Vom Leben und Sterben im Alter - Andreas Kruse - E-Book

Vom Leben und Sterben im Alter E-Book

Andreas Kruse

0,0

Beschreibung

This book is concerned with people who are approaching the end of their lives, as well as with the personal and professional caregivers who accompany them during this last stage. It describes attitudes and coping techniques among seriously or terminally ill people, as well as the care, support and environmental conditions that can help them shape the end of life in the best way possible in accordance with their own ideas. The author=s aim in the book is to provide support for people in developing an accepting attitude towards the finiteness of life and in clearly articulating to their caregivers what their ideas of a good life are. ?This is a major work that places all end-of-life issues in a kinder, more serious, and more confident light. Well worth reading for everyone in relation to their own life, and for doctors, nurses, pastoral caregivers, counselors and all those voluntarily involved in providing humane care for seriously ill, very elderly and dying people. A book that is a wonderful read.= Dr. Matthias Mettner, Director of Studies for ?Palliative Care and Organizational Ethics & Interdisciplinary Continuing Education Switzerland=, and Program Director of the Health and Medicine Forum, Zurich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 573

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse, geboren 1955, verheiratet, zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Studium der Psychologie, Philosophie, Psychopathologie und Musik an den Universitäten Aachen und Bonn sowie an der Musikhochschule Köln. Promotion im Fach Psychologie mit der Note »Summa cum laude et egregia« an der Universität Bonn, Habilitation im Fach Psychologie an der Universität Heidelberg. 1993–1997 Gründungsdirektor und -professor des Instituts für Psychologie der Universität Greifswald, seit 1997 Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg. Zahlreiche internationale und nationale Auszeichnungen, darunter 1st Presidential Award of the International Association of Gerontology. Bundesverdienstkreuz, persönlich verliehen durch den Bundespräsidenten Prof. Köhler für die Beiträge zur Generationenforschung und zur internationalen und nationalen Politikberatung. 1999–2002 Mitglied der vom ehemaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, einberufenen Kommission zur Erstellung des International Plan of Action on Aging, 2010–2012 Koordinator im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, seit 2003 Vorsitzender der Altersberichtskommission der Bundesregierung, seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrates. Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück im Jahre 2010.

Andreas Kruse

Vom Leben und Sterben im Alter

Wie wir das Lebensende gestalten können

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040586-8

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-040587-5

epub:     ISBN 978-3-17-040588-2

mobi:     ISBN 978-3-17-040589-9

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

Vorwort

1      Sterbensängste, Todesängste: Welche Antworten können wir auf diese geben?

1.1   Die verschiedenen Bereiche der Person im Prozess des Sterbens

1.2   Sterbensängste, Todesängste: Ein erstes Fazit

2      Die Vorbereitung des Menschen auf seinen Tod

2.1   Die erste theoretische Perspektive: »Lebensrückblick«

2.2   Die zweite theoretische Perspektive:»Ich-Integrität«

2.3   Die dritte theoretische Perspektive: »Verletzlichkeit und Reife in Sorgebeziehungen«

2.4   Perspektivenwechsel: Beispiele aus der Lyrik

3      Die Verarbeitung und Bewältigung einer schweren, zum Tode führenden Krankheit

3.1   Einflüsse auf Verarbeitung und Bewältigung

3.2   Das »Verhältnis zum Leben«: Lebensbewertung und Lebensbindung

3.3   Offenheit für Sinn, Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit

3.4   Kohärenzgefühl

3.5   Stufenmodelle der Belastungsbewältigung bzw. -verarbeitung

3.6   Das Phasenmodell von Elisabeth Kübler-Ross

3.7   Antwort auf Elisabeth Kübler-Ross: Eine Längsschnittstudie im Kontext der hausärztlichen Versorgung

3.8   Terror-Management-Theorie – eine kulturkritische Theorie des psychischen Umgangs mit eigener Endlichkeit

4      Begleitung am Lebensende: Drei Gestaltungskontexte

4.1   Einführung

4.2   Transzendentale Selbst- und Welterfahrung (Spiritualität) als erster Gestaltungskontext

4.3   Würde als zweiter Gestaltungskontext

4.4   Umfassende ärztlich-pflegerische Versorgung als dritter Gestaltungskontext

4.5   Das Sterben zulassen

5      Selbstverantwortung am Lebensende: Zehn Variationen über ein Thema

5.1   Selbstständigkeit

5.2   Autonomie in der Alltagsgestaltung

5.3   Sich auf das eigene Sterben einstellen

5.4   Gestaltung von Beziehungen

5.5   Fähigkeit, den Krankheitsprozess zu verstehen

5.6   Mitwirkung an den Entscheidungen, die die weitere Versorgungsplanung betreffen

5.7   Entscheidung für den Ort des Sterbens

5.8   Mitentscheidung im Hinblick auf den Zeitpunkt, zu dem Behandlungsmaßnahmen abgebrochen werden (»Sterben lassen«)

5.9   Artikulation des Wunsches, aus dem Leben zu scheiden

5.10 Entscheidung über die Art der spirituellen Begleitung

6      Leben und Sterben eines demenzkranken Menschen

6.1   Drei komplementäre Zugänge zum Erleben der demenzkranken Person

6.2   Person-Begriff

6.3   Aussagen zur Krankheit und zur Epidemiologie

6.4   Die Begleitung von Sterbenden mit dementieller Erkrankung

6.5   Inseln des Selbst und Prozesse der Selbstaktualisierung bei einer weit fortgeschrittenen Demenz

6.6   Was bedeutet das Antlitz eines Menschen mit Demenz für eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben?

7      Abschluss (Coda)

Literatur

Vorwort

Das vorliegende Buch möchte dazu anregen, über die Gestaltung des Lebensendes nachzudenken – und zwar aus fachlicher, aus ethischer und aus persönlicher Sicht. Dabei ließ ich mich von der Annahme leiten, dass das Lebensende als eine Zeitspanne zu verstehen ist, in der das Leben zu einem vom sterbenden Menschen bewusst angenommenen Abschluss gelangen kann – kann und nicht muss, weil ein derartiger Abschluss an zahlreiche innere und äußere Bedingungen geknüpft ist, die in diesem Buch ausführlich erörtert werden. Sie zeigen in ihrer Gesamtheit, wie sehr die Entwicklung und Verwirklichung einer Abschiedskultur sowohl als Aufgabe des Individuums und seines Nahumfeldes als auch als Aufgabe der Gesellschaft zu begreifen ist. Der Gesellschaft kommt hier die Verpflichtung zu, Ressourcen bereitzustellen, die sicherstellen, dass alle Menschen (unabhängig von ihrem Stande) einen Ort und eine Art fachlicher und menschlicher Begleitung finden, die sie in die Lage versetzen, sich auf das eigene Sterben einzustellen und ihr Leben auch am Lebensende zu gestalten. Und auch dann, wenn es Menschen nicht vergönnt ist, ihr Leben am Lebensende bewusst zu gestalten, sind sie auf einen Ort sowie auf eine Begleitung angewiesen, an dem und in der sie tiefen Respekt vor ihrer Existenz sowie ein hohes Maß an Solidarität erfahren. Dies bedeutet, dass die gesellschaftliche und kulturelle Auseinandersetzung mit Verletzlichkeit, Endlichkeit und Vergänglichkeit von Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit bestimmt sind – eine Forderung, die in ihren Konsequenzen die Identität der an der Versorgung beteiligten Disziplinen berührt: Eine gute Versorgung bedeutet eben nicht nur die Wiederherstellung von körperlicher und seelischer Gesundheit, sondern mit Blick auf unser Thema auch, den Menschen am Ausgang seines Lebens würdevoll und engagiert zu begleiten, diesen Ausgang fachlich und ethisch verantwortungsvoll zu gestalten; sich dabei nicht allein an fachlichen Standards, sondern immer auch an individuellen Kriterien einer »guten Behandlung« orientierend. Inwieweit ist also sichergestellt, dass sich das Individuum auch in seiner größten Verletzlichkeit vollumfänglich geachtet fühlt?

