Lavendelbitter - Elinor Bicks - E-Book

Lavendelbitter E-Book

Elinor Bicks

4,8

Beschreibung

Lore Kukuks Verehrer wird tot aufgefunden. Die Leiche umgibt ein zweifelhafter Ruf und der Geruch nach Lavendel. Die Duftspur führt in Lores Garten auf dem Otzberg, der von Lavendel überwuchert ist. Hinzu kommt, dass eine ganze Reihe toter Männer Lores Weg säumt. Kommissar Roland Otto ist jedoch von ihrer Unschuld überzeugt. Aber ist er wirklich unbefangen? Oder hat Lore ihm mit ihrem Lavendelwein die Sinne vernebelt?

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Elinor Bicks

Lavendelbitter

Roman

Impressum

Ausgewählt von Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © magdal3na / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4562-0

Glücksjahr

Lore schnupperte, aber riechen konnte sie nichts. Sie sah nur ein lilablaues Glitzern, das am Ende des Gartens durch das Grau der verdorrten Dornenbüsche schimmerte. Wenn sie die Augen zusammenkniff, verflüssigte sich der glitzernde Schleier zu einem violetten Meer. Der Lavendel. In den letzten Jahren hatte er so schüchtern geblüht, dass sich die lila Blüten kaum gegen die wuchernden Brombeersträucher abhoben. Doch jetzt schleuderten die prallen Dolden den Blütenstaub in die Luft und bildeten eine schimmernde Puderwolke. Das passiert nur in Glücksjahren, hatte Oma Kukuk gesagt.

Lore trat von der backofenheißen Terrasse in den Garten und bahnte sich den Weg durch das dichte Gestrüpp, dort wo einst der Pfad durch Omas Beete führte. Die Dornen verfingen sich im Stoff ihres Kleides und rissen Fäden aus dem weißen Leinen. Lore spürte das Brennen von kleinen Kratzern auf ihren Armen, von oben brannte unbarmherzig die Sonne. Zwischen dem Brombeergestrüpp wucherten Flughafer und Gänsefuß, dazwischen ragten die hohen grünen Dolden der Fuchsschwanzgewächse auf, ein Stockwerk tiefer breitete sich Hundspetersilie büschelweise aus. Lore blieb stehen. Hier war einst das Gemüsebeet. Sie kannte die Abfolge der gepflanzten Sorten noch genau: Kohlrabi, Kartoffeln, Tomaten zur Rechten, links standen die Beerensträucher: rote und blaue Johannisbeere, Stachelbeere und Brombeere, weiter unten die Erdbeeren, dann die Kräuter. Das gute und das böse Beet. Lore ging weiter und schob mit den Händen das Gebüsch auseinander. Plötzlich stand sie mittendrin im lilablauen Duftmeer. Rechts der Schopflavendel mit den gezackten Blüten und dem kampferartigen, stechenden Geruch. Links der Lavendula angustifolia, der tiefviolett blühende Lavendel, dessen ätherisch-süßer Duft die ganze Welt verzaubert.

Da, wo die Stauden kleine Gewölbe bildeten, hatte Lore als Kind oft gehockt, den Kopf zwischen den Blütendolden, die würzige Sommerluft geatmet und dem Hummelbrummen gelauscht. Der Duft ließ Bilder vorbeiströmen von lavendelblauen Hügeln, die sie von Postkarten kannte, am Mittelmeer, wo die Sonne von einem stahlblauen Himmel schien. Oma Kukuks erster Mann hatte ihr die blauen Stauden vom Frankreichfeldzug mitgebracht. Auf dem kalkhaltigen Untergrund gediehen sie ausgezeichnet und breiteten sich Jahr um Jahr aus. Oma Kukuk kurierte damit Nierenleiden, Bienenstiche und Wunden. Die ätherischen Öle wirkten jedoch nicht nur bei körperlichen, sondern auch bei seelischen Wunden. Auch bei Schwermut und Nervosität schwor Oma Kukuk auf ihre Lieblingsblume.

Lavendel klärt den Geist und belebt die Sinne.

Lore strich über die Blüten, die sich der Sonne entgegenreckten. Damals, nach dem unschönen Vorfall mit Freddy und dem Tollkirschen-Schnaps, war sie wie ein Mähdrescher durch Omas Garten gepflügt und hatte alles Wachsende vernichtet, nur der Lavendel blieb verschont. Das Versprechen, den Lavendel zu hüten, hatte Oma Kukuk Lore noch am Sterbebett abgenommen. »Achte auf den Lavendel.« Den Satz, mit kindergroßen Augen ausgesprochen, hatte Lore all die Jahre nicht vergessen können. Erst recht nicht, seit sie erfahren hatte, dass der Lavendel Omas Geheimnis hütete. Bis heute verteidigte Lore den Streifen Land wie eine Löwin, um Oma und ihr Vermächtnis zu schützen. Lore pflückte ein paar Stängel mit den vollreifen Dolden und ging dann zurück ins Haus. Sie band die Zweige zu einem Sträußchen und hängte sie kopfunter ans Fenster.

Lavendel, Universalreiniger des Lebens.

Berg und Tanz

Drei kurze Huptöne ertönten vom Burghof. Lores Herz flatterte. Lazlo. Sie warf einen Blick in den Spiegel. Das weiße Leinen war übersät mit Kletten, dazwischen hingen die Spelze des Flughafers. Mehrere Fäden waren gezogen, an den Seiten verliefen feine grünbraune Striemen auf dem weißen Stoff, als hätte jemand sie ausgepeitscht. Lore lief ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Sie griff nach dem lavendelblauen Taftkleid und hielt es sich an. Eigentlich zu elegant für den Anlass. Aber egal. Außerdem war die Farbe ein gutes Omen. Sie schlüpfte hinein und ordnete anschließend ihr Haar. Ihre Achseln konnten etwas Deodorant vertragen. Sie wollte das Zimmer gerade verlassen, da fiel ihr Blick in die Nische zwischen Schrank und Wand, wo sich der kleine Kasten befand: Omas Arzneikasten.

Mit klopfendem Herzen zog Lore ihn aus der Nische und öffnete die Fächer. Ihre Finger flogen über die braunen, säuberlich beschrifteten Fläschchen, sie zog zielsicher eines heraus und hielt es gegen das Licht. Zu gut einem Drittel war es mit feinem Pulver gefüllt. Kalmuswurzel, Alraune, Appelgranat.

Liebespfeffer befeuert das Begehren.

