Lavendel-Fluch - Carine Bernard - E-Book
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Lavendel-Fluch E-Book

Carine Bernard

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Beschreibung

Lavendelduft, ein altes Geheimnis und ein Toter im Weinberg - sommerliche Krimispannung in der Provence! »Lavendel-Fluch« ist der 3. Teil der Provence-Krimi-Reihe »Die Lavendel-Morde«, die mit cosy crime und jeder Menge Urlaubs-Feeling in die Provence entführt. Ausgerechnet während eines romantischen Picknicks mit ihrem Freund Simon Bastien wird Lilou Braque, die junge Kommissarin in Ausbildung, zum Tatort eines Mordes gerufen: In einem Weinberg mitten in der Provence wurde ein Mann mit einer Schrotflinte erschossen. Während Lilou versucht, die Identität des Toten zu klären, entdeckt ihre Freundin Claire im Geheimfach eines antiken Schreibtischs den Kaufvertrag für ein Château aus dem Jahr 1933. Seltsamerweise scheint es das Château aber gar nicht zu geben, und auch zu seinem angeblichen Besitzer finden sich keinerlei Einträge. Als Lilou feststellt, um wen es sich bei dem Ermordeten handelt, ist sie sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Fall und Claires Entdeckung gibt: Hat der Tote im Weinberg die falschen Fragen gestellt? Die Urlaubs-Krimis von Carine Bernard versüßen den Urlaub auf Balkonien ebenso wie eine Reise nach Frankreich: An der Seite der liebenswerten jungen Kommissarin Lilou Braque lassen sich die schönsten Ecken der Provence entdecken. Die Provence-Krimi-Reihe »Die Lavendel-Morde« umfasst folgende Bände: • Lavendel-Tod • Lavendel-Gift • Lavendel-Fluch

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Carine Bernard

Lavendel-Fluch

Ein Provence-Krimi

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ausgerechnet während eines romantischen Picknicks mit ihrem Freund Simon Bastien wird Lilou Braque, die junge Kommissarin in Ausbildung, zum Tatort eines Mordes gerufen: In einem Weinberg mitten in der Provence wurde ein Mann mit einer Schrotflinte erschossen.

Während Lilou versucht, die Identität des Toten zu klären, entdeckt ihre Freundin Claire im Geheimfach eines antiken Schreibtischs die Besitzurkunde für ein Château aus dem Jahr 1933. Seltsamerweise scheint es das Château aber gar nicht zu geben, und auch zu seinem angeblichen Besitzer finden sich keinerlei Einträge.

Als Lilou feststellt, um wen es sich bei dem Ermordeten handelt, ist sie sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Fall und Claires Entdeckung gibt: Hat der Tote im Weinberg die falschen Fragen gestellt?

Die Urlaubs-Krimis von Carine Bernard versüßen den Urlaub auf Balkonien ebenso wie eine Reise nach Frankreich: An der Seite der liebenswerten jungen Kommissarin Lilou Braque lassen sich die schönsten Ecken der Provence entdecken.

Inhaltsübersicht

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Danksagung

Leseprobe »Lavendel-Grab«

 

 

 

 

Ein Schuss zerreißt die Luft. Hellrote Trauben erzittern an ihren Stängeln, verlieren vor Schreck ein wenig von ihrer Süße. Der Mann im Weinfeld erschrickt ebenfalls, aber der Moment währt nicht lange, denn der Schuss trifft seine Brust, sein Herz erzittert und bleibt stehen. Er ist tot, noch bevor er zwischen den Trauben zu Boden fällt.

Kapitel 1

Lilou erwachte von einem Kitzeln an ihrer Nase. Ohne die Augen zu öffnen, schlug sie mit der Hand nach dem lästigen Störenfried. Das Kitzeln wanderte weiter über ihre Wange zu ihrem Ohr. Sie drehte den Kopf weg. Der Geruch nach staubiger Erde stieg ihr in die Nase und brachte für einen Moment den rasch entschwindenden Traum zurück, doch ein Flüstern an ihrem Ohr vertrieb ihn endgültig.

»Aufwachen!« Warmer Atem streifte ihre Wange.

Sie schlug die Augen auf und lächelte Simon an. »Ich habe gar nicht geschlafen.«

»Ach, wirklich nicht?« Er grinste und küsste sie auf die Nase. »Ist doch okay, wenn du müde bist.«

Sie streckte sich genüsslich und gähnte. Er hatte natürlich recht. Nach den Nachteinsätzen der letzten Woche hatte sie sich ein wenig Erholung verdient. Andererseits gehörten genau die zu ihrem Job, auch wenn sie nach wie vor nur Praktikantin war und keine fertig ausgebildete Commissaire. Immerhin hatten sie endlich die Einbrecherbande dingfest gemacht, die seit einigen Wochen in Carpentras ihr Unwesen trieb. Fünf Marokkaner saßen seit gestern in Untersuchungshaft und warteten auf ihre Gerichtsverhandlung.

Lilou gähnte noch einmal herzhaft und setzte sich auf. Sie musste tatsächlich eingeschlafen sein, denn die Sonne war inzwischen ein gutes Stück weitergewandert und brannte nun hoch über ihr vom Himmel.

Simon stammte aus Kanada und lebte erst seit einem Monat in Carpentras, wo er im Haus seines verstorbenen Großonkels ein Restaurant eröffnen wollte. Gestern hatte er ihr gegenüber den Wunsch geäußert, die Umgebung seiner neuen Heimat besser kennenzulernen, und den erfüllte Lilou ihm nur zu gern. Schließlich war abzusehen, dass ihre gemeinsame Zeit hier bald zu Ende ging, also galt es, jeden Moment zu genießen.

So waren sie heute früh aufgebrochen und nach Carroux gefahren, ein kleines Dorf, das am Rand der fruchtbaren Ebene rund um Carpentras inmitten von Weinfeldern am Fuß einer Hügelkette lag. Die bewaldeten Hänge erhoben sich nach Südosten immer weiter und weiter bis zum Mont Ventoux mit seinem kahlen, kalten Gipfel, der als weithin sichtbare Landmarke diese Landschaft und sogar das Wetter prägte. In morgendlicher Kühle waren sie hinauf zum Lac du Péty gewandert und hatten auf das Erwachen der Zikaden in den alten Olivenbäumen gelauscht, als die Sonne höher stieg und ihre wärmenden Strahlen den Hügelzug erreichten. Nun stand der flammende Ball hoch und fast weiß über dem Tal und brannte herab, brachte Thymian und Kiefern zum Duften und befeuerte den Gesang der Zikaden.

»Ist noch Kaffee da?«, fragte Lilou.

»Du hast Glück, Honey.« Simon schraubte die Thermoskanne auf und goss den letzten Schluck in ihre Tasse.

An seine Vorliebe für englische Kosenamen hatte sich Lilou erst gewöhnen müssen. »Das kann man wohl sagen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und sah sich um. Die Reste ihres Picknicks hatte Simon bereits aufgeräumt und die Teller zusammengestellt.