Dieses Thema einer hochgradig individuellen Versorgung am Lebensende wird in Zukunft noch deutlich an Gewicht gewinnen – schon allein deswegen, weil schwerkranke und sterbende Menschen in vielen Fällen nicht mehr auf jenes Ausmaß an familiärer Unterstützung zurückgreifen können, wie dies heute noch der Regelfall ist. Zudem führt uns die wachsende Anzahl hochbetagter Menschen einmalmehr die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz vor Augen: denn trotz aller seelisch-geistigen Entwicklungsschritte, die Menschen auch im hohen Alter tun können, sind die körperlichen, nicht selten auch die kognitiven Grenzen in dieser Lebensphase unübersehbar. Besonders sichtbar werden Verletzlichkeit und Vergänglichkeit im Falle der Demenz. Diese stellt den Kranken selbst, sein Nahumfeld, schließlich unsere Gesellschaft und Kultur vor besondere Anforderungen. Ich widme diesem Thema ein eigenes Kapitel, weil die Begleitung demenzkranker Menschen nicht nur erweiterte fachliche Anforderungen an die Palliativversorgung stellt, sondern auch besondere ethische Reflexionen erfordert. Zugleich gibt uns die Betrachtung demenzkranker Menschen einen Impuls, über unser Verständnis von »Person« nachzudenken und für die Zeichen der Personalität »im Anderen« auch dann empfänglich zu sein, wenn diese nur noch in Ansätzen erkennbar oder spürbar sind. Wie wichtig ist es, dass wir gerade in diesen Situationen einen Resonanzboden für das Erleben und Verhalten demenzkranker Menschen bilden!

Wie wichtig ist aber auch eine Anthropologie, deren Ausgangspunkt der bzw. die Andere bildet, eine Anthropologie also, die sich vom Antlitz der bzw. des Anderen berühren lässt, um hier mit Emmanuel Lévinas zu sprechen, dessen Philosophie vielen Stellen dieses Buches als Rahmen dient.

Eine Ethik, die mich persönlich leitet und in dem Buch ausführlich zu Wort kommt, verdankt sich Albert Schweitzer. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist für mich essenziell, wenn ich zu dem (und nicht auf den) schwerkranken und sterbenden Menschen blicke. Um hier aber nicht falsch verstanden zu werden: Ich wäre der Letzte, der die Entscheidung eines Schwerkranken oder Sterbenden, mit Hilfe eines anderen Menschen seinem Leben ein Ende zu setzen, verurteilen würde; wer dies tut, hat von der Not, in der eine solche Entscheidung vielfach getroffen wird, nichts verstanden. Doch begreife ich mich selbst als einen Menschen, der sich angesichts dieser Not zuerst und vor allem vor die Frage gestellt sieht: Wie können wir diese lindern? Welche Aufgabe richtet diese Not an mich? Ich versuche – symbolisch gesprochen – mit einer Störfrage an den Anderen, an die Andere zu gelangen: Lassen sich nicht doch Lebensbindungen finden und im täglichen Leben verwirklichen, die dazu motivieren, trotz aller als unabänderlich erlebten Grenzen »Ja« zum Leben zu sagen? An verschiedenen Stellen des Buches gehe ich wiederholt auf das Changieren des Individuums zwischen Grenzen einerseits, Möglichkeitsräumen andererseits ein.

Ich habe Dank zu sagen.

Zunächst den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mehrerer empirischer Untersuchungen, die ich begleitend oder verantwortlich zur »inneren« Verarbeitung und »äußeren« Bewältigung schwerer körperlicher oder neurokognitiver Erkrankungen, schließlich zur Auseinandersetzung mit dem herannahenden Tod ausrichten durfte. Vielfach habe ich mich in der Situation eines »Lernenden« befunden, der in den Interviews nicht nur fachliche, sondern auch menschliche Bereicherung erfahren hat. Was mir oft deutlich wurde: die Psyche (oder in neuerer Terminologie: das Selbst) zeigt auch in solchen Grenzsituationen erhebliche schöpferische Kräfte. Diese konnte ich genauso wahrnehmen wie die nicht zu leugnenden Grenzen der Verarbeitung und Bewältigung.

Der Dank gilt weiterhin Kolleginnen und Kollegen – des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, aber auch anderer Einrichtungen – für die vielen Formen der Bereicherung im Hinblick auf ein vertieftes Verständnis des Lebens in den Grenzsituationen schwerer Erkrankung und des Sterbens. Besonders mein Kollege Prof. Dr. Eric Schmitt hat sich viel Zeit genommen, um mit mir die einzelnen Kapitel ausführlich zu erörtern; seine wertvollen Anregungen mündeten in neue Analyseperspektiven und neue thematische Aspekte. Ebenso danke ich meinen Kollegen Prof. Dr. Bartelmann, Dr. Matthias Mettner und Prof. Dr. Remmers für das Gegenlesen und konstruktive, ermutigende Kommentieren des Textes sowie Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer Verlag für seine fundierte und von großem Verständnis bestimmte Beratung in der Endphase der Manuskripterstellung.

Mein besonderer Dank gilt meiner Frau, die in ihrem Beruf über Jahrzehnte auch schwerkranke und sterbende Menschen betreut und mir immer wieder die Möglichkeit gegeben hat, an ihren Erfahrungen und Erkenntnissen zu partizipieren: diese haben mich fachlich, ethisch und persönlich geprägt.

Heidelberg, im Oktober 2020

1

Sterbensängste, Todesängste: Welche Antworten können wir auf diese geben?

Aus der Perspektive chronisch kranker Patientinnen und Patienten beschreibt das Lebensende meist den Übergang von einer chronisch-progredienten Krankheit in ein präfinales und schließlich in ein finales Stadium. Gerade wenn wir auf das hohe Alter blicken, lassen sich derartige Übergänge beobachten, die mit einer kontinuierlich zunehmenden Schwächung der körperlichen, nicht selten auch der kognitiven Kräfte, mit einer immer weiter abnehmenden Selbstständigkeit, mit zunehmender körperlicher, vielfach auch emotionaler Erschöpfung, bisweilen mit Angst und Niedergeschlagenheit verbunden sind. Hinzu können Schmerzsymptome und zahlreiche weitere Körpersymptome treten, die ihrerseits die emotionale Verletzlichkeit noch einmal erhöhen. Das Lebensende ist für viele Patientinnen und Patienten, deren Bezugspersonen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des medizinisch-pflegerischen Versorgungssystems mit hohen Anforderungen verbunden – körperlichen, seelischen, sozialen, existenziellen. Diese Anforderungen nehmen möglicherweise noch einmal zu, wenn alte Menschen an einer der verschiedenen Demenzformen leiden oder im Vorfeld des Todes akute Zustände der Desorientierung, wenn nicht sogar der Verwirrtheit zeigen. Die hier in Kürze zusammengefassten, in diesem Buch ausführlich darzustellenden und zu erörternden Prozesse befürchten Menschen, wenn sie sagen, sie schrecke nicht der Tod, sie schrecke allein die Vorstellung, qualvoll sterben zu müssen.

