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Schreckliche Gerüchte stören die Beschaulichkeit des Altenheims, in dem Tommy Beresfords Tante Ada lebt. Spätestens als eine der alten Damen spurlos verschwindet, glauben Tommy und Tuppence nicht mehr an bloße "Schauermärchen". Und tatsächlich sind die beiden bald einem lange gesuchten, eiskalten Mörder auf der Spur, was für Tuppence sehr gefährlich wird... Der dritte Fall für Tommy und Tuppence – "genial und fesselnd" (The Guardian)!
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Seitenzahl: 267
Agatha Christie
Lauter reizende alte Damen
Ein Fall für Tommy und Tuppence
Roman
Aus dem Englischen von Edda Janus
Atlantik
Mr und Mrs Beresford frühstückten. Zur gleichen Zeit saßen Hunderte ganz ähnliche ältere Ehepaare in England beim Frühstück. Auch der Tag war so normal wie jeder andere: Es sah aus, als regnete es gleich, aber man konnte nicht ganz sicher sein.
Mr Beresford war früher rothaarig gewesen. Seine Haare hatten jedoch, wie bei vielen Rothaarigen, im Laufe der Jahre ein rötliches Graublond angenommen. Mrs Beresford, die einstmals eine krausgelockte schwarze Mähne gehabt hatte, trug nun willkürlich angeordnete graue Strähnen zwischen dem Schwarz, was apart und hübsch aussah. Früher hatte sie einmal daran gedacht, sich die Haare zu färben, aber dann fand sie doch, dass sie sich so gefiel, wie die Natur es gewollt hatte.
Ein älteres Ehepaar saß beim Frühstück. Ein nettes, aber keineswegs ausgefallenes Ehepaar. Jeder Beobachter hätte das festgestellt. Wäre er jung gewesen, hätte er vielleicht noch hinzugefügt: »Ja, sehr nett, aber natürlich schrecklich langweilig. Wie alle alten Leute.«
Mr und Mrs Beresford allerdings hielten sich ganz und gar nicht für alt. Und sie ahnten auch nicht, dass sie und viele ihrer Altersgenossen als »schrecklich langweilig« abgetan wurden, nur weil sie nicht mehr jung waren. Natürlich sagten so etwas nur die Jungen. Die Beresfords hätten dazu nachsichtig festgestellt, dass junge Leute das Leben eben nicht kannten. Arme junge Leute! Ewig hatten sie mit den Examen oder ihrem Liebesleben Sorgen. Mr und Mrs Beresford hatten ihrer Meinung nach soeben erst den Höhepunkt des Lebens überschritten. Sie waren mit sich zufrieden, hatten einander sehr gern und verbrachten ihre Tage friedlich und angenehm.
Es gab natürlich Augenblicke … Aber bei wem gibt es die nicht? Mr Beresford öffnete einen Brief, überflog ihn und legte ihn auf den kleinen Stapel links neben sich. Er griff nach dem nächsten Brief, um ihn zu öffnen, aber dann behielt er ihn einfach in der Hand. Er sah nicht auf den Brief, sondern auf den Ständer mit Toast. Seine Frau betrachtete ihn eine Weile und fragte dann: »Was ist los, Tommy?«
»Was los ist?«, fragte Tommy vage. »Was ist los?«
»Das habe ich dich eben gefragt.«
»Gar nichts ist. Was sollte denn sein?«
»Du hast an etwas gedacht«, sagte Tuppence Beresford vorwurfsvoll.
»Ich glaube, ich habe gar nichts gedacht.«
»Doch. Du hast. Ist etwas passiert?«
»Aber nein. Was soll denn passiert sein?« Dann fügte er hinzu: »Ich habe die Rechnung vom Klempner.«
»Aha«, sagte Tuppence verständnisvoll, »sie ist höher, als du gedacht hast, nicht wahr?«
»Natürlich«, bestätigte Tommy. »Das ist sie immer.«
»Warum sind wir eigentlich nicht Klempner geworden? Wenn du der Chef wärst, könnte ich als dein Gehilfe gehen, und wir würden das Geld nur so scheffeln.«
»Ja, wenn wir das früher gewusst hätten!«
»War das eben die Klempnerrechnung, die du in der Hand hattest?«
»Nein. Das war nur mal wieder eine Aufforderung, Geld zu spenden.«
»Wofür? Schwer erziehbare Jugendliche oder Rassenintegration?«
»Nein. Für ein Altersheim.«
»Na, das finde ich schon vernünftiger«, sagte Tuppence, »aber ich verstehe nicht, warum du deshalb so ein besorgtes Gesicht machen musst.«
»Oh, an die Spende hab ich doch gar nicht gedacht.«
»An was hast du denn gedacht?«
»Dadurch bin ich wahrscheinlich drauf gekommen«, sagte Mr Beresford.
