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Lavendel-Duft und ein mörderischer Rosenkrieg: Mit einer Leiche in einem Badesee beginnt der 5. Provence-Krimi um die sympathische junge Kommissarin Lilou Braque. Die junge Kommissarin Lilou Braque und ihr Freund Simon wollen einen wunderbar warmen Herbsttag im beschaulichen Carpentras für einen Badeausflug nutzen – und machen eine furchtbare Entdeckung: Im Wasser des Lac du Péty treibt der leblose Körper einer Frau. Alles deutet auf einen tragischen Unfall hin. Kurz darauf wird Lilou zu einem weiteren Todesfall gerufen, offenbar hat sich der Notar Jean-Claude Sousteron mit seiner eigenen Waffe erschossen. Als Lilou jedoch herausfindet, dass die Tote vom See eine Mitarbeiterin des Notars war, kommen ihr erste Zweifel. Und die einzige Spur führt ausgerechnet in Simons Restaurant … Carine Bernards Krimi-Reihe »Die Lavendel-Morde« verströmt den Duft von Lavendel und provenzalischen Köstlichkeiten und bietet spannende Unterhaltung zum Wohlfühlen – ob im Frankreich-Urlaub oder auf dem heimischen Balkon. Die Provence-Krimis um Lilou Braque sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Lavendel-Tod - Lavendel-Gift - Lavendel-Fluch - Lavendel-Grab - Lavendel-Zorn
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Seitenzahl: 368
Carine Bernard
Ein Provence-Krimi
Knaur eBooks
Bei einem Badeausflug machen die junge Kommissarin Lilou Braque und ihr Freund Simon eine furchtbare Entdeckung: Im Wasser des Lac du Péty treibt der leblose Körper einer Frau - offenbar ein tragischer Unfall. Kurz darauf erschießt sich der lokale Notar. Als Lilou jedoch herausfindet, dass die Tote vom See eine Mitarbeiterin des Notars war, kommen ihr Zweifel. Die einzige Spur führt ausgerechnet in Simons Restaurant …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danksagung
Leseprobe »Lavendel-Sturm«
Wo möchtest du hin?«, fragte Simon und schulterte den Rucksack mit dem Picknick.
Lilou musterte den lang gestreckten See, der im Licht der tief stehenden Sonne glitzerte. Der Wasserstand war nach den Regenfällen der letzten Tage etwas gestiegen und versprach erfrischende Abkühlung an diesem überraschend warmen Spätnachmittag. Sie und Simon waren nicht die Einzigen mit dieser Idee gewesen, stellte sie fest. Für einen Montag im September war das Ufer des kleinen Stausees erstaunlich belebt: Kinder tobten im flachen Wasser, bunte Badetücher tupften den hellen Kies, Vögel zwitscherten in den Bäumen. Auch der Kiosk am Parkplatz hatte geöffnet, es gab kalte Getränke und Snacks vom Grill im Schatten der ausladenden Platanen. Der Geruch nach Pommes frites und Bratwurst lag in der Luft.
»Lass uns doch nach hinten zu unserer Bucht gehen«, schlug Lilou vor und wandte sich zu der einfachen Holzbrücke, die auf die andere Seite führte. Im Sommer war der Zufluss zum Lac du Péty fast ausgetrocknet gewesen, hohes Gras und Schilfrohr hatten die feuchte Senke in ein Paradies für Libellen, Bienen und Schmetterlinge verwandelt. Nun führte der Bach wieder Wasser und füllte erneut den kleinen See, der die Felder rund um das Dorf Carroux über ein kompliziertes System aus Kanälen und Leitungen mit Wasser versorgte. Simon folgte ihr, die Bohlen der Brücke klapperten unter ihren Schritten.
Das östliche Ufer des Sees war steil und mit hohen Bäumen bewachsen. Pinien und Lärchen klammerten sich an den Hang, nur ein schmaler Pfad verlief hoch über dem Wasserspiegel. Die meisten Besucher bevorzugten das flachere Westufer, denn dieser Weg führte bergauf und bergab über Wurzeln und Geröll, doch hatte man ihn erst einmal bewältigt und die Kletterpartie zurück nach unten geschafft, gelangte man zu den Überresten der alten Staumauer, und dahinter lag eine stille Bucht, in die sich kaum jemand verirrte. Praktisch von außen nicht einsehbar, mit kristallklarem Wasser und so feinem Kies, dass es sich fast wie ein Sandstrand anfühlte.
Lilou sprang von dem zerklüfteten Felsen, Simon kletterte etwas vorsichtiger hinterher und stellte den Rucksack ab. »Nicht einmal hier sind wir unter uns«, meinte er und deutete auf ein rotes Handtuch und eine bunte Badetasche im Schatten einer knorrigen Pappel.
Lilou blickte sich suchend um, doch niemand war zu sehen. Sie zuckte mit den Schultern. »Wir werden es überleben.«
Simon öffnete den Rucksack, während Lilou die Picknickdecke ausbreitete. Sie liebte Picknicks mit Simon, denn er ließ sich immer etwas Besonderes einfallen. Heute hatte er Taboulé eingepackt, einen Salat aus Couscous, buntem Paprika, Rosinen und Minze, dazu gab es gegrilltes Gemüse, das wahrscheinlich gestern in seinem Restaurant übrig geblieben war, frisches Baguette und eine halbe Flasche von seinem Hauswein. Lilou seufzte beglückt. »Das sieht wunderbar aus, Simon.«
Er grinste und gab ihr einen Kuss. »Immerhin sitze ich ja jetzt an der Quelle«, erwiderte er. »Wollen wir vorher schwimmen gehen? Nach dem Essen ist womöglich die Sonne weg.«
»Außerdem soll man mit vollem Magen nicht schwimmen«, stimmte Lilou zu und warf einen bedauernden Blick auf das noch warme Brot, das aus dem Rucksack ragte. »Also los, wer zuerst im Wasser ist!« Rasch streifte sie ihr Shirt über den Kopf und zog Schuhe und Hose aus. Den Badeanzug hatte sie darunter schon an. Simon folgte ihrem Beispiel, und sie stürzten sich nebeneinander ins Wasser.
Lilou schwamm mit kräftigen Zügen bis zur Mitte des Sees. Hier, unmittelbar vor der Staumauer, war er tief, sein Wasser dunkel und geheimnisvoll. Sie drehte sich auf den Rücken, ließ sich treiben und schaute hinauf in den azurblauen Himmel, an dem keine einzige Wolke zu sehen war. Dieser milde Spätsommertag, der nach den regnerischen letzten Tagen den Sommer noch einmal heraufbeschwor, er war wie ein kostbares Geschenk. In den letzten Wochen waren Simon und sie kaum noch dazu gekommen, etwas gemeinsam zu unternehmen – seine Arbeitszeiten im kürzlich eröffneten Chez Amande schienen unvereinbar mit dem Dienstplan einer frischgebackenen Commissaire bei der Police nationale in Carpentras. Einzig an seinem freien Tag waren Ausflüge wie dieser überhaupt möglich, weswegen sie den heutigen Nachmittag ganz besonders genoss.
Sie wandte sich zu ihm um. Er war ein paar Meter hinter ihr, hielt sich aufrecht im Wasser und spähte hinüber zur Staumauer.