Lore unterdrückte ein Grinsen. Ich sollte nicht, dachte sie und schloss ihre Faust um das kühle Glas. Niemand wusste so gut wie sie, dass derlei Nachhilfen bittere Folgen nach sich zogen. Aber verdammt, sie war mit keinem Mann mehr ausgegangen, seit Ronni tot im Erdbeerbeet gelegen hatte. Und das war mehr als 30 Jahre her. Lore ließ das Fläschchen in eine der kleinen Taschen des lavendelblauen Taftkleides gleiten. Wofür waren raffinierte Kleidertaschen sonst da? Hastig schloss sie den Arzneikasten und verstaute ihn wieder in seiner Nische.

Im Bad trug sie Deodorant auf und besprühte sich mit Parfüm. Nach dem milden Duftbad, das sie gerade im Garten genossen hatte, reizte der künstliche Duft ihre Nase und sie musste dreimal kräftig niesen. Dann trat sie hinaus auf den Burghof, wo die Hitze zwischen den Burgmauern brodelte wie in einem Kochtopf. Lazlo wartete neben dem Wagen.

Seine Erscheinung schüchterte sie ein. Im Vergleich zu ihrem ersten Treffen sah er ganz anders aus. Sakko mit Einstecktuch und Stoffhose ließen ihn groß und elegant wirken. Kennengelernt hatte sie Lazlo im Blaumann. Sie war sein Wasserschaden, er ihr Retter in der Not. An einem Sonntagnachmittag hatte er vor der Tür gestanden und den Rohrbruch behoben. Und er hatte offensichtlich vor, in Lores Leben noch mehr in Ordnung zu bringen, denn seitdem war kein Tag vergangen, an dem er sie nicht angerufen und sich nach dem Zustand ihrer Leitungen erkundigt hatte. Und weil diese keinen Anlass zur Sorge mehr gaben, hatte er sie zum Tanzen eingeladen. Damit bewies er ein gewisses Maß an Mut. Mit einer Frau ihres Rufs … Jetzt stand er neben der eleganten Limousine. Bei genauerem Hinsehen war er doch recht unauffällig, die Züge etwas verlebt, der ganze Kerl ein bisschen windschief geraten. Aber was soll’s, dachte sie. Sie selbst war auch nicht mehr die Frischeste. Mehr Frucht als Blüte und auch die schon ziemlich welk.

Zur Begrüßung nahm Lazlo ihre Hand und deutete einen Handkuss an, wobei er die Härchen ihrer Fingerglieder mit seinen Lippen berührte. Dann öffnete er die Tür des silbrig flimmernden Gefährts und sie stieg in ein kühl temperiertes Eisfach mit feinem Geruch nach Möbelpolitur und Zeder.

»War Ihnen nicht zu heiß in der Sonne?«, fragte sie, als er von der anderen Seite zustieg. Obwohl er gut und gerne zehn Minuten in der mörderischen Hitze gestanden haben musste, konnte sie keine Anzeichen von Schwitzen an ihm entdecken. Er schüttelte den Kopf.

»Kalte Knochen«, erklärte er und drückte auf einen Knopf am Armaturenbrett. Lore war nicht sicher, ob es sich um die Sitzheizung handelte oder die Ventilation. Wie es sich wohl anfühlte, nachts neben einem leichenkalten Körper zu liegen?

Lazlo ließ den Wagen an und wendete auf dem Burghof.

»Sie leben wie eine Prinzessin«, sagte er mit einem Lächeln. Prinzessin auf dem Vulkan, dachte Lore und ließ den Blick über die sanftkuppige, zertalte Landschaft schweifen. Kaum jemand wusste, dass der Otzberg ein erkalteter Vulkan war. Man sah es der lieblichen Landschaft nicht an, dass sie einst von Naturgewalten geformt worden war. Die sanften Hügel wurden von den handtuchgroßen Feldern in Gelb, Grün und Braun in einen Flickenteppich gestückelt. Bis Juli hatte es nur geregnet. Deshalb standen jetzt trotz Hitze die Wiesen voll im Saft und leuchteten in hellen Farben. Grüne Grasflächen, durchzogen vom Rot des Mohns, dottergelber Weizen, gepunktet von Kornblumen in knalligem Blau.

»Ich bewohne nicht die Burg, nur das Verwalterhaus«, stellte sie richtig.

»Für mich sind Sie das Burgfräulein. Die Herrscherin von all dem.« Dazu beschrieb er eine Geste, die das Dorf und die Landschaft umfasste.

Wenn du wüsstest, dachte Lore. Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, öffnete sie das Fenster einen Spaltbreit, um Luft hereinzulassen. Der Duft nach Wiesenkräutern und Feldblumen beruhigte sie wieder, dennoch war ihr Mund trocken. Sie holte eine Dose Minzbonbons aus ihrer Tasche und öffnete den Schraubverschluss. »Möchten Sie?« Sie hielt ihm die Dose unter die Nase. Er schüttelte den Kopf.

»Zucker«, erklärte er. Und dass er auf seine Broteinheiten achten müsse.

Lore schaute vor sich auf die Straße. Himmel, dachte sie. Kalte Knochen und Diabetes. In meinem Alter handelt man sich mit dem Mann einen ganzen Pflegefall ein.

Als sie den Tanzsaal der ›Renate‹ betraten, war die Party bereits in vollem Gange. Der Saal kochte. Hier drinnen staute sich die Hitze und verwandelte die Luft in Gelatine. Lore blickte in ausgelassene, rotwangige Gesichter. Es roch nach Kleidung, die lange im Schrank gehangen hatte, und Haut, die selten schwitzte. ›Adío Mexiko‹ plärrte aus den Lautsprechern, der Refrain wurde mehrstimmig mitgesungen. Lazlo hatte einen Tisch reserviert und bahnte sich den Weg durch die Menge. Lore rieb sich an Nylonblüschen, Tweedsakkos und vereinzelt an einem nackten Arm, der sich unter dem Schweiß anfühlte wie kalter Gummi. Sie setzten sich. Lore bestellte einen eiskalten Rüdesheimer Kaffee und wedelte sich mit der laminierten Eiskarte Luft zu. Lazlo nippte an seiner Cola light. Die Gäste an den Nachbartischen tranken Wein aus Gläsern mit plumpem grünem Stiel. Wer nicht trank, tanzte.

Das letzte Mal tanzen war Lore im vorigen Jahrhundert. Genauer gesagt in den 70ern. Damals wurden im Darmstädter Schlosskeller Jimi Hendrix und die Doors gespielt, dazu trank man Rotwein aus Wassergläsern. Jetzt saß Lore beim Seniorentanz. Alles hatte seine Zeit. Wann kam ihre? Oder war die schon vorbei? Laut durchschnittlicher Lebenserwartung blieben ihr noch vielleicht 25 Jahre. Ein guter Grund, die Sache hier zu beschleunigen. Lore beobachtete die gleichgeschlechtlich weiblichen Paare, die sich auf der Tanzfläche drehten. Dann schielte sie zu ihrem Begleiter, der einer der jungen Bedienungen nachspähte. Als er ihren Blick bemerkte, hielt er ihr die Hand zum Tanz hin. Lore erhob sich und gemeinsam betraten sie die Tanzfläche.