»Auf was? Stell dich nicht so an. Du erzählst es mir ja doch.«
»Ach, es war gar nicht wichtig. Ich hab nur an Tante Ada gedacht.«
»Ach so«, sagte Tuppence, der plötzlich alles klar wurde. »Ja«, fügte sie nachdenklich hinzu, »Tante Ada.«
Ihre Blicke begegneten sich. Leider gibt es heutzutage in fast jeder Familie ein Problem, das man »Tante Ada« nennen könnte. Die Namen unterscheiden sich, und statt Tanten könnten es Großmütter, ältere Kusinen oder Großtanten sein. Aber es gibt sie, und man muss sich mit ihnen befassen. Man muss nach einem geeigneten Heim suchen und es besichtigen. Man muss Empfehlungen von Ärzten einholen oder von Freunden, die eigene »Tanten Adas« haben, die »zufrieden und glücklich bis zu ihrem Tode« in »Haus Frieden« oder im »Wiesenheim« gelebt haben.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Tante Elizabeth und Tante Ada und alle anderen im eigenen Haus lebten und von treuen, manchmal tyrannischen alten Dienstboten betreut wurden. Die Tanten Adas von heute müssen versorgt werden, weil sie wegen Arthritis oder Rheuma möglicherweise die Treppe hinunterfallen könnten, wenn sie allein im Haus sind, weil sie an chronischer Bronchitis leiden, weil sie mit den Nachbarn Streit anfangen oder die Geschäftsleute beleidigen.
Tuppence Beresfords eigene Tante – Großtante Primrose – war eine solche Kämpfernatur gewesen. Nichts passte ihr. Kaum war sie in ein Heim eingezogen, das älteren Damen einen angenehmen und komfortablen Aufenthalt versprach, und hatte der Nichte einige lobende Briefe über diese Institution geschrieben, kam schon die Nachricht, dass sie Knall und Fall abgereist sei. »Unmöglich! Nicht eine Minute länger hätte ich es ausgehalten!«
Innerhalb eines Jahres hatte Tante Primrose elf Heime bezogen und wieder verlassen; dann schrieb sie, dass sie einen reizenden jungen Mann kennengelernt hätte. »Er ist wirklich ein sehr anhänglicher Junge. Er hat schon als Kind die Mutter verloren und braucht jemand, der sich um ihn kümmert. Ich habe eine Wohnung gemietet. Er wird zu mir ziehen. Das ist für uns beide die ideale Lösung. Es ist eine echte Wahlverwandtschaft. Liebe Prudence, du brauchst dir um mich keine Sorgen mehr zu machen. Morgen gehe ich zu meinem Anwalt, da ich ja für Mervyn Vorsorge treffen muss, falls ich, womit natürlich normalerweise zu rechnen ist, vor ihm das Zeitliche segne. Allerdings muss ich dir sagen, dass ich mich noch nie so wohlgefühlt habe.«
Tuppence war damals sofort nach Aberdeen gereist. Aber die Polizei war ihr bereits zuvorgekommen und hatte den prachtvollen Mervyn entfernt, der schon lange gesucht wurde, weil er sich unter falschen Vorwänden Geld erschwindelt hatte. Tante Primrose war wütend und redete von Polizeistaat. Als sie aber zur Gerichtsverhandlung musste – wo fünfundzwanzig ältere Freundinnen von Mervyn auftraten –, änderte sie notgedrungen ihre Meinung über ihren Schützling.
»Ich glaube, Tuppence, ich sollte Tante Ada besuchen«, sagte Tommy. »Ich war lange nicht bei ihr.«
»Ja«, sagte Tuppence nicht sehr begeistert. »Wie lange ist es her?«
Tommy überlegte. »Fast ein Jahr.«
»Länger. Ich glaube, es war vor über einem Jahr.«
»Mein Gott!« Tommy seufzte. »Die Zeit vergeht zu schnell. Schrecklich, wie man alles vergisst. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen.«
»Das brauchst du nicht«, sagte Tuppence. »Wir schicken ihr Päckchen und schreiben Briefe.«
»Ja, schon. Du bist immer so zuverlässig, Tuppence, aber trotzdem: Manchmal liest man Schreckliches über solche Heime.«
»Ach, du denkst an das scheußliche Buch aus der Bibliothek, in dem die armen alten Frauen so gelitten haben.«
»Es soll sich um einen tatsächlichen Vorfall handeln.«
»Ja. Vielleicht gibt es wirklich solche Häuser. Und es gibt immer Menschen, die unglücklich sind, weil sie gar nicht anders können. Aber was sollten wir denn sonst tun, Tommy?«
»Nichts. Man kann nur so vorsichtig wie möglich sein. Man muss sich das Haus genau ansehen, sich genau erkundigen und dafür sorgen, dass ein guter Arzt da ist.«
»Aber einen besseren Arzt als Dr Murray kann sie gar nicht haben.«
»Ja.« Tommys besorgtes Gesicht hellte sich wieder auf. »Murray ist wirklich ausgezeichnet. Er ist freundlich und geduldig. Und wenn etwas wäre, hätte er uns sofort benachrichtigt.«
»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen«, sagte Tuppence. »Wie alt ist sie jetzt eigentlich?«
»Zweiundachtzig, nein, dreiundachtzig. Es muss doch schrecklich sein, wenn man alle anderen überlebt.«
»Deine Tante Ada findet das nicht schrecklich. Weißt du nicht mehr, mit welchem Genuss sie alle Freunde aufgezählt hat, die schon gestorben sind? Am Ende sagte sie: ›Und Amy Morgan soll höchstens noch ein halbes Jahr haben. Dabei hat sie immer gesagt, ich sei so zart. Und jetzt ist es beinahe sicher, dass ich sie überleben werde.‹ Triumphiert hat sie!«
»Na ja …«
»Ich weiß«, sagte Tuppence. »Du hast das Gefühl, dass es deine Pflicht ist. Deshalb solltest du auch zu ihr fahren. Und ich komme mit.« Ihre Stimme bekam einen heroischen Tonfall.
