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Eine geheimnisvolle Handschrift und eine tödliche Legende: Im 4. Provence-Krimi aus der Reihe »Die Lavendel-Morde« muss die junge Ermittlerin Lilou Braque das Rätsel um eine Jahrhunderte alte Handschrift lösen. Im beschaulichen Provence-Städtchen Carpentras verschwindet ein junger Wissenschaftler, der zuletzt an einer alchemistischen Handschrift aus dem 17. Jahrhundert gearbeitet hat. Der Legende nach enthält sie das Rezept für ein lebensverlängerndes Elixier – doch schon die Verfasser, zwei Brüder, sind über ihre Entdeckung in einen mörderischen Streit geraten. Bis heute soll es in ihrem verfallenen Haus spuken. Als kurz darauf auch ihr Kollege Commandant Pouffin verschwindet, muss die junge Ermittlerin Lilou Braque dringend herausfinden, was an der Legende um die geheimnisvolle Handschrift wirklich dran ist ... Ob als Urlaubslektüre in Frankreich oder zuhause auf dem Balkon: Die Provence-Krimis von Carine Bernard laden zum Abtauchen ein und machen einfach Spaß. Die Krimi-Reihe »Die Lavendel-Morde« ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Lavendel-Tod - Lavendel-Gift - Lavendel-Fluch - Lavendel-Grab
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Seitenzahl: 319
Carine Bernard
Ein Provence-Krimi
Knaur eBooks
Duftende Lavendelfelder, eine geheimnisvolle Handschrift – und ein Mord
Im beschaulichen Provence-Städtchen Carpentras verschwindet ein junger Wissenschaftler, der zuletzt an einer Handschrift aus dem 17. Jahrhundert gearbeitet hat. Der Legende nach enthält sie das Rezept für ein Lebenselixier – doch schon die Verfasser sind über ihre Erfindung in einen mörderischen Streit geraten. Bis heute ist ihr verfallenes Haus vielen unheimlich. Als dann auch noch der Ermittlungsleiter verschwindet, setzt die angehende Kommissarin Lilou Braque alles daran herauszufinden, was es mit der geheimnisvollen Handschrift auf sich hat …
Entdecken Sie mit der liebenswerten jungen Ermittlerin Lilou Braque die schönsten Seiten der Provence!
Die Legende von Pré Fantasti
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Danksagung
Einst lebten zwei Brüder in einem prunkvollen Palast in Rom. Ihre Namen waren Antonio und Francesco Barberini, und obwohl der Papst höchstselbst ihr Onkel war, führten sie doch kein gottesfürchtiges Leben: Sie häuften Reichtümer an, vergnügten sich mit Frauen und betrieben alchemistische Studien, was zu jener Zeit streng verboten war.
Um sie vor der gerechten Strafe zu schützen, verbannte der Papst seine missratenen Neffen nach Frankreich ins Comtat Venaissin, und sie fanden Zuflucht in der Villa eines befreundeten Grafen am Fuße des Mont Ventoux. Hier setzten sie ihre verbotenen Experimente fort, versuchten sich an der Umwandlung von Blei zu Gold und erfanden schließlich etwas, was sie das »élixir de la vie longue« nannten – das Elixier des langen Lebens oder »elixira vitae«, wie die Lateinkundigen sagen.
Dieses wundersame Elixier verkauften die beiden für gutes Geld an das einfache Volk, aber über die Aufteilung des Gewinns vermochten sie sich nicht zu einigen. Eines Tages eskalierte der Streit, und Francesco schüttete dem Bruder im Zorn eine Phiole Vitriol ins Gesicht. Antonio war geblendet und starb qualvoll nach Stunden voll unsäglicher Schmerzen. Doch auch Francesco wurde seines Lebens nicht mehr froh, denn Antonios rastloser Geist suchte ihn jede Nacht heim und quälte ihn mit seinem Geheul. Schließlich verlor er den Verstand und stürzte sich vom höchsten Turm des Hauses in die Tiefe.
Seit dieser Zeit ist das Haus verflucht. Man sagt, dass die Geister der Barberini-Brüder noch immer umgehen in diesen Mauern und dass man sich des Nachts besser fernhalten soll von der Ruine, die man heute La Pré Fantasti nennt.
Ich möchte bitte einen Vermissten melden.«
Eine junge Frau mit rundem Gesicht und runder Brille stand am Tresen im Eingangsbereich der Dienststelle. Lilou wollte gerade die Treppen hoch zu Commissaire Demoireaus Büro laufen, doch der Akzent der jungen Frau ließ sie innehalten und sich umwenden.
Heute hatte Gardien Tairousse Dienst am Empfang, ein Mann aus dem Pays Basque, dem Baskenland, dessen harter Akzent sogar Lilou manchmal Probleme bereitete. Die junge Frau, die offenbar keine Französin war, würde ihn kaum verstehen.
Lilou kehrte um und trat zu ihr an den Tresen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
Auf dem Gesicht der Frau zeigte sich deutliche Erleichterung. »Danke schön, das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Ihr Französisch war gut, doch es klang bemüht, als hätte sie es in der Schule gelernt und wäre nicht damit aufgewachsen.
»Kommen Sie doch bitte mit«, forderte Lilou sie auf. Sie nickte Tairousse zu und ging voraus ins Dienstzimmer der Bereitschaftspolizei. Sie wusste, dass Jamal Emetoit heute Dienst hatte, der groß gewachsene Capitaine mit algerischen Wurzeln. Er war freundlich und im Gegensatz zu Tairousse überaus geduldig; er würde sich der Sache annehmen.
Emetoit saß an einem der drei Schreibtische und blickte auf, als Lilou an den Türrahmen klopfte. »Jamal, diese Dame möchte eine Vermisstenmeldung machen«, sagte sie und wies auf die Frau. »Kannst du das bitte übernehmen?«
Emetoit stand auf und winkte sie herein. »Ja, klar. Kommen Sie bitte herein.« Er lächelte, ließ seine weißen Zähne blitzen und deutete auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich doch.«
»Danke.« Die junge Frau blieb unschlüssig stehen und sah sich um. Sie war nicht sehr groß, sogar noch kleiner als Lilou, und kräftig gebaut. Sie trug eine kurze Latzhose und ein buntes Shirt, was bei einer größeren, schlankeren Frau bestimmt pfiffig ausgesehen hätte – bei ihr wirkte es, als käme sie direkt vom Spielplatz. »Ich weiß gar nicht, ob das richtig ist, was ich hier tue«, sagte sie.