»Trink aus«, sagte er und stand auf. »Ich will dir etwas zeigen.«

Lilou griff nach seiner ausgestreckten Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. »Was denn?«

»Komm mit!«

Sie folgte ihm über die abschüssige Wiese hinunter zum Waldrand. Zwischen einigen Kiefern erkannte sie eine steinige Mulde ohne Bewuchs, und neugierig trat sie näher. Simon ging in die Hocke und berührte ein Stück Metall, das vor ihm aus dem Boden ragte.

»Was denkst du, was das ist?«

Lilou sah sich um. Mehrere große Metallteile lagen am Rand einer fast kreisrunden Senke verteilt, die wie aus Stein gegossen schien. Rostig, verbeult, verbogen. Reste von weißer Farbe schimmerten durch den Rost, ein Teil sah aus wie der zerknickte Rahmen eines Fensters.

»Ein Autowrack?«

Simon hob die Schultern. »Ja, wahrscheinlich. Aber wie kommt das hier herauf? Und warum räumt es niemand weg?«

»Wenn es dich wirklich interessiert, frage ich Commissaire Demoireau danach. Der kennt sich hier aus, er weiß es bestimmt.«

Lilou bückte sich und untersuchte eines der Karosserieteile genauer. In einer Vertiefung im rostigen Blech hatte sich Erde angesammelt, ein kleiner Baum wuchs daraus hervor. »Das liegt hier schon länger«, stellte sie fest. »Und das war auch kein Auto. Sieh mal, dieses Stück ist viel zu lang.«

»Was war es dann?«

»Ein Flugzeug vielleicht.«

Simon wies auf den verdrehten Rahmen. »Dann muss das hier das Cockpit gewesen sein.«

»Ja, möglich.« Lilou fröstelte plötzlich trotz der Wärme. Sie erhob sich und griff nach seiner Hand. »Dieser Ort ist mir unheimlich.«

Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. »Sagt die angehende Commissaire?«

»Das ist etwas anderes.« Sie lehnte sich einen Augenblick gegen ihn, dankbar für seine Gegenwart, und zwang die Bilder zurück, die ihre lebhafte Fantasie ihr aufdrängte. Bilder von einem kleinen weißen Flugzeug und einem taumelnden Flug im Kampf gegen den Sturm, von der Todesangst des Piloten, vom Knall des Aufpralls und dem Feuer, dessen Spuren noch an den verbrannten Stümpfen einiger Bäume erkennbar waren.

Simon drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Dann komm, lass uns gehen.«

Sie kehrten zu ihrer Picknickdecke zurück, verpackten alles in ihre Rucksäcke und stiegen den Hang weiter hoch, um wieder auf den Wanderweg zu gelangen, der sich oberhalb des Lac du Péty entlangzog. Oben angelangt, atmete Lilou tief durch und ließ die Gegend auf sich wirken. Von hier aus hatte man eine weite Sicht über die Ebene bis nach Carpentras, das im flirrenden Dunst gerade noch zu erahnen war. Das satte Grün einer riesigen alten Eiche beruhigte ihre aufgewühlten Nerven, und der Duft nach Thymian und aufgeheiztem Stein verdrängte die Schatten der Vergangenheit. Sie schaute sich um und deutete mit der Hand nach Osten.

»Sieh mal, der Mont Ventoux«, sagte sie. Die eindrucksvolle Silhouette wirkte zum Greifen nah.

»Da möchte ich auch irgendwann hoch«, erwiderte Simon.

Lilou wandte sich zum Gehen. »Klar. Aber das machen wir ein andermal.«

 

Der Weg führte bergab, er wurde steiler und so schmal, dass sie hintereinandergehen mussten. Dicht stehende Bäume mit dunklen Kronen spendeten Schatten, trotzdem war Lilou bald schweißgebadet. Endlich verbreiterte sich der Weg wieder, der Bewuchs lockerte auf, und sie traten auf eine Lichtung hinaus. Ein trutziges kleines Gebäude erhob sich am anderen Ende der Freifläche. Beim Näherkommen erkannte Lilou, dass es eine kleine Kapelle war, komplett mit Marienstatue und einem winzigen Glockenturm.

Simon war ein paar Schritte vorausgegangen und wies auf eine Marmortafel, die in die Wand eingelassen war. »Hier hast du dein Flugzeug.«

Lilou kam ebenfalls heran und musterte die Inschrift. Die Tafel war zwei jungen Männern gewidmet, einem Piloten und seinem Funker, die bei einem Flugzeugabsturz im Jahr 1934 in der Nähe der Kapelle ums Leben gekommen waren. »Tatsächlich«, sagte sie.

Simon hatte sein Handy gezückt und googelte nach den Namen. »Hier steht, dass es ein Postflugzeug war, das abgestürzt ist.«

Offenbar hatten sie die Zivilisation wieder erreicht und damit auch eine ausreichende Netzverbindung. In diesem Augenblick läutete Lilous Telefon. Sie warf einen Blick auf das Display, die Nummer war unterdrückt, das konnte eigentlich nur …

»Allô?«

»Mademoiselle Braque, wo stecken Sie denn!« Die Stimme von Commissaire Demoireau klang überlaut aus dem Lautsprecher. »Ich versuche schon seit Stunden, Sie zu erreichen!«

»Wir sind wandern und hatten bis eben kein Netz.«

»Kommen Sie bitte so schnell wie möglich. Es gibt einen Toten.«

Lilou nahm einen tiefen Atemzug und unterdrückte den Unmut über den nun doch nicht freien Sonntag. »Wo?«

»Oberhalb von Sainte-Camille, in einem Weinfeld.«

»Sagen Sie mir bitte die Adresse, ich komme sofort.«

»Das finden Sie nie«, erwiderte Demoireau. »Ich schicke Ihnen einen Wagen. Wo sind Sie?«

Lilou schluckte den aufsteigenden Ärger hinunter. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, mit dem Commissaire über ihre Ortskenntnisse zu diskutieren. »Am Lac du Péty«, antwortete sie stattdessen. »Wissen Sie, wo das ist?« Den Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen.

Demoireau ging darauf nicht ein. »Ein Kollege ist in zwanzig Minuten unten am Parkplatz.«

Es tutete, der Commissaire hatte das Gespräch beendet.

»Was ist passiert?« Simon sah sie fragend an.

»Das war Commissaire Demoireau.« Sie schnitt eine Grimasse und steckte das Telefon zurück in die Tasche.

»Das dachte ich mir schon. Was wollte er?«

»Mein Wochenende beenden«, sagte sie. »Es tut mir leid. Wir müssen sofort zurück, ich werde vom Parkplatz abgeholt.«

Einen Moment lang verzog sich sein Gesicht, aber er hatte sich sofort wieder im Griff. »Dann sollten wir uns besser beeilen.«

 

Zwanzig Minuten später trafen sie verschwitzt und außer Atem am Parkplatz ein. Gardien Tairrousse wartete dort bereits. Als er sie kommen sah, startete er den Motor und bedeutete Lilou mit winkenden Gesten, sich zu beeilen.

Sie zog ihren Autoschlüssel aus der Hosentasche. »Fahr bitte nach Hause«, sagte sie zu Simon und drückte ihm den Schlüssel in die Hand. Sie deutete auf ihren blauen Kangoo. »Du findest doch allein zurück, oder?«

»Klar.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Bis nachher, Hon!«

Sie unterdrückte ein Schmunzeln und wandte sich ab. Immerhin sagte er nicht mehr »Babe« zu ihr, nachdem sie ihm klipp und klar gesagt hatte, dass sie nicht wie ein Schweinchen genannt werden wollte.