Er nahm sie entschlossen in den Arm, der Druck seiner Hand auf ihrem Rücken war gerade richtig. Das nächste Stück war langsamer. Er zog sie enger an sich, wie zufällig berührten seine Lippen ihren Halsflaum und jagten ihr eine Gänsehaut-Lawine den Rücken hinab. Danach setzten sie sich wieder. Lore lief der Schweiß den Rücken hinunter, sie bestellte Wein mit Eiswürfeln. Die Bedienung war kaum 20 und trug ein Dienstmädchenkostüm mit Schürze. Warum stellen sie in den Oma-Cafés immer so junge Dinger ein?, dachte Lore und bemerkte Lazlos Blick, der die Bedienung verfolgte. Blick auf Hüfthöhe. Sie griff nach ihrem Strohhalm und saugte die Sahne vom Boden des Bechers, wobei sie ein Geräusch verursachte wie der Speichelsauger beim Zahnarzt. Na warte, Freundchen, dachte sie.

Geisterstunden

Am nächsten Morgen wurde Lore nur mühsam wach. Der Wecker drangsalierte ihr Trommelfell so lange, bis sie aufstand. Sie ging ins Bad und musterte sich im Spiegel, wobei sie mit den Händen die Falten zu glätten suchte. Wie sah sie nur aus? Mistkerl, dachte sie und spritzte sich Wasser ins Gesicht. In der Küche nebenan setzte sie Wasser auf und machte einen Kaffee, den sie anstarrte, bis es Zeit war, das Haus zu verlassen. Am liebsten hätte sie Krummsiegel abgesagt, aber alles sollte so aussehen, als sei dies ein Tag wie jeder andere.

Sie schlich über den Burghof und betrat das Museum, wo das Schlossgespenst sie mit Eimer und Wischlappen erwartete. Krummsiegel war der Leiter des Otzberg Museums und eigenen Angaben zufolge Nachfahre einer Adelsdynastie, die die Veste Otzberg im Mittelalter bewohnt hatte. Dem Aussehen nach stammte er jedoch von einer Gespenster-Dynastie ab, die seit Generationen im Schloss spukte.

»Ein kleines Malheur im mittleren Raum oben«, erklärte die zwei Meter bleiche Haut mit dem länglichen Gesicht und den schwebenden Haaren. »Ich wollte gerade selbst, aber wenn Sie schon da sind …«

Lore nahm Eimer und Schrubber entgegen, ohne ihn, wie sonst üblich, darauf aufmerksam zu machen, dass sie nicht die Putzfrau war. Sie griff so vehement zu, dass das Putzwasser überschwappte und auf die Nagelränder seiner nackten Zehen klatschte.

Krummsiegel sprang zur Seite. »Passen Sie doch auf!«

»Nehmen Sie es als Erfrischung«, rief Lore barsch und war mit wenigen Sätzen die Treppe hoch. Oben angekommen, schnupperte sie. Der Geruch kam aus dem mittleren Zimmer, wie Krummsiegel gesagt hatte. Dreckschwein, dachte Lore und machte sich an die Arbeit.

Seit die Gegend Otzberg zum Weltnetz der Geoparks gehörte, war auch das Interesse an der Burg und dem Museum sprunghaft gestiegen und Lore hatte alle Hände voll zu tun. Als sie vor rund 20 Jahren ihre Arbeit im Burgmuseum aufgenommen hatte, war nicht mehr zu tun, als ab und an eine Handvoll Trachten auf Schaufensterpuppen zu drapieren oder heimatliche Szenen mit handgemachtem Holzspielzeug nachzustellen. Inzwischen fand alle drei Monate eine Ausstellung statt, immer mit Erlebnischarakter. Und Lore dekorierte.

Für die aktuelle Fledermaus-Ausstellung hatte sie eine Woche lang Tag und Nacht gearbeitet. Die Ausstellungsräume wurden mit schwarzen Tüchern und Pappmaché in lichtschluckende Höhlen umgewandelt und Fledermausattrappen aus Hartgummi so angebracht, dass ihre Flügel riesige Schatten an die Wände warfen.

Die Fledermaus-Ausstellung wurde zum Publikumsmagneten. Eltern kamen mit Scharen von Kindern, verwechselten die Veste mit der Burg Frankenstein, benahmen sich wie zu Halloween. Die dunkle Abgeschiedenheit der Höhlen rief in den Menschen die schlechtesten Eigenschaften hervor. Täglich fischte Lore einen ganzen Eimer Müll aus den Höhlen. Darunter zerknüllte Tempos und Butterbrotpapier, deren Inhalt in aller Ruhe reifte, bis der Gestank auf die Quelle hinwies. Einmal hatte sie hinter den Tüchern der Großhöhle ein benutztes Kondom gefunden, ein andermal hatte sie einen Schüler in flagranti erwischt, der gerade plätschernd eine Pfütze hinterließ. Lore hatte ihn gepackt und dazu gezwungen, die Pfütze eigenhändig aufzuwischen. Mit einem Tempotaschentuch, das Lore für ihn aus dem Müll gefischt hatte.

Die Eltern des Zöglings beschwerten sich umgehend bei Krummsiegel und dieser hatte ihr mit Entlassung gedroht.

Lore hatte sich entschuldigt, notgedrungen. Sie brauchte die Stelle im Museum. Niemand sonst in der Gegend würde sie beschäftigen. Eine Frau ihres Rufs. Nach Lores Entschuldigung war alles vergessen, und sie blieb Herrin über die Burgausstellungen und die Mittelalterfeste, die ihr ein besonderer Dorn im Auge waren. Zweimal jährlich versammelten sie sich im Burghof. Mittelalterfans, die sich in braune Kutten warfen, das Fleisch mit den Zähnen von der Keule rissen und sich gegenseitig in der dritten Person Plural anredeten. Bezahlt wurde mit zerbeulten Blechmünzen, die sie Gulden nannten, und auf Wettkämpfen wurde mit selbst geschnitzten Weidenbogen auf Strohpuppen geschossen. Gab es etwas Alberneres? Letztes Jahr war ein Mann von einem fehlgeleiteten Pfeil verletzt worden und hatte nur knapp überlebt. Lore war darüber heilfroh gewesen, andernfalls hätte man sie höchstpersönlich verantwortlich gemacht, wie immer, wenn im Landkreis jemand starb. Dabei hatte Lore zu diesem Zeitpunkt nichts anderes getan, als dafür zu sorgen, dass der Honigwein nicht ausging.