Emetoit lächelte ihr aufmunternd zu. »Erzählen Sie uns doch einfach, worum es geht. Dann können wir immer noch entscheiden, ob wir eine Anzeige aufnehmen oder nicht.«
Die Frau blickte unsicher von Lilou zu Emetoit. »Ja?«
Jamal Emetoit sah Lilou an. »Möchtest du dabeibleiben?«, fragte er.
Lilou nickte. »Ja, natürlich.« Sie wandte sich an die Frau. »Ist es Ihnen lieber, wenn wir englisch sprechen?«, fragte sie.
Die Frau blinzelte, Grübchen erschienen in ihren Wangen. »Es geht schon. Wenn Sie langsam sprechen, kann ich Sie verstehen.«
»Nehmen Sie doch Platz.« Emetoit wies auf den Besprechungstisch in der Ecke. »Möchten Sie ein Glas Wasser? Oder einen Kaffee?«
»Nein.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. Eine Strähne ihres rotbraunen Haars löste sich aus ihrem Zopf und fiel ihr ins Gesicht. Mit einer ungeduldigen Bewegung wischte sie sie zur Seite und ließ sich auf den Stuhl fallen, den Emetoit hervorgezogen hatte.
Jamal Emetoit nahm ihr gegenüber Platz. Lilou setzte sich neben sie, um den Eindruck eines Verhörs zu vermeiden.
»Wollen Sie uns zuerst sagen, wer Sie sind?«, fragte sie.
»Ich heiße Tabea Kellermann«, antwortete die Frau. »Ich komme aus Deutschland, und ich arbeite an der Bibliothèque l’Inguimbertine. Ich schreibe meine Masterarbeit über einen Mönch namens Vermenius, der im Mittelalter hier in der Gegend von Carpentras …« Sie unterbrach sich mit schuldbewusstem Lächeln. »Aber das interessiert Sie bestimmt nicht.«
Lilou konnte ihr nicht widersprechen und schmunzelte. »Sie sagten, jemand wird vermisst?«
Tabea Kellermann nickte, die Haarsträhne rutschte ihr wieder in die Stirn. »Er ist ein Mitarbeiter aus der Bibliothek«, erklärte sie. »Er hätte gestern von seinem Urlaub zurückkommen müssen.«
»Und er ist nicht zur Arbeit erschienen?« Emetoit sah sie fragend an.
»Ja, genau.« Tabea hob die Hände. »Er ist sonst sehr zuverlässig, das sieht ihm gar nicht ähnlich.«
»Könnte es sein, dass er seinen Urlaub einfach verlängert hat?«, fragte Lilou. »Haben Sie schon mit seinen Vorgesetzten gesprochen?«
»Natürlich, was denken Sie denn.« Tabea warf Lilou einen gekränkten Blick zu. »Aber die wissen auch von nichts. Madame Brillon sagte, er wird schon wiederkommen. Sie scheint das Ganze nicht sehr ernst zu nehmen.«
Emetoit hob die Schultern. »Vielleicht hat er so etwas schon öfter gemacht«, meinte er.
»Das weiß ich nicht. Ich bin ja noch nicht so lange hier.« Tabea Kellermann zog die Nase kraus. »Er hat versprochen, mir nach seinem Urlaub bei der Recherche zu einer Literaturstelle zu helfen. Sein Spezialgebiet ist das siebzehnte Jahrhundert, und da gibt es eine Abschrift aus einem Kloster in Nantes, die …« Sie verstummte. »Jedenfalls brauche ich ihn, und er ist nicht da.«
»Es ist nicht verboten, nicht zur Arbeit zu kommen.« Lilou spreizte die Finger. »Erwachsene Menschen dürfen so etwas. Solange es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, ist die Polizei nicht zuständig.«
Tabea schüttelte energisch den Kopf. Eine weitere Haarsträhne löste sich. »Ich glaube nicht, dass er das tun würde, ohne mir vorher Bescheid zu sagen.« Sie sah ernst von Lilou zu Emetoit. »Er geht nicht ans Telefon, und sein Mobiltelefon klingelt nicht einmal, wenn ich ihn anrufe. Außerdem wollte er mir eine Ansichtskarte schreiben. Das hat er auch nicht getan.« Ihre braunen Augen waren auffallend groß und glänzten. »Ich glaube, ihm ist etwas zugestoßen. Entweder er hatte einen Unfall, oder er wurde entführt.«
»Für eine offizielle Vermisstenmeldung müssten Sie eine Verwandte sein, oder der Arbeitgeber wendet sich direkt an uns.« Emetoit zog einen Block heran und holte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Uniformhemds. »Aber sagen Sie uns doch bitte, wie der Mann heißt. Wir können uns ja einmal umhören.«
»Er heißt Phil. Philbert Corsaint.«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
Die junge Frau hob die Schultern. »Nein. Irgendwo hier in Carpentras.«
»Das ist kein Problem, das finden wir schon heraus.« Er machte sich eine Notiz. »Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?«
»Am Freitag vor drei Wochen. Das war sein letzter Arbeitstag vor dem Urlaub.«
»Gut.« Emetoit warf einen Blick auf den Wandkalender und notierte das Datum. »Und sein Alter? Sein Aussehen? Können Sie ihn beschreiben?«
»Er ist zweiunddreißig Jahre alt«, antwortete Tabea in ihrem sorgfältigen Französisch. »Das hat er mir gesagt. Er ist ungefähr einen Meter achtzig groß, schlank und hat blonde Haare und blaue Augen.« Sie grinste schief. »Er sieht sehr gut aus«, setzte sie hinzu. »Und er trägt gern karierte Hemden.«
Lilou hob die Brauen. »Haben Sie eine Beziehung mit ihm?«