 

Wenig später bog Tairrousse in einen unscheinbaren Feldweg ein. Während der Peugeot über Sand und Steine einen Hügel hinaufholperte, leistete sie im Stillen Abbitte bei Demoireau. Diesen Ort hätte sie selbst mithilfe der Navigations-App auf ihrem Handy nicht gefunden. Hinter einer Kurve bremste Tairrousse scharf. Mehrere Autos parkten hier am Straßenrand. In einiger Entfernung standen Menschen; Lilou erkannte Commissaire Demoireau und die leuchtend roten Haare von Capitaine Valérie Cravasse.

Sie stieg aus und ging eilig näher. Demoireau erblickte sie und kam ihr ein paar Schritte entgegen. Kritisch musterte er ihren Aufzug: die staubigen Wanderschuhe, dazu die kurzen Hosen und das ärmellose Shirt, ihr verschwitztes Gesicht. Und seinem missbilligenden Gesichtsausdruck nach zu schließen, waren ihre kurzen blonden Haare bestimmt zerzaust. Unwillkürlich hob sie die Hand und strich sie glatt. Was hatte er erwartet, wenn er sie von einem Sonntagsausflug wegrief?

Doch er sagte nichts, nickte nur grüßend und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Vor ihm traten die Leute zur Seite und gaben die Sicht frei auf eine rot-weiße Absperrung zwischen den Weinreben. Lilou folgte Demoireau eine kleine Böschung hinab und zwängte sich durch die ersten Weinstockreihen. Innerhalb der Absperrung lag eine Gestalt ausgestreckt auf dem Rücken. Lilous Augen zuckten bei dem Anblick unwillkürlich zur Seite, doch sie unterdrückte die Regung. Sie musste schließlich lernen, so etwas kühl und emotionslos zu betrachten, also zwang sie sich, genauer hinzusehen.

Männlich. Weiß. Etwas über mittelgroß. Volles, dunkles Haar. Jeans, helles Hemd, die Ärmel hochgekrempelt. Sportschuhe aus Leinen, vom gleichen gelblichen Staub bedeckt wie die Erde zwischen den Weinstöcken. Eine breite Armbanduhr. Zuletzt richtete sie ihre Augen doch noch auf den Brustkorb des Mannes, in dem ein blutig-roter Krater klaffte, und auf sein Gesicht, das unter all dem Blut keinerlei Konturen mehr erkennen ließ. Hastig drehte sie den Kopf weg und blickte zu Demoireau.

»Weiß man schon, wer es ist?«

Er verneinte. »Sein Portemonnaie mit den Ausweisen war in der Brusttasche, der Inhalt ist völlig zerfetzt. Sonst trägt er nichts bei sich.«

Eine rundliche Gestalt erhob sich neben der Leiche, es war Dr. Bonaventure, der Rechtsmediziner, den Lilou bei ihrem ersten Fall in Carpentras bereits kennengelernt hatte. Er nickte ihr beiläufig zu und wandte sich direkt an Demoireau.

»Ich bin fertig, von mir aus kann er weg.«

Bonaventure war ein korpulenter Mann, der schon ohne jegliche Anstrengung zum Schwitzen neigte. Hier im schattenlosen Weinberg zeugten große Schweißflecken an seinem gestreiften Hemd von der Anstrengung, die ihn alleine das Atmen zu kosten schien. Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über den fast kahlen Schädel.

»Haben Sie irgendetwas entdeckt?«

»Sie meinen, außer der offensichtlichen Tatsache, dass der Mann durch zwei Schüsse aus kurzer Distanz mit einem Schrotgewehr getötet wurde?« Bonaventure hob die buschigen Brauen. »Der Totenstarre nach zu schließen, liegt er seit gestern Nachmittag hier. Eine Schrotkugel hat seine Uhr getroffen. Wenn die nicht schon zuvor kaputt war, würde ich den Todeszeitpunkt also um kurz nach halb fünf vermuten.«

Bonaventure wandte sich ab, offenbar hatte er alles gesagt, was er zu sagen hatte. Die kauzige Art des Rechtsmediziners war in der Dienststelle legendär. Lilou vermutete, dass er damit seine Gefühlsregungen zu verbergen suchte, wenn ihm etwas besonders naheging.

»Machen Sie bitte auch die Routineuntersuchungen zur Identifizierung«, rief Demoireau ihm hinterher. »Und wir müssen versuchen, sein Auto zu finden«, fuhr er zu Lilou gewandt fort. »Irgendwie muss er ja hergekommen sein, denn wie ein Wandersmann sieht er nicht aus.«

Ein Hund bellte, und Lilou wurde auf eine mollige Frau aufmerksam, die am Rand des Wegs auf einem großen Stein saß. Sie trug Kniebundhosen und eine weit ausgeschnittene Bluse. Unter einem hellen Kopftuch lugten rötliche Locken hervor. Ein Spaniel zerrte an der Leine und kläffte Bonaventure an, der gerade die Böschung zum Weg hochstieg.

»Sie hat den Toten gefunden.« Commissaire Demoireau war Lilous Blick gefolgt. »Carol Finch. Sie wohnt auf der anderen Seite des Weinbergs und ging hier mit ihrem Hund spazieren.«

Lilou nickte. Die Frau war älter, als sie auf den ersten Blick aussah, bestimmt schon über fünfzig. Sie wirkte gefasst, als sie die Leine einholte und ihren Hund beruhigte. Bonaventure stieg in sein Auto, und eine Staubwolke verriet, dass er es eilig hatte, zurück nach Hause zu kommen.

Als Lilou sich wieder dem Fundort der Leiche zuwandte, stand Guillaume Mistral hinter ihr, einer der vier Kriminaltechniker, die in der Dienststelle in Carpentras arbeiteten. Er und einer seiner Kollegen waren hier, um Spuren zu sichern und die ersten Untersuchungen vor Ort vorzunehmen.

»Salut, Lilou.« Er schob die Kapuze seines weißen Overalls nach hinten und warf ihr ein halbes Lächeln zu.

Sie lächelte zurück. Normalerweise war seine Begrüßung deutlich herzlicher, seine Zurückhaltung war bestimmt der Situation geschuldet. Zu Beginn ihres Praktikums war Guillaume der einzige Kollege gewesen, der sie freundlich behandelte. Sie vermutete, dass er sich mehr erhofft hatte, aber seit sie sozusagen offiziell mit Simon Bastien zusammen war, hatte sich ihr Verhältnis zu einer kollegialen Kameradschaft gewandelt, die sie sehr schätzte.

»Der Fundort scheint auch der Tatort zu sein«, sagte Guillaume zu Commissaire Demoireau. »Wir haben keine Spuren gefunden, die auf eine Verbringung des Toten schließen lassen.«

Demoireau nickte. »Wie sieht es mit Fußspuren aus?«

Der technicien schüttelte bedauernd den Kopf. »Es gibt reichlich Spuren von Menschen, Hunden und anderen Tieren. Aber wahrscheinlich lässt sich nicht viel verwerten, der Boden ist zu trocken.« Er wies auf die sandige Erde, die da, wo sie standen, von zahlreichen Schuhabdrücken übersät war. Doch mehr als vage Umrisse waren im gelben Staub nicht zu erkennen. Selbst das grobe Profil von Lilous Wanderschuhen hinterließ nur schwache Abdrücke.

