natürlich wollte ich das“, antwortete Esther. „Welches Kind will so etwas nicht? Aber inzwischen bin ich erwachsen und finde, dass ich mit meiner Selbstständigkeit Abenteuer genug habe. Noch mehr davon brauche ich nicht. Es reicht mir vollkommen, davon in Büchern zu lesen oder sie in Filmen zu sehen. Gemütlich auf dem Sofa, versteht sich.“ Sie schmunzelte.
Malina wusste, was Selbstständigkeit bedeutete. Es hieß, dass ihre Mutter über die Zeit und die Menge ihrer Arbeit selber bestimmte. Sie war Übersetzerin und Lehrerin der slowakischen Sprache und arbeitete meistens zu Hause. Aller zwei Wochen fuhr sie zur Universität in die Stadt und manchmal über mehrere Tage zu großen Messen. Esther konnte sich leichter einen Tag frei nehmen als andere es konnten. Dafür verdiente sie immer nur Geld, wenn sie Aufträge erhielt. Gab es einmal keine Texte zu übersetzen, half sie im Einkaufsmarkt aus.
„Also mir reicht es überhaupt nicht, nur von Abenteuern zu hören oder sie in Filmen zu sehen“, sagte Malina. „Ich will ein eigenes Abenteuer erleben.“
Esther klopfte ihrer Tochter auf die Schulter. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg bei der Suche. Aber rechne nicht damit, dass ich dir dabei helfe. Meine Aufträge und Gemüsebeete sind mir Abenteuer genug. Ganz zu schweigen davon, dass ich nebenbei noch eine Tochter großzuziehen habe.“
„Du musst mich nicht großziehen“, murrte Malina. „Ich wachse von ganz allein.“
Am nächsten Abend ernteten Malina und ihre Mutter elf Erdbeeren. Sie waren klein, aber saftig und süß. Zwei aßen sie gleich, den Rest hoben sie als Nachtisch für das Abendessen auf. Sie hatten gerade das Geschirr gespült und sich zum gemütlichen Erdbeernaschen auf das Sofa gesetzt, als es an der Tür klopfte.
Verwundert stand Esther auf. „Wer kommt denn um diese Zeit noch zu uns?“
„Vielleicht jemand aus dem Dorf“, überlegte Malina.
„Abends um acht? Das glaube ich nicht.“
Es klopfte noch einmal. Diesmal schneller und lauter.
„Besonders geduldig ist unser rätselhafter Besuch jedenfalls nicht.“ Esther öffnete die Tür und erstarrte. Nicht einmal ein „Guten Abend“ brachte sie heraus.
Neugierig trat Malina hinzu. Auch sie sagte kein Wort, als sie die sonderbare Gestalt erblickte, die vor der Tür stand. Sie sah ein wenig so aus wie der garstige Zwerg bei Schneeweißchen und Rosenrot. Oder wie Rumpelstilzchen. Na ja, vielleicht ein bisschen freundlicher. Ein normaler Mann war es jedenfalls nicht. Er war nur ein wenig größer als Malina, hatte graues Haar, einen langen Bart, der bis über die Brust reichte, eine braune Hose aus festem Stoff und eine dunkelblaue Jacke. Seine Füße steckten in schwarzen Lederstiefeln und auf dem Kopf trug er einen graugrünen Hut mit breiter Krempe. In seiner rechten Hand baumelte ein Metallkrug mit Deckel.
„Einen schönen guten Abend“, sagte das kleine Männchen mit einer überraschend kräftigen Stimme. „Sie gestatten, Pimpinellus Brazelborm. Ich habe gehört, hier sucht jemand ein Abenteuer?“
„Äh …“, vermochte Esther sich endlich ein wenig zu rühren. „Gu...ten A...bend“, antwortete sie langsam, „Herr …?“
„Brazelborm. Pimpinellus Brazelborm. Erster Vorstandsvorsitzender des GVAJuMuEFK e.V.“
„Wie bitte? Was für ein Verein?“, wollte Esther wissen.
„GVAJuMuEFK e.V.. Gemeinnütziger Verein für abenteuerlustige Jungen und Mädchen unter Eins Fünfzig Korknidien, eingetragener Verein. Erlauben Sie einzutreten?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er sich an Esther vorbei ins Haus. Sein Blick fiel auf Malina. „Du bist also unser neues Mitglied. Herzlich willkommen im Verein.
Dein Abenteuer wartet bereits auf dich. Morgen früh geht es los.“
„Mein Abenteuer?“, fragte Malina ungläubig. „Was für ein Abenteuer?“
„Das wirst du schon sehen“, meinte Pimpinellus Brazelborm. „Alles, was ich brauche, sind dein Name und deine Lieblingsfarbe. Danach nenne ich dir unseren Treffpunkt und bringe dich nach Korknidien. Dort erwartet dich das tollste Abenteuer, was du dir nur ausmalen kannst. Ich verspreche es dir.“ Er grinste breit und zog eine Papierrolle sowie einen Füller aus dem Ärmel. „Name?“
„Ma...“, hob Malina an.