Lore schrubbte die Fliesen, klatschte das Bodentuch über den Schrubber und wischte mit ausholenden Bewegungen nach. Den Weg zu den Toiletten legte sie im Schneckentempo zurück. Nachdem Lappen und Eimer gereinigt waren, trat sie ins Turmzimmer und von dort auf den kleinen Balkon.

Hier oben war man der heißen Sonne näher, dafür wehte ein kühler Wind. Lore steckte sich eine Zigarette an und atmete den mentholhaltigen Rauch tief ein. Der klarblaue Himmel intensivierte die Farben der Felder, die Skyline Frankfurts, die sich am Horizont abzeichnete, wirkte wie ein Scherenschnitt in der klaren Luft. Ihr Blick wanderte auf den blau blühenden Streifen ihres Grundstücks. Gestern hatte die Gemeinde ihr wieder einen Brief zugestellt. Die Summe, die sie ihr für den unteren Teil des Grundstückes geboten hatten, war verdoppelt worden. Alles nur, um den Wanderpfad auszubauen. Lore sah im Geist die Menschen, die den Wanderpfad entlangtrampelten, die Rucksäcke auf dem Rücken, aus Plastikflaschen saufend, deren Verschlüsse sie über den Zaun warfen. Doch das war nicht der Grund, warum der Brief im Müll gelandet war.

»Weiberheld«, murmelte sie, schnippte die Zigarette in den Wind und beobachtete, wie die federleichte graue Asche durch die Luft davonsegelte. Dann ging sie zurück in den Turm und stieg die Treppe hinab.

Dream-Team

Der Deckenventilator im Kommissariat Darmstadt knirschte, als könne die Hitze allein durch den Lärm in Schach gehalten werden. Jetzt um zwölf Uhr mittags kapitulierten die Rotorblätter und schaufelten einfach nur die zähe Hitze von einer Ecke in die andere. Der Effekt war so erfrischend wie ein Saunaaufguss. Die Sonne, die durch die strapazierfähigen Nesselvorhänge brach, tauchte das Büro in ein milchiges Licht. Durch ein Brandloch erspähte Hauptkommissar Roland Otto ein Stück lächerlich blauen Himmels.

Mit dem Daumennagel streifte er einen Tropfen Schweiß von der Stirn und wischte die Hand an der Hose ab, bevor er die Seite des Hochglanzmagazins umblätterte. Das Fachblatt für Helikopter-Fans war nur geliehen. Eigentlich war für ihn das Thema Fliegen längst abgeschlossen, aber als er den Titel der Zeitschrift gesehen hatte, hatte er Rudi gebeten, ihm das Heft auszuleihen. Es ging exakt um das Thema, das ihm beim Einsatz mit der SeaKing damals zum Verhängnis geworden war.

Als Otto einen Knall in der Tür hörte, sah er von seiner Lektüre auf. Brenneisen stand im Türrahmen und hatte die Hacken zusammengeschlagen. In der einen Hand hielt er eine Aktennotiz, in der anderen eine von diesen weibischen Minikarotten, an der er ununterbrochen nagte. Wie jedes Mal überlegte Otto, ob das Zusammenschlagen der Hacken einfach nur eine Marotte seines Assistenten war, oder ob er sich damit dezent über Ottos Militärvergangenheit lustig machte. Otto kratzte sich den kahl rasierten Schädel.

»Was gibt’s?«

»Männliche Leiche in Dieburg«, meldete Brenneisen. »Es handelt sich um einen Litauer. Lazlo Kalinn.« Otto lehnte sich zurück und gleich wieder vor, als er das Hemd am Rücken kleben spürte.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Der Hausmeister des Wohnblocks. Hat gleich die Polizei verständigt. Ich habe die Kollegen von der Spurensicherung und der Rechtsmedizin schon informiert.«

»Wie bitte?«, knurrte Otto. Das hieß, sein Assistent hatte die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. »Was ist denn die Todesursache?«

»Noch nicht bekannt.«

»Wir fahren gleich«, murmelte Otto und beugte seinen Kopf erneut über das Magazin. Der Bericht über die Sea King war wirklich spannend. Es ging um eine vertrackte Eigenheit des Lastenhubschraubers. Der Heckrotor neigte zu Irritationen, wodurch der Pilot schnell den Giermoment unterschätzte und die Maschine unkontrolliert abdriften konnte. Der Autor schrieb einen Bericht über eine waghalsige Landung im Hochgebirge, sein Versagen war Otto ein Trost.

Nachdem er den Artikel zu Ende gelesen hatte, schloss Otto in aller Ruhe die Zeitschrift, legte sie in die oberste Schublade seines Rollboys und drehte den Schlüssel zweimal um. Er griff seine Fliegerjacke, hakte den Zeigefinger in den Aufhänger und schwang sie über die Schulter. »Auf geht’s!«, rief er Brenneisen zu, der hinter seinem Rechner aufsprang und laut »Roger!« rief. Otto blickte ihm ins Gesicht. Täuschte er sich oder bekam der Grünling gerade feuchte Augen? Otto unterdrückte ein Grinsen. Der erste Fall war immer etwas Besonderes. Als er nach draußen eilte, glaubte Otto, hinter seinem Rücken erneut das Klacken von zusammenschlagenden Hacken zu hören.

Vom Kommissariat Darmstadt waren es gute 20 Minuten Fahrt nach Dieburg. Die klimagekühlte Fahrgastzelle nahm der grellen Sonne den Stachel und das unbarmherzige Himmelsblau wirkte weniger bedrohlich. Otto fühlte sich wie im Gitterkäfig in einem Haifischbecken. Fast behaglich. Mit untertourigem Lärm bogen sie in die Wohnsiedlung ein, wo sich die Häuser aneinanderreihten wie Dominosteine. »Schalten Sie mal ’nen Gang runter!«, raunzte Otto und ließ den Blick über die Häuserreihen schweifen. Otto tippte Baujahr 60er-Jahre. Die Rasenflächen waren bis auf die Wurzeln heruntergebrannt. Das Haus, in dem der Tote gefunden worden war, erkannte man schon von Weitem. Eine Horde von Schaulustigen hatte sich zusammengerottet und wartete auf Sensationen. Zum Schutz vor der sengenden Sonne drängten sie sich im Schatten des Baums, der neben dem Haus stand. Herdentrieb, dachte Otto, als er aus dem Wagen stieg.

Verwöhnt von der Klimakühlung, traf ihn die Sonne nun umso brutaler. Otto und Brenneisen überquerten die Straße, wobei Otto das Gefühl hatte, auf Gummi zu laufen. Oder Treibsand. Jedenfalls fühlte sich der weichgekochte Untergrund nicht mehr nach Asphalt an. Die Menge setzte sich in Bewegung, als Otto sie aufforderte, eine Gasse zu bilden. Otto marschierte entschlossen an den Menschen vorbei, den Blick strikt nach vorn gerichtet. Niemand sprach ihn an, die Presse lag scheinbar geschlossen am Baggersee.