»Haben Sie sonst etwas? Eine Patronenhülse vielleicht?«

»Abuillon sucht noch. Bis jetzt hat er in der passenden Distanz nichts gefunden.«

»Passende Distanz?« Lilou sah ihn fragend an.

»Um mit Schrot solche Verletzungen hervorzurufen, kann der Schütze nur wenige Meter entfernt gewesen sein.«

»Ach so.«

»In diesem Weinberg liegen reichlich Patronenhülsen. Hier scheint regelmäßig gejagt zu werden. Aber direkt bei der Leiche ist nichts.« Guillaume deutete zu seinem Kollegen, dessen weiß gewandete Gestalt sich zwischen den Reben erhob. Er schwenkte einen Arm, Guillaume wandte sich ab und suchte sich eine Lücke zwischen zwei Weinstöcken, um in die nächste Reihe zu gelangen. Er umrundete den abgesperrten Fundort großräumig und wechselte ein paar Worte mit Abuillon, dann winkte er sie ebenfalls heran.

Die Weinstöcke waren alt und wirkten mit ihren knorrigen Stämmen wie kleine Bäume. Sie mussten mehrere Reihen durchqueren, und Demoireau bog die Zweige mit den dicken hellroten Trauben behutsam zur Seite. Trotzdem hatte Lilou zerkratzte Arme, bis sie endlich bei den beiden Kriminaltechnikern ankamen. Abouillon hatte bereits ein gelbes Hütchen platziert und brachte die Kamera in Stellung. Lilou beugte sich darüber. »Ein Pfotenabdruck?«, stellte sie fest.

»Genau.« Guillaume nickte bekräftigend. »Ein mittelgroßer Hund, würde ich sagen. Dahinten sind noch mehr.«

»Das hilft uns auch nicht weiter«, brummte Demoireau. »Die Jagdsaison hat begonnen, und praktisch jeder hier besitzt nicht nur ein Gewehr, sondern auch einen Hund.« Er wandte sich ab und stapfte auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren.

Lilou betrachtete noch einen Moment den Pfotenabdruck. Die Erde zwischen den Weinstöcken war trocken und krümelig, die Ränder des Abdrucks deshalb unscharf und für einen Vergleich wohl kaum geeignet. Aber immerhin war es ein Hinweis.

Sie folgte Demoireau zurück zum Weg. »Es könnte ein Jagdunfall gewesen sein«, meinte sie.

»Aus so kurzer Distanz? Wohl kaum.« Demoireau ließ den Blick über die Weinstöcke schweifen. »Aber wir werden trotzdem morgen früh als Erstes mit dem Vorsitzenden des Jägerverbandes sprechen.« Er nickte ihr zu. »Lassen Sie sich von Tairrousse nach Hause fahren. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.«

 

Es dauerte dann doch noch ein wenig, bis Lilou zu Hause war, denn gerade, als Tairrousse fahren wollte, kam der Leichenwagen den schmalen Feldweg herauf und blockierte die Zufahrt.

Lilou sah zu, wie die beiden Männer vom Bestattungsunternehmen den Leichnam abdeckten und auf eine Trage hoben. Guillaume in seinem weißen Overall gestikulierte heftig und führte sie in einem großen Bogen um den Fundort der Leiche herum; offenbar hatte er Angst, dass sie ansonsten weitere Spuren vernichteten. Ein Reporter war aufgetaucht und schoss Fotos von dem abfahrenden Leichenwagen sowie von Guillaume und den gelben Hütchen, die vom Weg aus zu sehen waren.

 

Die Sonne verschwand gerade hinter den Häusern, die Gassen lagen schon im Schatten, als sie endlich zurück in Carpentras waren. Lilou schloss erleichtert das Haustor hinter sich, da ertönte vor ihr im Treppenhaus lautes Gepolter, und sie hörte eine Frauenstimme fluchen.

»Claire, bist du das?«

»Lilou? Gut, dass du kommst!« Claire, die Nachbarin aus dem zweiten Stock, steckte den Kopf um die Ecke, ihre dunkelblonden Locken wippten.

»Was ist denn los?«

Lilou ging den kurzen Gang entlang nach hinten, vorbei an der verschlossenen Tür, die zum Gastraum des Chez Amande führte, Simons künftigem Restaurant. Am Treppenaufgang blieb sie stehen. Der Durchgang war blockiert von einem schmalen Schreibtisch aus altersdunklem Holz, der schräg auf den untersten Stufen stand.

Claire war außer Atem. »Ich war beim Antiquitätenmarkt in L’Isle-sur-la-Sorgue«, keuchte sie. »Da habe ich dieses Schätzchen erstanden. Und jetzt bekomme ich es nicht hoch.« Sie rang in komischer Verzweiflung die Hände.

Lilou musste lachen. »Ist Alfonse denn nicht da?«

»Nein, er ist auf einer Fortbildung in Paris. Kannst du dir das vorstellen? Paris!« Sie schnaufte entrüstet. »Jedenfalls dachte ich, ich überrasche ihn damit. Nach so etwas haben wir schon lange gesucht.«

»Kein Problem, ich helfe dir.« Lilou quetschte sich an dem Schreibtisch vorbei und ergriff die obere Kante.

»Danke dir. Du bist meine Rettung.« Claire packte die unteren beiden Beine und hob an.

Das kleine Möbelstück war schwerer, als es aussah. Zweimal wäre es Lilou fast aus der Hand gerutscht, als Claire unvermutet bremste, aber schließlich hatten sie die erste Etage geschafft. Doch dann passierte es: Claire stolperte, Lilou konnte den Tisch nicht mehr halten, er kippte um, rutschte klappernd vier Stufen hinunter und kam erst auf dem Treppenabsatz zum Stehen.

»Merde«, fluchte Claire und sprang zur Seite.

Oben ging eine Tür auf, und Simon beugte sich über das Geländer. »Was treibt ihr beiden da?«

»Wir werfen mit Tischen«, gab Lilou zurück. »Was dachtest du denn?« Sie hörte ihn lachen, dann polterten seine Schritte auf der Treppe.

»Simon, dich schickt der Himmel.« Claire strahlte ihn an. »Ich hätte nicht gedacht, dass dieser kleine Tisch so schwer ist.«

Er packte an, und gemeinsam richteten sie das Möbelstück wieder auf. Die Schublade war herausgerutscht, Lilou wollte sie schließen, aber es gelang ihr nicht. »Nanu, was ist denn da los?«

Sie zog sie ganz heraus und musterte die hölzernen Führungen.

»Ist etwas kaputtgegangen?«

»Ich weiß nicht.« Sie setzte die Schublade wieder ein und schob, aber erneut fühlte sie Widerstand. Sie tastete mit der Hand hinter das Schubfach. »Da ist etwas.«

»Was ist es?« Claire kam neugierig heran. Sie bückte sich und spähte in die dunkle Öffnung.

