Leben in wachsenden Ringen - Andreas Kruse - E-Book

Leben in wachsenden Ringen E-Book

Andreas Kruse

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Beschreibung

Dieses Buch bildet das "Gegenstück" zu dem im April 2021 erschienenen Buch "Vom Leben und Sterben im Alter. Wie wir das Lebensende gestalten können". Während jenes die enger werdenden Lebenskreise und den allmählichen Rückzug von der Welt thematisiert, betont dieses die Möglichkeiten seelisch-geistigen Wachstums und des gesellschaftlichen Engagements. Dabei wird Wachstum nicht allein im Sinne einer Vertiefung des Erlebens, sondern auch als Fähigkeit gedeutet, neue Lebensbereiche zu erschließen sowie vertraute Lebensbereiche noch einmal aus einer umfassenderen Perspektive zu betrachten, in die das Lebenswissen der Person eingeht. Zum "Leben in wachsenden Ringen" gehören gewandelte oder neue Verantwortungsbereiche und -formen, vor allem die Verantwortung für junge Generationen im Sinne der Bereitstellung eigener Ressourcen für deren Lebensweg. In diesen Formen von Solidarität zeigt sich die Bedeutung des Alters für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine Bedingung für Lebenszufriedenheit und Sinnerfüllung bildet die Erfahrung, eine Aufgabe zu haben und von anderen Menschen gebraucht zu werden: Hier spielt das Engagement für andere Menschen und die Gesellschaft eine bedeutende Rolle; die Bereitschaft hierzu muss von dieser erkannt, anerkannt und genutzt werden. Die zunehmende körperliche und kognitive Verletzlichkeit im Alter schließen das innere Wachstum nicht aus: Menschen können auch in Grenzsituationen seelisch-geistig wachsen und reifen; hier spielt die Bewusstmachung der bestehenden Lebensbindungen eine wichtige Rolle. Sinnerfülltes Alter ist an objektive Lebensbedingungen gebunden, die eine wirkliche Gestaltung des Lebens überhaupt erst ermöglichen. Aus diesem Grunde wird Fragen der sozialen Ungleichheit und der Unterstützung pflegender Angehöriger Aufmerksamkeit geschenkt. Das Buch möchte stimulieren, Alter und alte Menschen ganz anders zu betrachten und über diese zu sprechen. Veränderte, differenzierte Bilder des Alters auf personaler und gesellschaftlicher Ebene sind notwendig. Es möchte "motivieren", Alter neu denken, es als eine erfüllte Lebensphase zu betrachten und entsprechend zu gestalten.

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Der Autor

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse, geboren 1955, verheiratet, zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Studium der Psychologie, Philosophie, Psychopathologie und Musik an den Universitäten Aachen und Bonn sowie an der Musikhochschule Köln. Promotion im Fach Psychologie mit der Note »Summa cum laude et egregia« an der Universität Bonn, Habilitation im Fach Psychologie an der Universität Heidelberg. 1993–1997 Gründungsdirektor und -professor des Instituts für Psychologie der Universität Greifswald, 1997–2021 Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg. Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück im Jahre 2010. Im Jahre 2021 Verleihung des Titels »Seniorprofessor distinctus« (auf Lebenszeit) durch die Universität Heidelberg. Zahlreiche internationale und nationale Auszeichnungen, darunter 1st Presidential Award of the International Association of Gerontology. Bundesverdienstkreuz, persönlich verliehen durch den Bundespräsidenten Prof. Köhler für die Beiträge zur Generationenforschung und zur internationalen und nationalen Politikberatung. 1999–2002 Mitglied der vom ehemaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, einberufenen Kommission zur Erstellung des International Plan of Action on Aging, 2010–2012 Koordinator im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, von 1998 bis 2000 und von 2003 bis 2020 Vorsitzender der Altersberichtskommissionen der Bundesregierung, von 2016 bis 2022 Mitglied des Deutschen Ethikrates (2016–2018 Stellvertretender Vorsitzender).