Die Wohnung befand sich im zweiten Stock, und obwohl die weiß verhüllten Kollegen von der Spurensicherung darin herumwimmelten wie Insekten, war sein erster Eindruck: kahle Bude. Die Wohnung sah aus, als hätte jemand eine Katalogseite herausgerissen und das Zimmer exakt nachgebaut. Kein persönlicher Stil. Typisch für Junggesellen. Der Tote saß am Tisch. Als wäre er beim Reden eingenickt, der Kopf ruhte auf der Tischplatte. Friedlich irgendwie.

Das weizenfarbene Haar gab dem Gesicht einen violetten Tonus. Das Gelb und das Lila erinnerten Otto an den Kunstunterricht, als die Komplementärfarben durchgenommen worden waren. Blau und Orange, Violett und Gelb, und was war noch gleich das dritte Komplementärpaar? Egal, es war ohnehin verrückt genug, jetzt an seinen Kunstlehrer zu denken.

Helm kam aus dem Nebenzimmer. Im weißen Schutzanzug und mit nach oben gereckten Händen sah der Gerichtsmediziner aus wie eine Gottesanbeterin. »Endlich mal ’ne schöne Leiche!«, rief er zur Begrüßung.

»Na ja«, entgegnete Brenneisen, der offenbar mit seinem Kreislauf rang.

Helm lachte. »Herr Kollege, das ist gar nichts«, rief er fröhlich und nahm die Atemmaske ab. »Sie hätten das Leichenpuzzle im Gaswerk erleben müssen, 24 Stunden haben wir gebraucht, um die Reste zusammenzulegen. Und etliche Teile haben gefehlt.«

Es folgte die Geschichte von der Wasserleiche, die sie vor zwei Jahren aus dem Woog gefischt hatten. »Die mussten wir drei Tage trocknen lassen, bevor sie in den Sarg passte.« Helm war in Hochform. »Entwässerungskur für ’ne Leiche. Das muss uns erst mal jemand nachmachen.« Brenneisen wendete sich ab, doch Helm war noch nicht fertig. Jetzt war der Bauleiter dran, der von einer Eisenplatte sprichwörtlich platt gedrückt worden war. »Den mussten wir rollen wie einen Pfannkuchen, damit er in den Sarg passte.« Krönender Abschluss seines Berichtes war die Geschichte von der sogenannten Putzmarie. Eine weibliche Leiche, die völlig unversehrt war, bis einer der Spurensicherer sie berührte. Daraufhin zerfloss sie vor aller Augen. Die Einnahme von mehreren Litern ätzendem Putzmittel hatte sie von innen förmlich verflüssigt.

Otto versuchte, sein Grinsen vor Brenneisen zu verbergen. Das war die Feuertaufe für alle Neulinge. Dann kam Helm zum aktuellen Fall, indem er auf die Leiche deutete. »Das hier ist übrigens gar kein Mord«, sagte er und wies seinen Assistenten mit einem Handwedeln an, Spuren von der Tischplatte zu nehmen.

Otto fuhr herum. »Soll das ein Witz sein?« Schlimm genug, dass der Anfänger großes Aufgebot bestellt hatte. Wenn jetzt auch noch eine natürliche Todesursache festgestellt wurde, waren sie grandios blamiert. Brenneisens Kopf wurde rot wie ein Zündholzkopf.

»Was ist denn die Todesursache?«, fragte Otto ungeduldig.

»Organversagen, vermutlich verursacht durch eine akute Hyperglykämie. Das heißt starke Überzuckerung. Der Mann war Diabetiker. Wundert mich zwar, warum der Kerl kein Insulin gespritzt hat, aber vielleicht war er ohnmächtig. Näheres weiß ich erst nach einer Laboruntersuchung. Die Kollegen nehmen hier aber trotzdem Spuren, rein routinemäßig, wo sie eh schon mal da sind und nichts Besseres zu tun haben an einem warmen Sommertag«, grinste er.

»Wir machen den ganzen Tanz hier wegen einem Zuckerschock? …« Ottos Hände waren nur Zentimeter davon entfernt, Brenneisen am Kragen zu packen. Er zählte bis zehn und übte sich in progressiver Muskelentspannung.

»Was wissen wir über den Todeszeitpunkt?«, wandte er sich an Helm, weniger aus Interesse als aus dem Bedürfnis heraus, sich von einer Gewalttat abzuhalten.

»Gestern Abend zwischen 20 und 23 Uhr. Könnte auch früher sein, bei der Hitze kühlt die Leiche nicht so schnell ab.« Dann blickte Helm auf und sah Brenneisen an. »Und auch wenn der junge Kollege etwas übereifrig war: Es gibt hier ein paar Ungereimtheiten.«

Otto steckte die Hände in die Taschen. »Schießen Sie los.«

»An einer Hyperglykämie stirbt man nicht so schnell. Für gewöhnlich fällt der Betroffene zunächst ins Koma, in der Regel kann man das Opfer noch retten, bevor dann ein Organ nach dem anderen ausgeknipst wird.« Helm machte eine Geste, als lösche er mehrere nebeneinanderstehende Nachttischlampen.

»Bei ihm ging das Sterben ziemlich flott«, fuhr der Mediziner fort. Otto nickte.

»Und dann der Geruch«, fuhr Helm fort. »Riechen Sie das? Das kommt von der Leiche. Normalerweise verströmt ein Diabetiker bei der ketoazidotischen Form der Überzuckerung einen Geruch nach Acetat, weil das Blut total übersäuert ist. Aber der hier«, Helm wedelte sich etwas Luft zu, »riecht nach Flieder oder Maiglöckchen.«

Auch Otto hatte den seifigen Geruch bemerkt. Wie Erkältungsbad, nur süßlicher. Jetzt schnüffelte auch Brenneisen. »Erinnert mich an Mottenpulver«, sagte er. Helm und Otto tauschten einen belustigten Blick. »Meine Frau nimmt etwas gegen Motten, das ähnlich riecht«, fügte er hinzu.

Otto zog die Brauen hoch. »Ihre Frau nimmt etwas gegen Motten?«

»Also genau gesagt, meine Frau nimmt das nicht, sie steckt das in Säckchen und legt es zwischen die Wäsche.«

Otto studierte seine Fußspitzen. In diesem Moment war er froh, dass er eine Institution wie die Ehe lange hinter sich gelassen hatte.