Abrupt unterbrach ihre Mutter sie: „Moment. Einen kleinen Moment bitte, ja?“ Sie schloss die Tür und machte ein entschlossenes Gesicht. „Hier werden gar keine Namen und Lieblingsfarben aufgeschrieben, Herr Purzelbaum!“
„Brazelborm“, verbesserte das Männchen ärgerlich. „Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, Zwerg zu mir zu sagen.
Ich komme schließlich nicht aus dem Märchenland, sondern aus Korknidien.“
„Wo liegt denn Korknidien?“, fragte Malina interessiert.
Pimpinellus Brazelborm kicherte. „Gleich morgen früh wirst du es sehen. Wenn dein Abenteuer beginnt.“
„Und was sind Sie dann, wenn Sie kein Zwerg sind?“, wollte Esther wissen.
„Ein Dönk.“ Er wandte sich wieder an Malina. „Sagst du mir jetzt bitte deinen Namen?“
„Ich heiße Ma...“
„Stopp!“, unterbrach Esther erneut. „Kein Name, kein Korknidien, kein Abenteuer! Ich kenne Sie und Ihren Verein überhaupt nicht.“
Der Dönk rollte die Augen. „Selbstverständlich kennen Sie mich und meinen Verein nicht. Wie sollten Sie auch als Erwachsene? Aber gut, ich werde es Ihnen erklären.“
Ohne zu fragen setzte er sich auf das Sofa und legte die Füße auf den kleinen Beistelltisch, direkt neben der Schüssel mit den Erdbeeren.
„Sind die etwa aus eurem Garten?“ Er kicherte. „Ganz schön mickrig, was? Die Erdbeeren in Korknidien sind dreimal so groß. Und sie werden nicht nur im Sommer geerntet. Nein, das ganze Jahr über können wir Erdbeeren essen. Auch Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren und Heidelbeeren. Hier, seht selbst.“ Pimpinellus Brazelborm nahm den Deckel von der Kanne und ließ die beiden hineinsehen.
Beim Anblick und Duft der Heidelbeeren lief Malina das Wasser im Mund zusammen.
„Nicht essen“, zischte Esther. Aber auch ihre Augen schauten mit großem Appetit in die Kanne.
„Ja, so tragen sie, unsere Beerensträucher in Korknidien“, erzählte Pimpinellus Brazelborm. „Eine Woche lang blühen sie, eine Woche lang reifen sie. Aber während an dem einen Zweig die Blüten stehen und am zweiten Zweig das Reifen beginnt, werden sie am dritten Zweig schon geerntet. Dann gibt es Kompott mit Milch und Schlagsahne, Eis und Sorbet, Kuchen und Torten, Saft und Marmelade. Und inmitten dieses wunderbaren Landes wartet dein Abenteuer, kleines Mädchen. Du wolltest doch ein Abenteuer erleben, nicht wahr?“
„Ja“, gab Malina eifrig zu. „Das wollte ich schon immer.
Aber Mama hat mir nie geholfen, eins zu finden. Sie hat mir immer nur viel Glück bei der Suche gewünscht.“ Vielsagend blickte sie zu ihrer Mutter.
Esther errötete ein wenig. „Was soll denn das für ein Abenteuer werden?“, brummte sie.
„Das darf ich verständlicherweise nicht verraten. Sonst ist es ja kein Abenteuer mehr“, entgegnete Pimpinellus Brazelborm. „Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass es Ihrem Kinde nicht schaden wird. Im Gegenteil, es wird ihm ganz außerordentlich wohltun.“
„Wie lange dauert das Abenteuer denn?“, fragte Malina.
„Auch das ist ein Geheimnis. Abenteuer dauern so lange, wie sie dauern müssen. Aber es geht gut aus, ganz bestimmt. Spätestens, wenn du Eins Fünfzig bist.“ Er zwinkerte.
„Eins Fünfzig?“
„Deine Körpergröße. Einen Meter und fünfzig Zentimeter.
Also, bist du dabei? Ich brauche nur deinen Namen und deine Lieblingsfarbe, dann verrate ich dir unseren Treffpunkt. Aber du musst es mir gleich sagen. Ich komme zu jedem Kind nur ein einziges Mal. Überhaupt wirst du nie wieder die Chance auf ein Abenteuer bekommen, wenn du jetzt nicht Ja sagst.“
Erneut schaute Malina zu ihrer Mutter. Esther machte ein sehr ernstes, beinahe wütendes Gesicht.
Der Dönk seufzte. „Ich verstehe. Die Erwachsenen. Es sind immer die Erwachsenen. Die besorgten Väter, die vorsichtigen Mütter. Ja, ja, ich weiß schon: bloß nicht mitspielen, bloß keinen Spaß haben. Und die Kinder müssen immer schön brav und artig sein und sich benehmen, dürfen niemals bockig sein oder widersprechen. Da ist kein Platz für Abenteuer, nicht wahr? Wer weiß, vielleicht fängt sogar bald die Schule an? Dann beginnt der große Ernst des Lebens und der schlimme, schwere und langweilige Alltag, mit dem man sich plagen muss. Lernen, Hausaufgaben machen und arbeiten, das ist ja alles so furchtbar wichtig! Erwachsen muss man werden, ja ja.“
„Jetzt übertreiben Sie mal nicht“, sagte Esther beleidigt.
Pimpinellus Brazelborm tat, als hörte er sie gar nicht.