»Nein«, wehrte Tommy ab. »Warum solltest du das? Sie ist nicht deine Tante. Nein, ich fahre allein.«
»Und ich komme doch mit. Ich leide mit dir. Lass uns zusammen leiden. Dir macht es keinen Spaß; mir macht es keinen Spaß; und ich glaube nicht einen Augenblick, dass es Tante Ada Spaß machen wird. Aber was sein muss, muss sein.«
»Erinnere dich doch nur, wie ekelhaft sie beim letzten Mal zu dir war.«
»Ach, das hat mir nichts ausgemacht«, erklärte Tuppence. »Das war wahrscheinlich das Einzige an dem ganzen Besuch, was dem guten Tantchen Freude gemacht hat. Ich nehme ihr das kein bisschen übel.«
»Du bist immer nett zu ihr gewesen«, sagte Tommy, »obwohl du sie nicht besonders magst.«
»Tante Ada kann man nicht mögen«, stellte Tuppence fest. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand sie je gemocht hat.«
»Ach, ich komme einfach nicht gegen das Mitleid an, das ich mit alten Leuten habe.«
»Ich schon«, sagte Tuppence. »Ich meine, wenn jemand nett ist, tut es mir leid, wenn er alt und krank wird. Aber wenn du schon mit zwanzig biestig bist und mit vierzig auch noch, und mit sechzig bist du noch viel biestiger, und mit achtzig bist du ein ausgekochter alter Teufel – dann weiß ich wirklich nicht, warum ich mit dir Mitleid haben sollte.«
»Ja, schon gut«, sagte Tommy. »Sei ruhig realistisch. Aber wenn du auch noch edel sein und mitkommen willst …«
»Ich will. Schließlich habe ich dich geheiratet, um Freud und Leid mit dir zu teilen. Tante Ada fällt unter Leid. Ich werde ihr Hand in Hand mit dir entgegentreten. Wir bringen ihr einen Blumenstrauß und weiche Pralinen und ein paar Zeitschriften mit. Und du schreibst am besten dieser Miss Sowieso eine Karte und kündigst uns an.«
»Nächste Woche? Wie wäre es mit Dienstag?«
»Also Dienstag. Wie heißt die Frau nur? Ich komme nicht auf den Namen – die Domina oder Leiterin oder wie sie sich nennt. Der Name fängt mit P an.«
»Miss Packard.«
»Ja.«
»Vielleicht wird es diesmal anders«, sagte Tommy.
»Anders? Wie anders?«
»Keine Ahnung. Vielleicht passiert was Interessantes.«
»Unser Zug könnte verunglücken«, schlug Tuppence schon etwas fröhlicher vor.
»Warum, um alles in der Welt, willst du bei einem Zugunglück dabei sein?«
»Natürlich will ich das nicht im Ernst. Es war nur …«
»Was?«
»Na, das wäre ein Abenteuer, nicht? Vielleicht könnten wir Leute retten und etwas Nützliches tun. Auf jeden Fall wäre es aufregend.«
»Was für herrliche Aussichten!« rief Tommy.
»Ja, ich weiß«, gab Tuppence zu. »Aber so etwas denke ich mir eben manchmal aus.«
Wie Haus Sonnenhügel zu seinem Namen gekommen war, ließ sich nicht erklären. Es gab keinen Hügel; das Haus lag flach im Gelände, was für seine ältlichen Bewohner auch sehr viel günstiger war. Es hatte einen weitläufigen, aber nicht besonders schönen Garten. Das Gebäude, das aus der Viktorianischen Zeit stammte, war groß und gut instand gehalten. Im Garten standen an sonnigen Plätzen ein paar Gartenstühle und Bänke. Es gab auch eine überdachte Veranda, auf der die alten Damen vor dem Ostwind geschützt waren.
Tommy klingelte an der Haustür. Eine junge Frau in einem Nylonkittel öffnete. Sie sah erhitzt aus, brachte Tommy und Tuppence in ein kleines Aufenthaltszimmer und sagte atemlos: »Ich sag’s Miss Packard. Sie erwartet Sie und wird gleich herunterkommen. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn Sie einen Moment warten müssen? Aber die alte Mrs Carraway hat schon wieder ihren Fingerhut verschluckt.«
»Du lieber Himmel, wie bringt man denn das fertig?«, fragte Tuppence verblüfft.
»Das macht sie mit Absicht«, erklärte das Hausmädchen.
»Ziemlich oft sogar.«
Sie ließ die Besucher allein. Tuppence setzte sich und sagte nachdenklich: »Also ich möchte keinen Fingerhut schlucken. Der muss einem doch im Hals stecken bleiben.«
Sie brauchten nicht lange zu warten, denn bald kam Miss Packard herein und entschuldigte sich. Sie war eine große Frau mit hellbraunem Haar, um die fünfzig, und sie strahlte die ruhige Sicherheit aus, die Tommy so bewundernswert fand.