»Aber nein.« Tabea schlug die Augen nieder und wurde rot. »Er ist homosexuell und hat einen Freund, der ist Weinhändler in Bedrange.«
»Ach was.« Lilou sah die junge Frau überrascht an. »Meinen Sie Gérard Pepin?«
»Ja, genau, so heißt er.« Tabea hob den Kopf. »Kennen Sie ihn?«
»Mein Freund hat geschäftlich mit ihm zu tun«, antwortete Lilou. »Ich glaube, Sie können beruhigt sein, was Phil Corsaint betrifft. Ich habe ihn vor ein paar Tagen noch gesehen, da war er quicklebendig.«
»Nein, wirklich?« Tabea sah Lilou überrascht an. »Wieso kommt er dann nicht zur Arbeit?«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.« Lilou zuckte mit den Achseln. »Wir waren erst letzte Woche bei Pepin. Da kam ein junger Mann zur Tür herein, auf den Ihre Beschreibung genau passt, und er war bei bester Gesundheit.« Sie schmunzelte. »Und so wie Pepin sich ihm gegenüber verhalten hat, hätte er sich sicherlich längst bei uns gemeldet, wenn Phil Corsaint wirklich verschwunden wäre.« Sie stand auf. »Machen Sie sich keine Sorgen, Madame Kellermann. Er taucht bestimmt bald wieder auf.«
»Wo bleiben Sie denn?« Commissaire Demoireau sah demonstrativ auf die Uhr. »Ich habe Sie schon vor einer halben Stunde zurückerwartet.«
»Verzeihen Sie bitte«, antwortete Lilou etwas außer Atem und fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes blondes Haar. »Ich musste einer jungen Dame aus Deutschland helfen, die mit Tairousses Akzent nicht zurechtgekommen wäre.«
»Ach?« Demoireau hob die buschigen Brauen und sah sie fragend an. »Und um was ging es?«
Lilou machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie macht sich Sorgen, weil sie glaubt, ein Mitarbeiter der Bibliothèque l’Inguimbertine wäre verschwunden. Aber da ich den jungen Mann am Donnerstag noch gesehen habe, konnte ich sie beruhigen.«
Der Commissaire runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Haben Sie Staatsanwalt Beringer erreicht?«
Lilou nickte. »Er bedankt sich«, sagte sie. »Allerdings nicht sehr herzlich.«
»Das kann ich ihm nicht einmal verübeln. Die Liste hätte natürlich bei den Unterlagen sein müssen. Ich weiß nicht, wer da geschlampt hat.«
Lilou hob die Schultern, sie wusste es auch nicht. Vor zwei Wochen hatten sie die Mitglieder einer marokkanischen Diebesbande verhaftet, und zwei ihrer Kollegen waren letzte Woche rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen, das Lager mit dem Diebesgut zu sichten und zu inventarisieren. Eine Kopie dieser Liste hätte unmittelbar an Staatsanwalt Beringer übergeben werden müssen, doch aus unerfindlichen Gründen war das nicht passiert, und Beringer hatte heute Mittag, als er es bemerkte, einen seiner legendären Wutanfälle aufs Parkett gelegt. Lilou hatte sich daraufhin erboten, ihm die Liste persönlich ins Justizgebäude zu bringen, was einen Spaziergang durch die schöne Altstadt von Carpentras bedeutete und ihr eine willkommene Abwechslung war.
Demoireau setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wies auf die Ledercouch in der Ecke. »Sind inzwischen alle Protokolle geschrieben?«
Lilou nahm Platz, die abgewetzten Polster gaben unter ihr nach. »So gut wie. Es fehlt nur noch die Zusammenfassung der Aussage von Jeremy Bender samt seiner Unterschrift.«
»Dann bringen Sie doch bitte das, was schon fertig ist, heute noch zu Roseanne, damit sie es abtippen und ablegen kann.«
»In Ordnung.« Lilou streckte die Beine aus. Ihr Verhältnis zu Demoireau hatte sich in den letzten Wochen spürbar gewandelt. War er im ersten Monat ihres Praktikums noch steif und distanziert gewesen, benahm er sich inzwischen immer weniger wie ein Vorgesetzter, sondern fast schon kollegial, was ihr Sicherheit vermittelte. Immerhin würde sie sehr bald eine Stelle antreten, die vom Rang her dem seinen entsprach, wenn auch in Paris, weit weg von hier. Ein kaltes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie biss die Zähne zusammen und verdrängte den Gedanken an das, was sie hier zurücklassen musste: die quirlige Kleinstadt, die sie so lieb gewonnen hatte, die bezaubernde Gegend, die ihr ans Herz gewachsen war, all die Freunde, die sie hier gefunden hatte, und nicht zuletzt Simon, ihren Freund, der immer noch überzeugt war, dass die Distanz zwischen ihnen nichts ändern würde.
Sie atmete tief durch und verbot sich, daran zu denken, was in zwei Wochen sein würde. »Liegt für heute sonst noch etwas an?«, fragte sie.
Bevor Demoireau antworten konnte, klingelte ihr Telefon. Mit einem entschuldigenden Blick zu ihrem Chef zog sie es aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display. Es war Simon, als ob er ihre Gedanken gespürt hätte. Es musste wirklich wichtig sein, wenn er sie während der Dienstzeit anrief, das tat er sonst nie, deshalb nahm sie das Gespräch an.