Hier sei betont: Stationäre und ambulante Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in einem Maße entwickelt, dass es Ärzten, Pflegefachpersonen, Physiotherapeuten, Logopäden, Psychologen, Sozialarbeitern, Seelsorgern – um hier die wichtigsten Disziplinen in einem interdisziplinären palliativen Versorgungsteam zu nennen – zunehmend besser gelingt, die körperlichen und kognitiven Symptome erkennbar zu lindern, den Symptomverlauf zu kontrollieren, Ängste und Depressionen zu mildern, Phasen der Desorientierung und der Verwirrtheit ganz zu vermeiden oder wenigstens erheblich zu verkürzen und zudem in ihrer Symptomtiefe erkennbar zu verringern1. Dies sind große fachliche Erfolge, die sich in hohem Maße auch der Courage und dem Engagement von Menschen verdanken, die den Mut haben, sich auf das Sterben von Patientinnen und Patienten einzulassen (was ohne persönliches Berührt-Sein gar nicht möglich ist), ja, dabei auch dem Tod in die Augen zu schauen (Bausewein, 2015). Der weitere Ausbau stationärer und ambulanter palliativmedizinischer und -pflegerischer Versorgungsstrukturen wie auch stationärer und ambulanter Hospize ist in meinen Augen eine der wichtigsten Aufgaben, die sich unserem Gesundheitssystem stellen. Dies übrigens auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die familiäre Pflege alter Menschen in unserem Land – wie auch in unseren Nachbarländern – mehr und mehr zurückgehen wird: Der demografische Wandel mit einem veränderten Altersaufbau der Bevölkerung wie auch die deutlich erhöhte räumliche Mobilität der mittleren Generation sind bedeutende Ursachen für die zurückgehenden familiären Pflegeressourcen.

Mit den großen Erfolgen, die Palliativmedizin und Palliativpflege wie auch Hospizarbeit heute vorweisen können, ist aber nicht nur eine signifikante Linderung von körperlichen und psychischen Symptomen verbunden. Es kommt etwas hinzu, was in meinen Augen in den heutigen Diskussionen bisweilen vernachlässigt wird: Durch Symptomlinderung und -kontrolle kann dazu beigetragen werden, dass sich Patientinnen und Patienten sehr vielmehr auf das eigene Sterben einstellen, mithin die persönliche Situation sowie ihr soziales Nahumfeld – wenn auch nur eingeschränkt – mitgestalten können.

Damit ist eine psychologische und existenzielle Dimension des Sterbens angedeutet, die in diesem Buch besonders hervorgehoben werden soll. Das Sterben wird als natürlicher und für die Gesamtgestalt des Lebens bedeutsamer Prozess verstanden. Vielleicht ist das Sterben ein Übergang, wobei wir nicht wissen, auch nicht in Ansätzen angeben können, wohin dieser Übergang führt, mit welchen inneren Prozessen dieser verbunden ist.

Alles ist nur Übergang. Merke wohl die ernsten Worte:Von der Stunde, von dem Orte treibt Dich eingepflanzter Drang.Tod ist Leben, Sterben Pforte. Alles ist nur Übergang.(Alte Brückeninschrift in Wien. Verfasser: unbekannt)

In diesem Buch möchte ich darlegen, wie wichtig es ist, dass Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit alles dafür tun, damit Menschen am Lebensende in die Lage versetzt werden, sich auf den herannahenden Tod innerlich einzustellen, diesem gefasst entgegenzugehen. Dieses Sich-Einstellen auf den Tod, dieses gefasste Entgegengehen ist dann unmöglich, wenn Patientinnen und Patienten an starken Schmerzen leiden und weitere Symptome zeigen, die sie als qualvoll erleben. In dem Maße, in dem Symptomlinderung und -kontrolle gelingen, wird die Grundlage für diese konzentrierte und gefasste Haltung gegenüber dem herannahenden Tod geschaffen. Diese Aussage treffe ich vor dem Hintergrund einer eigenen Studie zur hausärztlichen Sterbebegleitung, von der in diesem Buch noch ausführlich die Rede sein wird, vor allem aber vor dem Hintergrund zahlreicher Arbeiten auf dem Gebiet der Palliativmedizin, der Palliativpflege und der Hospizarbeit, auf die an späterer Stelle ausführlich Bezug genommen wird.

Es ist zu bedenken, dass man bei der Versorgung und Begleitung eines schwerkranken oder sterbenden Menschen wenigstens eine gewisse persönliche Vorstellung davon haben sollte, was im Prozess der schweren Krankheit und des Sterbens psychologisch und existenziell geschieht (von Scheliha, 2010; Roser, 2019): Nicht, um Patientinnen und Patienten Überzeugungen aufzudrängen, sondern um selbst eine Orientierung, einen Kompass zu besitzen, der das eigene psychologische und existenzielle Erleben und Handeln leitet, ohne dabei die Offenheit für alle Zeichen, Aussagen und Deutungen, die von den Patientinnen und Patienten ausgehen, zu verlieren. Es sei hier betont: Den Dreh- und Angelpunkt der Versorgung und Begleitung bilden neben fachlichen Standards die Werte, Überzeugungen und Bedürfnisse der Patientin bzw. des Patienten (Caspari, Lohne, Rehnsfeldt et al., 2014; Remmers, 2019).

Wenn Symptome gelindert und kontrolliert, wenn Werte, Überzeugungen und Bedürfnisse schwerkranker und sterbender Menschen verstanden und ausdrücklich aufgegriffen werden: Sind dann alle Ängste genommen? Hier möchte ich vor vorschnellen Annahmen und Vereinfachungen warnen. Nicht wenige Menschen neigen ja dazu, die Aussage zu treffen, sie hätten vor dem Sterben Angst, nicht aber vor dem Tod. Vielfach ist zu hören, dass man mit dem Tod »keine Probleme« habe – schließlich erlebe man diesen ja nicht an sich selbst –, wohl aber mit dem Sterben, da man Angst vor einem qualvollen Sterben habe. Ich stehe dieser Aussage skeptisch gegenüber. Das Leben aufzugeben, die engsten persönlichen Bezugspersonen zurückzulassen, von der Welt Abschied zu nehmen: Dies fällt zumindest jenem Menschen, der gerne lebt, der in und an der Welt Freude empfindet, der sich in der Welt und für die Welt engagiert, schwer. Es ist ein endgültiger Abschied. Diesen Abschied mag man Jahre vor dem Tod in seiner persönlichen Bedeutung diminuieren – der Abschiedsschmerz wird größer und größer, wenn man unmittelbar mit dem herannahenden Tod konfrontiert ist. Dies heißt nun nicht, dass der Mensch mitten im Leben niedergeschlagen oder verzweifelt sein und jegliche Initiative zur Selbst- und Weltgestaltung aufgeben müsste. Es heißt vielmehr, dass der Mensch »lernen« muss, sich auf das Faktum des eigenen Todes rechtzeitig einzustellen, dass er lernen muss, »anzusterben«, wie dies Michelangelo Buonarroti (1475–1564) in einem seiner 42 Sonette ausgedrückt hat.

Des Todes sicher, nicht der Stunde, wann.Das Leben kurz, und wenig komm ich weiter;den Sinnen zwar scheint diese Wohnung heiter,der Seele nicht, sie bittet mich: stirb an.Die Welt ist blind, auch Beispiel kam empor,dem bessere Gebräuche unterlagen;das Licht verlosch und mit ihm alles Wagen;das Falsche frohlockt, Wahrheit dringt nicht vor.Ach, wann, Herr, gibst du das, was die erhoffen,die dir vertraun? Mehr Zögern ist verderblich,es knickt die Hoffnung, macht die Seele sterblich.Was hast du ihnen so viel Licht verheißen,wenn doch der Tod kommt, um sie hinzureißenin jenem Stand, in dem er sie betroffen.