»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten, Mr Beresford. Guten Tag, Mrs Beresford. Ich freue mich sehr, dass Sie mitgekommen sind.«
»Eine der Damen hat etwas verschluckt. Wir wissen es schon«, sagte Tommy.
»Ach, hat Ihnen Marlene das erzählt? Ja, die alte Mrs Carraway. Sie verschluckt ständig etwas. Das ist ein bisschen lästig, wissen Sie. Man kann sie ja nicht immer bewachen. Kinder tun das natürlich auch, aber bei einer alten Frau kommt es einem doch komisch vor. Sie hat es sich angewöhnt, und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Wenigstens hat es ihr bisher noch nie geschadet, das ist schon ein Lichtblick.«
»Vielleicht war ihr Vater ein Schwertschlucker«, sagte Tuppence.
»Ein sehr interessanter Gedanke, Mrs Beresford. Das könnte manches erklären. – Ich habe Miss Fanshawe gesagt, dass Sie kommen, Mr Beresford, aber ich bin nicht ganz sicher, ob sie es begriffen hat.«
»Wie geht es ihr denn in letzter Zeit?«
»Ach, geistig lässt sie leider sehr nach.« Miss Packards Stimme wurde mitfühlend. »Man weiß nie, was sie erfasst und was nicht. Ich habe ihr gestern Abend erzählt, dass Sie kommen, und da hat sie gesagt, das könnte nicht sein, denn jetzt seien keine Schulferien. Sie scheint zu glauben, dass Sie noch im Internat sind. Die armen alten Damen kommen oft mit der Zeit nicht mehr zurecht. Und als ich sie heute Morgen wieder an Ihren Besuch erinnerte, sagte sie, Sie könnten unmöglich kommen, denn Sie seien tot. Na ja«, fuhr Miss Packard heiter fort, »wenn sie Sie sieht, wird sie sich schon erinnern.«
»Und wie steht es mit ihrer Gesundheit?«
»Ach, eigentlich nicht schlecht. Aber, um es offen zu sagen, ich fürchte, es wird nicht mehr allzu lange dauern. Sie hat nichts Bestimmtes, aber ihr Herz wird nicht gerade besser. Es ist sogar schlechter geworden. Ich möchte Ihnen das nur sagen, damit Sie vorbereitet sind, wenn es mal plötzlich zu Ende geht.«
»Wir haben ihr Blumen mitgebracht«, sagte Tuppence.
»Und Pralinen«, fügte Tommy hinzu.
»Das ist sehr nett. Darüber wird sie sich bestimmt freuen. Wollen wir jetzt zu ihr gehen?«
Tommy und Tuppence folgten Miss Packard die breite Treppe hinauf. Als sie im oberen Flur waren, öffnete sich plötzlich eine Tür, und eine alte, sehr kleine Dame kam heraus und rief laut und schrill: »Ich will Kakao! Ich will Kakao! Wo ist Schwester Jane? Ich will meinen Kakao!«
Eine Frau in Schwesterntracht machte die Nebentür auf und sagte: »Es ist doch alles in Ordnung. Sie haben den Kakao schon vor einer Viertelstunde bekommen.«
»Nein, Schwester, das hab ich nicht. Das ist nicht wahr. Ich hab keinen Kakao bekommen, und ich bin jetzt durstig.«
»Gut, dann bringe ich Ihnen noch eine Tasse.«
»Wie kann ich noch eine Tasse bekommen, wenn ich noch gar keine gehabt habe?«
Sie gingen weiter. Miss Packard klopfte am Ende des Flurs an eine Tür, öffnete sie und trat ein. »So, Miss Fanshawe«, rief sie fröhlich, »da ist Ihr Neffe.«
Eine alte Dame setzte sich in dem Bett am Fenster mit einem Ruck auf und lehnte sich gegen die aufgestapelten Kissen. Sie hatte stahlgraues Haar und ein mageres, faltiges Gesicht mit einer großen, scharfen Nase. Sie sah sehr missvergnügt aus. Tommy näherte sich ihr.
»Guten Tag, Tante Ada. Wie geht es dir?«
Tante Ada strafte ihn mit Missachtung und wandte sich zornig an Miss Packard. »Wie kommen Sie dazu, einen Herrn in das Schlafzimmer einer Dame zu führen? Zu meiner Zeit war so etwas nicht üblich. Und dann behaupten Sie auch noch, es wäre mein Neffe! Wer ist das? Ein Klempner oder ein Elektriker?«
»Aber, aber, das ist ja nicht gerade sehr freundlich«, stellte Miss Packard milde fest.
»Ich bin dein Neffe Thomas Beresford«, sagte Tommy. Er streckte die Pralinéschachtel hin. »Ich hab dir Schokolade mitgebracht.«
»Als ob ich darauf hereinfiele!«, höhnte Tante Ada. »Mir machen Sie nichts vor. Sagen Sie, was Sie wollen. – Wer ist die Frau da?« Sie beäugte Tuppence abfällig.
»Ich bin Prudence. Deine Nichte Prudence.«
»Was für ein alberner Name! So heißen Hausmädchen. Mein Großonkel Matthew hatte ein Hausmädchen, das Trostreich hieß. Und die Küchenhilfe hieß Gottes-Lob-und-Preis. Sie war Methodistin. Aber meine Großtante Fanny hat damit Schluss gemacht. Sie hat gesagt, solange sie in ihrem Haus wäre, hieße sie Rebecca, und damit hätte es sich.«
»Ich habe dir Rosen mitgebracht«, sagte Tuppence.