»Lass uns den Tisch nach oben schaffen, da können wir besser sehen«, schlug Simon vor.

Zu dritt war es kein Problem, das widerspenstige Möbel in den zweiten Stock zu schaffen. In Claires Wohnzimmer legten sie den Tisch auf die Seite, und Claire schaltete die Deckenlampe an.

Tatsächlich war an der Unterseite der Tischplatte eine schmale Leiste zu sehen, die verhinderte, dass die Schublade geschlossen werden konnte. Lilou drückte dagegen, sie gab nach, und die Schublade glitt ohne Widerstand an ihren Platz. Als sie sie wieder öffnete, verhinderte die Leiste, dass sie ganz herausgezogen werden konnte. Lilou griff in das Fach, drückte von innen gegen die Kante und zog die Schublade wieder heraus.

Simon musterte den Mechanismus mit gerunzelten Brauen. »Das ist nicht nur eine einfache Sperre«, stellte er fest. Er deutete mit dem Finger auf einen haarfeinen Spalt, der im Holz der Tischplatte zu sehen war.

»Lass mich mal probieren.« Lilou fuhr mit den Fingern den Spalt entlang nach hinten, fühlte eine kleine Unebenheit im Holz und drückte fest dagegen. Es machte hörbar klick, und die Tischunterseite bewegte sich. Die Leiste, die zuvor das Zurückschieben der Schublade verhindert hatte, stand nun ein Stück hervor und bildete die Front einer Klappe, die sich problemlos öffnen ließ. Dahinter befand sich ein niedriges Fach, in dem ein zusammengefaltetes Stück Papier lag.

»Das ist ja ein Geheimfach!«, jubelte Claire. »Was ist da drin? Gib her!«

Lilou zog das Papier hervor und reichte es Claire, die es vorsichtig auseinanderfaltete.

»Das ist aber schwierig zu lesen«, meinte sie und hielt es gegen das Licht. Die Ränder des Schriftstücks waren dunkel angelaufen, es war fleckig, und die einstmals schwarze Tinte an einigen Stellen völlig verblasst.

Lilou schloss das Geheimfach wieder und schob die Schublade an ihren Platz. Gemeinsam mit Simon stellte sie den Tisch auf. Claire legte das Fundstück darauf und strich es mit den Händen glatt.

»Was denkt ihr, was das ist?«

Simon hob die Schultern. »Ein Testament vielleicht?«

»Nein, das ist ein handschriftlicher Vertrag«, entgegnete Lilou und deutete auf das Wort in der Überschrift. »Hier steht es.«

»Acte de vente de …«, buchstabierte Claire. »Das ist ein Kaufvertrag! Kannst du erkennen, was da verkauft wurde?«

»Es könnte Château heißen«, schlug Simon vor.

»Genau, Château Mode… oder Made…? Der letzte Buchstabe ist ein ›e‹«.

»Da unten steht ein Datum.« Simon wies auf die letzte Zeile. »Das hier neben dem Siegel heißt wohl Marseille, und daneben das Datum. 27. August 1933.«

»Oh, ist das spannend!« Claire strahlte. »Können wir herausfinden, worum es hier geht?«

»Das könnten wir bestimmt, sobald wir die Schrift entziffert haben.« Lilou runzelte die Stirn, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ich habe eine Idee! Ich frage Guillaume Mistral, er ist einer der Kriminaltechniker von der Police scientifique. Er kennt sicher eine Möglichkeit, wie man diese verblasste Tinte wieder lesbar machen kann.«

»Prima!« Claire faltete das Dokument zusammen und strich ehrfürchtig über das Papier. »Da steckt bestimmt eine interessante Geschichte dahinter.«

»Du meinst, weil der Kaufvertrag in dem Geheimfach steckte?«

Claire nickte. »Genau. Normalerweise hält man so etwas ja nicht geheim.«

»Du hast recht.« Lilou nahm das Schriftstück an sich. »Aber der Verkauf ist fast einhundert Jahre her. Heute wird sich niemand mehr dafür interessieren.«

 

Vorsichtig trug Lilou das alte Dokument nach oben in ihr Zimmer. Sie hatte Sorge, dass alleine ihre Fingerabdrücke ausreichen könnten, die kaum noch erkennbare Schrift endgültig zu zerstören. Simon war vorangegangen und hielt ihr die Tür auf. In dem kleinen Appartement war es trotz des offen stehenden Fensters unangenehm warm, aber es roch wunderbar.

»Ich habe eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet«, sagte Simon. »Hast du Hunger?«

Als ob er nur auf dieses Stichwort gewartet hätte, begann Lilous Magen zu knurren. »Oh ja.«

Sie holte einen großen Briefumschlag aus dem Schrank und ließ das Papier hineingleiten, bevor sie sich der Küchenzeile zuwandte, die fast die Hälfte der winzigen Wohnung einnahm. Sie hob den Deckel von einer großen Pfanne und sog genießerisch den Duft ein. »Du hast Paella gemacht?«

»Es ist mehr ein Resteessen.« Simon nahm zwei Teller aus dem Schrank und deckte den Tisch. »Wir hatten noch zwei Hühnerbeine vom Picknick und etwas Fischeintopf von gestern. Ich musste nur noch Reis und Erbsen und etwas Safran dazutun.«

»Es riecht fantastisch.«

Simon bewohnte nach wie vor die zweite Einzimmerwohnung im Dachgeschoss, die ein Spiegelbild ihres Appartements war, aber im Gegensatz zu ihrem keine Küche hatte. Dafür besaß Simon inzwischen ein bequemes Bett, und sie hatten sich angewöhnt, hier in ihrer Wohnung zu kochen und drüben bei Simon zu schlafen.

Irgendwann würde Simon hinunter in die erste Etage in die Wohnung seines verstorbenen Großonkels ziehen. Doch dazu musste diese erst entrümpelt und renoviert werden, und für solche Dinge fehlte ihm im Augenblick die Zeit. Sein Restaurant ging vor, und er verbrachte praktisch jede freie Minute in dem großen Lokal im Erdgeschoss des Hauses. Der Gastraum war inzwischen fast fertig, es fehlte nur noch der Boden, den er in den nächsten Tagen bearbeiten wollte.

Beim Essen sprach Simon dann auch von den anstehenden Arbeiten und referierte über die Vor- und Nachteile von geöltem Parkett, doch heute vermochte sich Lilou nicht darauf zu konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, zurück zu dem grausam zugerichteten Toten. Der Anblick saß ihr immer noch in den Knochen. Der Fund des geheimnisvollen Vertrags in dem Geheimfach von Claires Schreibtisch hatte sie den neuen Fall kurz vergessen lassen, doch nun tauchte das Bild der Leiche wieder vor ihrem inneren Auge auf. Obwohl sie zuvor wirklich hungrig gewesen war, schob sie nach der Hälfte ihren Teller von sich.

»Schmeckt es dir nicht, Hon?« Simon musterte sie besorgt.

»Doch, Simon, es schmeckt wie immer großartig. Aber ich fürchte, mir ist der Tote auf den Magen geschlagen.«

Er runzelte die Stirn. »Welcher Tote?«

»Stimmt, du weißt ja noch gar nicht, was heute Nachmittag los war.« Sie bemühte sich, den Vorwurf aus ihrer Stimme herauszuhalten, doch Simon bemerkte es.