»Ja? Simon? Was gibt es?«
Ein Schnaufen erklang am anderen Ende der Leitung, dann seine Stimme. »Ich habe ein Problem, Honey.«
»Was ist passiert?«
»Noch ist nichts passiert.« Sein kanadischer Akzent erschien ihr auf einmal deutlicher als sonst. »Meinst du, du könntest mich abholen?«
Lilou sah auf die Uhr, es war kurz vor fünf. »Prinzipiell ja. Ich habe gleich Feierabend.«
»Das ist großartig, Babe. Wirklich großartig.« Er rülpste. »Scusez.«
»Sag mal, hast du getrunken?«
Er lachte auf. »Ja, so könnte man es nennen. Zumindest sollte ich heute nicht mehr Auto fahren.«
Lilou runzelte die Stirn. »Wo bist du denn?«
»Bei Gérard in Bedrange. Wir wollten doch den Wein für mein Restaurant verschneiden.«
»Ach, das war heute?«
»Ungeplant.« Seine Stimme klang heiser. »Gérard hat mich heute Mittag angerufen und gefragt, ob ich Zeit hätte. Deshalb bin ich hingefahren.« Er zögerte. »Ich habe dein Auto genommen. Ich hoffe, du bist nicht böse, Hon.«
»Nein, natürlich nicht.« Sie schüttelte den Kopf, obwohl er es nicht sehen konnte. »Aber wie soll ich dich dann abholen?«
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Simon und klang schuldbewusst. »Der Kangoo steht jedenfalls hier, und wenn ich selber fahre, geschieht wahrscheinlich ein Unglück.«
»Das lässt du schön bleiben.« Lilou dachte angestrengt nach. »Bleib erst mal, wo du bist. Ich finde schon eine Lösung. Notfalls nehme ich den Bus.«
»Ich habe vollstes Vertrauen in dich, Babe. Du findest doch immer eine Lösung.«
»Danke. Aber sag nicht Babe zu mir.«
»Sorry.« Er kicherte. »Gérard ist übrigens wirklich großartig. Du wirst meinen Wein lieben.«
»Davon bin ich überzeugt, Simon.« Sie musste lachen. »Dann bis gleich.«
Sie beendete das Telefonat. Demoireau hatte sich angelegentlich mit den Unterlagen auf seinem Schreibtisch beschäftigt, nun schaute er auf. »Gibt es ein Problem?«
Lilou schüttelte den Kopf. »Problem wäre zu viel gesagt. Simon ist bei Pepin versackt, dem Weinhändler in Bedrange. Sie haben Wein verschnitten, und nun ist er …«, sie zögerte, »… nicht mehr fahrtüchtig.«
»Sie meinen, er ist betrunken.« Demoireau verzog das Gesicht. »Ich kenne Pepin. Von einer Weinprobe bei ihm ist noch nie jemand nüchtern zurückgekommen.«
»Jedenfalls ist er mit meinem Wagen hingefahren. Ich soll ihn abholen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich ohne Auto da hinkomme.«
»Falls Sie daran denken, den Bus zu nehmen – vergessen Sie es.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Der fährt nur jede Stunde, und Sie sind ewig unterwegs, weil er an jedem Kreisverkehr hält.« Er dachte kurz nach. »Sie können sich von Cravasse fahren lassen«, sagte er. »Sie hat Streifendienst mit Cropardin, die sollen Sie da absetzen.«
»Aber das geht doch nicht«, wehrte Lilou ab. »Ich kann doch keine Dienstfahrt für private Zwecke nutzen.«
»Hm, hm.« Der Commissaire blickte nach oben an die Decke. »Dann erteile ich Ihnen hiermit den Auftrag, die Streifenpolizisten bei ihrer Arbeit zu begleiten. Sie können dabei bestimmt noch etwas lernen.«
»Bestimmt, mon commissaire.« Lilou verkniff sich ein Grinsen. »Und danke.«
Wenig später saß Lilou neben Capitaine Valerie Cravasse in einem silberblauen Streifenwagen. Lilou hatte sich umgezogen und trug Jeans und ein T-Shirt, trotzdem hatte Cropardin es sich nicht nehmen lassen, Lilou den Platz auf dem Beifahrersitz zu überlassen, und sich nach hinten gesetzt. Cravasse steuerte den Peugeot mit forschem Nachdruck durch den Feierabendverkehr von Carpentras, und Lilou musterte sie unauffällig von der Seite. Raspelkurze rote Haare waren das Markenzeichen der einzigen anderen Frau in Demoireaus Truppe. Sie war hochgewachsen und schlank und gab sich im Umgang mit ihren Kollegen schon fast übertrieben burschikos. Anfangs hatte sie Lilou praktisch ignoriert, als ob es unter ihrer Würde wäre, sich mit einer Praktikantin abzugeben, selbst wenn es sich um eine künftige Commissaire handelte, doch nach den ersten gemeinsamen Einsätzen hatte sich das schnell gelegt. Zwar war sie mit ihr nie so warm geworden wie mit Jamal Emetoit oder gar mit Guillaume Mistral, dem jungen Kriminaltechniker, mit dem sie inzwischen sogar befreundet war, aber es war doch ein gutes kollegiales Verhältnis entstanden.
»Jetzt bist du ja bald wieder weg«, meinte Cravasse, als sie an der Place Aristide Briand die Spur wechselte und vor einer Ampel hielt. »Die Zeit ist schnell vergangen, nicht wahr?«
Ein Schild wies in Richtung Mont Ventoux, neben ihnen ragte das Gebäude der Bibliothèque l’Inguimbertine auf und erinnerte Lilou an den angeblich verschwundenen Mitarbeiter. Die Geschichte hatte trotz allem ihre Neugierde geweckt, weniger als Polizistin, denn sie war überzeugt davon, dass es keinen Vermisstenfall gab, sondern menschlich, weil sie Pepin kannte und den jungen Mann mit ihm zusammen gesehen hatte.
»Ja, es sind nur noch knapp zwei Wochen«, antwortete sie. »Ich werde das alles hier vermissen, das weiß ich jetzt schon.«
Cravasse nickte knapp. »Ich war auch mal in Paris«, sagte sie. »Aber das ist nichts für mich. Ich habe mich nach zwei Jahren wieder hierher versetzen lassen.«
»Was hat dich an Paris gestört?« Lilou kam aus Paris, ihre Eltern wohnten noch immer in der Hauptstadt. Sie hatte den Großteil ihres Lebens dort verbracht, und gäbe es nicht so vieles, an dem sie hier hing, könnte sie sich nichts Besseres vorstellen, als wieder dort zu leben.
»Ach, in Paris ist alles so groß und laut«, sagte Cravasse und gab Gas, um vor einem dahinzuckelnden Citroën in eine Lücke einzuscheren. »Keiner kennt den anderen, und alle sind immer in Eile. Außerdem ist das Wetter meistens schlecht.«
»Also das stimmt nun wirklich nicht«, widersprach Lilou. »Paris im Frühling ist bezaubernd.«
»Vielleicht. Aber hier ist es immer schön.«
Dem konnte Lilou nicht widersprechen. Selbst jetzt im August, wenn die hochsommerliche Hitze wie festgewachsen zwischen den Häusern stand, wehte doch immer wieder ein angenehmer Wind vom Mont Ventoux herab, der die bunten Kunstdrucke hoch über den Straßen flattern ließ und einen Hauch von Kühle brachte. Und auch wenn das Umland von Carpentras staubig und verdorrt unter der Sommersonne lag, schenkten bewaldete Hügel am Horizont mit ihrem satten Grün dem Auge Erholung. Und es gab Lavendel. Zwar war er schon längst verblüht, doch die silbergrünen Kissen dufteten noch immer und zogen sich in Reih und Glied die Hänge hinauf. Auch jetzt prägten sie noch die Landschaft, genauso wie die knorrigen Olivenbäume, die Feigen, die man frisch vom Baum pflücken konnte und die roten Trauben, deren Ernte bald beginnen würde.