 

(aus: Michelangelo Buonarroti, 2002, »Zweiundvierzig Sonette«;übersetzt von Rainer Maria Rilke)

In diesem Sonett kommt die Bereitschaft zum Ausdruck, bereits viele Jahre vor Eintritt des Todes »anzusterben«, dies heißt, sich allmählich von der Welt zu lösen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass wir weder die uns umgebende Welt noch unser Leben als »unseren Besitz« auffassen dürfen. Im Gegenteil: Wir sind dazu aufgerufen, uns in das Loslassen und Hergeben einzuüben und damit die Welt und unser Leben im Sinne von Gegebenem, das wir irgendwann zurückgeben müssen, zu deuten2. Mit der Loslösung von der Welt – und dies heißt in den Worten Michelangelos: mit dem »Ansterben« – stellt sich der Mensch auf den eigenen Tod ein.

Auch die von Notker Poeta (deutsch: Notker der Dichter, Notker der Stammler) (ca. 840–912) stammende Antiphon: »Media in vita in morte sumus« (dt.: Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen) erinnert uns daran, rechtzeitig mit der Vorbereitung auf unseren Tod zu beginnen, uns in die abschiedliche Existenz einzuüben – was nicht bedeutet, dass sich der Mensch aus dem Leben zurückzöge, seine Möglichkeiten zur Selbstgestaltung und Weltgestaltung ungenutzt ließe.

Zurück zum Titel des Buches: »Vom Leben und Sterben im Alter«. Dieser Titel dient als Metapher für das herannahende Lebensende, welches hier aus der Perspektive des chronisch erkrankten Menschen betrachtet wird, vor allem aus der Perspektive des alten Menschen. Mit diesem Titel wird der Übergang von einer schweren chronischen Erkrankung zu einem präfinalen und finalen Zustand überschrieben – ein Übergang, der in aller Regel kontinuierlich zunehmend (progredient) verläuft, was sich nicht nur mit Blick auf die physische, sondern auch mit Blick auf die psychische, die soziale und die existenzielle Situation von Patientinnen und Patienten zeigt.

1.1       Die verschiedenen Bereiche der Person im Prozess des Sterbens

Der körperliche Bereich

Im körperlichen Bereich dominiert ein stetiger Rückgang der Widerstandsfähigkeit (gegen interne und äußere Stressoren) und der Restitutionsfähigkeit: Infektionen können immer schlechter abgewehrt werden, nach einer akuten Verschlechterung der Gesundheit wird deren Wiederherstellung immer unwahrscheinlicher, das nach optimaler Therapie und Rehabilitation erreichte Leistungsniveau unterschreitet jenes, das vor der akuten Verschlechterung der Gesundheit bestanden hat. Da akute Krankheitsepisoden mehr und mehr zunehmen, bedeutet dies langfristig einen deutlichen Rückgang der Leistungsfähigkeit des Organismus; möglicherweise bis hin zu einer vita minima. Eingetretene Einbußen in einzelnen Organfunktionen lassen sich immer weniger kompensieren. Diese Veränderungen münden schließlich in einem deutlich erhöhten Auftreten von körperlichen (und in deren Folge: von kognitiven) Symptomen und in einer verringerten Selbstständigkeit, die bis hin zu einer ausgeprägten Hilfsbedürftigkeit oder sogar Pflegebedürftigkeit führt (Burkhardt, 2019). Die Patientinnen und Patienten zeigen nicht selten stark ausgeprägte Erschöpfungssymptome, die auch die Teilnahme an aktivierenden oder rehabilitativen Maßnahmen erschweren.

Die längsschnittliche Abbildung dieses kontinuierlich zurückgehenden körperlichen Leistungsniveaus lässt sich mit dem in der Geriatrie entwickelten Frailty-Konzept vornehmen, das auch als eine phänotypische Annäherung an die zunehmende körperliche Verletzlichkeit des Menschen verstanden werden kann. Nach Linda Fried, auf die dieses Konzept zurückgeht, ist den folgenden fünf klinischen Merkmalen – die in ihrer Gesamtheit das Frailty-Konzept konstituieren – besondere Beachtung zu schenken (Fried et al. 2001):

1.  dem ungewollten Gewichtsverlust (über fünf Kilogramm im vergangenen Jahr),

2.  der subjektiv erlebten körperlichen Erschöpfung,

3.  der körperlichen Schwäche (bestimmt mit der Messung der Handkraft),

4.  dem verlangsamten Gang,

5.  der geringen physischen Aktivität.

Wenn mindestens drei dieser klinischen Merkmale vorliegen, wird von Frailty gesprochen. Nun ist Frailty aber nicht per se mit der stark ausgeprägten Verletzlichkeit – man könnte in diesem Krankheitsstadium auch sagen: Gebrechlichkeit – des Menschen am Ende seines Lebens gleichzusetzen; vielmehr ist die Gebrechlichkeit eine stark ausgeprägte Form von Frailty. Und doch eignet sich das Frailty-Konzept auch zur Charakterisierung des organismischen Zustandes des Menschen am Ende seines Lebens, denn in allen (und eben nicht nur einzelnen) Merkmalen, die unter Frailty subsumiert werden, zeigen sich so stark ausgeprägte Leistungseinbußen und Restitutionsdefizite, dass deutlich wird: die verbliebenen physischen Ressourcen werden ausschließlich für die Aufrechterhaltung grundlegender Lebensfunktionen benötigt (Clegg et al., 2013). Dies aber gelingt dem Individuum immer weniger, sodass wiederholt abrupte Verschlechterungen des allgemeinen Gesundheitszustandes auftreten, die sich immer weniger kompensieren lassen. Daraus resultiert – betrachtet man den gesamten Krankheitsverlauf in der letzten Lebensphase – eine zunehmend geringere physiologische Leistungs- und Restitutionskapazität, die schließlich in einen Finalzustand mündet. Der Altersmediziner Cornel Sieber (2005) versteht Frailty als Folge von Einbußen in mehreren physiologischen Merkmalen, die gerade aufgrund ihrer Häufung ein »ausbalanciertes System gefährden« können; im Falle von Einbußen in zahlreichen physiologischen Merkmalen, so kann gefolgert werden, ist dieses ausbalancierte System nicht nur gefährdet, sondern bricht zusammen (»Desorganisation«) und kann zunächst nur noch in Ansätzen, bald aber gar nicht mehr wiederhergestellt werden.

Zur stark ausgeprägten Frailty tritt häufig die Sarkopenie (Abnahme von Muskelmasse und Muskelkraft) hinzu, die von alten Menschen als besondere körperliche und emotionale Belastung erfahren wird (Cruz-Jentoft, Bahat, Bauer et al., 2019). Die Sarkopenie lässt sich bei über 30 Prozent der ab 80-jährigen Frauen und Männer beobachten (Buess & Kressig, 2013). Der Gewichtsverlust ist dabei mit einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko verbunden (Sieber, 2014). Gerade bei schwerkranken oder sterbenden alten Menschen bildet die Sarkopenie – neben einer stark ausgeprägten Frailty – ein häufig anzutreffendes Syndrom, das in dieser Gruppe durchaus auch als ein Leitsyndrom eingestuft werden kann.