»Was ist das da drüben?«, rief er und deutete auf einen hellen Fleck.
Lilou beschattete mit der Hand die Augen und blinzelte in das Licht der tief stehenden Sonne, das die kleinen Wellen wie flüssiges Silber glänzen ließ. Erst wusste sie nicht, was er meinte, doch dann … Erschrocken schnappte sie nach Luft. »Das ist ein Mensch!«
Die Sorge trieb sie zur Eile, Lilou erreichte die Stelle als Erste. Es war eine Frau, die da leblos im Wasser dümpelte, runde Schultern, ein blaues Bikinioberteil, dunkles Haar, nasse Locken, die an einer pausbäckigen Wange klebten. Mit pochendem Herzen und voller Angst vor der Gewissheit drehte Lilou sie auf den Rücken. Der Körper war reglos, die Gliedmaßen schlaff und eisig kalt. Simon keuchte auf, erschrocken ließ sie los, doch im nächsten Moment übernahm der Drill ihrer Ausbildung. Sie umfasste die Arme, wie sie es gelernt hatte, stützte mit einer Hand das Kinn, hielt das Gesicht der Bewusstlosen über Wasser und zog sie mit kräftigen Beinstößen in Richtung Westufer.
Simon folgte ihr und half ihr, die Frau ans Ufer zu tragen. Sie war noch jung, nicht sehr groß und nicht gerade schlank, die Hände glitten immer wieder ab an der glitschigen Haut, doch schließlich hatten sie es geschafft, und behutsam betteten sie sie in den Kies. Lilou kniete sich neben sie, es roch nach feuchtem Sand und Algen, und ohne viel Hoffnung tastete sie nach dem Puls. Obwohl sie nichts fühlte, begann sie mit der Herzmassage. Es mochte vergeblich sein, aber das Wasser war kalt, vielleicht rettete das der Verunglückten das Leben. »Kannst du die Leute da drüben bitten, den Rettungsdienst zu verständigen?«, wies sie Simon an.
Er löste sich aus seiner Erstarrung, nickte und lief das Ufer entlang zu einem Pärchen, das aufgestanden war und mit besorgten Mienen herüberblickte. Der Mann hatte das Handy schon in der Hand. »Soll ich die 112 rufen?«, fragte er.
»Ja, bitte. Auch wenn es wahrscheinlich zu spät ist.«
Die Frau zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. »Ist sie tot?«
Simon hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, hörte Lilou ihn sagen. Sie wusste es auch nicht, aber sie massierte weiter. »… neun, zehn, elf, zwölf …«, zählte sie stumm, behielt den Rhythmus bei und blendete alles andere aus.
Nach erstaunlich kurzer Zeit traf der Krankenwagen ein, noch vor der Gendarmerie, obwohl die Rettungskräfte von weiter weg aus Carpentras gekommen sein mussten. Der rot-weiße Wagen holperte mit Blaulicht über die geschotterte Uferstraße und hielt oberhalb der Unglücksstelle.
»Wir waren gerade auf dem Rückweg von einem Krankentransport, als der Notruf hereinkam«, rief ihnen einer der Sanitäter zu. Er wuchtete einen schweren Koffer aus dem Wagen, während sein Kollege eilig die Böschung herunterkletterte. Er nickte Lilou zu, sie rückte beiseite und machte ihm Platz.
Mit ruhiger Umsicht prüfte der Mann die Vitalfunktionen, dann schüttelte er den Kopf. »Das sieht nicht gut aus«, meinte er.
Inzwischen war der andere Sanitäter ebenfalls bei ihnen eingetroffen. Er öffnete den Koffer, nahm ein kompaktes Gerät mit einem kleinen Monitor und mehreren Kabeln heraus und schloss die Elektroden an. Lilou stand auf und entfernte sich ein paar Schritte. Die Sonne war in der Zwischenzeit hinter dem Hügel verschwunden, das Ufer lag bereits im Schatten. Sie fröstelte in ihrem nassen Badeanzug und rieb sich über die Gänsehaut auf ihren Armen, doch die Kälte kam nicht nur von der kühlen Luft.
Simon zog sie an sich. »Wir konnten nicht mehr tun«, murmelte er in ihr Haar.
»Ich weiß.« Lilou lehnte sich gegen ihn und genoss die Wärme seiner Arme, die sie umfing.
Der ältere der beiden Sanitäter trat zu ihnen. »Wir reanimieren weiter, bis der Arzt hier ist. Aber ich habe nicht viel Hoffnung.«
Lilou nickte. »Wir haben es schon befürchtet. Aber ich habe gehofft, dass sie das kalte Wasser vielleicht retten würde.«
»Natürlich. Sie haben alles richtig gemacht.« Der Mann sah sie mitfühlend an. »Sie frieren ja. Kommen Sie mit zum Wagen, wir haben Decken.«
Motorengeräusch ertönte, ein blaues Gendarmerieauto bog auf die Uferstraße ein, näherte sich schnell und hielt hinter dem Rettungswagen. »Da kommen die Flics«, meinte der Sanitäter und verdrehte die Augen. »Haben sich ja ganz schön Zeit gelassen.«
Die »Flics« entpuppten sich als ein älterer Mann mit stoppeligem Bart und deutlichem Bauchansatz und ein schmächtiger Jüngling mit langem Kinn und auffallend dunklen Augen. Der Ältere kam zu ihnen, während der Jüngere im Kofferraum des Wagens kramte.
»Wo ist sie?«, blaffte er den Sanitäter an. »Und wo ist der Arzt?«
Der Sanitäter verzog keine Miene. »Sie liegt da unten, mein Kollege ist bei ihr.« Er deutete zum Ufer. »Der Arzt muss gleich kommen.«
Der Gendarm wandte sich ab und kletterte schwer atmend die Uferböschung hinunter. Lilou hob eine Braue und sah den Sanitäter fragend an. Er zuckte mit den Schultern und reichte ihr eine graue Wolldecke, dankbar wickelte sie sich darin ein. »Wir sind letztens bei einem Verkehrsunfall mit ihm aneinandergeraten. Er hatte die Straße so intelligent abgesperrt, dass wir mit dem Krankenwagen nicht mehr durchgekommen sind.«
Lilou verzog das Gesicht. Gendarmen auf dem Land, das war ein ganz eigener Menschenschlag, vor allem wenn sie schon älter waren. Das Vorurteil, dass Police nationale und Gendarmerie nicht immer gut aufeinander zu sprechen waren, verdankte die französische Polizei in erster Linie ihnen.
Der junge Gendarm kam zu ihnen herüber, ein Tablet in der Hand. »Sie haben sie gefunden?«, fragte er.
Lilou nickte. »Wir waren schwimmen.« Sie deutete zum Staudamm, der nun ebenfalls fast vollständig im Schatten lag. »Sie trieb da drüben an der Mauer.«
»Wie lange ist das her?«
Lilou überlegte. »Ich weiß nicht, eine halbe Stunde vielleicht?«
Simon nickte. »Ja, das kommt ungefähr hin.«
Der junge Gendarm machte sich eine Notiz auf seinem Tablet, dann blickte er auf. »Ich brauche noch Ihre Namen und eine Adresse.«
»Lilou Braque und Simon Bastien«, diktierte Lilou. »Place de l’Horloge 5, in Carpentras.«
Der Mann hob den Kopf. »Da ist doch das neue Restaurant? Das kenne ich, das ist gut.«
»Ja, es gehört mir.« Simon grinste schief. »Freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat.«
Der ältere Gendarm kam ächzend die Böschung hoch. »Die ist tot«, meinte er lakonisch. »Der kann niemand mehr helfen.«
»Den Tod muss ein Arzt feststellen«, entgegnete Lilou.