Lilou seufzte. Sie vermisste all das jetzt schon.
Cravasse fuhr schwungvoll durch das Gittertor auf den Hof von Pepins Weingroßhandel und bremste so scharf vor dem Bürogebäude, dass die trockene Erde in einer rötlichen Wolke hochstob.
»Sollen wir auf dich warten?«, fragte Cravasse. Offenbar hatte Demoireau ihr den Grund für Lilous Fahrt nicht verraten.
»Danke, das ist nicht nötig.« Lilou deutete auf ihren blauen Kangoo, der staubig vor einer lang gestreckten Halle in der spätnachmittäglichen Sonne parkte. »Mein Auto steht hier.«
»Ach so.« Cravasse fragte nicht nach dem Warum, doch das war Lilou auch lieber – so privat war sie mit Cravasse nun auch wieder nicht. Sie stieg aus.
»Danke fürs Mitnehmen!«, sagte sie.
Cropardin kletterte schwerfällig von der Rückbank und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Adieu, Lilou, bis morgen!«
»Ja, bis morgen!« Sie hob grüßend die Hand.
Cravasse setzte zurück, gab Gas und verschwand in einer erneuten Staubwolke. Lilou wandte sich ab und ging über den Hof zum Bürogebäude. Sie öffnete die Tür. Drinnen summte eine Klimaanlage, und es war angenehm kühl, aber es war niemand zu sehen. Sie kehrte wieder um und schritt auf das lang gestreckte Gebäude zu. Kurz bevor sie es erreichte, öffnete sich eine kleine Tür in dem großen Einfahrtstor, und Simon kam heraus.
»Habe ich doch richtig gehört!« Er strahlte übers ganze Gesicht. Seine graublauen Augen glänzten, die Wangen waren gerötet, das sandfarbene Haar fiel ihm wirr ins Gesicht und gab ihm ein verwegenes Aussehen. Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
Lilou ließ es geschehen, dann machte sie sich los, drehte den Kopf weg und wedelte mit der Hand. »Puh, mon cher, ich würde den Wein lieber aus einem Glas verkosten.«
Simon lachte. »Das kannst du gerne tun. Komm rein!«
Lilou betrat hinter ihm die dämmrige Halle. Der Boden bestand aus gestampfter Erde, und es war immerhin ein wenig kühler als draußen. Rechts und links standen riesige Edelstahltanks an den Wänden, die, wie Lilou wusste, unverschnittenen Wein enthielten. Er kam sortenrein von Weinbauern aus der Umgebung und wurde hier durch Pepins kundige Hand individuell zusammengestellt und abgefüllt. Er hatte Simon angeboten, auf diese Weise einen eigenen Hauswein für sein Restaurant zu kreieren, und offenbar hatten die beiden genau das heute getan.
Ein Mann mittleren Alters mit einem schwarzen Stetson auf dem Kopf kam ihnen entgegen. Lilou erkannte ihn, es war der Weinhändler, der ihr mit einer herzlichen Geste die Hand entgegenstreckte. »Bonjour, Madame, wie schön, dass Sie kommen konnten!«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. Ihm war der Alkohol nicht anzumerken. »Möchten Sie den Wein probieren?«
»Ja, gern«, sagte Lilou. »Allerdings wirklich nur einen Schluck, ich muss schließlich noch fahren.«
»Natürlich.« Pepin wandte sich ab. »Mon ami, machst du noch ein halbes Glas für Madame?«, rief er.
Jetzt erst bemerkte Lilou den blonden jungen Mann, der neben der Abfüllanlage an der Etikettiermaschine stand. Er nickte ihr grüßend zu, nahm ein Glas von einem Wandregal, füllte es aus einer unbeschrifteten Flasche und reichte es ihr. »Bitte schön.«
Er hatte ein offenes, jungenhaftes Gesicht, und Lilou musste Tabea Kellermann recht geben: Philbert Corsaint sah tatsächlich ausgesprochen gut aus. Zu Jeans und hellen Sneakers trug er ein kariertes Hemd, und Lilou fand, dass er überhaupt nicht wie ein Bibliothekar wirkte. Doch dass Bibliotheksmitarbeiter nur bebrillt und in langweiliger Kleidung herumliefen, war natürlich ein genauso dummes Klischee wie jenes, dass Polizistinnen groß, schlank und burschikos zu sein hatten – dem entsprach sie schließlich ebenfalls nicht. Sie nahm das Glas entgegen und lächelte ihn herzlich an. »Danke.«
»Gib uns auch noch ein Glas«, sagte Pepin. »Madame soll nicht allein trinken.«
Der junge Mann nickte und verteilte Gläser. Schließlich hob Simon sein Glas und prostete ihnen zu. »Auf dich, Gérard, und auf diesen wunderbaren Wein, den du heute geschaffen hast.«
Pepin prostete zurück. »Du warst daran genauso beteiligt.« Er nickte ernsthaft. »Du hast ein ausgezeichnetes Empfinden für Nuancen, das ist sehr wichtig.«
Lilou hob das Glas ins Licht und bewunderte die Farbe, ein blasses Rosa, so hell, dass der Wein fast weiß wirkte. Sie schnupperte daran, roch eine Spur von Wiesenblumen, gepaart mit herber Frische, dann nahm sie einen kleinen Schluck. Sie behielt ihn im Mund, rollte ihn mit der Zunge hin und her, atmete durch die Nase ein und aus, genau wie Simon es ihr beigebracht hatte. Erst nahm sie nur das blumige Aroma wahr, frische Süße, gefolgt von einer Nuance der Kräuter, die hier überall wild am Wegesrand wuchsen: Thymian, Rosmarin und ein Hauch von Lavendel. Sie schluckte, das Blumige verging, dafür kam die mineralische Kühle hinzu, die typisch war für die Weine vom Mont Ventoux und die nirgendwo sonst zu finden war. Der Nachhall der Kräuter hielt sich bis zuletzt an ihrem Gaumen. »Das ist großartig«, sagte sie. »Wie habt ihr das mit den Kräutern hinbekommen?«
»Du hast es erkannt!« Simons Augen leuchteten.