Im Flur wurde es lebhaft, jemand versuchte, sich Zutritt zur Wohnung zu verschaffen.

»Wer ist hier der Chef?«, kläffte eine heisere Stimme über die Mauer aus Polizeibeamten hinweg. »Hier!«, rief Otto und wies die Beamten an, ihn durchzulassen. Der Mann besaß die Maße einer Puppe und die typische Angriffslust kleiner Männer. Ein blauer Kittel wies ihn als Hausmeister aus. Er baute sich vor Otto auf.

»Knittel, Hausmeister. Ich habe den Totenfund gemeldet«, bellte er in schnellen Silben. Seine Ohren waren groß und bewegten sich beim Sprechen im Einklang mit dem Mund. Für einen Moment glaubte Otto, der Kerl rede mit den Ohren. »Wird der Russen-Kiosk jetzt geschlossen?« Der Kleine duckte sich, als setze er zum Sprung an.

»Welcher Kiosk?«, fragte Otto.

Brenneisen trat hinzu, in der Hand hielt er nun ein Klemmbrett, allem Anschein mit Notizen oder einer Liste, die er abhakte.

»Es handelt sich um den Kiosk des Opfers. Hier gegenüber«, er wies aus dem Fenster.

Der Kleine stemmte die Arme in die Seiten. »Den würde ich gerne übernehmen, damit er nicht wieder in falsche Hände kommt.«

Otto starrte den den Mann Unheil verkündend an und ließ seine Halsschlagadern anschwellen. Das konnte er auf Kommando und hatte damit schon als Jugendlicher erstaunliche Erfolge erzielt. »Hören Sie mal. Die Leiche ist noch nicht kalt und Sie wollen schon die Nachfolge antreten?« Das mit der Leichentemperatur war gelogen. Aber es machte gerade so schön Spaß. »Wenn Sie keine sachdienlichen Hinweise haben, dann rate ich Ihnen dringend zum Rückzug, sonst droht Ihnen eine Klage wegen Behinderung von Ermittlungen«, bellte Otto.

Doch der Kleine ließ sich nicht abschütteln. »Der Kiosk gehört in die richtigen Hände, damit die Nachbarschaft zur Ruhe kommt.« Otto hätte ihn am liebsten am Genick gepackt und nach draußen geschleudert. Aber neugierige Menschen machten oft die interessantesten Beobachtungen.

»Welche Russen?«

Der Kleine leckte sich die Lippen. »Da waren immer jede Menge Russen am Kiosk und haben rumgebabbelt – mit dem Kalinn.«

»Haben Sie gestern Abend hier oder am Kiosk irgendwelche verdächtigen Personen bemerkt?«

Der Kleine dachte nach. »Da war’n immer Verdächtige. Nur net, wenn man sie braucht.« Heiseres Lachen über seinen eigenen Witz.

Otto entschloss sich zu einer für alle Parteien heilsamen Strategie. »Brenneisen«, bellte er, »vernehmen Sie den Mann. Überprüfen Sie sein Alibi. Und ich will alles über den … Russenring wissen.«

Brenneisen nickte so heftig, dass ihm die Haare in die Stirn sprangen, packte den Zeugen bei der Schulter und führte ihn ins nächste Polizeiauto zum Verhör.

Otto schritt langsam durch die Wohnung. Wenn er schon mal da war, konnte er sich genauso gut etwas umsehen. Ganz ruhig stand er da und tat gar nichts. ›Den Raum atmen‹, nannte er das. Nicht, dass er über besondere olfaktorische Fähigkeiten verfügt hätte. ›Den Raum atmen‹ war mehr eine persönliche Bezeichnung dafür, die Schwingungen des Raums aufzunehmen und Unregelmäßigkeiten zu erspüren, die zur Aufklärung des Verbrechens führen konnten. Auch wenn hier erst mal ermittelt werden musste, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelte.

Die Methode klang zu verrückt, als dass er jemals irgendjemandem davon erzählt hätte. Aber die stille Beobachtung von Tatorten war stets effektiv und gehörte inzwischen fest zu Ottos Repertoire. Jeder Tatort gab das Geheimnis um den Täter preis. Man musste nur richtig hinsehen oder eben hinatmen, dann entdeckte man wertvolle Hinweise zum Tathergang. Einmal hatte Otto den Wasserhahn in einer Küche aufgedreht und aufgrund des Klangs ein Versteck mit wertvollen Beweisen in der Spüle entdeckt. Ein anderes Mal hatte er beim Blick in einen Kleiderschrank allein aufgrund eines verrutschten Handtuches die Tatwaffe gefunden. Die stillen Zeugen nahm man allerdings nur wahr, wenn man sich allein und in vollkommener Stille im Raum aufhielt. Welches Geheimnis bargen jetzt diese Räume?

Er betrat die Küche, die genauso zweckmäßig und kahl eingerichtet war wie das Wohnzimmer. Ober- und Unterschränke, Kühlschrank, Herdplatten ohne Ofen. Auf der Spüle standen zwei umgedrehte Teetassen. »Hier müssen wir Spuren nehmen!«, rief Otto den Kollegen von der Spurensicherung zu. Auch das Schlafzimmer verriet nichts Persönliches. In der Mitte des Zimmers ein Doppelbett mit gemustertem Überwurf, Nachttische rechts und links. Otto tippte, dass der Tote auf der rechten Seite geschlafen hatte, nah am Eingang wie jeder Mann. Er öffnete die rechte Nachttischschublade und fand eine Lesebrille, Ohropax, ein gebügeltes Taschentuch und einen erotischen Taschenbuchroman mit vergilbten Seiten.

Otto überprüfte das Bad. Rasierzeug, Zahnpflege, fein säuberlich im Alibert aufbewahrt. Körperpflegeprodukte in der Dusche. Hier lebte keine Frau. Das wusste er schon aufgrund des fehlenden Backofens. Otto ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Eine Reihe von Anzügen und entfernt das Aroma der chemischen Reinigung. Rechts die Hemden. Otto überprüfte die Fabrikate. Joop, Lagerfeld, Hemden von Van Laak. Solide Qualität, aber nichts für Kenner. An der Wand gegenüber stand ein Board. Darauf ein Kästchen. Otto vermutete hier etwas Persönliches, fand aber nur ein paar Münzen. Sah hier alles verdammt nach einer Musterwohnung aus.

Er ging zurück ins Wohnzimmer. »Wurde etwas gestohlen oder die Wohnung durchsucht?«, fragte er einen der Polizisten.