„Weißt du, was das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist, kleines Mädchen? Dass die Erwachsenen vergessen haben, dass auch sie einmal Kinder waren. Dass sie auch einmal gern gespielt haben und dass sie vor allem Abenteuer erleben wollten. Doch leider, leider haben sie sich von ihren Eltern erziehen lassen. Sie wurden artig, haben fleißig ihre Hausaufgaben gemacht und sind selber erwachsen geworden. Ist das nicht schrecklich? Wie langweilig muss so ein Erwachsenenleben doch sein.“
„Das ist doch gar nicht wahr“, widersprach Esther.
Der Dönk ignorierte sie erneut und sah allein zu Malina, die ihm beeindruckt zuhörte. Fast war es, als ob er ihr direkt aus dem Herzen gesprochen hätte.
Er legte den Deckel zurück auf die Kanne und stand auf.
„Alles, was wir wollen, ist, den armen Kindern zu helfen.
Deswegen haben wir unseren Verein gegründet. Aber immer wieder sind es die Erwachsenen, die sich gegen uns stellen und Schwierigkeiten machen. Was kann ich da noch tun, wenn deine Mutter so bockig ist und dich nicht in ein Abenteuer ziehen lassen will? Nichts kann ich tun. Nichts als mich zu verabschieden und dir zu sagen, welch großes Mitleid ich mit dir habe, dass du eines Tages erwachsen sein wirst. Lebe wohl.“ Mit trübsinnigem Kopfschütteln lief der Dönk zur Tür.
„Nein, warte!“, rief Malina ihm hinterher.
Die Tür fiel ins Schloss.
„Bitte, bitte warte!“, rief Malina noch einmal und machte sie wieder auf.
Doch Pimpinellus Brazelborm war verschwunden.
Malina gehörte auf keinen Fall zu den Kindern, die bei dem kleinsten Anlass in Tränen ausbrachen. An diesem Abend weinte sie jedoch. Sie heulte aus Wut. So kurz hatte sie vor einem Abenteuer gestanden, einem wahren Abenteuer in einem Land, von dem sie noch nie zuvor gehört hatte, und nun war alles aus und vorbei. Esther wollte sie trösten, doch Malina ließ sie nicht an sich herankommen. Schließlich war ihre Mutter ja an allem schuld. Wenn sie nicht so ängstlich, ja, erwachsen sein würde, hätte sich Malina schon am nächsten Tag in ihr persönliches Abenteuer begeben können. Aber was erwartete sie stattdessen? Wieder nur das Haus und der Garten, Einsamkeit und Langeweile, weil ihre Mutter immer nur arbeitete und nie mit ihr spielte. Und übermorgen genau das gleiche.
Wie sehr hatte Pimpinellus Brazelborm doch Recht mit dem, was er über das Erwachsensein gesagt hatte: über die Schule, das Lernen und später die Arbeit. Bisher hatte sich Malina eigentlich auf die Schule gefreut. Weil sie dann Lesen, Schreiben und Rechnen lernen würde, obwohl sie von allem bereits ein wenig konnte. Schließlich wurde sie in weniger als einem Monat sieben Jahre alt.
Doch jetzt wollte Malina überhaupt nicht mehr groß und erwachsen und damit ernst und langweilig werden. Sie wollte ein Abenteuer erleben. Aber damit war es ja vorbei, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Malina war so wütend, dass sie nicht einschlafen konnte und immer noch wach war, als schon lange Dunkelheit herrschte. Sie hörte, wie ihre Mutter leise ins Zimmer kam, um ein letztes Mal nach ihr zu sehen, bevor sie selber ins Bett ging. Wie jeden Abend wollte sie ihrer schlafenden Tochter einen Kuss geben, doch dieses Mal drehte sich Malina von ihr weg.
„Lass mich in Ruhe“, brummte sie.
„Du schläfst ja noch gar nicht“, sagte Esther, aber es klang nicht wirklich so, als ob sie erstaunt wäre.
„Weil du gemein bist“, sagte Malina. „Und ungerecht. Ich will, dass du weggehst.“
„Du bist mir also immer noch böse wegen des komischen Zwergs?“
„Es war kein Zwerg, sondern ein Dönk. Aber so was verstehst du ja nicht, du … du Erwachsene, du!“
Esther seufzte. „Ja, ich Erwachsene. Es tut mir leid, Malina. Aber ich kann dich nicht einem Mann anvertrauen, den wir überhaupt nicht kennen. Niemals mit Fremden mitgehen, egal, welche tollen Versprechen sie dir auch machen. Das habe ich dir schon eingetrichtert, als du noch in meinem Bauch warst. Und du weißt ganz genau, warum.“ Sie ließ ihre Worte kurz wirken, bevor sie hinzufügte: „Ich habe im Internet nachgeschaut. Es gibt kein Korkenzieher-irgendwas-Land. Es gibt keine Dönks oder Dönke oder wie auch immer sie in der Mehrzahl heißen.
Dieser Mann führt nichts Gutes im Schilde.“
„Ja, ja!“, blaffte Malina. „Gute Nacht.“
Esther seufzte ein weiteres Mal. Ihr „Schlaf gut“ klang traurig. Sie verließ das Zimmer und schloss die Tür.