Andreas Kruse

Leben in wachsenden Ringen

Sinnerfülltes Alter

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-042121-9

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-042122-6

epub:     ISBN 978-3-17-042123-3

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1           Seelisch-geistige Kräfte in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung und Krise

2           Wachsen und reifen: Biografie und Persönlichkeit

3           Verantwortung übernehmen, Solidarität zeigen

4           Verletzlichkeit bewältigen und verarbeiten

5           Lebensbindungen erkennen, »Ja« zum Leben sagen

6           Die Vielstimmigkeit von Seele-Geist: Zur Kreativität und Spiritualität im Alter

7           Gedanken zu einer sorge- und pflegefreundlichen Kultur

8           Ungleichheit abbauen, Teilhabe und Zugehörigkeit fördern

9           Grenze – Wachstum regt sich

Abschluss

Dedikation

Vorwort

Das vorliegende Buch ist Ausdruck des Wunsches, ein eher persönliches Resümee über wissenschaftliche Befunde zum hohen Alter und deren Übertragung in praktische Handlungskontexte zu ziehen. Es thematisiert die seelisch-geistigen Entwicklungsprozesse im hohen Alter (diese ließen sich in der internationalen Forschung eindrucksvoll nachweisen), ohne dabei die Verletzlichkeit in dieser Lebensphase auszublenden, auch ohne dabei von den sozialen und materiellen Einflussgrößen abzusehen. Bei einer vorwiegend oder ausschließlich körperlich orientierten Betrachtung des hohen Alters laufen wir Gefahr – so lautet eine zentrale These des Buches –, die seelisch-geistigen Kräfte und Entwicklungsmöglichkeiten im hohen Alter »abzuschatten«. Und auch die bisweilen undifferenziert getroffene Aussage über die »gesellschaftlichen Belastungen«, die mit der wachsenden Anzahl alter Menschen verbunden seien, trägt dazu bei, über diese Kräfte rasch hinwegzugehen. Aus dem Blick gerät dabei das Humanvermögen, das unserer Gesellschaft und Kultur mit den seelisch-geistigen Kräften des Alters, die übrigens auch das Thema der Spiritualität und Transzendenz berühren, zuwächst: Wertvolle Potenziale bleiben in diesem Falle ungenutzt.

In diesem Buch verzichte ich – im Gegensatz zu früher veröffentlichten Büchern – auf ein ausführliches Literaturregister. Nur in den wenigsten Fällen erfolgt ein Hinweis auf eine vorliegende Publikation. Damit soll der essayistische Charakter der vorliegenden Publikation unterstrichen werden.

Dieses Resümee habe ich nach Ausscheiden aus dem Dienst der Universität Heidelberg verfasst. Es versteht sich auch als mein Dank für die Möglichkeiten, die mir meine Berufstätigkeit geschenkt hat. Unter den vielen, denen hier Dank gebührt, kann ich nur wenige Institutionen und Personen nennen. Zunächst die Universität Heidelberg, die mir ein wunderbares Arbeits- und geistiges Umfeld geboten hat, sodann die Fakultät für Empirische Kultur- und Verhaltenswissenschaften, in der wir zahlreiche interdisziplinäre Themen erörtern und Projekte anstoßen konnten und in der das Institut für Gerontologie mit seinen Anliegen in Forschung und Lehre immer ein offenes Ohr vorgefunden hat, schließlich das Institut für Gerontologie selbst, in dem mir meine Kolleginnen und Kollegen immer wieder aufs Neue die Möglichkeit intensiver, von Respekt und Sympathie begleiteter wissenschaftlicher Diskurse geboten haben. Auch wenn ich hier ausdrücklich alle Kolleginnen und Kollegen im Auge habe, so sei mein Stellvertreter am Institut (und sein jetziger Kommissarischer Direktor), Herr Prof. Dr. Eric Schmitt, besonders erwähnt: Er war mir in allen Jahren ein geschätzter Gesprächspartner, wenn es um die aktuellen und die antizipierten Anforderungen an das Institut ging. Dankbar blicke ich auch auf die fruchtbare, fachlich wie menschlich inspirierende Kooperation mit dem Netzwerk Alternsforschung an der Universität Heidelberg zurück, so zum Beispiel in einem zehnjährigen Graduiertenkolleg zur Demenz. Und schließlich dürfen nicht die Studentinnen und Studenten sowie die Doktorandinnen und Doktoranden am Institut für Gerontologie vergessen werden: Der Austausch mit ihnen hat mir stets große Freude bereitet – auch deswegen, weil ich der akademischen Lehre immer große Bedeutung beigemessen habe. Wie viele Impulse sind aus den Seminaren und Gesprächen hervorgegangen!