Was folgt aus diesen Aussagen?Diese zeigen uns, dass sich im hohen Alter der gesundheitliche Zustand nicht plötzlich, abrupt, sondern vielmehr kontinuierlich fortschreitend verschlechtert, was sich auch mit dem subjektiven Empfinden von Patientinnen und Patienten deckt, die häufig davon sprechen, dass es immer weniger werde, dass sie sich einer letzten Grenze näherten, dass die Phasen der Erschöpfung in immer kürzeren Abständen aufträten und dabei immer länger anhielten. Patientinnen und Patienten erfahren unmittelbar das Leben zum Tode hin, ein Leben, das Möglichkeiten der Selbstgestaltung und Weltgestaltung immer weiter verringert. Damit machen auch die für die Denomination der Palliativmedizin und Palliativpflege konstitutiven Begriffe »Pallium« (Mantel) bzw. »palliare« (den Mantel umlegen) einmalmehr Sinn. Denn es geht ja in der Tat darum, körperlich hochgradig geschwächte Patientinnen und Patienten zu schützen – vor bestimmten Symptombildungen ebenso wie vor weiteren Erkrankungen.

In einer für die medizinisch-pflegerische Versorgung am Lebensende wichtigen Studie wurde zwischen drei Krankheitsverläufen (»trajectories«) in der letzten Lebensphase differenziert (Murray, Kendall, Boyd et al., 2005):

1.  Tumorerkrankungen: diese sind zunächst durch eine relativ lange Zeit mit vergleichsweise geringen Einschränkungen im Alltag charakterisiert; innerhalb weniger Monate treten körperlicher Abbau, Funktionsverlust und Tod ein;

2.  Herz-, Lungen- oder Nierenerkrankungen: diese erstrecken sich über mehrere Jahre mit mehr oder minder stark ausgeprägten Einschränkungen im Alltag; gelegentlich treten akute Verschlechterungen ein, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen; die sich anschließende Erholung erreicht das frühere Funktions- und Leistungsniveau nicht mehr;

3.  Frailty: vielfach assoziiert mit kognitiven Störungen und einem über mehrere Jahre bestehenden, kontinuierlich steigenden Niveau der Hilfsbedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit.

Wie die Autoren dieser Studie hervorheben, sind für den Tod alter Menschen nur in geringem Maße die Tumorerkrankungen verantwortlich und in sehr viel stärkerem Maße Herz-, Lungen- und Nierenerkrankungen oder eine stark ausgeprägte Frailty, verbunden mit Sarkopenie.

Dies zeigt noch einmal, wie wichtig das vertiefte Verständnis eines kontinuierlichen Übergangs von einer chronisch progredienten Erkrankung zu einem präfinalen und schließlich einem finalen Zustand für die fachlich und ethisch überzeugende therapeutische und pflegerische, aber auch für die psychologische, soziale und seelsorgerische Begleitung ist. Denn es geht um die Frage, wann therapeutisch-rehabilitative Ziele und Schritte zugunsten palliativer Ziele und Schritte verringert und schließlich ganz aufgegeben werden sollten. Darüber hinaus ist es bei vielen Patientinnen und Patienten geboten, trotz Einleitung palliativmedizinischer und -pflegerischer Schritte therapeutische Ziele aufrechtzuerhalten, wenn nämlich zu der – zum Tode führenden – Grunderkrankung weitere akute Erkrankungen hinzutreten. Und schließlich kann es geboten sein, trotz einer primär palliativen Orientierung Elemente einer Rehabilitation oder einer rehabilitativen Pflege in den medizinisch-pflegerischen Versorgungsansatz zu integrieren, um die Selbstständigkeit und Mobilität, zudem kognitive Funktionen der Patientinnen und Patienten zu fördern, womit man dazu beiträgt, dass ein weitgehend oder zumindest in Teilen selbstgestaltetes Sterben möglich wird. Dabei sei konzediert: Ein weitgehend oder zumindest in Teilen selbstgestaltetes Sterben beschreibt einen Idealzustand, der nur bei einem Teil der Patientinnen und Patienten – und zudem nur über einen begrenzten Zeitraum – verwirklicht werden kann. Und doch wäre es ein Fehler, würde man von vornherein eine rehabilitative bzw. eine rehabilitativ-pflegerische Komponente aus dem palliativen Versorgungskonzept ausschließen. Denn dies bedeutete, dem Streben der Patientinnen und Patienten nach Erhaltung eines ihren Ressourcen entsprechenden Grades an Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und sozialer Teilhabe nur noch eine untergeordnete Bedeutung beizumessen und damit deren Werthierarchie zu übergehen.

Im Kontext einer solchen Diskussion erweist sich das Frailty-Konzept als wertvoll, weil mit diesem ausdrücklich Rehabilitationspotenziale angesprochen sind: Inwieweit können durch eine vorsichtige, an den Ressourcen der Patientinnen und Patienten orientierte Aktivierung Verbesserungen in einzelnen körperlichen Merkmalen erzielt werden, die sich positiv auf die allgemeine Leistungsfähigkeit des Organismus wie auch auf die Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und soziale Teilhabe auswirken?

Der psychische Bereich

Im psychischen Bereich finden sich eine Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit (in der Literatur mit dem Begriff des terminalen Rückgangs umschrieben: Hülür, Wolf, Riese et al., 2019; Wilson, Yu, Leurgans et al., 2020), bisweilen auch eine emotionale Erschöpfung (die sich vor allem in einem Interessenrückgang sowie in Niedergeschlagenheit äußert) sowie ein phasenweise auftretender Rückzug von anderen Menschen (Stolberg, 2017). Doch unterscheiden sich schwerkranke und sterbende Menschen erheblich in der Art und Weise, wie sie im präfinalen und finalen Stadium die Erkrankung und den herannahenden Tod erleben und diesen innerlich zu verarbeiten versuchen (in der Literatur mit dem Begriff coping umschrieben); diese stark ausgeprägten Unterschiede machen eine einheitliche Charakterisierung des Verarbeitungsprozesses unmöglich. Die Forschung konzentriert sich deshalb auf die Analyse der verschiedenartigen Verarbeitungsprozesse, wie sie sich in der Gruppe schwerkranker oder sterbender Menschen finden lassen. Sie geht nicht von einer für alle schwerkranken oder sterbenden Menschen charakteristischen Form und Entwicklung der Verarbeitung aus, sondern untersucht gezielt die interindividuellen und intraindividuellen Unterschiede in der Art der Verarbeitung sowie jene (körperlichen, psychischen, sozialen und kulturellen) Merkmale, die Einfluss auf die Art der Verarbeitung nehmen (Maxfield & Bevan, 2019). Dabei wird auch der Qualität sowohl der medizinischen als auch der pflegerischen Versorgung, zudem der Qualität der psychologischen, der sozialen und der seelsorgerischen Begleitung große Bedeutung beigemessen.

Die Verarbeitung der schweren Krankheit bzw. des herannahenden Todes ist zudem als ein Prozess zu begreifen, in dem sich erhebliche Veränderungen im Erleben und Verhalten des schwerkranken oder sterbenden Menschen ergeben können. In diesem Prozess lassen sich bei der einen Person Entwicklungs- und Reifungsprozesse (im Sinne einer gelungenen Auseinandersetzung) beobachten, bei der anderen hingegen ein immer deutlicher hervortretendes Scheitern der Verarbeitung. Das bekannteste »Phasenmodell« der Verarbeitung eigener Endlichkeit verdanken wir der Allgemeinmedizinerin und Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross, die in ihrem 1969 erschienenen Buch »On death and dying« (deutsch, 1971: »Interviews mit Sterbenden«) zwischen fünf aufeinander folgenden Phasen unterscheidet (1. Nicht-wahrhaben-Wollen; 2. Zorn und Ärger; 3. Verhandeln; 4. Depression; 5. Akzeptieren). Ich werde an späterer Stelle ausführlich auf dieses Phasenmodell eingehen. Es sei schon hier festgestellt, dass bei allem Wert der Arbeit von Elisabeth Kübler-Ross für die Entwicklung einer fachlich wie ethisch überzeugenden, interdisziplinären Sterbebegleitung deren Annahme einer allgemeingültigen Sequenz von Verarbeitungsphasen (ob diese bis zur fünften Phase durchlaufen wird oder nicht) empirisch nicht gestützt werden konnte; wird dieser unkritisch gefolgt, so kann sie die praktische Arbeit mit Schwerkranken und Sterbenden in Teilen sogar erschweren.