»Kann schon sein«, brummte der Beamte. »Aber ich bin ja nicht blind. Die ist bestimmt tot.«
Im Stillen musste Lilou ihm recht geben, aber seine pietätlose Art gefiel ihr nicht. »Wollen Sie nicht die Spurensicherung rufen?«, fragte sie.
Er sah sie amüsiert an. »Spurensicherung? Sie haben wohl zu viele Krimis gelesen. Das war doch ganz eindeutig ein Unfall. Oder sehen Sie hier irgendwo Anzeichen für ein Verbrechen?«
»Vor allem sehe ich nicht, wo die Frau hergekommen ist«, gab Lilou zurück. »Sollten Sie nicht wenigstens versuchen, ihre Identität festzustellen?«
»Was wissen Sie denn schon«, fuhr der Gendarm sie an. Aber dann winkte er seinem jungen Kollegen zu. »Geh mal das Ufer lang und frag die Leute, ob sie was gesehen haben!«
Der junge Gendarm setzte sich in Bewegung. Einige Schaulustige waren näher gekommen, eine junge Frau steckte rasch ihr Handy weg, mit dem sie offenbar gefilmt hatte. Lilou beobachtete, wie der Mann mit ihr sprach und sich dann den anderen zuwandte.
Simon kniff die Augen zusammen und schaute hinüber zu der Bucht, von der sie losgeschwommen waren. »Dieses rote Handtuch liegt noch immer unter dem Baum«, meinte er.
Lilou folgte seinem Blick. »Ja, du hast recht.«
»Wovon reden Sie?« Der Gendarm sah sie misstrauisch an.
»Wir sind von da drüben gekommen«, antwortete Lilou und zeigte über das Wasser. »Uns sind ein Handtuch und eine Badetasche aufgefallen, aber es war niemand in der Nähe. Vielleicht gehören die Sachen der Frau.«
Der Gendarm ließ den Blick über den Steilhang am anderen Ufer schweifen und schnaufte missmutig. Dann musterte er das hohe, dornenbewehrte Gittertor, das den kurzen Weg über die Staumauer versperrte. »Wir müssen die vom Wasserbau in Carroux kommen lassen«, brummte er. »Die haben die Schlüssel für das Gitter.«
»Wir können die Tasche holen«, bot Lilou an. »Wir müssen ohnehin zurück. Unsere Sachen liegen ja auch noch in der Bucht.«
Der Gendarm sah sie böse an. »Ich lasse bestimmt keine Zivilisten die Arbeit der Gendarmerie machen.«
»Ich bin Commissaire der Police nationale«, erklärte Lilou und unterdrückte ein Schmunzeln. »Sie können sicher sein, dass wir alles richtig machen.«
»Sie sind eine Commissaire?« Der Gendarm musterte sie von oben bis unten. »Können Sie sich ausweisen?«
Lilou verzog das Gesicht und deutete auf ihren Badeanzug. »Wie stellen Sie sich das vor?«
»Na gut.« Der Gendarm machte eine unwirsche Handbewegung. »In der Mairie erreiche ich heute ohnehin niemanden mehr.«
»Wir beeilen uns.« Lilou gab dem Sanitäter die Decke zurück und lächelte ihn an. »Danke.«
»Gern.« Er nickte ihr zu. »Aurevoir, Madame le Commissaire.«
Das Wasser war nun nicht mehr erfrischend, sondern nur noch kalt. Lilou und Simon beeilten sich, ans andere Ufer zu gelangen. Simon reichte Lilou ein Handtuch, und sie rubbelte sich damit ab, bis ihre Haut glühte, dann schlüpfte sie in Hose und Shirt und zog ihre Schuhe an. Als sie ihr Picknick wieder einpackten, knurrte Lilous Magen laut.
»Lass uns wenigstens das Baguette essen«, schlug Simon vor. »Bis wir zu Hause sind, dauert es sicher noch.«
Lilou nickte. »Gute Idee.«
Mit einem Stück Brot in der Hand ging sie hinüber zu dem Handtuch, das am Fuß der Pappel ausgebreitet war. Sie musterte aufmerksam die Umgebung, doch auf dem steinigen Boden waren weder Fußspuren noch sonst etwas Auffälliges zu erkennen. Nicht einmal Müll lag herum, nur die bunte Badetasche stand einsam neben dem Baumstamm.
Simon trat zu ihr. »Soll ich dir helfen?«, fragte er.
»Ich mach das schon.« Lilou ging zurück zu ihrer eigenen Tasche und holte ein Paar Latexhandschuhe heraus. Dann ergriff sie das Tuch, sorgfältig bemüht, nicht draufzutreten. Doch als sie es anhob, um es zusammenzufalten, kippte die Badetasche um, und ihr Inhalt ergoss sich über das Handtuch. »Hoppla.«
»Was ist das denn?«, fragte Simon. Eine leere Weinflasche rollte auf das Wasser zu. »Wie kommt die denn hierher?«
Lilou erwischte sie kurz vor der Wasserlinie, hob sie auf und starrte sie überrascht an. Die Flasche glich der in ihrem Rucksack aufs Haar – der stilisierte blaue Schmetterling auf dem Etikett wies sie eindeutig als eine von Simons Hauswein aus. »Verkaufst du die inzwischen auch außerhalb des Restaurants?«, fragte sie.
»Nein.« Simon runzelte die Stirn. »Diese Flaschen verlassen normalerweise nicht das ChezAmande.«
»Die hier offenbar schon.« Lilou zeigte ihm das Etikett. »Vielleicht hat ein Gast sie mitgenommen.«
»Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.« Er schüttelte den Kopf.
»Aber wie soll die Flasche sonst hierhergekommen sein?«
»Indem sie jemand geklaut hat.« Simons Gesicht hatte sich verfinstert. »Ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, dass immer wieder Lebensmittel verschwinden. Die Flasche hier ist der Beweis.«
Lilou schaute ihn erschrocken an. »Du meinst, einer deiner Angestellten bestiehlt dich?«
»Nein, das glaube ich nicht.« Simon schüttelte erneut den Kopf, diesmal mit Nachdruck. »Aber die Schlösser im Haus sind ziemlich alt. Die könnte sogar ein Kind mit einem Stück Draht öffnen.«
»Nun, das lässt sich ja ändern«, erwiderte Lilou. Sie legte die Weinflasche zurück in die Tasche und sammelte die restlichen Dinge wieder ein: eine Tube Sonnencreme, ein Buch, eine Sonnenbrille, ein Handy und einen Schlüsselbund. Das Portemonnaie aus geblümtem Stoff öffnete sie und warf einen Blick auf die Ausweise. »Die Tasche scheint tatsächlich unserer Toten zu gehören. Sie heißt Charlene Thomas. Sagt dir der Name etwas?«
»Nein, nie gehört.« Simon schüttelte die Picknickdecke aus und rollte sie zusammen. Lilou steckte die carte d’identité zurück und packte das Portemonnaie wieder ein. Dann faltete sie das Handtuch zusammen und legte es obenauf in die Tasche. Simon schulterte den Rucksack. »Komm, lass uns gehen. Sonst denkt der dicke Gendarm noch, dass wir gar nicht wiederkommen.« Seine Stimme war heiser, er starrte hinüber ans andere Ufer.