Ich danke dem Kohlhammer Verlag – und hier vor allem Herrn Dr. Ruprecht Poensgen – für die Möglichkeit, das Resümee in diesem auch für die Dissemination gerontologischen Wissens bedeutenden Verlag veröffentlichen zu können. Frau Kathrin Kastl vom Kohlhammer Verlag danke ich für ihren wertvollen Rat bei der Erstellung der Druckvorlage.

Wie ich am Ende des Buches hervorhebe, ist dieses der Gründerin des Instituts für Gerontologie, Frau Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ursula Lehr, gewidmet. Sie war mir nicht nur akademische Lehrerin und Förderin. Sie ist meiner Frau und mir immer mehr zur Freundin geworden. Ihr Lebensende und ihr Tod haben sich auf das Schreiben des Resümees ausgewirkt, und zwar vor allem in der Hinsicht, dass ich meiner Dankbarkeit dieser großen Frau gegenüber noch einmal aufs Neue Ausdruck verleihen darf.

Heidelberg, im September 2022

Andreas Kruse

Einleitung

Zum Titel und Anliegen des Buches

Der Titel des vorliegenden Buches ist einem im Jahre 1899 von Rainer Maria Rilke (1875–1926) verfassten Vers entlehnt, der sich in dem 1905 erschienenen Werk »Das Buch vom mönchischen Leben« findet.1 Dort heißt es im dritten und vierten Vers:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.

 

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.

Mit den »wachsenden Ringen« sind hier die seelisch-geistigen, also die »inneren« Lebensringe gemeint. Das Sprachbild der wachsenden Ringe beschreibt zum einen die mit der Lebensgeschichte zunehmende Anzahl von Lebensbereichen, in denen die Person Erfahrungen und Erkenntnisse gewinnen kann, zum anderen die Möglichkeiten weiterer Ausgestaltung der Erfahrungen und Erkenntnisse bei wiederholter Betrachtung eines Lebensbereichs oder bei wiederholter Beschäftigung mit diesem. Im erstgenannten Falle kann von einer Erweiterung (horizontale Perspektive) gesprochen werden, im zweitgenannten Fall von einer Vertiefung (vertikale Perspektive). Um diese beiden Perspektiven zu veranschaulichen, sei auf die beiden ersten Verse des Werkes »Das Buch vom mönchischen Leben« eingegangen, die wie folgt lauten:

Da neigt sich die Stunde und rührt mich an mit klarem, metallenem Schlag: mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann – und ich fasse den plastischen Tag.

 

Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut, ein jedes Werden stand still. Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut kommt jedem das Ding, das er will.