»Ich halte nichts von Blumen in einem Krankenzimmer. Sie verbrauchen den ganzen Sauerstoff.«
»Ich stelle sie in eine Vase«, erbot sich Miss Packard.
»Das werden Sie nicht tun! Sie könnten mittlerweile wissen, dass ich selber weiß, was ich will.«
»Du scheinst ja in Hochform zu sein, Tante Ada«, sagte Tommy.
»Mit dir nehme ich es noch lange auf. Wieso behauptest du, mein Neffe zu sein? Was hast du noch gesagt, wie du heißt? Thomas?«
»Ja. Thomas oder Tommy.«
»Von dir hab ich noch nie gehört«, behauptete Tante Ada. »Ich hatte nur einen Neffen, und der hieß William. Der ist im letzten Krieg gefallen. Das war gut so. Aus dem wäre sowieso nichts geworden. Und jetzt bin ich müde.« Tante Ada sank auf die Kissen zurück und sah Miss Packard an. »Bringen Sie sie raus. Sie sollen keine fremden Leute in mein Zimmer lassen.«
»Ich dachte, dass Sie sich über Besuch freuen würden.« Miss Packard blieb unverändert freundlich.
Tante Ada lachte, tief, kurz und böse.
»Na schön«, sagte Tuppence freundlich. »Wir gehen. Ich lasse dir die Rosen da. Vielleicht gefallen sie dir doch. – Komm, Tommy.« Sie schritt zur Tür.
»Ja, dann auf Wiedersehen, Tante Ada. Es tut mir leid, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst.«
Tante Ada blieb stumm, bis Tuppence mit Miss Packard ihren Blicken entschwunden war und Tommy ihr folgen wollte.
»Du da, komm zurück!« Sie hob die Stimme. »Ich kenne dich genau. Du bist Thomas. Früher warst du rothaarig. Karottenrot. Komm zurück. Mit dir will ich sprechen. Nicht mit der Frau. Blödsinn, zu behaupten, sie sei deine Frau. Setz dich hier in den Stuhl und erzähle mir, wie es deiner lieben Mutter geht. – Und Sie verschwinden!«, rief sie Tuppence zu, die zögernd auf der Schwelle stehen geblieben war. Tuppence zog sich schleunigst zurück.
»Na, heute ist es aber schlimm mit ihr.« Miss Packard ging gleichmütig neben Tuppence die Treppe hinunter. »Dabei kann sie manchmal ganz reizend sein. Aber das werden Sie mir kaum glauben.«
Tommy setzte sich auf den angewiesenen Stuhl und sagte freundlich, dass er ihr nicht viel Neues von seiner Mutter berichten könne, da sie seit fast vierzig Jahren tot sei. Tante Ada ließ sich durch diese Tatsache nicht stören.
»Ist das schon so lange her?«, fragte sie. »Wie die Zeit vergeht.« Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Warum heiratest du nicht? Du brauchst eine Frau, die sich um dich kümmert. Du bist auch nicht mehr der Jüngste. Dann müsstest du auch nicht solche Frauenzimmer aushalten und so tun, als wärst du mit ihnen verheiratet.«
»Beim nächsten Besuch muss Tuppence dir unsere Heiratsurkunde mitbringen«, sagte Tommy.
»So, du hast ihr also deinen guten Namen gegeben?«
»Wir sind seit mehr als dreißig Jahren verheiratet, Tante Ada. Wir haben einen Sohn und eine Tochter, die beide auch schon verheiratet sind.«
Tante Ada wich geschickt aus. »Mir sagt eben keiner was. Wenn du mich auf dem Laufenden gehalten hättest, wie es sich gehört …«
Tommy gab klein bei. »Entschuldige bitte, Tante Ada«, sagte er. »Mit der Zeit lässt eben das Erinnerungsvermögen nach. Und nicht jeder« – er wurde nicht einmal rot dabei – »hat so ein fabelhaftes Gedächtnis wie du.«
Tante Ada strahlte. Sie strahlte schadenfroh. »Da hast du recht. Es tut mir leid, dass ich dich nicht so ganz freundlich empfangen habe, aber ich mag es eben nicht, wenn man sich mir aufdrängt. Und in diesem Haus hier lassen sie einfach jeden herein. Jeden, der kommt. Wenn ich alles glaubte, was diese Leute von sich behaupten, dann würde ich ausgeraubt und in meinem Bett ermordet.«
»Das halte ich aber doch für sehr unwahrscheinlich.«
»Sag das nicht!«, rief Tante Ada. »Wenn man nur die Zeitung liest! Und was einem so erzählt wird! Nicht dass ich das alles glaube. Ich bin auf der Hut. Kannst du dir vorstellen, dass sie neulich einen fremden Mann hereingeführt haben – ich habe ihn nie im Leben gesehen. Er nannte sich Dr Williams. Er behauptete, Dr Murray sei auf Urlaub und er sei sein Vertreter. Und woher sollte ich wissen, ob er es wirklich war? Er hat es einfach behauptet!«
»Und war er es?«, fragte Tommy.