Weitere Merkmale des psychischen Bereichs, denen für das Verständnis des Erlebens und Verhaltens schwerkranker und sterbender Menschen große Bedeutung zukommt, sind Lebensbewertung und Lebensrückblick – zwei Merkmale, denen ich mich in dem Buch en detail widmen werde. Mit Blick auf die Lebensbewertung sind Arbeiten des US-amerikanischen Altersforschers M. Powell Lawton wichtig, der auf umfassender empirischer Basis den Nachweis erbringen konnte, dass sich in der aktuellen Lebensbewertung (»valuation of life«) auch persönliche Lebensbindungen widerspiegeln, die basaler (sensorischer, alltagspraktischer) wie auch ideeller (geistiger) Natur sein können (Lawton, Moss, Winter et al., 2002; Gitlin, Parisi, Huang et al., 2016; Lang & Rupprecht, 2019). Solche Bindungen bilden ihrerseits das Ergebnis seelisch-geistiger Ordnungen des Menschen, die sich im Lebenslauf ausgebildet haben und bis zum Lebensende fortwirken, ja, vielleicht gerade in der Grenzsituation einer schweren oder zum Tode führenden Erkrankung bewusst (»thematisch«) werden.

Die große Bedeutung des Lebensrückblicks für das Lebensgefühl von Menschen, die im hohen Alter stehen oder die mit dem herannahenden Tod konfrontiert sind, wurde vor allem von dem US-amerikanischen Psychiater Robert Butler (1927–2010) herausgearbeitet. Der erste Beitrag, den dieser im Jahre 1963 in der Zeitschrift Psychiatry zum Thema »Lebensrückblick« veröffentlicht hat (Butler, 1963), beeinflusst die Diskussionen in Gerontologie und Psychotherapie bis heute. Da in diesem Buch noch ausführlich auf den Lebensrückblick und die Beiträge von Robert Butler eingegangen werden wird, seien hier nur einige wenige Aussagen aus dem genannten Beitrag angeführt. Den Lebensrückblick im Alter wie auch im Falle der Konfrontation mit dem herannahenden Tod versteht Robert Butler als einen natürlichen, als einen universellen (das heißt, prinzipiell bei allen Menschen auftretenden) Prozess. Dieser zeichnet sich durch zunehmende Bewusstwerdung früherer Erlebnisse und Erfahrungen, vor allem aber durch das Thematisch-Werden ungelöster Konflikte aus. Dabei ist bei dem weit überwiegenden Teil der Menschen von der Fähigkeit und Bereitschaft auszugehen, die wiederauflebenden Erinnerungen wie auch die Konflikte zu bearbeiten und – so eine Formulierung von Robert Butler – in die Persönlichkeit zu integrieren (Butler, 1980). Probleme mit dem Lebensrückblick stellen sich vor allem bei jenen Menschen ein, die aufgrund einer eher narzisstischen Grundhaltung nicht fähig sind, persönliche Schuld oder Reue im Hinblick auf jene Stationen der persönlichen Biografie zu empfinden, in denen man anderen Menschen geschadet oder eigene Entwicklungsmöglichkeiten ungenutzt gelassen hat. Hier übrigens weist das Konzept des Lebensrückblicks Schnittmengen mit jenem der Ich-Integrität auf, das Joan und Erik Homburger Erikson in ihre Entwicklungstheorie integriert haben (Erikson, Erikson & Kivnick, 1986): die Herstellung von Ich-Integrität bildet danach eine zentrale psychologische Aufgabe des höheren und hohen Alters. Sie beinhaltet auch den Rückblick auf das Leben und die Fähigkeit, das eigene Leben nicht nur im Lichte positiv bewerteter, sondern auch negativ bewerteter, konfliktbesetzter Erlebnisse und Erfahrungen anzunehmen (Hendricks, 2019; Jeffers, Hill, Krumholz et al., 2020; van der Kaap-Deeder, Soenens, van Petegem et al., 2020).

Der Lebensrückblick, der im Prozess des Sterbens einmalmehr an Bedeutung gewinnt, wurde von Bronnie Ware, einer australischen Palliativpflegerin, in zwei Büchern anschaulich dargestellt; diese Bücher haben auch in Deutschland weite Verbreitung gefunden. Das erste Buch mit dem Titel »Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden« (Ware, 2012/2013), gründet auf zahlreichen Gesprächen von Bronnie Ware mit sterbenden Menschen, die zu Hause gepflegt wurden. Sie legt dar, wie wichtig die Reue und das Bedauern im Erleben vieler sterbender Menschen sind. Fünf Themen, um die sich die Reue und das Bedauern zentrierten, wurden von Bronnie Ware angeführt: »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.« – »Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.« – »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.« – »Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.« – »Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.« In dem zweiten Buch mit dem Titel »Leben ohne Reue. 52 Impulse, die uns daran erinnern, was wirklich wichtig ist« (Ware, 2014) leitet die Autorin aus dem von den Sterbenden vorgenommenen Lebensrückblick und den Inhalten der Reue sowie des Bedauerns Anregungen für ein persönlich sinnerfülltes, stimmiges Leben ab: Die Umsetzung dieser Anregungen soll letztlich dazu führen, am Ende des Lebens gelassen auf dieses zurückblicken und ohne Reue aus diesem gehen zu können. Unter den Anregungen (Impulsen) finden sich solche wie: »Veränderungen annehmen«, »flexibel sein«, »Freiheit«, »Dankbarkeit«, »Mut zur Aufrichtigkeit«, »Entscheidung zum Glücklichsein«, »vom richtigen Zeitpunkt«, »auf die Worte achten«. Die Arbeiten von Bronnie Ware mögen zwar in der Hinsicht kritisch betrachtet werden, dass in ihnen die persönliche – wenn auch auf zahlreichen Gesprächen beruhende – Sichtweise der Autorin dominiert; und entsprechende kritische Anmerkungen sind auch verschiedentlich vorgebracht worden. Doch wird in diesen Arbeiten, und dies macht sie aus meiner Sicht so wertvoll, auch ein Perspektivenwechsel sichtbar, der von nicht wenigen schwerkranken und sterbenden Menschen vorgenommen wird, wenn im Gespräch mit ihnen Fragen adressiert werden, die einen derartigen Perspektivenwechsel nahelegen. Was ist hier gemeint? Bronnie Ware hat Schwerkranke und Sterbende zu verschiedenen Aspekten des Lebensrückblicks befragt (Reue und Bedauern mit Blick auf das eigene Verhalten und Handeln im Lebenslauf sind dabei zwei bedeutsame Aspekte) und dies mit dem Hinweis darauf, von ihnen lernen, an ihren Erfahrungen teilhaben zu wollen. Wie sie an mehreren Stellen ihrer beiden Bücher hervorhebt, hätten die befragten Frauen und Männer keinerlei Probleme gehabt, auf entsprechende Fragen zu antworten. Im Gegenteil: Sie hätten in diesen Fragen Anstöße zur (kritischen) Selbstreflexion gesehen und weiterhin eine Möglichkeit, einen anderen Menschen zu bereichern. Die Bereicherung des anderen Menschen liegt ja eben darin, dass man diesem Hinweise darauf gibt, welche Dinge er in seinem Leben besonders beachten sollte, um am Ende des Lebens relativ frei von Reue und Bedauern zu sein.