Der schüttelte den Kopf. »Es sieht so aus, als hätte jemand das Zimmer oberflächlich durchsucht, um dabei möglicherweise Beweise zu beseitigen. Wirklich gestohlen wurde wohl nichts. Wir haben ein Handy gefunden. In der Schublade befinden sich mehrere 1000 Euro. Wenn ihn einer umgebracht hat, dann nicht wegen des Geldes. Außerdem gibt es keine Einbruchspuren an der Tür.«

»Das Opfer muss den Täter gekannt haben, denn er hat ihn hereingelassen«, erklärte Helm, der immer noch die Leiche untersuchte. »Oder sie«, entgegnete Otto. Helm machte ein fragendes Gesicht.

»Tee und Mottenpulver …«, erklärte Otto. Helm nickte anerkennend.

»Kann ich das Geld sehen?«, fragte Otto. Helms Assistent brachte eine Klarsichttüte, die ein ordentliches Bündel Geldscheine enthielt. Hauptsächlich 50er und 20er. Alle Scheine unterschiedlich zerknüllt, als wären sie auf verschiedene Weise aufbewahrt worden. Frisch von der Bank kam das Geld nicht. Sah eher nach eingetriebenem Geld aus. »Ich schau mir mal den Kiosk an«, rief Otto Helm zu. »Nehmen Sie mich später mit nach Darmstadt? Ich lasse Brenneisen und den Wagen hier.« Helm nickte und grinste. Als Otto aus dem Treppenhaus ins Freie trat, schlug ihm die Hitze wie aus einem Wäschetrockner entgegen. Wie hielten das die Leute aus, die immer noch unter dem Baum standen und glotzten? Der Baum spendete kaum Schatten. Neugier war scheinbar stärker als der Wille zu überleben.

»Bleiben Sie bitte alle hier«, rief er den Wartenden zu. »Sie werden gleich vernommen.« Dann überquerte Otto hastig die Straße. Brenneisen, der allem Anschein nach seine Vernehmung abgeschlossen hatte, erwartete ihn bereits an der Tür zum Kiosk. Triumphierend hielt er zwei gelbe längliche Schachteln in die Luft, die Otto als Zigarettenstangen identifizierte.

»Jin-Ling«, rief Brenneisen ihm entgegen. »Deutschlands meist verkaufte illegale Zigarette.« Zur Untermalung schlug er die beiden Stangen gegeneinander, als wolle er sich selbst applaudieren.

»Wie viele haben Sie gefunden?«, fragte Otto und nahm ein winziges Kügelchen Kautabak in den Mund.

»Bisher nur die beiden«, räumte Brenneisen ein, »aber das ist nicht ungewöhnlich. Als Versteck werden oft Gullis oder Erdlöcher genutzt. Wir müssen die Gegend großflächig absuchen. Ich vermute, wir haben hier ein Depot, von dem aus das gesamte Rhein-Main-Gebiet versorgt wird. Das würde auch die hohe Frequentierung osteuropäischer Landsleute erklären, die hier laut Aussage des Hausmeisters zu beobachten war.«

Otto nickte geduldig. »Was noch?«

»Der Hausmeister hat gestern Abend in der Hausnummer 80 einen Wasserhahn repariert. Das kann die Zeugin Klappacher bestätigen.« Brenneisen deutete auf eine Litfaßsäule im Blümchenkleid, die in der Herde stand.

»Er selbst hat nichts und niemanden beobachtet. Wir haben einige Wagen und Kennzeichen von den Kiosk-Besuchern, das ist alles. Und dass die Nachbarn sich bedroht gefühlt haben.«

»So sehr, dass es für einen Mord reicht, per Zuckerschock?«

»Ich denke, die Spur mit den Zigaretten ist vielversprechender.«

Um deinen Arsch zu retten und diesen Einsatz zu rechtfertigen, dachte Otto und trat ins Dunkel des Kiosks. Nachdem sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, musterte er das Geschäft. Das übliche Angebot an Rauch- und Süßwaren, Zeitungen, Alkoholika, darunter einige nicht im europäischen Handel erhältliche Spirituosen, und Pornofilme unter dem Ladentisch. In der Kasse einige Hundert Euro. Die Dielen unter seinen Füßen knackten. Im rückwärtigen Teil des Kiosks eine Art Büro. Ein Schreibtisch, Aktenordner. Otto blätterte durch Rechnungen und Belege. Keine Chance, den Raum zu atmen, denn Brenneisen blieb ihm auf den Fersen wie ein Hund beim Agility-Training. Otto drehte sich zu Brenneisen und deutete auf den Baum, unter dem sich die Zeugen drängelten.

»Brenneisen, nehmen Sie doch die Personalien der anwesenden Zeugen auf und dann vernehmen Sie sie. Am besten hier drinnen.«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.«

»Alle?«

»Ja, alle.«

»Und Sie?«

Otto tippte sich an die Stirn. »Ich lass Ihnen den Wagen da.«

Draußen wartete Helm bereits, und als sie ins Auto stiegen, bildeten die Zeugen auf Brenneisens Geheiß hin eine Schlange. Otto ließ den Blick über die geblümten, gestreiften, karierten, verwaschenen, muffigen, gestärkten Textilien schweifen.

»Was hat der denn vor?«, fragte Helm, als er den Wagen anließ.

»Strafarbeit«, erklärte Otto.

Alles Essig

Sechs Stunden hatte Lore im Burgmuseum durchgehalten. In dieser Zeit hatte sie eine Schülerstatistik aufgestellt und die Kataloge umsortiert. Danach war nichts mehr zu tun.

»Ich mache Schluss für heute!«, rief sie Krummsiegel zu, der nichts einzuwenden hatte. Vor dem Ende der Ferien war nicht mit weiteren Schüleranstürmen zu rechnen. Mit großen Schritten überquerte Lore den Burghof, wo die Sonne alles daransetzte, die Pflastersteine zum Schmelzen zu bringen. Trotz der Hitze lungerten vor der Burgschänke Schüler in Ferienlaune herum und beschallten den Burghof mit Musikgedudel und Handy-Gequassel. Jungs wie Mädchen trugen ärmellose Hemden, weite Shorts und an den jungen Füßen Flip-Flops, wohl im Bemühen, den Modestil eines englischsprachigen Sonnenstaates zu imitieren. In wenigen Wochen saßen hier wieder die kuttenbehängten Mittelalterfans und stießen mit Honigwein an. Verrückte Welt, dachte Lore und nahm Zuflucht in ihrem kleinen Haus.

Hier drinnen war es kühl, die Hitze blieb von den Burgmauern ausgesperrt. Das Häuschen bestand im Untergeschoss aus zwei Räumen: dem Schlafzimmer und der lang gezogenen Wohnküche. Daneben ein kleines Bad, das vom Flur abging. Hier war alles noch so wie zu Omas Zeiten. Lore hatte nichts verändert, auch wenn ihr hier immer noch der tote Vater auf dem roten Sisalteppich erschien, in derselben Stellung, wie sie ihn in ihrer Kindheit vorgefunden hatte.