»Einer meiner Weinbauern ist Biobauer, und er zieht Wildkräuter zwischen den Rebstöcken. Er behauptet, das hält Schädlinge fern und erzeugt ein Mikroklima, in dem die Trauben besser gedeihen. Als Nebeneffekt bekommt er diese Kräuternote in den Wein. Das mag nicht jeder, aber hier, in dieser Mischung, passt es ganz hervorragend.«
Der junge Mann legte Pepin eine Hand auf die Schulter. »Das finde ich auch, Gérard. Den solltest du auch mal bei deiner Hausmischung einsetzen.«
»Ja, vielleicht tue ich das wirklich, mon cher.« Pepin lächelte ihn warm an. »Oder ich komponiere damit einen eigenen Wein für dich.« Seine Verliebtheit war nicht zu übersehen, und Lilou unterdrückte ein Schmunzeln.
Sie nahm noch einen Schluck vom Wein. »Sie sind Philbert Corsaint, nehme ich an?«
Der junge Mann hob überrascht den Kopf und nahm die Hand von Pepins Schulter. »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte er.
»Nun, ich dachte …« Lilou war plötzlich verlegen. »Entschuldigen Sie bitte. Ich bin davon ausgegangen …«
»Ich bin Max«, erklärte der Mann. »Max du Rocca.«
»Verzeihen Sie. Dann habe ich Sie wohl verwechselt.« Lilou sah ihn irritiert an. Die Beschreibung, die Tabea Kellermann ihnen gegeben hatte, passte exakt auf ihn. Sogar das karierte Hemd hatte sie erwähnt.
Pepin kam ihr zu Hilfe. »Phil ist mein Ex-Freund«, sagte er. »Wir haben uns vor einigen Wochen getrennt.«
»Ach so.« Lilou runzelte die Stirn. »Hatten Sie mit ihm in letzter Zeit noch Kontakt?«
Pepin schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er mit abweisender Miene. »Dazu gab es keinen Anlass.«
»Sag ihr doch, dass ihr euch verkracht habt.« Max legte den Arm um Pepins Schulter. »Phil hat sich einfach unmöglich benommen, und der arme Gérard hat sehr unter der Trennung gelitten.«
»Lass gut sein, Max.« Pepin schüttelte den Arm seines Freundes ab. »Das interessiert doch niemanden.«
Lilou hob die Brauen. Tatsächlich interessierte es sie sogar sehr, aber hier war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt für eine Befragung.
Pepin wandte sich an Lilou. »Warum fragen Sie?«
»Heute Nachmittag war eine Mitarbeiterin von Philbert Corsaint bei uns in der Dienststelle und hat ihn als vermisst gemeldet. Er ist offenbar nach seinem Urlaub nicht zur Arbeit erschienen.«
»Ach, Sie sind von der Polizei?«
Täuschte sie sich, oder schlich sich da Misstrauen in Pepins Gesicht? Das kam nicht unerwartet. Erschreckend viele Menschen in Frankreich hatten Vorbehalte gegenüber der Polizei, und bisher hatte keine der vielen Maßnahmen zur Steigerung des Ansehens der Police nationale daran etwas ändern können.
»Ja. Ich bin Élève Commissaire«, erklärte sie. »Können Sie mir sagen, wo Corsaint wohnt? Das Ganze lässt sich wahrscheinlich schnell aufklären.«
Pepins Gesicht hatte sich verschlossen. »Muss das sein?«, fragte er. »Er ist zwar nicht mehr mein Freund, aber dass die Polizei nun nach ihm sucht, möchte ich trotzdem nicht.«
»Monsieur Pepin, wir wollen uns nur vergewissern, dass es ihm gut geht, das ist alles. Also bitte, wenn Sie so freundlich wären …« Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche, öffnete die Notiz-App und sah ihn auffordernd an.
Sichtlich widerwillig diktierte ihr der Weinhändler die Adresse, eine Nebenstraße in dem eng verbauten Viertel zwischen der Polizeidienststelle und dem Krankenhaus.
»Ich danke Ihnen.«
»Soweit ich weiß, hatte er noch Urlaubstage übrig«, sagte Pepin. »Vielleicht hat er einfach ein paar Tage angehängt.«
»Ja, das ist vermutlich die Erklärung.« Lilou steckte das Handy weg. »Wissen Sie zufällig, ob er wegfahren wollte?«
Pepin schüttelte den Kopf, sein Gesicht war finster. »Ich hatte ihn eingeladen, mich nach Bordeaux zu einer Weinmesse zu begleiten. Anschließend wollten wir uns ein paar schöne Tage in Biarritz machen. Aber daraus ist ja dann nichts geworden.«
»In Ordnung.« Sie trank ihren Wein aus und wandte sich an Simon. »Ich würde gern nach Hause fahren. Bist du fertig, oder musst du noch etwas besprechen?«
Simon leerte sein Glas ebenfalls. »Nein, wir haben alles geklärt. Von mir aus können wir fahren.«
»Was sollte das Gerede von diesem Phil?«, fragte Simon, als sie im Auto saßen und über die sonnenwarme Landstraße auf Carpentras zufuhren.