Der Glockenschlag erinnert an die verrinnende Zeit und zugleich an die Aufgabe und Möglichkeit, die Zeit zu nutzen, sich suchend, fragend, erlebend, erfahrend der Welt hinzugeben: sei es, dass man Neues findet, erlebt und erfährt, sei es, dass man bereits Gefundenes noch einmal findet, erlebt und erfährt – und dies in veränderter, vielleicht sogar vertiefter Form. Darin liegt das Moment des plastischen Tages. Die Vertiefung kommt vor allem im zweiten Vers zum Ausdruck, in dem zunächst die Wechselwirkung zwischen Betrachtendem und Betrachtetem im Zentrum steht und dann das Werden, das durch die Blicke des Betrachtenden angestoßen wird. In dieser Wechselwirkung verändert sich nun die bzw. der Betrachtende selbst, so wie sich in der Betrachtung auch die Dinge selbst wandeln.

Deute ich Entwicklung im Lebenslauf seelisch-geistig, dann erscheint mir auch das Leben im Alter als eine Lebensphase, in der bedeutende Entwicklungsschritte stattfinden können. Damit widerspricht auch die Tatsache, dass sich im Falle körperlicher Krankheiten und Beeinträchtigungen die Mobilität im hohen Alter deutlich verringert und damit die Erreichbarkeit vieler Orte in der räumlichen und sozialen Welt erschwert ist, nicht dem Erleben und der Erfahrung alter Menschen, sich in der seelischen und geistigen Welt immer weiter »vorzutasten«. Die intensive Zuwendung zur eigenen Psyche (als seelischer Prozess) und zum eigenen Geist (als geistiger Prozess) habe ich mit »Introversion mit Introspektion« umschrieben – damit ausdrückend, dass ich im hohen Alter immer weiter in mich eingehen (Introversion) und dabei zu persönlich bedeutenden Einsichten und Erkenntnissen (Introspektion) gelangen kann.2 Ich mag also körperlich in meiner Beweglichkeit erkennbar eingeschränkt sein (was übrigens nicht notwendigerweise der Fall sein muss), kann aber seelisch-geistig ein hohes Maß an Freiheit und Beweglichkeit zeigen. Im Sinne dieser inneren Freiheit und Beweglichkeit lässt sich das Naturgedicht »Mondnacht« deuten, das der Schriftsteller Joseph von Eichendorff (1788–1857) im Jahre 1837 veröffentlicht hat.3

Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst, dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.

 

Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht, es rauschten leis die Wälder, so sternklar war die Nacht.

 

Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.

Die Seele, so legt es dieses Gedicht nahe, kann sich sozusagen vom Körper lösen und in diesem Freisein von irgendwelchen äußeren Hindernissen ganz zu sich selbst kommen (»als flöge sie nach Haus«). In dieser Verschmelzung von Seele, Natur und Kosmos wird ein Lebens- oder Daseinsthema nicht weniger alter Menschen ausgedrückt, wie sich mir in vielen Interviews zeigte.

Nun heißt es in dem dritten Vers aus dem Werk »Das Buch vom mönchischen Leben« jedoch: »Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.« Was ist damit gemeint? Hier wird angedeutet, dass unser Erkennen und Handeln an Grenzen stoßen kann, die vielleicht auf den ersten Blick unüberwindbar erscheinen. Aber nur auf den ersten Blick. Derartige Grenzen stoßen in aller Regel seelisch-geistige Versuche an, zu einem tieferen Verständnis der Begrenztheit unseres Erkennens und Handelns sowie der Unvollkommenheiten unseres Lebens zu gelangen; vor allem in der immer weiter zunehmenden körperlichen Verletzlichkeit werden uns ja diese Unvollkommenheiten deutlich bewusst. Jeder, der über ausreichende Erfahrungen im Umgang mit alten Menschen verfügt, weiß, wie sehr die zunehmend spürbare körperliche Verletzlichkeit als eine Grenzsituation erlebt wird, in der die Person geradezu niedergedrückt oder verzweifelt sein kann. Diese Grenzsituation ist auch als eine besondere Herausforderung für unsere Psyche zu verstehen, die sich an die Tatsache der Verletzlichkeit anpassen, diese als Teil der Existenz (also der Conditio humana) annehmen muss. Doch lässt sich auf der Grundlage von (medizinisch-)psychologischen Befunden konstatieren, dass es alten Menschen durchaus gelingen kann, diese Anpassung zu leisten und die eigene Verletzlichkeit innerlich anzunehmen. Dies gelingt vor allem dann, wenn die Person die Erfahrung macht, im Leben eine Aufgabe zu haben, von anderen Menschen geschätzt und geachtet zu sein oder gebraucht zu werden. Dies habe ich auch für die Lebenssituation des alten Menschen am Ende seines Lebens aufzuzeigen versucht.4