»Verzeih, ich habe dich gar nicht gefragt, was eigentlich passiert ist.« Er sah sie schuldbewusst an und legte seine Hand auf ihre. »Darfst du darüber reden?«

Sie nickte. »Man hat einen toten Mann in einem Weinfeld gefunden. Er wurde aus nächster Nähe mit einem Schrotgewehr erschossen.« Sie schauderte unwillkürlich. »Es war kein schöner Anblick.«

»Oje.« Simon stand auf, kam um den Tisch herum und drückte sie an sich. Sie schloss die Augen und schmiegte sich an ihn.

»Es geht schon wieder«, behauptete sie. »Schließlich ist das mein Job.«

»Job hin oder her«, meinte Simon mitfühlend, »so etwas lässt doch niemanden kalt.« Er ließ sie los und stellte die Teller zusammen.

Sie erhob sich ebenfalls und trug die Pfanne in die Küche.

»Ich denke, irgendwann bekommt man auch darin Routine.«

»Hoffentlich nicht.« Er nahm sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wenn dich das Ende eines Menschenlebens nicht mehr mitnehmen würde, fände ich das wirklich bedenklich.«

Kapitel 2

Am nächsten Morgen war Lilou früh in der Polizeiwache. Der Flur im ersten Stock, an dem sich die Dienstzimmer befanden, lag kühl und leer im Morgenlicht. Die Luft roch schwach nach Schmierseife und Bohnerwachs, und es herrschte eine ungewohnte Stille.

Das Büro von Pouff, in dem sich ihr Arbeitsplatz befand, war ebenfalls leer, und dankbar schloss sie die Tür hinter sich. Commandant Didier Pouffin, Demoireaus Stellvertreter und ihr spezieller »Freund«, schien Frauen bei der Polizei für lästiges Beiwerk zu halten, und das ließ er sie bei jeder Begegnung spüren.

In den letzten Wochen waren die Kollegen im Kommissariat nach und nach zugänglicher geworden, und ihr Beitrag bei der Aufklärung des Mordes an Simons Großonkel Frédéric Benoit hatte ihr quer durch alle Dienstgrade Respekt verschafft. Aber nicht bei Pouff. Es war ganz egal, was sie machte: Alles bedachte er mit missbilligenden Blicken aus seinen kalten schwarzen Augen.

Sie ließ sich in den Schreibtischstuhl fallen und schaltete den Computer ein. Man hatte ihr natürlich nur ein älteres Modell zugestanden, deshalb nutzte sie die Zeit, die er zum Hochfahren brauchte, um sich einen Kaffee zu holen.

In der Gemeinschaftsküche am Ende des Flurs traf sie auf Commissaire Demoireau, der ebenfalls ein früher Vogel war und die Stunde der Ruhe vor dem Ansturm des Tagesgeschäfts schätzte.

»Ah, Mademoiselle Braque«, begrüßte er sie. »Kommen Sie gleich in mein Büro?« Er wandte sich ab. »Und bringen Sie bitte Kaffee mit!«

»Aber natürlich.«

Sie schmunzelte, während sie zwei Pappbecher mit Kaffee volllaufen ließ. Der Commissaire stand mit der modernen Kaffeemaschine auf Kriegsfuß und war immer dankbar, wenn jemand sie für ihn bediente. Anfangs hatte sie das persönlich genommen, hatte gedacht, er traue ihr gar nichts zu, außer Kaffee zu kochen. Aber seit sie erkannt hatte, dass es in Wahrheit seine eigene Schwäche im Umgang mit technischen Geräten war, die er auf diese Weise zu verbergen suchte, nahm sie es mit Humor und half ihm gern.

Sie kippte Milch in beide Becher, löffelte Zucker in seinen und folgte ihrem Vorgesetzten in sein Büro. Er wies auf die kleine Sitzgruppe in der Ecke, und Lilou setzte sich auf das abgewetzte schwarze Ledersofa. Der Commissaire blieb stehen und sah sie aufmerksam an.

»Ich habe die Kollegen für neun Uhr zu einer Dienstbesprechung zusammengerufen«, begann er.

Lilou verzog keine Miene. Demoireaus Besprechungen waren legendär. Er bestand darauf, dass alle, die an einem Fall arbeiteten, persönlich anwesend waren. Er war der Meinung, dass es Kommunikation und Zusammenarbeit verbesserte, wenn sich seine Leute wenigstens einmal am Tag von Angesicht zu Angesicht trafen. Von Telefonkonferenzen hielt er nichts, und Dinge wie Videoanrufe waren in seiner Welt noch gar nicht angekommen. Lilou empfand diese Treffen als Zeitverschwendung, aber sie hielt den Mund. Sie war nicht in der Position, daran Kritik zu üben. Und sie musste zugeben, dass diese regelmäßigen Besprechungen manchmal doch Details zutage förderten, die zum Erfolg einer Ermittlung beitrugen.

»Gehen Sie doch einmal mit mir durch, was wir haben!«

Lilou nickte und lehnte sich zurück. »Gern.«

Diese Vorbesprechungen erinnerten sie ein wenig an Prüfungssituationen während ihrer Ausbildung, doch sie vermutete, dass Demoireau sie vor allem dazu nutzte, seine Gedanken zu ordnen. Wie er das wohl handhaben würde, wenn ihr Praktikum zu Ende und sie nicht mehr hier war? Sprach er dann mit Pouff darüber? Vorstellen konnte sie sich das nicht, sein stets missgelaunter Stellvertreter war nicht der Typ für so etwas.

»Wissen wir schon etwas über die Identität des Toten?«, fragte sie.

»Nein.« Demoireau begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Seine Fingerabdrücke sind nicht registriert. Bonaventures Untersuchungen haben auch nichts ergeben, und die DNA-Analyse läuft noch. Was von den Ausweisen übrig ist, liegt bei der Kriminaltechnik, und ein Auto haben wir bislang nicht gefunden. Es gibt auch keine Vermisstenmeldung, die zu dem Toten passt.«

»Okay.« Lilou nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Wo fangen wir dann an?«

»Was würden Sie vorschlagen?«

Lilou musste nur kurz überlegen. »Ich würde ein Team zu den Leuten in der Nachbarschaft des Fundorts schicken und fragen, ob sie etwas bemerkt haben. Und wir müssen herausfinden, ob am Samstag in der Nähe eine Jagd stattgefunden hat.«

Demoireau nickte. »Parallel dazu werden wir bei den Hotels und Pensionen nachfragen, ob ein Gast abgängig ist, auf den die Beschreibung zutrifft.«

»Sollen wir einen Aufruf in die Zeitungen setzen lassen?«

Demoireau schüttelte den Kopf. »Dazu ist es noch zu früh.« Er sah auf die Uhr und erhob sich. »Kommen Sie, es geht gleich los!«

 

Pünktlich um neun Uhr waren alle versammelt. Lilou saß an ihrem angestammten Platz neben Demoireau und ließ den Blick schweifen. Tatsächlich schienen alle, die Dienst hatten, gekommen zu sein. Pouff saß aufrecht wie ein Stock am anderen Ende des langen Konferenztisches und sortierte irgendwelche Unterlagen. Neben ihm lümmelte Guillaume Mistral und putzte seine Brille. Er trug ein zu weites T-Shirt mit einem bestimmt witzigen Spruch, den sie von ihrem Platz aus nicht lesen konnte, und sah müde aus.