»Philbert Corsaint.« Lilou bremste vor einem Stoppschild und wandte sich Simon zu. »Heute Nachmittag war eine junge Frau bei uns in der Dienststelle, die ihn als vermisst melden wollte. Ich war überzeugt, dass sie von dem jungen Mann gesprochen hat, den wir letzte Woche bei Pepin gesehen haben, und habe sie mit ein paar beruhigenden Worten weggeschickt.«
»Ups.« Simon kurbelte das Fenster hinunter und hielt das Gesicht in den Wind. »Das war dann wohl nicht so schlau.«
»Das ist richtig.« Lilou biss sich auf die Unterlippe. Im Verkehr vor ihr tat sich eine Lücke auf, sie trat aufs Gas und steuerte den Kangoo um die Kurve. »Aber wer kann denn ahnen, dass Pepins Freunde alle blond sind und karierte Hemden tragen?«
Simon grinste. »Das nennt man wohl Beuteschema.«
Lilou nickte. »Jedenfalls muss ich das morgen klarstellen, und ich kann mir schon sehr gut vorstellen, was Demoireau dazu sagen wird.«
»Du meinst, du bekommst Ärger?«
»Ich ärgere mich in erster Linie über mich selbst.« Lilou hob die Schultern. »Falls der Mann wirklich schon länger verschwunden ist, dann ist das besorgniserregend, und wir müssen dem nachgehen.«
»Ach was.« Simon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er wird irgendwo in der Sonne liegen und eine schöne Zeit verbringen. Du wirst schon sehen.«
»Ich hoffe es wirklich.« Sie atmete tief durch und verdrängte den Gedanken daran. Heute konnte sie ohnehin nichts mehr unternehmen. »Wie geht es nun mit deinem Wein weiter?«
Simon setzte sich wieder aufrecht hin. »Pepin füllt mir vierhundert Flaschen ab, das sollte für die ersten Wochen reichen. Ich muss mir nur noch etwas für die Etiketten einfallen lassen.« Er zog die Nase kraus. »Kennst du vielleicht jemanden, der so etwas entwerfen kann? Künstlerisch bin ich eine totale Niete.«
Lilou schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich bin da auch nicht begabt, und ich kenne auch niemanden, der so etwas kann.« Sie dachte kurz nach. »Aber warte mal. Warum fragst du nicht Mick Pendragon?«
»Den Tätowierer?«
»Ja, genau den. Ich war einmal bei ihm in der Wohnung, und da habe ich auf seinem Computer wirklich tolle Entwürfe gesehen.«
»Hm.« Simon kaute auf seiner Unterlippe herum. »Die Idee ist gar nicht so schlecht, das gefällt mir.« Er grinste. »Danke, Hon.«
Der Verkehr wurde dichter, sie näherten sich der Stadt. Lilou ersparte sich das Gassengewirr der Altstadt, wo sie sowieso keinen Parkplatz finden würde, sondern bog direkt auf den großen Parkplatz an der Porte d’Orange ein und stellte den Kangoo im Schatten der Überdachung ab.
Wenig später schob Simon den Schlüssel ins Schloss der Haustür. »Möchtest du sehen, was ich heute gemacht habe?«, fragte er.
»Ja, natürlich.« Eigentlich sehnte sie sich nach einer kühlen Dusche, bequemer Kleidung, etwas zu essen und ihrem Sofa, in genau dieser Reihenfolge, doch sie wusste, wie viel Simon das Chez Amande bedeutete, und normalerweise teilte sie auch seine Begeisterung für das Projekt, das Restaurant seiner Urgroßeltern wiederzueröffnen.
Simon schloss die Tür auf, die vom Hausflur direkt ins Restaurant führte, und betrat die dämmrige Gaststube. Er betätigte den Lichtschalter, Lampen flammten auf und tauchten den Raum mit den abgeklebten Fensterscheiben in warmes Licht.
»Oh, wie schön!« Lilou trat ebenfalls ein. Bis gestern hatten hier nur nackte Glühbirnen Licht gespendet. Nun hing eine Reihe unterschiedlich großer Kugeln aus mattgelb leuchtendem Glas an schwarzen Ketten von der Decke, passende Wandlampen erhellten die Tische darunter. Die gleichen Kugeln fanden sich auch über dem Tresen der Bar. »Das sieht toll aus.«
»Es war eine ganz schöne Spielerei, bis die Längen gepasst haben«, gab Simon zu. »Aber ich glaube, es hat sich gelohnt.«
»Das hat es auf alle Fälle.« Lilou gab Simon einen Kuss, er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.
»Ja, es nähert sich einem Ende.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Manchmal kann ich es selbst noch gar nicht glauben.«
Bei seinen Worten kehrte die Kälte in Lilous Magengegend zurück. Er hatte recht, und auch ihr Zusammensein hier näherte sich einem Ende. Mit einer heldenhaften Anstrengung verdrängte sie das Gefühl. »Lass uns nach oben gehen. Ich habe Hunger.«
»In Ordnung, Hon.« Simon nickte und wandte sich zur Tür. »Ich wollte aus den Resten von gestern Salade niçoise machen. Was hältst du davon?«
»Das klingt wunderbar.« Sie lächelte ihn warm an. »Dann gehe ich in der Zwischenzeit duschen.«
Wie erwartet war Commissaire Demoireau ganz und gar nicht erfreut, als Lilou ihm ihren Fehler beichtete. »Sie können doch nicht einzig und allein aufgrund der Beschreibung einer Zivilistin so eine Entscheidung treffen«, schimpfte er. »Ich hätte wirklich gedacht, dass Sie das inzwischen verstanden haben.«
»Ja, mon commissaire«, antwortete Lilou zerknirscht. »Ich ärgere mich selbst am meisten darüber. Aber ich war mir so sicher …«
»Was habe ich Ihnen immer zu voreiligen Schlussfolgerungen gesagt?« Er sah sie unter seinen buschigen Brauen finster an. »Erst ermitteln, dann das Beweismaterial beurteilen. Erst wenn die Sachlage geklärt ist, kann man beginnen, Schlüsse zu ziehen. Nicht vorher.«
»Ich weiß.« Sie schlug die Augen nieder.
»Strukturiertes Vorgehen, Mademoiselle Braque, das ist das Wichtigste in unserem Beruf!«
»Ja.« Ihre Wangen brannten, und sie hasste es. Aber sie hatte einen Fehler gemacht, dafür musste sie jetzt geradestehen. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie.