In diesem Perspektivenwechsel kommt das mitverantwortliche Leben zum Ausdruck, das ich als durch das Bedürfnis geprägt verstehe, sich vom anderen Menschen berühren zu lassen, sich mitverantwortlich für dessen aktuelle Lebenssituation oder dessen Lebensweg zu fühlen, sich als Teil von Gemeinschaften zu begreifen, die man durch das eigene Engagement fördern möchte, wie auch als Teil der Gesellschaft und der Schöpfung, für deren weitere Entwicklung man Mitverantwortung trägt (Kruse, 2016). In der altgriechischen Dichtung findet sich ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Perspektivenwechsel, für diese mitverantwortliche Lebensführung: Die auf den Geschichtsschreiber Herodot von Halikarnassos (ca. 490/480–430/420 v. Chr.) zurückgehende Aussage: »Leiden sind Lehren« (griechisch: pathemata mathemata) wurden von Dionysios von Halikarnassos (ca. 54–7 v. Chr.) wie folgt weitergeführt: »Meine Leiden werden zu Lehren werden für die anderen« (griechisch: pathemata paideumata genesetai tois allois). Damit wird die potenzielle Vorbildfunktion von Menschen, die in der Grenzsituation schwerer oder zum Tode führender Krankheit stehen, umschrieben.

Es sei noch ein weiteres Thema angesprochen, das mit Blick auf die psychische Situation im Prozess des Sterbens große Bedeutung gewinnt: Es ist dies die Erfahrung eigener Verletzlichkeit (Vulnerabilität) im Prozess einer schweren Erkrankung und des Sterbens, die im positiven Falle in der Erfahrung aufgehen kann, Teil eines umfassenden Ganzen zu sein, das über die materielle Existenz hinausgeht, diese aber hält oder trägt (Kruse, 2017). Die bereits genannten Autoren Joan und Erik Homburger Erikson charakterisieren diesen Prozess als Integration von Verletzlichkeits- und Transzendenzerfahrungen (Erikson, 1998; Tornstam, 2011; Jeffers, Hill, Krumholz et al., 2020). Die gelungene Verarbeitung der gerade im hohen Alter zunehmenden Verletzlichkeit gründet vor allem auf der Ausbildung eines neuartigen Vertrauens: und zwar sowohl in die eigenen Kräfte als auch in die (persönlichen und fachlichen) Bezugspersonen. Die in den ersten Lebensjahren dominierenden Aufgaben – nämlich Vertrauen in die engsten Bezugspersonen (»Urvertrauen«) sowie in die eigenen Kräfte (»Autonomie«) auszubilden, stellen sich auch am Ende des Lebens, wenn die körperliche und kognitive Verletzlichkeit subjektiv immer deutlicher erfahrbar werden.

Was folgt aus diesen Aussagen?Die Erfassung der psychischen Situation eines schwerkranken oder sterbenden Menschen ist ebenso komplex wie die Erfassung der körperlichen Situation. Der Blick ist auf zahlreiche Merkmale zu richten, zu denen vor allem die verschiedenen Bereiche der kognitiven Leistungsfähigkeit, das Erleben der aktuellen Situation, die Versuche zur Verarbeitung der Grenzsituation, die Motivlage und Werthierarchie, schließlich die Lebensbewertung, die Lebensbindung und der Lebensrückblick gehören. Hinzu tritt die Analyse der Fähigkeit, der Bereitschaft und des Verlangens, mögliche Perspektivenwechsel vorzunehmen, so zum Beispiel von der eigenen Person auf nahestehende Menschen, von der aktuellen Situation auf die Vergangenheit und Zukunft, von der körperlichen Dimension auf die seelisch-geistige, von der irdischen Dimension auf eine kosmische.

Dabei ist es notwendig, die psychische genauso wie die körperliche Situation als einen Prozess, also als Ergebnis früherer und als Ausgangspunkt weiterer Veränderungen, zu begreifen und dies heißt: sich auf mögliche Veränderungen (intraindividuelle Variabilität) in den einzelnen Merkmalen einzustellen und mögliche (innere wie äußere) Einflüsse auf diesen Veränderungsprozess zu erfassen (Diehl & Wahl, 2020). Veränderungen können dabei eine Abnahme von Leistungsfähigkeit und Lebenszufriedenheit, eine Zunahme von Belastungen und Konflikten ebenso beschreiben wie eine Zunahme an Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft, auch eine Zunahme an Widerstandsfähigkeit (Resilienz) oder eine Zunahme an bewusster innerer Auseinandersetzung mit der bestehenden Grenzsituation, verbunden mit einer Zunahme an Lebenswissen (Wettstein, Wahl, Siebert et al., 2019; Potter, Drewelies, Wagner et al., 2020; Staudinger, 2020). Und schließlich können sich in diesem Prozess die oben genannten Perspektiven verändern: So kann zum Beispiel eine zunehmende Abkehr von anderen Menschen ebenso eintreten wie eine zunehmende Anteilnahme an deren Lebenssituation. Erst eine derart differenzierte, prozessorientierte Betrachtung des psychischen Bereichs versetzt Mitglieder des Versorgungsteams in die Lage, schwerkranke oder sterbende Menschen mitfühlend, anteilnehmend, unterstützend, verstärkend und motivierend zu begleiten.

Der soziale Bereich

Mit dem sozialen Bereich sind zunächst Autonomie, soziale Integration und soziale Teilhabe des schwerkranken oder sterbenden Menschen angesprochen: Inwieweit ist in den verschiedenen Phasen der Krankheit – bis hin zum eintretenden Tod – sichergestellt, dass Patientinnen und Patienten in ihrer Autonomie (Willensfreiheit und Selbstverantwortung) respektiert und nicht beschnitten werden? Inwieweit ist gewährleistet, dass sich die Bezugspersonen (die persönlichen wie die fachlichen) intensiv und nach bestem Wissen und Gewissen darum bemühen, die Werthierarchie, die Motive, die Bedürfnisse und Präferenzen schwerkranker oder sterbender Menschen auch dann zu erfassen, wenn die Artikulation von Werten, Motiven, Bedürfnissen und Präferenzen erschwert oder gar nicht mehr möglich ist? In diesem Falle gewinnt die mimische und gestische Ausdrucksanalyse mehr und mehr an Bedeutung; dies ist zum Beispiel bei einer weit fortgeschrittenen Demenz der Fall. Inwieweit sind die persönlichen wie fachlichen Bezugspersonen bereit, durch ihr Verhalten, Entscheiden und Handeln den Patientinnen und Patienten Sicherheit zu geben, angenommen und geachtet zu sein, nicht alleine gelassen zu werden, Verständnis in Bezug auf die hohe Fluktuation von Kontaktwünschen (zum Beispiel im Sinne eines Wechsels von stärkerem Rückzug nach innen und vermehrter Öffnung nach außen) zu finden, Anregungen und Hilfen in Bezug auf eine persönlich sinnerfüllte und stimmige Tagesgestaltung zu erhalten, schließlich jene medizinische und pflegerische Versorgung, jene psychologische, soziale und seelsorgerische Begleitung zu erhalten, die im individuellen Falle geboten sind und von ihnen gewünscht werden?