Malina mochte es nicht, wenn ihre Mutter traurig war.
Aber sie mochte es auch nicht, wenn sie ihr ständig irgendwelche Dinge verbot, nur weil sie Angst hatte, dass ihr dabei etwas zustoßen könnte. Denn Malina war viel schlauer und mutiger als die Erwachsenen ihr zutrauten.
Wenn sie ihr nur die Chance geben würden, es zu beweisen, dann würden sie ja sehen, was in ihr steckte. Aber nein, immer nur hatten sie Angst, Furcht und Sorge.
Malina weinte nun nicht mehr. Stattdessen schrie sie in ihr Kopfkissen, bis die Wut allmählich nachließ. Schließlich wurde sie müde und schloss die Augen.
In der Stadt hatte Malina beim Einschlafen Autos, Straßenbahnen, Radfahrer und Fußgänger gehört. Auf dem Land dagegen hörte sie den Wind rauschen, die Nachtigall singen und das Holz knarren. In den ersten Nächten waren diese Geräusche sehr neu, fast sogar ein wenig unheimlich gewesen. Aber schon nach kurzer Zeit wurden sie vertraut und sorgten dafür, dass Malinas Fantasie noch vielseitiger wurde.
Immer wieder stellte sie sich vor, dass sie und ihre Mutter nicht allein in diesem Haus wohnten. Wie es wäre, wenn noch andere Geschöpfe hier lebten. In den Ritzen zwischen den Wänden, hinter den alten Möbeln auf dem Dachboden und in den Holzkisten im Keller. Sicherlich kamen sie immer nur bei Dunkelheit heraus, in der Nacht, wenn Malina und ihre Mutter längst schliefen.
Dann machten sie sich auf die Suche nach wertvollen Gegenständen oder etwas Essbarem.
Malina malte sich aus, wie sie das Tapsen hörte, gleichmäßige Schritte auf den Holzdielen. Dann überlegte sie, wer solche Schritte wohl machte: Ein großer, schwerer Riese oder eher ein kleines flitzendes Geschöpf wie eine Maus oder eine Muckla aus Petterson und Findus? Was würde das Wesen als nächstes tun? Ein Geschenk bringen, etwas stehlen oder um Hilfe bitten? Wie sollte Malina mit dem heimlichen Besucher sprechen? Ganz vorsichtig und leise mit Wer bist du? oder laut und streng mit Ich weiß, dass du da bist. Komm sofort heraus!? Wenn Malina beim Erfinden solcher Geschichten einschlief, erzählten sie sich manchmal sogar noch im Traum weiter.
Leider konnte sie sich am nächsten Morgen nur selten daran erinnern.
Malina war schon fast eingeschlafen, da hörte sie eine Stimme. Das Seltsame war, dass sie sich dieses Mal gar kein Tapsen vorgestellt hatte und auch nicht, von wem die Schritte kamen. Die Stimme war einfach ganz plötzlich da. Sie sagte: „Aufgewacht! Das besorgte Mütterchen schläft endlich. Und wir wollen keine Zeit verlieren.“
Mit einem Schlag war Malina hellwach. Es war der Dönk, der die Worte sprach. Der sonderbare kleine Mann, der ihr vor wenigen Stunden ein Abenteuer versprochen hatte. Anstelle eines Kruges trug er nun eine Laterne in der Hand, die er mit einem alten Feuerzeug anzündete. Sie warf ein mattes, grünliches Licht ins Zimmer.
„Du bist zurückgekommen!“, rief Malina.
„Schhhh!“, zischte Pimpinellus Brazelborm. „Willst du, dass deine Mutter gleich wieder aufwacht?“
Malina schüttelte den Kopf. „Aber du hat doch gesagt, du kommst zu jedem Kind nur ein einziges Mal.“
Der Dönk grinste. „Ich kann jederzeit eine Ausnahme machen.“
„Heißt das etwa, dass du immer noch ein Abenteuer für mich hast?“
„Selbstverständlich“, antwortete Pimpinellus Brazelborm. „Was meinst du denn, wie so ein Abenteuer anfängt? Etwa mit einem Abschiedsküsschen von Mama und einem Rucksack mit Proviant, warmem Pullover und Regenjacke? Glaubst du, es hat jemals Eltern gegeben, die ihrem Kind erlaubt haben, mir in ein Abenteuer zu folgen? Nur ein einziges Mal wollte ein Vater seinen Sohn gehen lassen, aber nur, wenn er mitkommen dürfte. Pah!
Was für eine Vorstellung, in Korknidien Eltern herumspazieren zu sehen!“ Er schnaubte verächtlich.
„Und wann fängt mein Abenteuer an?“
„Sobald du mir deinen Namen und deine Lieblingsfarbe verraten hast.“ Wieder zog der Dönk seine Papierrolle samt Füller hervor.
„Malina“, sagte das Mädchen sofort. „Und meine Lieblingsfarbe ist rot.“
„Ausgezeichnet.“ Mit einem zufriedenen Lächeln schrieb Pimpinellus Brazelborm den Namen und die Farbe auf seine Rolle und steckte sie in seine Jacke.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Malina.