»Na ja«, räumte Tante Ada ärgerlich ein, »er war’s. Aber woher soll man das wissen? Ich will darauf hinaus, dass hier einfach jeder hereinkommen und behaupten kann, ein Arzt zu sein. Sämtliche Schwestern fangen dann sofort zu strahlen an und sagen: ›Ja, Herr Doktor‹ und ›Natürlich, Herr Doktor!‹ Und wenn die Patientin erklärt, dass sie den Mann nicht kennt, dann sagen diese dummen Gänse, sie sei alt und vergesslich. Ich vergesse nie ein Gesicht!« Tante Ada wurde streng. »Ich habe noch nie ein Gesicht vergessen. Wie geht es deiner Tante Caroline? Ich habe lange nichts von ihr gehört.«
Tommy musste schuldbewusst gestehen, dass auch Tante Caroline seit fünfzehn Jahren tot war. Tante Ada nahm den Todesfall ohne Bedauern zur Kenntnis.
»Sie scheinen alle zu sterben«, sagte sie voller Genugtuung. »Sie halten nichts aus. Schwache Herzen, Koronarthrombosen, hoher Blutdruck, chronische Bronchitis und so weiter. Sie sind alle schwächlich. Davon leben die Ärzte. Sie geben ihnen literweise Medizin und pfundweise Tabletten, gelbe, rosa, grüne und sogar schwarze! Brr! Zur Zeit meiner Großmutter nahm man Schwefel und Melasse. Ich wette, das hat genauso gut geholfen. Wenn man die Wahl hatte, gesund zu werden oder Schwefel und Melasse trinken zu müssen, dann wurde man lieber gesund.« Sie nickte zufrieden. »Ärzten kann man eben nicht über den Weg trauen. Jedenfalls nicht, wenn es um neue Mittel geht … Hier soll es sehr viele Vergiftungen geben, habe ich gehört. Sie brauchen Herzen für die Chirurgen, heißt es. Ich glaube ja nicht, dass das wahr ist. Miss Packard würde das bestimmt nicht zulassen …«
Im Parterre deutete Miss Packard auf ein Zimmer und sagte entschuldigend: »Das alles tut mir sehr leid, Mrs Beresford, aber Sie wissen ja sicher, wie es mit alten Menschen ist. Sie haben Vorlieben und Abneigungen, von denen man sie nicht abbringen kann …«
»Ich kann mir vorstellen, wie schwer es ist, so ein Heim zu leiten«, sagte Tuppence.
»Ach, es geht schon. Mir macht es sogar Freude. Wissen Sie, ich habe meine alten Damen alle sehr gern. Wenn man sich immer um sie kümmert, wachsen sie einem ans Herz. Ich meine, sie haben ihre kleinen Eigenheiten, aber wenn man sie genau kennt, ist es gar nicht so schwer, mit ihnen auszukommen.«
Tuppence dachte, dass Miss Packard für ihren Beruf geboren sein musste.
»Eigentlich sind sie wie Kinder«, fuhr Miss Packard fort. »Nur sind Kinder viel logischer und darum schwieriger. Die alten Leute sind unlogisch. Sie wollen, dass man ihnen das sagt, was sie selbst gern glauben möchten. Und wenn man das tut, sind sie ganz zufrieden. Und ich habe Glück mit meinen Schwestern. Sie sind geduldig, gutmütig und nicht zu klug. Wenn die Schwestern zu klug sind, werden sie leicht ungeduldig. – Ja, Miss Donovan, was gibt es?« Sie wandte sich einer jungen Frau zu, die die Treppe heruntergerannt kam.
»Schon wieder Mrs Lockett, Miss Packard. Sie behauptet, im Sterben zu liegen; und verlangt einen Arzt.«
»Ach«, sagte Miss Packard unbeeindruckt, »und woran stirbt sie diesmal?«
»Sie meint, gestern seien Giftpilze im Ragout gewesen.«
»Das ist neu«, sagte Miss Packard. »Da muss ich wohl doch mit ihr reden. Entschuldigen Sie, Mrs Beresford. Im Zimmer liegen Zeitungen und Zeitschriften.«
»Oh, machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
Tuppence betrat das Zimmer, das ihr gezeigt worden war. Es war ein heller Raum, dessen Terrassentüren in den Garten führten.