Grenzsituationen gewinnen im hohen Alter zunehmend an Gewicht: Man denke hier nur an die schwere Erkrankung und den Tod eines nahestehenden Menschen oder aber an die eigene schwere Erkrankung, schließlich an die immer stärker ins Bewusstsein tretende, eigene Endlichkeit. Sensorische, motorische und geistige Einbußen können – so sie eintreten und subjektiv erfahrbar werden – als Grenzen eigenen Handelns erlebt werden, die zunächst als unüberwindbar erscheinen. Auch hier gilt: Es kann alten Menschen allmählich gelingen, Verluste in einer sensorischen oder motorischen Funktion durch vermehrte Akzentuierung einer anderen Funktion auszugleichen (Beispiel: noch stärkere Konzentration auf das Hören im Falle von Seheinbußen). Es kann ihnen gelingen, sich innerlich von Einbußen und Verlusten in einzelnen sensorischen und motorischen Funktionen zu distanzieren und sich stattdessen vermehrt auf seelische und geistige Prozesse zu konzentrieren (Beispiel: an die Stelle des »äußeren Hörens« tritt das »innere Hören«, an die Stelle des »äußeren Sehens« das »innere Sehen«). Der erfolgreiche Ausgleich, vor allem die erfolgreiche Distanzierung ist das Ergebnis seelischer und geistiger Prozesse, die zur tiefgreifend veränderten emotionalen Besetzung einzelner Funktionen und Lebensbereiche führen: manche Funktion, mancher Lebensbereich tritt nun in ihrer bzw. seiner Bedeutung für die Person zurück, eine andere Funktion, ein anderer Lebensbereich tritt nun deutlicher hervor. Dabei spielt der Zugang zur Natur, zur Ästhetik und zu anderen Menschen eine wichtige Rolle; zu nennen ist weiterhin die Erfahrung wahrhaftiger Kommunikation.

»Ich kreise um Gott, um den uralten Turm«: Hier wird eine spirituelle, wenn nicht sogar eine religiöse Dimension offenbar, die in der Betrachtung des hohen Alters nicht vernachlässigt werden darf. Es gibt existenzpsychologische Theorien, die in der zunehmenden spirituellen (also geistigen) oder religiösen (also gläubigen) Haltung ein Potenzial des hohen Alters erkennen. Dies bedeutet nicht, dass alle alten Menschen »gläubig« wären oder »gläubig« werden sollten. Angesprochen ist hier vielmehr eine geistige Qualität, die, wie schon betont, im Erleben vieler alter Menschen an Gewicht gewinnt. In den spirituellen oder religiösen Bezügen kann auch die Psyche »Heimat« finden, und dies auch im Lebensrückblick, der im hohen Alter immer wichtiger wird. Besonders die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit kann das Bedürfnis nach spiritueller oder religiöser Orientierung anstoßen und vertiefen. Zudem lässt sich beobachten, dass viele Menschen in palliativen Kontexten dankbar für einen spirituellen oder religiösen Beistand sind; wobei unter Spiritualität und Religiosität individuell ganz Unterschiedliches verstanden wird – was auf Seiten der Dialogpartnerinnen und -partner Offenheit und Toleranz erfordert.