Der Dönk grinste. „Kannst du dir das nicht selber denken?“
„Vielleicht mich anziehen und ein paar Sachen für unterwegs packen?“
„Meinetwegen.“ Pimpinellus Brazelborm zuckte mit den Schultern. „Alles, was du für dein Abenteuer brauchst, bekommst du zwar auch in Korknidien, aber wenn du unbedingt noch dein Lieblingskuscheltier mitnehmen willst, bitteschön. Solange du dich beeilst und danach auf den Dachboden kommst.“
„Ja, ich beeile mich!“ Malina sprang aus dem Bett. „Aber ein Kuscheltier packe ich bestimmt nicht ein. Ich bin doch kein Baby.“
„Na dann bis gleich. Ich warte solange auf dem Dachboden.“ Pimpinellus Brazelborm hob die Hand zum Gruß und ging leise zur Tür hinaus.
Malina wechselte ihre Kleidung und zog über T-Shirt und kurze Hose noch ein langärmliges Shirt sowie eine längere Hose, was ihre Mutter Zwiebelprinzip nannte. Anschließend holte sie ihren Kindergartenrucksack aus dem Schrank. Er war nicht sonderlich groß, aber das Nötigste würde schon hineinpassen. Malina schlich hinunter in die Küche. Sie füllte ihre kleine Trinkflasche und packte zwei Äpfel und eine Packung Schokoladenkekse dazu, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie keine Süßigkeiten nehmen durfte ohne vorher zu fragen. Danach steckte sie eine Packung Streichhölzer in die Seitentasche, was ebenso verboten war, weil sie noch gar keine Kerzen anzünden durfte. Aber es konnte ja passieren, dass Malina bei ihrem Abenteuer in die Wildnis kommen würde und ein Feuer dann überlebenswichtig war. Und weil sie mit ihrer Mutter ohnehin schon Ärger bekommen würde, nahm sie gleich noch Esthers Taschenmesser mit. Aus dem Schrank im Badezimmer stibitzte Malina eine Packung Pflaster mit Monstermotiven sowie eine Packung Taschentücher. Eine kleine Taschenlampe und eine Regenjacke waren das letzte, was in den Rucksack passte. Mehr fiel Malina für den Moment nicht ein, was sie noch mitnehmen sollte. Mit Wanderschuhen an den Füßen schlich sie zurück in ihr Zimmer, was im Übrigen auch verboten war.
Wie es in Korknidien wohl aussehen mochte? Ob es dort noch mehr Dönke und daneben ganz andere Gestalten gab, die sie noch nie gesehen hatte? Welche Art von Abenteuer würde Malina dort erleben? Galt es, einen Schatz zu finden oder gegen ein Ungeheuer zu kämpfen?
Wie würden ihre Freunde heißen, die sie unterwegs traf und mit denen sie gemeinsam das Abenteuer bestand?
Malina war aufgeregt, neugierig und ein klein wenig ängstlich zugleich. Denn sicherlich würde es manchmal auch gefährlich werden.
Während des Packens hatte Malina beschlossen, ihrer Mutter einen kurzen Brief zu schreiben. Jim Knopf hatte Frau Waas ja auch einen Abschiedsbrief geschrieben – oder viel eher gemalt, da er gar nicht lesen und schreiben konnte. Malina dagegen kannte bereits die wichtigsten Buchstaben. Sie nahm aus ihrem Zeichenblock ein Blatt Papier, dachte kurz nach und notierte schließlich mit krakeliger Schrift:
LIBE MAMA
ICH ZIJE IN AIN ABENTOJA
DAINE MALINA
Unter die Zeilen malte sie sich selbst und den Dönk. Den Dachboden zeichnete sie jedoch nicht. Esther sollte ihr schließlich nicht folgen, wohin auch immer sie gehen würde.
Die Dielen der alten Holztreppe knarrten und Malinas Herz schlug schneller. Der Anblick der Dachbalken voller Spinnweben war nichts Neues. Ebenso der sperrige Kleiderschrank, das kaputte Bett, aus dem die rostigen, spiralförmigen Metallfedern heraus stachen, die verstaubten Stühle mit abgenutzten Polstern und die schwere Truhe aus Eichenholz waren ihr bekannt. Dazwischen befanden sich allerlei Kisten, Kartons und sonstiger Krimskrams. Auch ein altes Puppenhaus stand hier oben, aber für Puppen interessierte sich Malina nur, wenn sie gar keine andere Beschäftigung fand. In der Nacht wirkte alles vertraut und fremd, harmlos und unheimlich zugleich.
Pimpinellus Brazelborm erschien wie aus dem Nichts.
„Da bist du ja endlich“, sagte er.
„Kann es jetzt losgehen?“, fragte Malina.
„Sobald du den geheimen Eingang gefunden hast.“
„Den geheimen Eingang? Gibt es hier etwa eine versteckte Tür?“ Malina schaute sich um. „Vielleicht unter einer Bodenklappe?“
„Falsch geraten.“
Das Mädchen suchte weiter. „Geht es durch den Schrank?“
„Gute Idee. Gibt es aber schon in einer anderen Geschichte.“
„Dann vielleicht … durch die Truhe da hinten?“
Pimpinellus Brazelborm klatschte begeistert, jedoch sehr leise in die Hände. „Ausgezeichnet!“ Er ging auf die hölzerne Truhe zu, hob den Deckel an und schob die Kleidungsstücke, die darin lagen, zur Seite. Malina konnte beobachten, wie er einen kleinen Hebel betätigte, den sie von allein nie gefunden hätte. Anschließend hörte sie ein Klacken, worauf der Dönk ein Holzbrett zur Seite schob.