Lilou folgte seinem Blick. Ein weiteres Auto stand an der Uferstraße, mehrere Leute hatten sich um die tote junge Frau geschart. Brüsk wandte Simon sich ab, dem steinigen Pfad zu, über den wohl auch die junge Frau gekommen war.
Unvermittelt schauderte Lilou. »Du hast recht«, antwortete sie. »Wir sollten uns besser beeilen.«
Als Lilou und Simon endlich das andere Ufer erreichten, kam ihnen bereits ein Leichenwagen entgegen, gefolgt von dem Rettungswagen, dessen Fahrer grüßend die Hand hob, als er sie passierte. Nur das blaue Auto der Gendarmen stand noch da, selbst die Schaulustigen hatten sich inzwischen zerstreut.
Der ältere Gendarm kam schnaufend auf sie zu, sein Gesicht war gerötet. »Wo bleiben Sie denn so lange?«
Lilou deutete hinüber. »Es ist ganz schön weit«, gab sie zurück und strich sich die kurzen blonden Haare aus der Stirn. »Seien Sie lieber froh, dass wir Ihnen überhaupt helfen.«
Er schnaubte und streckte die Hand aus. »Geben Sie schon her.«
Lilou musterte kritisch seine unbehandschuhte Hand, bevor sie ihm die Tasche reichte. »Lassen Sie die Sachen kriminaltechnisch untersuchen?«
»Wozu das denn?« Der Gendarm sah sie ungnädig an. »Das war doch eindeutig ein Unfall. Hat auch der Arzt gesagt.«
»Aber die Leiche ist hoffentlich auf dem Weg in die Rechtsmedizin?«
»Ja, klar.« Er machte ein missmutiges Gesicht. »Das ist ja Vorschrift.«
»Dann sollten Sie die Tasche zumindest so lange asservieren, bis ein Ergebnis feststeht.«
»Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe.« Er funkelte sie wütend an. »Außerdem sind Sie hier überhaupt nicht zuständig. Das ist unser Revier.«
»Natürlich.« Lilou hob beschwichtigend die Hände und trat einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Bruno, nun sei doch nicht so.« Der jüngere Gendarm trat zu ihnen. »Die Commissaire hat uns immerhin geholfen.«
Bruno drückte ihm die Badetasche in die Hand. »Schau nach, ob du einen Ausweis findest. Wir müssen die Personalien der Toten feststellen, damit wir ihre Angehörigen benachrichtigen können.«
»In der Tasche befindet sich ein Portemonnaie mit ihren Ausweisen«, sagte Lilou. »Sie heißt Charlene Thomas und wohnt in Carpentras.«
»Na, immerhin etwas«, brummte der Gendarm und wandte sich zum Wagen. »Schreib das auf. Und den Bericht machst heute du.«
»In Ordnung.« Der Jüngere grinste schief.
Lilou grinste zurück, dann wurde sie wieder ernst. »Ich nehme an, von den Leuten hier hat niemand etwas bemerkt?«, fragte sie.
»Nein.« Er nickte mit dem Kopf zum anderen Ufer. »Sie muss tatsächlich von da drüben losgeschwommen sein.«
»Wir haben auch niemanden gesehen«, warf Simon ein. »Nur das Handtuch lag da, als wir kamen.«
Der junge Gendarm rieb sich das Kinn. »Wahrscheinlich hat Bruno recht, und es war wirklich ein Unfall.«
Lilou nickte. »Würden Sie mir Bescheid sagen, sobald Sie ein Ergebnis haben?«
»Ja, natürlich. Und danke für Ihre Hilfe.«
»Was glaubst du, was da passiert ist?«, wollte Simon wissen, als Lilou ihren alten Kangoo die kurvige Straße vom Lac du Péty hinuntersteuerte. Der Abend war inzwischen angebrochen, die blau-diesige Dämmerung überzog die Landschaft. Die Reihen der Weinstöcke mit ihren dicken roten Trauben wurden zu dunklen Silhouetten neben der Straße.
Lilou hob die Schultern. »Das ist schwer zu sagen. Alkohol, Sonnenhitze und das kalte Wasser können auch bei einem jungen Menschen zu einem Kreislaufkollaps führen. Mich wundert nur, dass niemand etwas bemerkt hat.«
»Wer weiß, wie lange sie da schon trieb«, gab Simon zu bedenken. »Tagsüber waren sicher nur wenige Leute am See.«
»Allzu lange kann sie noch nicht im Wasser gelegen haben, sonst wäre sie nicht mehr an der Oberfläche gewesen.« Lilou warf Simon einen entschuldigenden Blick zu. »Wasserleichen gehen im Allgemeinen schnell unter, je nachdem, wie viel Luft noch in der Lunge ist.«
Simon schluckte. »Sonst hättest du es wohl auch gar nicht mehr versucht.«
Lilou nickte knapp. Sie setzte den Blinker und bog auf die Hauptstraße ein. »Docteur Bonaventure wird das bestimmt herausfinden.«
Simon verzog das Gesicht. Er hatte den korpulenten Rechtsmediziner ebenfalls schon kennengelernt. »Armes Mädchen. Ihre Eltern tun mir leid.«
»Es ist immer grausam, wenn jemand unverhofft zu Tode kommt. Aber bei so einem jungen Menschen … Die Gendarmen, die es den Eltern beibringen müssen, sind nicht zu beneiden.«
»Schrecklich.« Simon schüttelte sich unwillkürlich.
Die ersten Häuser von Carpentras tauchten auf, und Lilou musste sich auf den stärker werdenden Verkehr konzentrieren. Sie stellte den Wagen auf dem großen Parkplatz an der Coulée Verte ab, und schweigend legten sie den Rest des Wegs zu Fuß zurück. Erst als sie an der Place de l’Horloge ankamen, brach Lilou das Schweigen.
»Denkst du wirklich, dass jemand bei dir im Restaurant eingebrochen ist?« Sie deutete auf die Haustür. »Dann hätten wir doch Spuren bemerken müssen.«
»Die Hintertür zur Küche hat nur ein ganz einfaches Schloss, das noch dazu gern mal hakt. Es ist jetzt schon zweimal passiert, dass nicht abgeschlossen war, als ich die Tür aufsperren wollte.« Er schob den Schlüssel ins Schloss. »Ich werde gleich morgen mit Amalie sprechen.«
»Mit deiner Serviceleiterin? Was hat die damit zu tun?«
Er stieß die Tür auf. »Ihr Mann ist Schlosser und hat hier in Carpentras ein Geschäft für Sicherheitstechnik. Der soll so schnell wie möglich die Schlösser austauschen.«
Lilou stieg vor ihm die Treppe hoch. Auf einmal überfiel sie bleierne Müdigkeit. Das Geschehen hatte sie doch mehr mitgenommen, als sie zunächst gedacht hatte – sie wollte nur noch in ihre Wohnung. Eine Kleinigkeit essen und dann schlafen.