Im Augenblick saß hier nur eine weißhaarige alte Dame. Sie trug die Haare zurückgekämmt und hielt ein Glas Milch in der Hand. Sie hatte ein zartes Gesicht und lächelte Tuppence freundlich an. »Guten Morgen«, sagte sie. »Werden Sie hier wohnen, oder kommen Sie nur zu Besuch?«
»Ich bin zu Besuch hier«, erklärte Tuppence. »Bei einer Tante. Mein Mann ist gerade bei ihr. Wir wollten uns abwechseln, damit es sie nicht so anstrengt.«
»Wie rücksichtsvoll von Ihnen.« Die alte Dame trank prüfend einen Schluck Milch. »Ob sie … nein, ich glaube, sie ist gut. Möchten Sie etwas trinken? Tee oder Kaffee? Ich will für Sie klingeln. Die Leute hier sind sehr entgegenkommend.«
»Oh, danke«, sagte Tuppence. »Ich möchte wirklich nichts.«
»Oder ein Glas Milch? Sie ist heute nicht vergiftet.«
»Nein, wirklich nicht. Wir bleiben nicht mehr lange.«
»Nun, wenn Sie nicht mögen – aber es macht gar keine Mühe. Hier kann man alles bekommen, es sei denn, man verlangt etwas ganz Unmögliches.«
»Ich fürchte, dass unsere Tante gelegentlich doch ein bisschen viel verlangt«, gestand Tuppence. »Es ist Miss Fanshawe.«
»Ach, Miss Fanshawe«, sagte die alte Dame. »Ach so.«
Sie schien nichts weiter bemerken zu wollen, aber Tuppence fuhr freimütig fort: »Ich glaube, sie ist ein ziemlicher Drachen. Sie war schon immer ein Drachen.«
»Ja, das mag stimmen. Ich hatte auch eine Tante, die ihr sehr ähnlich war, vor allem, als sie älter wurde. Aber wir hier haben Miss Fanshawe sehr gern. Wenn sie will, kann sie ungewöhnlich amüsant sein. Wie sie zum Beispiel über Menschen spricht!«
»Ja, da haben Sie recht«, gab Tuppence zu. Sie betrachtete Tante Ada einen Augenblick in diesem neuen Licht.
»Bissig«, sagte die alte Dame. »Übrigens heiße ich Lancaster, Mrs Lancaster.«
»Ich bin Mrs Beresford.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ein bisschen Boshaftigkeit kann manchmal sehr reizvoll sein. Und wie sie die anderen Gäste beschreibt! Und was sie über sie sagt! Ich weiß, man sollte nicht darüber lachen, aber man tut es eben doch.«
»Leben Sie schon lange hier?«
»Oh, schon eine ganze Weile. Ja, warten Sie, sieben Jahre, acht? Ja, schon mehr als acht Jahre.« Sie seufzte. »Man verliert allen Kontakt. Die einzigen Verwandten, die ich noch habe, leben im Ausland.«
»Wie traurig für Sie.«
»Ach, es ist nicht so schlimm. Ich hatte keine enge Bindung an sie, ich hab sie nicht einmal gut gekannt. Ich war krank – sehr krank sogar –, und ich war ganz allein. Sie hielten es für das Beste, mich in einem Heim unterzubringen. Und ich hatte Glück. Hier sind alle so freundlich und rücksichtsvoll. Und der Garten ist so besonders schön. Ich weiß selbst, dass es nicht gut für mich ist, allein zu leben. Ich bin manchmal recht verwirrt, wissen Sie.« Sie tippte sich an die Stirn. »Ich bringe alles durcheinander und erinnere mich nicht mehr richtig an das, was gewesen ist.«
»Das tut mir leid«, sagte Tuppence. »Aber irgendetwas muss wohl jeder Mensch haben, nicht wahr?«
»Ja, und manche Krankheiten sind so schmerzhaft. Deshalb meine ich, dass es nicht so schlimm ist, wenn man ab und zu ein wenig wirr ist. Auf jeden Fall tut das nicht weh.«
»Nein, da haben Sie recht.«
Ein Mädchen in einem weißen Kittel kam mit Kaffee und Plätzchen herein. Sie stellte das Tablett neben Tuppence ab. »Miss Packard dachte, dass Sie sicher gern eine Tasse Kaffee trinken möchten.«
»Oh, vielen Dank«, sagte Tuppence.
Das Mädchen ging wieder hinaus, und Mrs Lancaster sagte: »Na, sehen Sie nun, wie aufmerksam man hier ist?«
»Ja, wirklich.«
Tuppence schenkte sich Kaffee ein. Die beiden Frauen schwiegen eine Weile. Tuppence bot die Plätzchen an, aber Mrs Lancaster schüttelte den Kopf. »Nein, danke, meine Liebe. Ich trinke nur die Milch.« Sie stellte das leere Glas auf den Tisch und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Tuppence dachte, dass dies vielleicht die Zeit für ihr kleines Morgenschläfchen sei, und schwieg. Mrs Lancaster schüttelte aber plötzlich die Müdigkeit ab. Sie öffnete die Augen, blickte Tuppence an und sagte: »Ich sehe, dass Sie den Kamin betrachten.«
»Ach, hab ich das?«, fragte Tuppence etwas verwundert.
»Ja. Ich hab schon überlegt …« Sie beugte sich vor und fragte leise: »Entschuldigen Sie, aber war es Ihr armes Kind?«
Tuppence zögerte konsterniert. »Ich – nein, ich glaube nicht.«
»Ich dachte nur, dass Sie vielleicht aus diesem Grund gekommen sind. Jemand müsste nämlich kommen. Vielleicht kommen sie auch noch. Nur, weil Sie den Kamin so angesehen haben … Da ist es nämlich. Hinter der Kaminplatte.«
»Ach«, stotterte Tuppence. »Ach so. Da?«
»Immer zur selben Zeit«, flüsterte Mrs Lancaster. Sie richtete den Blick auf die Kaminuhr. Tuppence tat es ebenfalls. »Zehn nach elf«, sagte die alte Dame. »Zehn nach elf. Ja, an jedem Vormittag zur selben Zeit.« Sie seufzte. »Die Leute haben es nicht verstanden. Ich habe ihnen gesagt, was ich wusste … Aber sie wollten mir nicht glauben!«
Tuppence war sehr erleichtert, als in diesem Augenblick die Tür aufging und Tommy hereinkam. Sie sprang auf.