Ein Loch von gähnend schwarzer Tiefe kam zum Vorschein. „Licht, bitte!“, rief er hinein, worauf ein grün-gelbliches Schimmern die Sicht auf eine schmale hinabführende Steintreppe freigab. „Hier beginnt der Weg nach Korknidien“, sagte Pimpinellus Brazelborm feierlich.
„Geh du als Erste.“
Mit offenem Mund starrte Malina in die Tiefe. Sie fühlte, wie es in ihrem Bauch kribbelte. Angst hatte sie nicht.
„Jetzt geht es los“, flüsterte sie freudig und stieg Stufe für Stufe die Treppen hinab.
Es waren exakt zweiundneunzig Stufen, die nach unten führten. Sie endeten in einem Gang, der so hoch und breit war, dass auch ein Erwachsener darin hätte gehen können. An den Seiten hingen große schwarze Laternen mit grünem Glas, in denen dicke Kerzen brannten. Der Boden war aus festem, trockenen Stein. Leise hallten Malinas und Pimpinellus‘ Schritte durch die Dunkelheit. Das Mädchen war viel zu aufgeregt und neugierig um zu sprechen. Der Dönk dagegen summte leise und fröhlich vor sich hin. Die Melodie kam Malina bekannt vor. Es war ein Kinderlied, doch so sehr sie auch überlegte, wollte ihr der Text dazu einfach nicht einfallen.
Bald hatte Malina jedes Gefühl für Zeit verloren. „Wie weit ist es denn noch?“, fragte sie eine Viertelstunde vor Mitternacht.
„Tun dir etwa schon die Füße weh?“ Pimpinellus‘ Stimme klang vergnügt.
„Nein. Mir tun die Füße nicht weh“, sagte Malina ehrlich.
„Ich will bloß wissen, wann wir da sind.“
„Es ist nicht mehr weit.“
„Sind die anderen Kinder auch in so einem Gang nach Korknidien gekommen?“
„Du bist sehr neugierig“, fand Pimpinellus.
„Wie viele Kinder gibt es denn in deinem Verein? Welche Abenteuer haben sie erlebt?“
„Nur Geduld. Du wirst es schon erfahren.“
Malina sah ein, dass weiteres Fragen keinen Sinn hatte.
Wahrscheinlich gehörte die Geheimnistuerei einfach mit dazu. Nur machte es allmählich keinen Spaß mehr, durch den schnurgeradeaus führenden Gang zu laufen. Die Aufregung vom Anfang nahm immer stärker ab. Schließlich empfand Malina nur noch Langeweile und wurde müde.
Lustlos begann sie selbst ein paar Lieder zu singen, Alle Vögel sind schon da und Bunt sind alle meine Kleider, hörte aber bald wieder damit auf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit – tatsächlich war es nur eine knappe Stunde gewesen – nahm der Gang eine andere Form an. Der Boden wurde locker und erdig. Wurzeln durchdrangen die Wände. Anstelle von Kerzen schwirrten in den von Efeu umrankten Laternen nun Glühwürmchen. Holzbalken, an denen Spinnen ihre Netze gewebt hatten, stützten die Decke über ihnen. Auf dem Boden krabbelten Ameisen, Käfer und Asseln.
„Meine schöne Heimat“, seufzte der Dönk zufrieden. „Nur noch wenige hundert Meter, dann sind wir endlich in Korknidien. Stolpere nicht über die vielen Wurzeln.“
Weil sich der Gang verändert hatte, wurde Malina wieder etwas wacher und aufmerksamer. Ihre Beine waren jedoch schwer geworden, und da sie durch das schwache Leuchten der Glühwürmchen nur wenig sehen konnte, fiel sie zweimal hin. Ohne zu jammern stand sie wieder auf und lief weiter. Manche Wurzeln wuchsen so hoch, dass sie regelrecht darüber klettern musste. Sie machten den Weg abwechslungsreicher, aber auch schwieriger.
Malina gähnte. „Wo werde ich eigentlich schlafen?“
„In meiner Hütte. Ich habe das Bett ganz frisch für dich bezogen.“
Malina fiel ein, dass sie vergessen hatte, den Schlafanzug und die Zahnbürste einzupacken. Beides war ihr herzlich egal.
Mit einem Mal blieb der Dönk stehen und zeigte zur rechten Seite. Zwischen den Wurzeln war eine Holzleiter befestigt. Wie weit sie nach oben führte, konnte Malina nicht erkennen.
Pimpinellus trat auf die Sprossen. Malina folgte ihm. Bis zum Ziel waren es nur wenige Meter. Der Dönk drückte eine Holzklappe nach oben und verschwand durch die viereckige Öffnung. Gleich darauf schimmerte von oben ein warmes Licht in die Tiefe. Malina kletterte aus ihr empor und stand anschließend in einem kleinen Raum.
Er war mit einfachen Möbeln aus Holz ausgestattet, einem Tisch, zwei Stühlen, einem Bett und einem Schrank.