Simon schien ähnlich zu empfinden. »Gut, dass wir noch das Taboulé haben«, meinte er, als sie im dritten Stock angekommen waren. »Heute habe ich ausnahmsweise überhaupt keine Lust, etwas zu kochen.«
»Das verstehe ich.« Lilou schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Ich habe mir unseren Ausflug auch etwas anders vorgestellt.«
Es war für Lilou immer noch ein ungewohntes Gefühl, morgens Commandant Pouffins Büro zu betreten und zu wissen, dass es jetzt ihr eigenes war. Nicht mehr befürchten zu müssen, dass er sie gleich wegen irgendeiner Kleinigkeit anblaffen würde. Nie wieder seine spitzen Bemerkungen über Frauen im Polizeidienst anhören zu müssen. Der große Schreibtisch aus dunklem Holz gehörte nun ihr, und sie hatte mit dem alten Möbel auch seine Aufgaben übernommen.
In der Ecke des Raums stand noch der kleine Tisch, der während ihres Praktikums ihr Arbeitsplatz gewesen war. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die vielen Aktenordner, die sich früher turmhoch auf dem Schreibtisch von Commandant Pouffin gestapelt hatten. Nur deshalb hatte sie den zweiten Tisch behalten und nutzte ihn nun als zusätzliche Ablagefläche. Niemals würde sie zulassen, dass der Papierkram so überhandnahm, bis sie die schöne Maserung ihrer Schreibtischplatte nicht mehr sehen konnte – das hatte sie sich geschworen.
Aber ihr war auch klar, dass sie den Verwaltungsaufgaben nicht ganz entkommen konnte. Im Augenblick war sie zuständig für die Beschaffung neuer Computer, die man der zentralen Vergabestelle in Paris nur mit extremer Hartnäckigkeit aus den Rippen leiern konnte. Zuallererst brauchte sie selbst einen, denn das vorsintflutliche Ding mit dem Röhrenmonitor und dem externen CD-Laufwerk aus ihrer Zeit als Praktikantin hatte vor ein paar Tagen endgültig seinen digitalen Geist aufgegeben. Und Pouff hatte gar keinen eigenen PC besessen, wie sie mit Überraschung feststellen musste. Er gehörte noch zur Papier-und-Stift-Fraktion, und in den wenigen Fällen, in denen ein Computer für seine Arbeit unerlässlich gewesen war und er die Aufgabe auch nicht delegieren konnte, hatte er einen der Arbeitsplätze im Großraumbüro am Ende des Ganges benutzt.
Lilou schüttelte den Kopf in Erinnerung an den stets missgelaunten stellvertretenden Dienststellenleiter, der ihr in der Zeit ihres Abschlusspraktikums das Leben so schwer gemacht hatte. Vor einigen Wochen war er bei einem Einsatz verletzt und außer Dienst gestellt worden, und Commissaire Demoireau hatte ihr zu ihrer Überraschung den Posten als seine Stellvertreterin angeboten. Und obwohl sie bereits für eine Stelle in Paris vorgesehen war, hatte sie zugesagt, ohne auch nur einen Moment zu überlegen. Zu viel gab es in Carpentras, an dem ihr Herz hing und das sie nicht zurücklassen wollte. Allen voran Simon, der junge Koch aus Kanada, der hier in Carpentras das Restaurant seiner Urgroßeltern wiedereröffnet hatte. Auch wenn sie sich erst seit wenigen Monaten kannten – ein Leben ohne ihn konnte und wollte sie sich nicht mehr vorstellen.
Dass ihr neuer Posten mit viel Schreibtischarbeit verbunden sein würde, hatte sie zwar gewusst, aber in diesem Augenblick nicht bedacht. Und hatte Demoireau nicht angedeutet, dass er in Zukunft lieber mehr Zeit in seinem Büro anstatt mit Außeneinsätzen verbringen wollte? Trotzdem blieb nicht gerade wenig Verwaltungskram an ihr hängen. Allerdings wäre das in Paris wahrscheinlich auch nicht anders gewesen, dachte sie und setzte sich seufzend auf ihren Stuhl. Sie fuhr den Rechner hoch, der eigentlich ihrem Kollegen Lecassoire gehörte, aber der war zum Glück noch bis nächste Woche in Urlaub. Bis dahin brauchte sie unbedingt einen eigenen Computer. Sie öffnete das E-Mail-Programm und las die Nachricht der Zentrale: Offenbar fehlte in ihrem Antrag noch immer ein Formular, das sie auf Papier auszufüllen und in zweifacher Ausfertigung per Post zusenden sollte. Wie vor hundert Jahren!
Verärgert schlug sie mit der Faust auf den Tisch, dann stand sie auf und ging hinüber zu Roseanne, um sie zu fragen, wo in Gottes Namen sie das verdammte Formular XA45/ghZ finden konnte.
Die Sekretärin der Dienststelle war eine stets gut gelaunte Endvierzigerin mit wallendem schwarzem Haar, das ihr fast bis zur Hüfte reichte. Heute wurde es mit einem hübschen silbernen Haarreif aus der Stirn gehalten, wodurch sie ein wenig wie eine überalterte Prinzessin wirkte.
Ihr Gesicht verzog sich zu einem freudigen Lächeln, als Lilou ihr Büro betrat. »Lilou, schön, dich zu sehen!« Sie schob ihr eine Schale mit Obst zu. »Möchtest du eine Feige? Es sind die letzten von unserem Baum.«
Lilou nahm sich eine und biss in die dunkle Haut. Das rote Fruchtfleisch war süß, die Kerne zerplatzten knisternd zwischen ihren Zähnen. »Das sind wirklich die leckersten Feigen, die ich je gegessen habe«, sagte sie.
Roseanne schmunzelte. »Danke. Ich werde es heute Abend meinem Großvater sagen, wenn ich für ihn bete«, antwortete sie. »Was kann ich für dich tun?«
»Es fehlt noch immer ein Formular für die Beschaffung der Computer«, sagte Lilou. »Genau genommen das Formular XA45/ghZ, und ich brauche zwei Durchschläge.«
Roseanne verdrehte theatralisch die Augen. »Es wäre einfacher, wenn du deinen Rechner im nächsten Laden kaufen würdest«, meinte sie.