Auch die Küchengeräte waren noch die alten. Lore kochte mit dem alten Herd, der den Geruch nach Gas im ganzen Haus verbreitete. Am Ende des Raumes stand das Kanapee unter einem bestickten Gobelin. Davor der Küchentisch mit den vier Stühlen; an Omas Sitzplatz war das graukarierte Resopal abgewetzt. Hier hatte sie gesessen, die Finger himbeerrot oder erbsengrün, je nach Jahreszeit. Die Fingernägel waren immer kurz und blitzsauber, obwohl kein Tag verging, an dem sie nicht die Hände in die Erde steckte. Nie schien sie still dazusitzen. Immer waren die Hände beschäftigt mit Schälen, Hacken, Mahlen. »Unruhige Hände«, so lautete ihre Erklärung. Genauso unruhig sausten ihre winzigen freundlichen Augen durch die Gegend, als seien sie auf der Suche. Nur nach was? Wenn Oma lachte, verschwanden die Augen völlig in den Taschen ihrer Lider und bildeten zwei verschmitzte Halbmonde.

Lore ging zum Spiegel. Inzwischen war sie selbst eine Oma. Nur ohne Familie. Und in diesem Moment fühlte sie eine heftige Sehnsucht nach der rührigen Frau in der Kittelschürze, die immer nach Gras roch. Und ein winziges bisschen nach dem Gas des Küchenherdes. Lore zapfte sich Wasser aus dem Hahn und trank in tiefen Zügen. Dann griff sie nach dem Lavendelsträußchen, um es in den Müll zu werfen. Sie hatte den Eimer schon geöffnet, da stieg ihr der Duft in die Nase, der die Heiterkeit von frisch gewaschenem Leinen verbreitete.

Lavendel, Universalreiniger des Lebens.

Während sie die Blüten von den Kelchen zupfte, konnte sie schon wieder summen. Sie nahm eine Flasche Groß-Umstädter Riesling aus dem Kühlschrank, erhitzte ihn in einem Topf und gab die blauen Blüten hinein, die sich blitzartig zu kleinen Kugeln zusammenzogen. Lore stellte das Gas auf kleinste Stufe. Als sie den Honigtopf aus dem Regal griff, fiel ihr ein Heft entgegen. Omas Rezeptbuch, ein in fleckiges Wachspapier eingeschlagenes Oktavheft, das diesen Namen kaum verdiente. Aber der Inhalt hatte es in sich. Lore blätterte durch die Seiten.

Der Weißdorn erhält dem alten Herzen die Schlagkraft.

Birkenblättertee ist ein Frühjahrsputz für den Organismus.

Der Spitzwegerich näht wie mit Goldfäden jeden klaffenden Riss zu.

Johanniskraut knipst das Seelenlicht an.

Die Kukuksgärtnerin, so nannte man Oma im Dorf, denn sie kannte die heilende wie auch die manipulierende Wirkung der Pflanzen. Viele davon zog sie im eigenen Garten. Beinwell und Blutwurz, Goldrute und Ringelblume, Weißdorn und Wacholder. Die Blätter, Blüten, Wurzeln oder Stängel verwandelte sie in Pulver oder Pasten. Lore half beim Sammeln und Zubereiten und lernte dabei die Namen der Pflanzen und deren Wirkung kennen. Ihre Spielkameraden waren der Spitzwegerich und der Breitwegerich. Mit der vorwitzigen Pimpinelle bekämpfte sie die Pestwurz und erhielt zur Belohnung den Ehrenpreis. Früh lernte Lore, die graufilzig behaarten Blätter der Katzenminze von der Pfefferminze zu unterscheiden und diese wiederum von der Brennnessel, die ihr mit den angriffslustig gezackten Blättern zum Verwechseln ähnlich sah. Auch Lore hatte die heilenden Kräfte als Kind zu spüren bekommen. Nach einem Wespenstich half ein Kräuterpflaster aus Spitzwegerich und Arnika, das Brennen sofort verschwinden zu lassen. Das Öl der Königskerze half bei Ohrenschmerzen und gegen Bauchweh ein Esslöffel Lavendelsaft. Es gab kaum jemanden im Dorf, der sich nicht von Oma behandeln ließ. »Zu der geht der Apotheker, wenn er krank ist«, sagten die Leute. Und tatsächlich kam der Dorfapotheker Weller regelmäßig zu ihr. Aber das war lange nach Opa Kukuks Tod und auch lange nach dem Verschwinden von Opa Gersprenz, Omas zweitem Mann. Lore schluckte den bitteren Gedanken hinunter und blätterte weiter in dem Rezeptbuch. Seitenweise Lavendelrezepte.

Den Lavendelwein der Hildegard von Bingen konnte sie auswendig. Aber hier, das Rezept für den Vier-Räuber-Essig. Den hatte sie ewig nicht zubereitet. Mit dem Finger fuhr Lore die Zeilen entlang und las:

Je einen Esslöffel Salbei/Rosmarin/Thymian und Lavendel mit ¾ Liter Apfelessig ansetzen.

In einem warmen Zimmer zwei Wochen ziehen lassen.

Absieben.

Bei Erkältungen morgens mit einem halben Glas Wasser und einem Esslöffel Essig gurgeln.

Der Legende nach zog zur Pestzeit eine Horde von vier Räubern durch die Dörfer, um Häuser und Besitz derer zu rauben, die wegen der Pest geflohen oder verstorben waren. Niemand sonst traute sich in die Häuser der Toten aus Angst vor Ansteckung. Die vier Räuber jedoch konnten unbehelligt ihr Unwesen treiben, ohne je zu erkranken. Auf Plünderung aber stand die Todesstrafe. Als sie gefasst wurden, versprach man ihnen das Leben, wenn sie ihr Geheimnis verrieten. Also gaben sie ihr Rezept preis: Sie hatten sich eingerieben mit einem Essig aus Salbei, Thymian, Lavendel und Rosmarin. Diese Tinktur desinfizierte die Haut und die Atemluft und bewahrte so vor der Ansteckung. Lore stellte den Herd aus und schüttete den Lavendelwein in eine Glaskaraffe. Im selben Moment klingelte das Telefon. Lore wollte nicht rangehen, doch jedes Mal bohrte sich das Klingeln tiefer in ihren Kopf und sie nahm ab.

»Hallo?« Obwohl am anderen Ende niemand sprach, wusste Lore sofort, wer dran war.

Edels Stimme machte einen kleinen Hickser, bevor sie fragte:

»Wie war’s?«

Lore stöhnte geräuschlos. »Nett.«

»Oh!«, kam es erwartungsvoll vom anderen Ende.

Lore verdrehte die Augen.