Außerdem gab es Flickenteppiche und an den beiden Fenstern über dem Bett zugezogene Vorhänge. In Korknidien schien also ebenfalls Nacht zu sein.
„Herzlich willkommen“, sagte der Dönk. „Hier kannst du noch ein paar Stündchen schlafen, bevor ich dich morgen früh wieder abhole und dir dein Abenteuer zeige.“
„Heißt das, du bleibst nicht hier? Ich soll ganz allein hier schlafen?“, fragte Malina.
„Natürlich. Ich habe schließlich noch zu tun. Oder willst du mir sagen, dass du Angst hast?“
„Ich habe keine Angst“, antwortete Malina und überlegte, ob das eine Lüge war. „Ich habe mich bloß ein bisschen gewundert.“
Pimpinellus Brazelborm grinste. „In fünf Minuten geht das Licht aus. Ich wünsche dir eine erholsame Nacht. Du wirst sie brauchen, wenn in wenigen Stunden dein Abenteuer beginnt. Iss gleich dein Frühstück, sobald du aufgewacht bist. Es gibt frische Beeren.“ Er lüftete seinen Hut, sodass für kurze Zeit seine grauen wolligen Haare zu sehen waren. Dann ging er zur Tür hinaus, die sich neben den beiden Fenstern befand.
Zunächst zögerte Malina, sich in das fremde Bett zu legen, obwohl es einladend und gemütlich aussah. Es war mit sauberer Bettwäsche bezogen und duftete angenehm. Doch weil sie von Laufen so erschöpft war, überwand sie sich schnell. Sie zog Pullover, Schuhe und Hose aus, legte sich auf die weiche Matratze und deckte sich zu. Malina glaubte, dass sie noch lange wachliegen und darüber nachdenken würde, was in den vergangenen Stunden alles geschehen war. Aber der Geruch, den das Kopfkissen und die Bettdecke verströmten, machte sie so schläfrig, dass sie gar nicht anders konnte als die Augen zu schließen. Es war angenehm warm und sie fühlte sich wohl und geborgen. Noch bevor das Licht ausging, war Malina tief und fest eingeschlafen. Sie merkte nicht, wie Pimpinellus an das Bett geschlichen kam und eine dünne Strähne von ihrem Haar abschnitt.
Als Malina am Vormittag aufwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer, zur Tür, zum Tisch und zu den Stühlen, zum Schrank, zu den bunten Flickenteppichen, den rotkarierten Vorhängen, durch die helles Tageslicht schimmerte, und zurück zum Tisch. Nun endlich erinnerte sich Malina wieder: an Pimpinellus Brazelborm, an das Treffen auf dem Dachboden und an den geheimen Gang.
Sie sprang aus dem Bett, zog sich an, lief zum Tisch und fühlte sofort, wie der Hunger in ihrem Bauch zog. Das Frühstück sah köstlich aus: Es gab Milch, Cornflakes und frisch gepflückte Himbeeren und Heidelbeeren. Sie waren genauso schön und groß wie die Beeren, die der Dönk am Tag zuvor in seinem Krug dabei gehabt hatte.
Malina setzte sich an den Tisch, schüttete Cornflakes in die Schüssel, tat einen Schwung Beeren dazu und goss Milch darüber. Dann nahm sie eine große saftige Himbeere und steckte sie auf den linken Daumen. Vier weitere Himbeeren verteilte sie auf die übrigen Finger der linken Hand. Bei der rechten Hand reichten sie nur noch für drei Finger.
Malina wollte soeben die erste Beere in den Mund stecken, da hörte sie, wie jemand rief: „Halt! Du darfst die Beeren nicht essen. Keine einzige von ihnen. Sonst bist du für immer verloren.“
Verwundert schaute sich Malina um. Die Stimme kam von oben. „Wo bist du?“, fragte das Mädchen. „Und wer bist du?“
„Ich bin hier.“
Malina traute ihren Augen nicht. Unter der Decke schwebte eine handgroße, gelb-braun-gestreifte Spinne.
Aber es war keine gewöhnliche Spinne, die sich an einem Seidenfaden abseilte. Diese Spinne hatte Flügel und segelte wie eine Schwalbe auf den Rand der gefüllten Schüssel herab. „Ein Glück, dass ich dich rechtzeitig warnen konnte. Du darfst niemals auch nur eine der Beeren essen, die hier in den Gärten von Korknidien wachsen.“
„Du kannst sprechen“, stieß Malina hervor. „Du bist eine Spinne, die sprechen kann.“
„Eine Vogelspinne, wenn ich bitten darf“, entgegnete das Tier beleidigt. „Siehst du nicht, dass ich fliegen kann?“
„Doch, das sehe ich. Aber bei uns haben Vogelspinnen keine Flügel. Sie heißen nur so. Und sie können auch nicht sprechen.“
„Aber ich kann sprechen. Und du solltest froh darüber sein. Sonst würdest du nämlich wie alle anderen Kinder in die Falle tappen und nie wieder herauskommen.“
„Was denn für eine Falle?“, fragte Malina. „Ich bin hier, um ein Abenteuer zu erleben.“
„Ein Abenteuer?“ Die Vogelspinne schnaubte. „Da steckst du schon mittendrin. Und wenn du nicht aufpasst, wird dieses Abenteuer bald schlimm für dich enden. So wie für alle anderen Kinder, die der elende Dönk hierher gelockt hat. Wenn ich an deinem Bett nicht plötzlich so müde geworden wäre, hätte ich dich schon in der Nacht gewarnt. Dieser Lump muss irgendeinen Zauber angewendet haben. Ich konnte gerade noch in mein Versteck fliegen, bevor ich selber eingeschlafen bin.“
„Wovon redest du? Herr Brazelborm hat gesagt, dass …“
„Pimpinellus ist ein Lügner. Und ein gemeiner Schuft obendrein. Du darfst ihm nicht trauen. Schütte dein Frühstück weg. Schütte es in den Gang, aus dem ihr in der Nacht gekommen seid. Und iss nur Cornflakes mit Milch. Bei den beiden Sachen passiert dir nichts.“
„Aber man darf keine Lebensmittel wegwerfen“, widersprach Malina.