»Und ich weiß noch nicht …«: Damit wird das (wohlwollend-kritische) Hinterfragen der eigenen Person angedeutet, das notwendig ist, wenn die Annahme des eigenen Lebens mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Erfolgen und Rückschlägen gelingen soll. Hier gewinnen auch das eigene Schulderleben und der Umgang mit Schuld große Bedeutung. Zudem ist die Haltung der Dankbarkeit für gelungene und erfüllte Erlebnisse, Erfahrungen und Begegnungen im Lebenslauf wichtig: Sie bildet eine Voraussetzung dafür, dass das Leben in seiner Verletzlichkeit und Endlichkeit angenommen werden kann.

Der dritte und der vierte Vers aus dem Werk »Das Buch vom mönchischen Leben« geben somit wertvolle Fingerzeige auf das, was ich die innere Gestaltung des Alters nennen möchte: Es geht um die innere Auseinandersetzung mit Erlebnissen, Erfahrungen und Erkenntnissen im hohen Alter, zugleich um den Rückblick auf das eigene Leben und schließlich um den vorausschauenden Blick in die Zukunft. Diese Auseinandersetzung kann dabei weitere seelisch-geistige Entwicklungsprozesse anstoßen, die ihrerseits dazu beitragen, dass die Person den letzten Ring vollbringt – um hier an den ersten Vers des von Rainer Maria Rilke verfassten Gedichtes anzuknüpfen.

Es geht in dem Buch jedoch nicht nur um die innere Gestaltung des Alters (also um die Selbstgestaltung), sondern auch um dessen äußere Gestaltung, das heißt um das Leben als alternde oder alte Person im sozialen Nahumfeld (gemeint ist hier der Austausch mit Angehörigen, Freunden, Bekannten, Nachbarn) und im öffentlichen Raum (gemeint ist hier das Handeln der Person in der Kommune, der Gemeinde, aber auch in Institutionen und Organisationen). Besondere Bedeutung für die äußere Gestaltung des Alters gewinnen die praktizierte Solidarität und Mitverantwortung für andere Menschen wie auch die (aktive, produktive, schöpferische) Sorge für andere und um andere Menschen. Dabei kann mit Blick auf die Gestaltung der sozialen Beziehungen von einem Bedürfnis alter Menschen nach Reziprozität, das heißt nach Gegenseitigkeit gegebener und empfangener Hilfe ausgegangen werden. Und mit Blick auf das gesellschaftliche Engagement kann konstatiert werden, dass viele alte Menschen in diesem Engagement eine bedeutende Form der (sozialen, kulturellen und politischen) Teilhabe wie auch des persönlichen Einsatzes für das Gemeinwohl und (im weiteren Sinne) für die Demokratie erblicken.

Somit ergibt sich ein breites Spektrum an Themen, die aufgerufen werden, wenn es um die innere und äußere Gestaltung des Alters geht. Dabei darf nicht von der Lebenssituation, nicht von der räumlichen, sozialen und institutionellen Umwelt des alten Menschen in ihren objektiven Bezügen abstrahiert werden. Wenn die Gestaltung von Alter im Zentrum des Interesses steht, dann muss gefragt werden, in welchen – objektiv gegebenen – Situationen und Umwelten alte Menschen leben, inwieweit diese die innere und äußere Gestaltung des Alters fördern oder aber erschweren.

Das Alter lässt sich gestalten – und die innere wie äußere Gestaltung des Alters birgt große Potenziale für die weitere Persönlichkeitsentwicklung. Sie birgt zudem Potenziale für die weitere Entwicklung des öffentlichen Raumes, der Gesellschaft und der Kultur. Schließlich darf und soll nicht übersehen werden, dass auch das Leben in Grenzsituationen gestaltbar ist, wobei die Gestaltung in diesen Situationen durch eine konzentrierte, empathische und von tiefem Respekt erfüllte Begleitung des Menschen gefördert, zum Teil erst ermöglicht wird. Und es sei noch einmal betont: Die innere wie äußere Gestaltung des Alters vollzieht sich in Wechselwirkung mit der Nahumwelt, vollzieht sich darüber hinaus unter dem Einfluss objektiver Lebensbedingungen, vollzieht sich schließlich unter dem Einfluss von Gesellschaft und Kultur. Aus diesem Grunde ist es notwendig, immer wieder »über die Person hinaus zu blicken«, nämlich auf die Rahmenbedingungen einer Biografie.