Lilou lachte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Gestern war ich kurz davor, meinen eigenen Laptop mit in die Dienststelle zu bringen. Aber Roguenot hat gesagt, mit dem darf ich nicht ins Netzwerk. Damit könnte ich also nicht einmal die Mails der Zentrale abrufen.«
»Das ist richtig.« Roseanne stand auf und ging zu dem großen Aktenschrank, der die komplette Zimmerwand einnahm. Sie fuhr mit dem Finger einige Ordnerrücken entlang. »Hier muss es sein.« Sie schlug den Ordner auf und nahm ein grünes Formular mit zwei anhängenden Bogen aus dünnem rosafarbenem Papier heraus. »Bitte schön. Ich glaube, der Vorgang hat sich seit den Achtzigerjahren nicht geändert.«
Lilou schüttelte den Kopf. »Ich hoffe auf den Tag, an dem solche Dinge komplett digital erledigt werden können. Das würde unglaublich viel Zeit sparen.«
»Ich weiß.« Roseanne verzog mitfühlend das Gesicht. »Aber ich wäre dann wohl arbeitslos. Ihr würdet mich nicht mehr brauchen.«
»Blödsinn.« Lilou legte der älteren Frau kurz den Arm um die Schulter. »Du bist die gute Seele der Dienststelle. Ohne dich würde hier gar nichts funktionieren.«
»Das ist lieb, dass du das sagst«, erwiderte Roseanne und lächelte Lilou an. »Als ich hier angefangen habe, waren wir noch zu dritt. Der Dienststellenleiter und sein Stellvertreter hatten eine persönliche Sekretärin, und es gab noch zwei weitere Schreibkräfte. Die wurden alle wegrationalisiert, und nun bin nur noch ich übrig.«
»Und so wird das auch bleiben«, sagte Lilou. »War Demoireau damals auch schon hier?«
Roseanne schüttelte den Kopf, ihre dunklen Locken flogen hin und her. »Nein, der kam erst vor dreizehn Jahren zu uns. Da war ich schon eine ganze Weile hier.«
»Das heißt, du bist hier die Dienstälteste. Deshalb kennst du dich überall so gut aus.« Lilou wedelte mit dem Formular. »Sogar mit diesen antiquierten Anträgen.«
»Genau.« Roseanne lächelte verschmitzt. »Der Einzige, der noch länger hier war als ich, war Pouff.« Sie deutete auf die Papiere in Lilous Hand. »Wenn das heute noch raussoll, müsstest du es mir vor 15.00 Uhr bringen.«
»Okay.« Lilou sah sie überrascht an. »Ist etwas passiert?«
»Aber nein.« Roseanne wirkte etwas verlegen. »Sylvie hat heute eine Schulaufführung, da möchte ich gern dabei sein. Der Commissaire weiß Bescheid.«
Lilou warf einen Blick auf das Foto von Roseannes Tochter, das zwischen Papieren, Stiftehaltern und einem bunten Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch stand. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war unübersehbar: Das hübsche, herzförmige Gesicht war umrahmt von dichten Locken, jedoch dunkelblond und nicht schwarz wie bei ihrer Mutter. »Wie alt ist sie jetzt?«, fragte Lilou.
»Zwölf.« Roseanne betrachtete das Foto und seufzte wehmütig. »Die Zeit vergeht so schnell.«
Lilou schmunzelte. Vor zwölf Jahren war sie noch zur Schule gegangen und hatte davon geträumt, Polizistin zu werden, auch wenn die Menschen in ihrem Umfeld ständig versucht hatten, ihr das auszureden. Sie sei zu klein, das sei nichts für ein Mädchen, sie solle doch besser etwas Vernünftiges studieren. Das hatte sie schließlich auch getan. Aber im Anschluss hatte sie sich bei der Polizei beworben, und nun war sie wirklich hier: eine ausgebildete Commissaire in ihrem ersten Job.
Sie bemerkte, dass Roseanne sie abwartend ansah. »Sie sieht dir unglaublich ähnlich«, meinte Lilou rasch. »Und ich beeile mich mit dem Formular. Danke!«
Lilou hatte sich angewöhnt, in der Mittagspause durch die Altstadt zur Place de l’Horloge zu laufen und in Simons Restaurant ChezAmande zu Mittag zu essen. Wenn nicht viel los war, leistete ihr Simon Gesellschaft, und sie hatten zwanzig Minuten für sich, was Lilou in Anbetracht ihrer unterschiedlichen Tagesabläufe inzwischen wie ein kleines Geschenk empfand. Wenn er keine Zeit hatte, und das kam häufig vor, setzte sie sich in die Küche an den Mitarbeitertisch, ließ sich etwas von Mersoud Aligot empfehlen und sah ihm beim Kochen zu. Das war fast so gut wie dieses abgezwackte Zusammensein mit Simon, und sie mochte das umsorgte Gefühl, von dem bulligen Koch auf diese Weise verwöhnt zu werden.
Heute stand Bouillabaisse auf der Mittagskarte, ganz traditionell serviert, die Suppe in einem Topf und die Fische und Meeresfrüchte in einer eigenen vorgewärmten Schale daneben. Dazu gab es frisches Baguette, und Lilou konnte gar nicht genug davon bekommen. Mersoud gab ihr lachend einen Nachschlag.
»Wer ist das?«, fragte sie und nickte zu dem hageren Handwerker hinüber, der sich an der Tür zur Küche zu schaffen machte.
»Das ist Amalies Mann, Monsieur Legrange. Er tauscht die Schlösser aus.«
»Ah, stimmt.« Lilou erinnerte sich, dass Simon mit seiner Serviceleiterin hatte sprechen wollen. Dass der serrurier so zügig kam, war erfreulich und für Handwerker nicht gerade üblich. »Sehr gut.«
»Ich glaube ja nicht, dass jemand hier eingebrochen ist«, sagte Mersoud und wandte sich wieder seinen Kochtöpfen zu. »Bei uns gibt’s doch nichts zu holen.«
»Simon meint, es verschwinden ständig Lebensmittel«, entgegnete Lilou. »Und wenn es keiner von euch war …«, sie deutete in Richtung der Gaststube, »… dann muss sich ja jemand hier Zutritt verschafft haben.«
»Ach, weißt du«, Mersoud zuckte mit den schweren Schultern, »in einem Restaurant kommt doch immer was weg. Jeder nimmt mal was mit. Und wenn es nur die Gerichte sind, die die Gäste zurückgehen lassen.«
Lilou hob die Brauen. »Wer lässt denn dein Essen zurückgehen?«
»Niemand.« Mersoud lachte kehlig. »Aber am Ende des Tages bleibt immer noch genug übrig, um eine ganze Familie zu ernähren. In den meisten Restaurants würden die Reste einfach weggeworfen, aber Simon besteht darauf, dass wir alles verwerten und nichts verschwenden.« Er hob die Hände. »Sonst wäre es ihm wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen.«
»Verstehe.« Sie tunkte den Rest der Bouillabaisse mit dem Baguette auf. »Das war köstlich, Mersoud.«
Simon kam in die Küche. »Ich sehe, es hat dir geschmeckt«, meinte er angesichts ihres blitzblanken Tellers.
»Mersouds Bouillabaisse ist wirklich ein Gedicht.« Lilou stand auf und erwiderte seine Umarmung.
Er drückte sie kurz an sich. »Weißt du schon etwas von der toten Frau gestern?«
»Nein.« Lilou runzelte die Stirn. »Wir sind da nicht zuständig. Das ist ein Fall für die Gendarmerie.«
»Ja, ich weiß.« Simons Gesicht hatte sich verfinstert. »Ich dachte nur, dass es dich auch interessiert.«
»Das tut es doch.« Sie machte eine unwirsche Handbewegung. »Der Gendarm wollte sich melden, sobald es Ergebnisse gibt.«
»Das heißt, du weißt noch nichts Neues?«
Lilou schüttelte den Kopf. »Nein. Wahrscheinlich war es doch nur ein Badeunfall. Dann wird nicht weiter ermittelt.«
»Ach so.« Simon sah betroffen aus. Offenbar hatte ihn der Tod der jungen Frau mehr mitgenommen, als er sich hatte anmerken lassen.