»Der Sache müssen wir natürlich nachgehen«, erwiderte der Commissaire. »Wenn ein als zuverlässig beschriebener Mann nach seinem Urlaub nicht zur Arbeit erscheint, ist das sehr wohl besorgniserregend. Zumindest so lange, bis wir einen Unfall, ein Verbrechen oder einen Suizid definitiv ausschließen können.«
Lilou nickte zustimmend. Sie wollte alles daransetzen, diese Scharte wieder auszuwetzen. »Kann ich die Ermittlungen übernehmen?«
Demoireau schüttelte den Kopf. »Alleinverantwortlich dürfen Sie das nicht.« Die steile Falte zwischen seinen Brauen glättete sich. »Noch nicht.« Nun lächelte er fast. »Aber ich verstehe Ihr Bedürfnis, den Fehler wiedergutzumachen.« Er blickte zur Decke, dann sah er sie an. »Commandant Pouffin soll das übernehmen, und Sie werden ihn unterstützen.«
Lilou verzog das Gesicht, doch sie wagte nicht zu widersprechen. Pouff, wie ihn alle nannten, war Demoireaus Stellvertreter, ein humorloser, pedantischer Klotz, der sie nicht leiden konnte und sie das seit ihrem ersten Tag in der Dienststelle spüren ließ. Aber sie hatte es nicht besser verdient, das war ihr völlig klar.
»Jawohl, mon commissaire.« Sie stand auf. »Was schlagen Sie vor, womit sollen wir beginnen?«
Er hob die Brauen, sein Blick wirkte amüsiert. »Nur weil ich Sie gerügt habe, heißt das nicht, dass Sie alles vergessen dürfen, was Sie auf der Polizeischule gelernt haben.« Er ruckte mit dem Kinn. »Also?«
Da war sie wieder, seine Angewohnheit, ihr Wissen abzufragen, was immer dazu führte, dass sie sich wie in einer Prüfung fühlte. »Die Krankenhäuser in der Umgebung abtelefonieren, seine Wohnung aufsuchen, mit seinen Nachbarn und den Leuten an seinem Arbeitsplatz sprechen«, ratterte sie herunter. »Und natürlich Freunde und Verwandte finden und ebenfalls befragen.«
Demoireau nickte zufrieden. »Na also, es geht doch.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Sehen Sie nach, ob Capitaine Emetoit Zeit hat, der kann Sie unterstützen. Als Allererstes soll er die Bibliotheksleitung kontaktieren und die Anzeige offiziell aufnehmen. Ich spreche in der Zwischenzeit mit dem Commandant.«
Jamal Emetoit machte Lilou keinen Vorwurf. »Das hätte mir genauso passieren können«, sagte er. »Wenn du den Mann tatsächlich erst letzte Woche in Begleitung seines Partners gesehen hättest, dann gäbe es doch wirklich keinen Anlass, dem nachzugehen.«
Lilou nickte. »Trotzdem ist es eine blöde Situation.« Sie seufzte. »Demoireau hat mir schon die Leviten gelesen.«
Jamal grinste. »Nimm es nicht so schwer. Der Commissaire weiß schon, was er an dir hat.«
»Das hoffe ich auch.« Sie biss sich auf die Lippen. »Außerdem bin ich ohnehin nicht mehr lange hier.«
»Ja, das stimmt.« Jamal schob die Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. »Ich finde es schade, dass du schon wieder gehst.«
»Danke.« Lilou lächelte. »Ich werde euch alle vermissen.« Sie schnitt eine Grimasse. »Bis auf Pouff natürlich. Demoireau hat ihn mit dem Fall beauftragt, und ich soll ihn unterstützen.«
Jamal lachte auf. »Pouff verlässt doch seinen Schreibtisch nicht. Du wirst sehen, du wirst die meiste Zeit allein arbeiten können.«
»Nicht allein, sondern mit dir, Jamal.« Lilou grinste schief. »Demoireau meinte, wenn nichts anderes anliegt, sollst du mit ins Team.«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Das ist schön, Lilou. Wo fangen wir an?«
»Als Erstes kontaktierst du bitte Corsaints Vorgesetzte und überprüfst, ob er wirklich nicht zur Arbeit erschienen ist. Dann nimmst du eine offizielle Anzeige auf, damit wir eine Ermittlungsgrundlage haben. Anschließend rufst du im Krankenhaus an und erkundigst dich nach einem Mann, auf den die Beschreibung zutrifft.«
»Das habe ich gestern schon getan, gleich nachdem die Deutsche gegangen ist.« Emetoit zog die Nase kraus. »Das war ja kein großer Aufwand.«
»In Ordnung. Dann weite die Anfrage bitte noch auf die anderen Kliniken in der Umgebung aus: Vaison-la-Romaine, Orange, Gordes, L’Isle-sur-la-Sorgue und Cavaillon. Und natürlich Avignon.«
»Das bringt nur alles nichts, wenn der Mann in Urlaub gefahren ist und dort einen Unfall hatte«, gab Jamal zu bedenken. »Er kann genauso gut beim Bergsteigen auf Korsika verunglückt sein.«
»Oder beim Strandurlaub auf Thailand«, erwiderte Lilou. »Ich weiß. Trotzdem müssen wir hier beginnen.«
»Ja, das ist schon klar.« Jamal nickte. »Dann lege ich mal los.« Er blinzelte ihr zu. »Und viel Glück mit Pouff.«
»Commissaire Demoireau hat mich mit diesem Vermisstenfall beauftragt«, sagte Commandant Pouffin mit seiner kratzigen Stimme. Seine schwarzen Augen fixierten sie mit stechendem Blick. »Allerdings weiß ich wirklich nicht, was er sich dabei gedacht hat, mir ausgerechnet die Praktikantin zuzuteilen.«
Lilou erwiderte seinen Blick ungerührt. »Wahrscheinlich meint er, ich kann von Ihnen etwas lernen«, antwortete sie, ohne eine Miene zu verziehen. Zum Beispiel, wie man nicht mit Mitarbeitern umgehen sollte, setzte sie den Satz stumm in Gedanken fort.
»Pah.« Pouff erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Wahrscheinlich wollte er dich einfach ein paar Stunden aus dem Weg haben. Eine große Hilfe wirst du mir jedenfalls nicht sein.«
»Wieso denn nicht?« Lilou schnaufte empört. »Immerhin ist meine Ausbildung zur Commissaire so gut wie beendet.«
»›So gut wie‹ reicht nicht.« Er blickte finster auf sie herab. »Du darfst nicht selbstständig arbeiten, es muss immer einer von uns dabei sein. Ich werde den Teufel tun und dich allein loslaufen lassen, so wie der Commissaire es tut.«