Der Untertitel dieses Buches hebt das »sinnerfüllte« Alter hervor. In dem, was eine Person als sinnerfüllt oder stimmig erlebt und erfährt, drückt sich in besonderem Maße die Einzigartigkeit von Erleben und Erfahren aus (hier spricht der Bonner Psychologe Hans Thomae5 (1951–2001) von einem »principium individuationis«). Auch wenn Gesellschaft und Kultur Sinnangebote unterbreiten, von denen wir uns zum Teil nicht vollumfänglich distanzieren können, auch wenn unsere Welt in weiten Teilen eine gesellschaftlich und kulturell vermittelte ist, so sind doch das Erleben und die Erfahrung von Sinn letztlich hochgradig individuelle Prozesse. Und gerade in diesem Erleben und in dieser Erfahrung spüren wir, wie intensiv wir angesprochen sind, uns ansprechen lassen, resonanzfähig sind – ein zentrales Merkmal der Dynamik der Person.

Sinnerfülltes Alter meint somit: angesprochen werden (durch die unterschiedlichen Bereiche der Welt), sich ansprechen lassen (offen sein für die unterschiedlichen Bereiche der Welt) und resonanzfähig sein (antworten auf die unterschiedlichen Bereiche der Welt – dies in einer der Person ganz eigenen Art und Weise). Damit wird deutlich, wie sehr das sinnerfüllte Alter an objektiv gegebene Lebensbedingungen gebunden ist, definieren diese doch mit, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang ich überhaupt durch die Welt angesprochen werde. Doch sind es nicht allein die objektiv gegebenen Lebensbedingungen, denen hier Bedeutung zukommt. Es ist auch die Person selbst, die sich ansprechen lassen muss, die resonanzfähig sein muss; wobei diese Bereitschaft und Fähigkeit – unter anderem, aber nicht unwesentlich – von Teilhabebedingungen beeinflusst sind, die in der Biografie bestanden haben und im Alter bestehen. Bildung ist übrigens eine sehr wichtige Teilhabebedingung.

Mit sinnerfülltem Alter sind in diesem Buch keine Empfehlungen oder gar Rezepte gemeint, die zu einem guten Leben führen. Abgesehen davon, dass solche Empfehlungen und Rezepte häufig pauschal und damit wenig überzeugend ausfallen (müssen), sind mit den Begriffen »principium individuationis« und »dynamisch« zwei Aspekte angesprochen, die solchen Empfehlungen und Rezepten geradezu entgegenstehen. Es geht nämlich darum, dass die Person zu ihren geistigen und seelischen Quellen findet, aus denen ein tiefes, subjektiv überzeugendes Sinnerleben, eine tiefe, überzeugende Sinnerfahrung hervorgeht. Es geht darum, die Resonanzfähigkeit, Offenheit und Toleranz der Person anzusprechen, die wichtig sind, wenn wir uns von der inneren und äußeren Welt ansprechen und anregen lassen wollen. Und es geht natürlich auch darum, darzulegen, wie Gesellschaft und Kultur dazu beitragen können, dass ältere genauso wie jüngere Menschen die sie umgreifende Welt als Aufgabe, vielleicht auch als Geschenk begreifen – und für diese Welt Mitverantwortung tragen. Das alles sind keine Empfehlungen oder Rezepte für Sinnerleben und Sinnerfahrung. Es sind mehr die personalen und situationsbezogenen Rahmenbedingungen, unter denen Sinnerleben und Sinnerfahrung gefördert werden.

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