Der Nächste in der Reihe war Jamal Emetoit, der große algerischstämmige Capitaine. Lilou nickte ihm zu, er lächelte zurück und ließ seine weißen Zähne aufblitzen. Sie schätzte seine ruhige, besonnene Art und hoffte, dass Demoireau ihn dem Ermittlungsteam zuteilte. Zu Jamals Rechten saß Charles Bashir. Er war erst letzte Woche aus dem Urlaub zurückgekommen und unterhielt sich halblaut mit Valérie Cravasse, der einzigen Frau in der Truppe. Sie war ebenfalls Capitaine, war groß gewachsen und schlank und gab sich gern noch burschikoser als ihre Kollegen.

Auf der anderen Seite des Tisches saßen Tairrousse und Cropardin, zwei ältere Gardiens, sowie Commandant Miquèl Hiroux, der letzte Woche den Einsatz gegen die marokkanische Bande geleitet hatte. Er hob den Kopf, als er ihren Blick spürte, und bewegte die Hand zu einem flüchtigen Gruß. Der Stuhl an Demoireaus rechter Seite war leer. Vom Flur her waren eilige Schritte zu hören, die Tür ging auf, und Staatsanwalt Beringer stürmte herein. Er nickte kurz in die Runde, ohne jemand Bestimmten anzusehen, und ließ sich neben Demoireau fallen.

»Können wir anfangen?«, bellte er.

»Natürlich, Monsieur le Procureur.« Demoireau erhob sich, ohne die Miene zu verziehen. »Wie Sie alle wissen, wurde gestern ein Toter in einem Weinberg oberhalb von Sainte-Camille gefunden. Die Todesursache waren zwei Schüsse aus einem Schrotgewehr, die den Mann aus relativ kurzer Distanz ins Gesicht und in den Brustkorb trafen, so viel ist sicher. Wir ermitteln also in einem Tötungsdelikt.« Er stützte sich auf den Tisch und sah von einem zum anderen. »Die Identität des Mannes ist nicht bekannt, entsprechend wissen wir auch nicht, woher er kommt und was er in dem Weinberg wollte. Fest steht nur, dass der Fundort der Leiche auch der Tatort ist.« Er nickte Guillaume zu. »Monsieur Mistral, bitte.«

Guillaume stand auf und rückte seine Brille zurecht. »Wie Monsieur le Commissaire schon sagte: Wir wissen nicht, wer der Mann ist. Seine Fingerabdrücke sind nirgendwo registriert, und das Ergebnis der DNA-Analyse liegt noch nicht vor. Wir haben zwar seine Ausweise, aber die sind durch den Schuss zerstört worden.« Er griff nach einem Stapel großformatiger Farbfotos und schob sie schwungvoll in die Mitte des Tisches, wo sie zu einer blutigen Collage auseinanderrutschten. »Hier sind die Bilder von der Auffindesituation. Wir haben Fußspuren sichergestellt sowie die Pfotenabdrücke eines Hundes, aber nichts davon in auffälliger Häufung an der Leiche. Dasselbe gilt für Patronenhülsen. In dem Weinberg scheint regelmäßig gejagt zu werden. Ansonsten haben wir leider nichts vorgefunden, was uns einen Hinweis auf die Identität des Toten oder des Schützen geben könnte. Wir konzentrieren uns deshalb im Augenblick auf die Kleidung, die der Tote trug. Abuillon ist da dran.«

Demoireau nickte, Guillaume setzte sich wieder.

»Wo sagten Sie, ist das passiert?« Zum ersten Mal ergriff Staatsanwalt Beringer das Wort.

»In Sainte-Camille«, antwortete Demoireau. »Das ist ein kleiner Weiler in der Nähe von Carpentras, der gerade noch so eben zum Stadtgebiet gehört.«

»Ich weiß, wo das ist.« Beringer machte eine unwirsche Geste. »Lebt da nicht Tréluc mit seiner Familie?«

Hiroux blickte auf. »Sie meinen Yves Tréluc, den Stadtrat?«

»Ja.« Beringer zog die Brauen zusammen. »Das Haus gehört seinem Schwiegervater, Émile Accolay. Er war einige Jahre lang Bürgermeister von Carpentras. Eine sehr angesehene Familie.« Er sah Demoireau ernst an. »Ich hoffe, Sie gehen mit der nötigen Umsicht vor.«

Der Commissaire senkte den Kopf. »Sie können sich darauf verlassen.«

Lilou verbiss sich ein Grinsen. Sie ahnte, was Demoireau davon hielt, wenn man ihm sagte, wie er seine Arbeit zu tun hatte. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er bestimmte die Teams, die die Einwohner von Sainte-Camille befragen würden, und bat Capitaine Bashir, die Hotels abzutelefonieren und nachzufragen, ob ein Gast vermisst wurde. »Monsieur Accolay werde ich persönlich aufsuchen«, schloss er. »Gleich nachdem ich mit dem Vorsitzenden des Jagdverbandes gesprochen habe.«

Beringer nickte. »Was ist mit den Medien?«

»Frühestens morgen, sobald wir erste Ergebnisse haben. Im Augenblick wüsste ich nicht, was wir denen sagen sollten.«

Beringer verzog das Gesicht und stand auf. »Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?«

»Selbstverständlich, Monsieur le Procureur.«

Beringer verließ den Besprechungsraum im gleichen Tempo, in dem er ihn zuvor betreten hatte. Die anderen erhoben sich ebenfalls und bewegten sich langsam in Richtung Tür.

Demoireau wandte sich an Lilou. »Sie begleiten mich. Aber vorher bringen Sie das hier bitte zu Roseanne.« Er drückte ihr ein kleines Aufnahmegerät in die Hand. »Sie soll es abtippen und auf meinen Schreibtisch legen.«

Lilou nickte. Roseanne Filippi war die Sekretärin der Dienststelle. Zu Lilous großer Freude war sie ebenfalls wieder aus dem Urlaub zurück. Braun gebrannt und meistens gut gelaunt tippte sie nun alle Berichte und Protokolle, eine Arbeit, die Demoireau bis dahin ihr, Lilou, aufgetragen hatte.

Während sie den Flur entlang zu Roseannes Büro ging, fiel ihr auf, dass die Sekretärin die Einzige war, die Demoireau beim Vornamen nannte. Der Commissaire siezte alle Kollegen und sprach jeden mit Nachnamen an. Bis auf Roseanne. Unwillkürlich fragte sie sich, ob da etwas dahintersteckte. Oder lag es einfach daran, dass sie beide schon so lange hier waren?

Roseannes Tür stand offen, und sie klopfte an den Türstock, um auf sich aufmerksam zu machen. Roseanne winkte ihr zu.

»Lilou, komm rein!«

Demoireaus Zurückhaltung, was das Duzen betraf, war Roseanne fremd. Sie duzte alle und jeden in der Dienststelle, angefangen bei der Putzfrau bis hoch zu Pouff, den stellvertretenden Leiter. Lilou hatte den Verdacht, dass sie sogar Demoireau duzte, wenn keiner dabei war, aber vor den anderen vermied Roseanne die direkte Ansprache.