„Aber diese Beeren sind Gift für dich. Also mach endlich, bevor Pimpinellus kommt und es zu spät ist!“
Von draußen hörte Malina ein Pfeifen. Es war die gleiche Melodie, die der Dönk bereits im unterirdischen Gang gesummt hatte, und an deren Text sie sich immer noch nicht erinnern konnte. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, sprang sie auf, öffnete die Bodenklappe und kippte ihr Frühstück, die Himbeeren, die immer noch an ihren Fingern steckten, und auch die übrigen Heidelbeeren hinab in die dunkle Tiefe. Malina konnte nicht einmal mehr das Aufplatschen hören, so schnell ließ sie die Klappe fallen. Kaum saß sie wieder am Tisch, trat auch schon Pimpinellus durch die quietschende Tür. Die Vogelspinne war nicht mehr zu sehen.
„Na, gut geschlafen?“
Malina nickte.
„Und wie ich sehe, schon fertig gefrühstückt.“ Der Dönk rieb sich zufrieden die Hände. „Keine einzige Beere ist mehr übrig. Dann solltest du ja jetzt wunderbar satt sein, nicht wahr? Hat es denn geschmeckt?“
„Ganz lecker“, log das Mädchen und gab sich alle Mühe, nicht an den leeren Bauch zu denken.
„Dann kann es ja losgehen. Auf in dein Abenteuer. Es beginnt in unseren schönen Gärten von Korknidien. Komm mit, ich will sie dir zeigen.“
Brav stand Malina auf und folgte Pimpinellus nach draußen. Vergebens hielt sie Ausschau nach der Vogelspinne.
Seit sich Malina erinnern konnte, hatte ihre Mutter Gärten geliebt. Bevor sie umgezogen waren, hatten sie in der Stadt einen Schrebergarten gepachtet. Kaum hatte ein neues Jahr begonnen, konnte Esther es nicht erwarten, bis der Frühling kam und sie wieder etwas anbauen konnte. Sie freute sich über jeden einzelnen Frühblüher, der seine Spitze aus der kalten Erde steckte. Spätestens im April standen alle Fensterbretter der kleinen Mietwohnung voller Tomatenpflänzchen. Manchmal hatte Malina das Gefühl, dass Pflanzen für ihre Mutter wie Babys und damit ihre eigenen Geschwister waren.
Weil der Garten nur zehn Minuten mit dem Fahrrad von der Wohnung entfernt lag, fuhren sie regelmäßig und meistens direkt nach dem Kindergarten dorthin. Manchmal hatte Malina keine Lust mitzukommen, aber am Ende fand sie immer eine Beschäftigung, die ihr gefiel.
Oft aßen sie und ihre Mutter gleich draußen auf der Terrasse Abendbrot.
Am Wochenende, wenn sie fast den ganzen Tag im Garten waren, kochte Esther auf der kleinen Herdplatte Nudeln mit Tomatensoße. Freunde von der Arbeit oder aus dem Kindergarten waren immer gern gesehene Gäste.
Aber dass Esther mit ihnen gemütlich Kaffee trank, Kuchen aß und plauderte, darauf warteten sie vergeblich.
Für Esther hieß Erholung nicht ausruhen und faulenzen, sondern ackern und schwitzen.
Spaziergänge und Wanderungen plante Esther absichtlich so, dass sie durch mindestens einen Gartenverein kamen, in dem sie über die Zäune blicken konnten. Es gab Tage, an denen Malina diese Ausflüge regelrecht hasste, weil ihre Mutter so oft stehen blieb, um sich andere Gärten anzusehen. Manchmal fand sie es aber auch witzig, wie Esther andere Gärten bewunderte, beneidete und am liebsten gleich noch dazu pachten wollte, am Ende aber immer wieder sagte, dass ihr Garten trotzdem der allerschönste sei. Lachen musste sie auch, wenn ihre Mutter mit einem Kopfschütteln über andere Gärten lästerte. Dann sagte sie Dinge wie: „Hier haben sie nach dem Unkrautjäten gleich nochmal mit der Zunge darüber geleckt.“ Oder: „Schau dir mal diese gruseligen Gartenzwerge an, Malina. Und dann auch noch angezogene Tiere. Das ist ja widerlich.“