Tatsächlich hatte auch Lilou Mühe gehabt, das Bild der Toten vor ihrem inneren Auge zu vertreiben. Aber sie war Profi, sie musste so etwas abschütteln wie ein Hund die Wassertropfen nach einem Bad. Zumindest redete sie sich das ein.
»Ich muss los, Simon«, sagte sie.
»Ich weiß.« Er küsste sie zum Abschied. »Dann sehen wir uns heute Abend.«
»Ja.« Lilou erwiderte den Kuss. »Bis später!«
Zurück in ihrem Büro gelang es Lilou nicht mehr, an etwas anderes zu denken; die Tote drängte sich unerbittlich in ihre Gedanken. Schließlich gab sie auf. Sie rief im Krankenhaus an und bat, mit Docteur Bonaventure verbunden zu werden. Es war reine Neugierde, sie hatte mit dem Fall der Ertrunkenen gar nichts zu tun, wie der Gendarm gestern richtig festgestellt hatte. Carroux und damit der Lac du Péty lagen im Zuständigkeitsbereich der Gendarmerie und nicht der Police nationale. Doch das blasse Gesicht der jungen Frau, ihre nassen Haare und diese seltsame Verletzlichkeit, die Lilou bei ihrem vergeblichen Rettungsversuch wahrgenommen hatte, all das hatte sich bei ihr zu tief eingebrannt. Diese Erinnerung ließ sich nicht einfach abschütteln.
Aber der Rechtsmediziner war nicht zu erreichen. Die Vermittlung stellte sie in sein Büro durch, doch niemand ging ans Telefon. Enttäuscht legte Lilou auf. Dann sah sie auf die Uhr. Es stand im Augenblick nichts Wichtiges an, und eigentlich sprach nichts dagegen, dass sie selbst zum centre hospitalier fuhr und mit Bonaventure sprach. Vielleicht bekam sie so die Bilder aus dem Kopf.
Sie fand den korpulenten Arzt tatsächlich im Sektionssaal. Er warf ihr einen unwirschen Blick zu, als sie an die offen stehende Tür klopfte.
»Mademoiselle Braque, was wollen Sie denn hier?« Er zog die buschigen Brauen zusammen. »Ich habe hier niemanden von Ihnen auf dem Tisch.«
Lilou schluckte. Natürlich meinte er niemanden ihrer Kollegen, sondern wollte sagen, dass er im Augenblick keinen Fall bearbeitete, mit dem die Police nationale zu tun hatte. Aber seine Wortwahl rief bei ihr ein ungutes Gefühl hervor.
»Sie müssten gestern die Leiche einer jungen Frau hereinbekommen haben«, erwiderte sie. »Charlene Thomas. Sie ist wahrscheinlich ertrunken.«
Er nickte. »Die ist noch in der Kühlung«, sagte er und deutete zu den Fächern an der Wand. »Hatte noch keine Zeit. Sie sehen ja, was hier los ist.« Er machte eine ausholende Handbewegung.
Lilou folgte seinem Blick und bemerkte erschrocken, dass alle vier Tische belegt waren. Die Körper waren mit Tüchern bedeckt, und sie war froh, nicht sehen zu müssen, was sich darunter verbarg. »Was ist passiert?«, fragte sie. So viele Tote auf einmal – davon hätte sie eigentlich etwas mitbekommen müssen.
»Gasunfall«, erklärte Bonaventure knapp. »Kein schöner Anblick. Ist heute Morgen passiert. Da ermittelt die Gendarmerie mit den Leuten vom Brandschutz.«
Lilou wandte sich schaudernd ab. Sie würde die Details noch früh genug aus den Nachrichten erfahren.
»Wieso interessieren Sie sich für die Tote vom Lac du Péty?«, wollte der Rechtsmediziner wissen. Mit einem Schnalzen zog er die Handschuhe von seinen Fingern.
»Ich habe sie gestern Abend gefunden«, antwortete Lilou.
»Also ein privates Interesse, hm?« Bonaventure hob eine Braue, dann zuckte er mit den Schultern. »Ich sehe sie mir heute Nachmittag an. Gibt’s denn einen Hinweis auf Fremdverschulden? Im Bericht stand nichts davon.«
»Aber nein.« Lilou schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich war es einfach ein Badeunfall. Sie ist nur so jung, und sie wirkte selbst im Tod noch so gesund und fit.«
»Wenn’s so weit ist, kann es jeden treffen«, gab Bonaventure lakonisch zurück. »Ich sag Ihnen Bescheid, sobald ich fertig bin.«
»Danke.«
Lilou ging gerade über den Parkplatz zurück zum Wagen, als ihr Telefon läutete. Es war Lieutenant Cravasse, die einzige Polizistin in ihrer Truppe. Außer ihr selbst natürlich, korrigierte sie sich im Stillen. Inzwischen gehörte sie ja ebenfalls zur »Truppe« – ein Gedanke, an den sie sich erst noch gewöhnen musste. Lilou nahm das Gespräch an, während sie das Auto aufschloss.
»Valerie, was gibt’s?«
»Lilou, wir sind im Einsatz bei einem Notar. Seine Sekretärin kann ihn nicht erreichen und möchte, dass wir die Tür zu seinem Büro aufbrechen lassen.«
»Ein Notar, sagst du?« Lilou setzte sich ans Steuer. »Besteht denn Gefahr im Verzug?«
Cravasse schnaubte in den Hörer. »Kann ich nicht sagen. Die Lage ist ziemlich verworren. Und da es ein Notar ist …«
Lilou wusste, was sie meinte. Gegenüber Angehörigen juristischer Berufe war bei polizeilichen Einsätzen besondere Umsicht geboten – das französische Rechtssystem hielt eine schützende Hand über seine Leute, und Raoul Beringer als Vertreter der Staatsanwaltschaft war in solchen Dingen besonders penibel.
»Seid ihr schon vor Ort?«, fragte Lilou. »Und was sagt Commissaire Demoireau dazu?«
»Wir stehen in der Kanzlei«, antwortete Cravasse. »Und den Chef erreiche ich nicht.«
»Verstehe.« Lilou rieb sich über die Stirn. Die Entscheidung, die Tür zum Büro eines Notars aufbrechen zu lassen, konnte weitreichende Folgen haben, da brauchte sie genauere Informationen. »Gib mir die Adresse, ich komme hin.«
Der Notar residierte im ersten Stock eines schön renovierten Altbaus an der Place Aristide Briand in Sichtweite des alten Hôtel-Dieu, das die berühmte Bibliothèque l’Inguimbertine beherbergte. Lilou stellte das Auto im Halteverbot neben dem Streifenwagen ab und legte ein blau-weiß-rotes Schild mit der Aufschrift »Police nationale« hinter die Windschutzscheibe.