»Guten Morgen, Roseanne«, begrüßte Lilou sie. »Der Commissaire bittet darum, dass du das für ihn abtippst.« Sie reichte der Sekretärin das Aufnahmegerät. »Es ist das Protokoll der Sitzung von heute Morgen.«

»Alles klar.« Roseanne schwang ihren Schreibtischstuhl herum und nahm Lilou das Gerät ab. »Heute Mittag hat er es auf seinem Tisch.«

»Es hat keine Eile, wir sind gleich unterwegs.«

»Okay.« Roseanne grinste verschmitzt und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie hatte lockiges schwarzes Haar, das ihr fast bis zur Hüfte reichte, und anders als die meisten Frauen in ihrem Alter, die Lilou kannte, trug sie es fast immer offen. »Da bin ich nicht böse, ich habe genug zu tun.«

Sie deutete auf das Chaos auf ihrem Schreibtisch, das aus Papierstapeln, Aktenordnern und losen Zetteln bestand. Dazwischen thronte eine riesige grüne Porzellantasse mit Stiften, flankiert von mehreren Fotos in silbernen Rahmen, zwei Blumentöpfen, einem Teddybären, einer Schale mit Obst und einem bunten Blumenstrauß. Trotz des Durcheinanders musste es ein System geben, denn Roseanne wusste immer, wo alles war, und war überhaupt die Tüchtigkeit in Person.

»Möchtest du eine Feige?« Roseanne deutete auf die Obstschale. »Ich habe sie heute Morgen frisch gepflückt.«

»Gern, danke!« Lilou nahm eine der dunkelvioletten Früchte. Die Haut fühlte sich weich und ein wenig samtig an. »Sind die aus deinem Garten?«

Roseanne nickte. »Mein Großvater hat den Baum gepflanzt, und er trägt zweimal im Jahr. Das sind die ersten Sommerfeigen.«

Sie schnupperte an der Feige, die nach Sommerblumen und trotz der Farbe irgendwie ein wenig grün roch. Lilou biss hinein. Die Schale gab erst nur zögernd nach, dann schien sie regelrecht zu platzen und setzte eine unglaubliche Süße frei. Die kleinen Kerne knisterten zwischen ihren Zähnen und schmeckten nach Honig, während das leuchtend rote Fruchtfleisch einen Hauch von frischer Säure besaß. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine so gute Feige gegessen zu haben.

Roseanne strahlte, als sie das laut sagte. »Ich kann dir morgen welche mitbringen, wenn du magst.«

»Das wäre wunderbar.« Simon würde sie lieben, da war sie sich ganz sicher.

 

»Sie kennen den Vorsitzenden des Jagdverbandes?«, fragte Lilou, als sie in eine schmale Straße einbogen, die sich kurvig zwischen alten Olivenbäumen hinzog.

Demoireau nickte. »Léon Peyrefitte ist einer der größten Olivenbauern in der Gegend.« Er deutete aus dem Fenster. »Diese Bäume gehören alle ihm.« Er wurde langsamer, und Lilou erhaschte einen Blick auf kleine grüne Früchte, so dicht, dass sich die Äste nach unten bogen.

Wenig später näherten sie sich einem massiven Eisenzaun und durchfuhren ein breites Tor, dessen vergitterte Flügel einladend offen standen. Gleich dahinter weitete sich die Straße zu einem großen, asphaltierten Hof, der von mehreren Gebäuden umgeben war. Die meisten waren fensterlose Baracken und mit Wellblech gedeckt, nur eines hatte ein Obergeschoss, besaß ein Ziegeldach und hellblau gestrichene Fensterläden. Eine sehr schlanke Frau mittleren Alters in einem schicken geblümten Sommerkleid trat aus der Tür und beschirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne. Ihr dunkelblondes Haar trug sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, einzelne Strähnen umtanzten dunkle Augen und ein schmales, hübsches Gesicht.

Demoireau parkte den Peugeot mitten auf dem Hof, und sie stiegen aus.

Die Frau hob die Hand zum Gruß. »Ah, Monsieur le Commissaire!«, rief sie herüber. »Wollen Sie zu Léon?«

»Ja, Madame. Ist er da?« Der Commissaire trat auf sie zu und schüttelte ihr die Hand.

Lilou beeilte sich, ihm zu folgen. Die Frau musterte sie von oben bis unten, aber Lilou konnte nicht sagen, ob es Misstrauen oder Neugierde war, die sich in ihrer Miene spiegelte. Vielleicht etwas von beidem. Sie lächelte freundlich, doch die Frau wandte den Blick ab.

»Er ist hinten bei den Feigen. Gehen Sie einfach durch!« Die Frau deutete mit der Hand zwischen zwei Gebäude.

Lilou sah Demoireau fragend an. »Feigen?«

»Von den Oliven alleine kann niemand leben«, brummte der Commissaire. »Zu viel Aufwand, wenn man gute Qualität produzieren will. Deshalb haben die meisten Bauern hier auch Obstbäume und Wein.«

Sie gingen in die angegebene Richtung und gelangten auf eine gelb ausgedörrte Wiese, auf der Feigenbäume in lockeren Reihen wuchsen. Die sattgrünen fünffingrigen Blätter raschelten im warmen Wind, dunkle Früchte blitzten dazwischen hervor.

Léon Peyrefitte war ein ausgesprochen gut aussehender Mann, stellte Lilou fest. Sein Gesicht war braun gebrannt, das dunkle Haar nur an den Schläfen silbrig ergraut. Er trug künstlich verwaschene Designerjeans zu einem karierten Hemd und sah aus wie einem Werbeplakat für besonders männliches Aftershave entsprungen. Lilou unterdrückte ein Schmunzeln. Unbewusst hatte sie einen typischen Bauern aus der Region erwartet, knorrig wie ein alter Baum, komplett mit Stoffkappe und ausladendem Schnauzbart. Aber schon seine elegante Frau hätte ihr einen Hinweis darauf geben können, dass dieser Mann nicht dem hiesigen Klischee entsprach. Er stand auf einer Leiter, die an einem der Feigenbäume lehnte, und sein Gesicht hellte sich zu einem erfreuten Lächeln auf, als er sie kommen sah.

»Demoireau, was für eine angenehme Überraschung!« Er sprang von der Leiter und wandte sich Lilou zu. »Und Sie müssen Mademoiselle Braque sein, die künftige Madame le Commissaire?« Er reichte ihr die Hand, sie nickte. Sein Händedruck war fest und warm, Lilou fühlte die raue Haut seiner Finger.

Peyrefitte sah ihr in die Augen und zeigte seine strahlend weißen Zähne, dann ließ er ihre Hand los und deutete zu den Gebäuden. »Kommen Sie doch ins Haus, es ist viel zu heiß hier draußen.«

Mit langen Schritten lief er auf das Haus zu. »Corinne, machst du Kaffee für uns?« Schwungvoll stieß er die Tür auf. »Corinne, wo steckst du denn?«

»Hier bin ich.« Die schlanke Frau kam aus einem der Nebengebäude, ein Mobiltelefon in der Hand.