»Ich bin fertig. Wir können gehen.« Sie trat zur Tür, drehte sich halb um und sagte: »Auf Wiedersehen, Mrs Lancaster.« Als sie in die Diele kamen, fragte sie Tommy: »Wie ist es denn gegangen?«
»Sobald du draußen warst, ganz glänzend.«
»Ich scheine ihr nicht sonderlich zu liegen, was? Eigentlich ist das ein Kompliment für mich.«
»Wieso?«
»In meinem Alter«, sagte Tuppence, »und wo ich so ehrbar und ordentlich und langweilig aussehe, gefällt es mir, wenn mich jemand für einen verführerischen Vamp hält.«
Tommy lachte und nahm zärtlich ihren Arm. »Und mit wem hast du herumgeschäkert? Die alte Dame sah reizend aus.«
»Sie ist reizend«, sagte Tuppence, »sehr sogar, aber leider nicht ganz richtig im Oberstübchen.«
»Verrückt?«
»Ja. Sie scheint zu glauben, dass ein totes Kind hinter der Kaminplatte steckt. Sie hat mich gefragt, ob es mein armes Kind sei.«
»Was für ein hübsches Thema«, sagte Tommy. »Aber von der Sorte wird es hier einige geben. Trotzdem sah sie nett aus.«
»Das war sie ja auch. Lieb und nett. Aber ich möchte doch wissen, was sie sich einbildet und warum.«
Plötzlich tauchte Miss Packard vor ihnen auf. »Auf Wiedersehen, Mrs Beresford. Hoffentlich haben Sie Kaffee bekommen?«
»Ja. Vielen Dank.«
Sie wandte sich an Tommy. »Miss Fanshawe hat sich bestimmt über Ihren Besuch gefreut. Es tut mir nur leid, dass sie Ihre Frau so schlecht behandelt hat.«
»Ich glaube, das hat ihr besonders viel Spaß gemacht«, sagte Tuppence lächelnd.
»Da können Sie recht haben. Sie ist zu allen Leuten sehr unfreundlich, und leider beherrscht sie ihre Kunst meisterhaft. Aber Sie beide sind so verständnisvoll.«
»Heißt die alte Dame, mit der ich gesprochen habe, Mrs Lancaster?«, fragte Tuppence. »Habe ich es richtig verstanden?«
»Ja. Mrs Lancaster. Wir haben sie alle sehr gern.«
»Ist sie … ein bisschen seltsam?«
»Nun, sie bildet sich vieles ein«, sagte Miss Packard entschuldigend. »Das kommt bei einigen unserer Gäste vor. Sie erzählen alles Mögliche. Reine Hirngespinste. Man achtet am besten gar nicht darauf. Ich glaube, es ist eine Art Übung für ihre Phantasie; sie leben gern in ihrer Traumwelt. Manchmal ist sie aufregend, manchmal traurig; ihnen ist das ganz egal.«
»Na, das hätten wir hinter uns«, sagte Tommy und stieg aufseufzend in das Auto. »Das reicht für die nächsten sechs Monate.«
Aber auch dann brauchten sie den Besuch nicht zu wiederholen, denn Tante Ada starb drei Wochen später im Schlaf.
Beerdigungen sind etwas Trauriges, findest du nicht auch?«, sagte Tuppence.
Sie waren gerade von Tante Adas Begräbnis zurückgekommen und hatten eine lange, umständliche Zugfahrt hinter sich; denn Tante Ada war in dem kleinen Dorf in Lincolnshire beigesetzt worden, in dem ihre Vorfahren gelebt hatten.
»Und was erwartest du von einer Beerdigung?«, fragte Tommy nüchtern. »Ein turbulentes Freudenfest?«
»Ach, manchmal gibt es so was. Die Iren zum Beispiel haben Spaß an ihren Totenwachen. Erst wird laut geklagt und geweint, und dann gibt’s viel zu trinken und ein wildes Fest. Apropos Trinken!« Sie richtete den Blick auf das Büfett.
Tommy mixte ihr eine White Lady.
»So, jetzt geht es mir wieder besser«, sagte Tuppence erleichtert.
Sie nahm den schwarzen Hut ab, warf ihn quer durch das Zimmer und schlüpfte aus dem langen schwarzen Mantel.
»Ich mag keine Trauerkleidung. Sie riecht immer nach Mottenkugeln.«
»Du brauchst doch keine Trauer zu tragen. Das war ja nur für die Beerdigung.«
»Das weiß ich. Ich gehe auch gleich rauf und ziehe mir ein knallrotes Kleid an, um die Stimmung zu heben. Machst du mir noch eine White Lady?«
»Nanu, Tuppence? Ich wusste gar nicht, dass dich Beerdigungen so vergnügungssüchtig machen.«
»Ich sagte, dass Beerdigungen traurig sind«, erklärte Tuppence, als sie kurz darauf in einem kirschroten Kleid wiederkam, auf dessen Schulter sie eine Eidechse aus Rubinen und Brillanten gesteckt hatte. »Weil Beerdigungen wie die von Tante Ada traurig sind. Alte Menschen, zu wenig Blumen, zu wenig Leute, die schluchzen und weinen. Ein alter, einsamer Mensch, der keinem fehlt.«