Lieutenant Cravasse war in Begleitung von Brigadier Cropardin, die beiden warteten in der Tür zur Kanzlei. Eine ältliche Frau in auffallend konservativer Kleidung, trotz der Wärme hochgeschlossen, mit Halstuch und Nylonstrümpfen, stand neben ihnen und sah Lilou ungeduldig entgegen. »Wo bleiben Sie denn so lange?«, monierte sie anstelle einer Begrüßung. »Und wo ist der Mann vom Schlüsseldienst?«
»Guten Tag, Madame«, erwiderte Lilou betont höflich. »Ich bin Commissaire Braque. Sagen Sie mir doch bitte erst einmal, was passiert ist.«
»Sie sind Commissaire?« Die Frau musterte Lilou misstrauisch, ihre kurzen blonden Haare, die zierliche Statur, das offenbar viel zu junge Gesicht. Erst dann schien sie die weiße Uniformbluse, die Schulterklappen mit den fünf Eichenblättern, die dunkle Hose mit den vielen Taschen und den Gürtel mit der Waffe zu registrieren und verzog missbilligend das Gesicht. »Nun gut, jeder hat wohl einmal angefangen.« Sie deutete auf die beiden Polizisten. »Ich habe Ihren Kollegen schon alles gesagt. Monsieur Sousteron ist heute Morgen nicht in die Kanzlei gekommen, und ich kann ihn telefonisch nicht erreichen. Ich war deshalb vorhin bei ihm zu Hause, aber da ist er auch nicht. Und Mademoiselle Thomas, unsere Mitarbeiterin, ist auch nicht zur Arbeit erschienen.« Sie rang die Hände. »Irgendetwas muss passiert sein.«
»Thomas?« Lilou hob die Brauen. »Charlene Thomas?«
Die Sekretärin nickte. »Ja. Sie geht auch nicht ans Telefon. Ich dachte erst, dass sie einen gemeinsamen Termin haben, der nicht im Kalender steht, aber nun warten schon zwei Klienten.« Sie wies auf eine angelehnte Tür. »Das ist höchst besorgniserregend.«
Lilou betrat die Kanzlei und warf einen Blick in den Raum, auf den die Sekretärin gedeutet hatte. Gepolsterte Stühle und ein kleiner Tisch mit Zeitschriften, offensichtlich eine Art Wartezimmer. Eine gut gekleidete Frau stand mit dem Rücken zur Tür an dem Tischchen und blätterte in den Zeitungen. Sie wandte sich um. »Dauert das noch lang?«, fragte sie. Als sie Lilous Uniform bemerkte, zog sie scharf die Luft ein. »Ist etwas passiert?«
Der Mann, der auf einem Stuhl saß, erhob sich ebenfalls. »Ich habe nicht mehr viel Zeit«, brummte er. »Ich warte schon seit einer Stunde.«
»Es ist wohl besser, wenn Sie gehen«, erwiderte Lilou mit fester Stimme.
Die Sekretärin des Notars war neben sie getreten. »Monsieur Sousteron wird sich so bald als möglich bei Ihnen melden«, versicherte sie.
Zweifelnd sah die Frau sie an und murmelte etwas Unverständliches, dann ergriff sie ihre Handtasche, und die beiden verließen das Notariat.
Die Sekretärin wandte sich Lilou zu. »Also, was gedenken Sie jetzt zu tun?«
Lilou atmete tief durch. Sie hasste es, solche Mitteilungen machen zu müssen. »Charlene Thomas ist gestern ums Leben gekommen.«
»Mon dieu, was ist geschehen?« Die Frau wurde blass, ihr Gesicht verzog sich in plötzlichem Schmerz. »Sie war doch noch so jung!«
»Sie ist im Lac du Péty ertrunken«, antwortete Lilou. »Es tut mir leid.«
»Ertrunken?« Die Frau trat einen Schritt zurück. »Das kann doch nicht sein. Charlene ist eine hervorragende Schwimmerin, sie war praktisch ständig am See.«
»Es tut mir sehr leid«, wiederholte Lilou. »Die Gendarmerie bearbeitet den Fall. Am besten sprechen Sie mit den Kollegen, die können Ihnen mehr dazu sagen.«
Die Sekretärin zog ein Tuch aus der Tasche ihres Rocks und tupfte sich die Augen ab. »Wie furchtbar«, murmelte sie. »Aber was ist dann mit Monsieur Sousteron?«, fragte sie erschrocken. »Weiß er es schon? Ist er deshalb nicht erschienen? Aber warum hat er mir nicht Bescheid gegeben?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Lilou. »Ist Monsieur Sousteron verheiratet? Gibt es irgendjemanden, der wissen könnte, wo er ist?«
»Nein.« Die Frau schüttelte den Kopf. Lilou fiel auf, dass sich kein einziges Haar ihres eisengrauen Pagenkopfs bewegte. »Er ist geschieden, und soweit ich weiß, lebt er allein. Sein Privatleben hält er sehr bedeckt.«
»Ist er vielleicht mit Charlene Thomas auch …«, sie zögerte. »… auch privat bekannt?«
Die Frau fuhr erbost auf. »Was wollen Sie damit andeuten? Er ist ein ehrenhafter Mann. Er würde doch nichts mit so einem jungen Ding anfangen.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, das Verhältnis zwischen den beiden ist rein beruflich und über jeden Zweifel erhaben.« Lilou erntete noch einen empörten Blick. »Also wirklich, was Sie denken!«
Lilou machte eine beschwichtigende Geste. »Ich denke erst einmal gar nichts. Ich muss nur allen Möglichkeiten nachgehen.« Sie lächelte aufmunternd. »Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?«
»Am Freitag«, antwortete die Frau. »Da war er wie immer.«
»Gestern nicht?« Lilou sah sie überrascht an.
»Nein, ich hatte gestern frei.« Die Sekretärin schnupfte pikiert. »Aber er und Mademoiselle Thomas müssen hier gewesen sein, sie hatten beide Termine.« Sie deutete auf ihren Schreibtisch. »Und hier lagen neue Akten und Aufzeichnungen, die ich für ihn tippen sollte.«
»Ist Ihnen heute Morgen, als Sie kamen, irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein. Die Eingangstür zur Kanzlei war noch abgeschlossen. Monsieur Sousteron und Mademoiselle Thomas erscheinen normalerweise gegen neun. Nur heute nicht, es ist gar niemand gekommen.«
Lilou sah sich um. Von dem kurzen Flur, in dem sie standen, gingen zwei weitere Türen ab. »Wo ist Monsieur Sousterons Büro?«
»Hier, bitte, kommen Sie«, sagte die Sekretärin. Sie führte sie in ein geräumiges Zimmer. Eine Wand war von einem großen Aktenschrank bedeckt, ein Schreibtisch stand in der Mitte des Raums. »Das ist mein Arbeitsplatz«, erklärte sie. »Und hier ist Monsieur Sousterons Büro.« Sie deutete auf eine zweiflügelige Holztür mit mehrfarbigen Intarsien. »Es ist abgesperrt.«
»Haben Sie denn keinen Schlüssel?«
Die Sekretärin schüttelte entschieden den Kopf. »Normalerweise schließt er nie ab. Ich glaube, nicht einmal Mademoiselle Thomas hat einen Schlüssel.« Sie zog erneut das Taschentuch hervor. »Hatte, sollte ich wohl sagen.«
Draußen vor der Tür erklang auf einmal die Stimme von Cravasse. »Du kannst hier nicht rein«, hörte Lilou sie sagen.
»Was ist denn passiert?« Eine junge Stimme, ein wenig heiser wie kurz vor dem Stimmbruch.