Schon diese Fragen veranschaulichen, wie wichtig es ist, sich bei der gedanklichen und emotionalen Vorwegnahme der persönlichen Lebenssituation in schwerer Krankheit oder im Prozess des Sterbens mit dem Thema zu beschäftigen, in welchem sozialen Umfeld man versorgt, unterstützt und begleitet werden will, wie die Sorgestrukturen beschaffen sein sollten, wenn aufgrund schwerer Erkrankung oder des herannahenden Todes eine umfassende Angewiesenheit auf Betreuung besteht. In öffentlichen Diskussionen neigen wir dazu, mit der Begleitung in schwerer Krankheit oder im Prozess des Sterbens primär das Thema der Selbstbestimmung zu assoziieren, hingegen weniger oder gar nicht das Thema der sorgenden Gemeinschaft, in der wir leben, mit der wir uns austauschen, von der wir begleitet werden möchten (Heller & Wegleitner, 2017; Klie, 2015). Dies ist eine bedeutsame Aufgabe der gedanklichen und emotionalen Vorbereitung auf die persönliche Lebenssituation in schwerer Erkrankung oder im Prozess des Sterbens: Nämlich bewusst der Frage nachzugehen, mit wem man zusammenleben, von wem man begleitet und betreut, von wem man gepflegt (bzw. nicht gepflegt) werden möchte (Dörner, 2007; Gronemeyer & Heller, 2014; Keil & Scherf, 2016). Allein die Beschäftigung mit der Frage, wie man in diesen gesundheitlichen Grenzsituationen die eigene Autonomie bewahren und was man schon heute tun kann, um dieses Ziel zu erreichen, erscheint entsprechend zu eng.

Mit dem sozialen Bereich ist weiterhin die soziale Lebenslage des Menschen angesprochen, die dessen Handlungsspielraum, das heißt, die objektiv gegebenen Möglichkeiten und Grenzen der Situationsgestaltung, auch im Krankheits- und Sterbensprozess mitbestimmt. Die soziale Lebenslage umfasst Merkmale wie Bildungsstand, Einkommen, Wohnqualität, Versorgungs- und Dienstleistungsangebot im näheren Wohnumfeld, Größe und Zusammenhalt des sozialen Netzwerks. Auch die Zugänglichkeit einer anspruchsvollen medizinischen und pflegerischen Versorgung ist als bedeutendes Merkmal der sozialen Lebenslage zu werten, da diese in hohem Maße von den materiellen Ressourcen und Bildungsressourcen eines Menschen bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die innere Verarbeitung des herannahenden Todes nicht allein als ein individuelles Geschehen begriffen werden darf, sondern auch als ein soziales Geschehen verstanden werden muss, oder anders ausgedrückt: Nicht allein die körperliche und die seelisch-geistige Verfassung bestimmen mit, wie die eigene Endlichkeit erlebt und innerlich zu verarbeiten versucht wird, sondern auch die sozialen Bedingungen, unter denen die Person lebt – wobei die sozialen Bedingungen auch die Dienst- und Versorgungsleistungen mitdefinieren, die der schwerkranke oder sterbende Mensch erwarten kann und schließlich in Anspruch nimmt. Angehörige mittlerer, vor allem oberer Sozialschichten können auf ein ganz anderes Spektrum palliativmedizinischer und -pflegerischer Maßnahmen zurückgreifen als Menschen aus unteren Sozialschichten. Und es kommt hinzu: Die soziale Lebenslage bestimmt langfristig das Anspruchsniveau eines Menschen, das heißt, dessen Erwartungen (und Hoffnungen) mit Blick auf den Umfang und die Qualität der medizinisch-pflegerischen Versorgung mit. Patientinnen und Patienten, die sich schon in vorangegangenen Lebensphasen mit einem kleinen Spektrum an medizinischen und pflegerischen Leistungen begnügt haben, werden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann tun, wenn sie mit einer schweren oder zum Tode führenden Erkrankung konfrontiert sind.

Die große Bedeutung der sozialen Lebenslage für die Lebensqualität eines sterbenden Menschen hat der Heidelberger Internist Herbert Plügge – der auf einen großen palliativmedizinischen Erfahrungsschatz blicken konnte – schon zu Beginn der 1960er Jahre deutlich hervorgehoben. Er gab zu bedenken, dass sich auch im Prozess des Sterbens soziale Ungleichheiten widerspiegeln, die – je nach Richtung – die psychische Entwicklung unterstützen oder erschweren können. Eine in dieser Hinsicht wichtige Aussage von Herbert Plügge, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat, lautet:

»Vergleichsweise sanft (…) ist tatsächlich weitgehend identisch mit privilegiert. Sanft ist also von unzähligen Fällen von soziologischen Gegebenheiten abhängig. Abhängig vom Vermögen, das in die Lage versetzt, sich ein Einzelzimmer zu leisten, von der nur für die eine Kranke zur Verfügung stehenden Privatschwester, von der Häufigkeit der ärztlichen Visite, von individuell abgestimmter Besuchserlaubnis, vom häufigen Wechsel der Wäsche – das heißt von den Anderen, von dem Milieu, das die Anderen dem Kranken schaffen können. Abhängig von der Hilfserwartung, die die Anderen dem Schwerkranken vermitteln können. ›Sanft‹ ist also weniger gebunden an die Art des Verlaufs der Krankheit, als man gemeinhin glauben möchte und glaubt, sondern oft genug gewährleistet durch den Komfort, den materiellen und fürsorgerischen Komfort, den Angehörige mit ihren Mitteln zur Verfügung stellen.« (Plügge, 1960, S. 241)

Mit dem sozialen Bereich sind schließlich die kollektiven Bilder von Sterben und Tod, die kollektiven Praktiken des »Umgangs« mit schwerkranken und sterbenden Menschen, die Antworten, die unsere Gesellschaft und Kultur auf das Faktum der Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit des Menschen geben, angesprochen. In diesem Buch soll auch dieser Frage Raum gegeben werden. Als ein in dieser Hinsicht bedeutendes Werk ist die von dem deutsch-jüdischen Soziologen, Philosophen und Psychologen Norbert Elias (1897–1990) veröffentlichte Schrift »Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen« (Elias, 1983) zu werten, die auch heute noch hohe Aktualität beanspruchen darf. Wie Norbert Elias in diesem Buch hervorhebt, lassen sich moderne Gesellschaften dadurch kennzeichnen, dass einerseits überlieferte Konventionen des Umgangs mit Sterben und Tod nicht mehr angemessen erscheinen, dass andererseits neue Rituale, an denen Menschen ihr Verhalten gegenüber Sterbenden orientieren könnten, noch nicht entwickelt wurden. Damit stelle sich im Kontakt mit sterbenden Menschen mehr und mehr eine Sprachlosigkeit ein, da die persönlichen wie auch die fachlichen Bezugspersonen nicht mehr wüssten, wie sie mit dem Sterbenden kommunizieren sollten, wie ein Gespräch geführt werden sollte, das den Sterbenden tiefgehend berührt. Das Faktum der eigenen Endlichkeit erscheine, so Norbert Elias, im Selbstverständnis des modernen Menschen als Bedrohung. Entsprechend bestehe die Tendenz, Sterben und Tod aus dem gesellschaftlich-geselligen Leben zu verdrängen. Das Sterben des Anderen erscheine als mahnende Erinnerung an den eigenen Tod, löse entsprechend Unsicherheit aus und trage so dazu bei, dass die Menschen in modernen Gesellschaften nicht mehr in der Lage seien, Sterbenden das zu geben, was diese bräuchten. In seinem Hauptwerk »Über den Prozess der Zivilisation« (1976) hebt Norbert Elias hervor, dass im Zentrum der soziologischen Analyse die Beziehungen zwischen den Menschen stehen müssten; denn erst diese Beziehungen führten zu gesellschaftlichen Verflechtungen. Eine Aussage aus diesem Werk ist hier besonders wichtig, gibt sie doch die Analyseperspektive, die Norbert Elias einnimmt, sehr anschaulich wieder: »Die ›Umstände‹, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ›außen‹ an den Menschen herankommt; die ›Umstände‹, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.« (1976, S. 412) Eine dynamische Gesellschaftstheorie, wie Norbert Elias sie vertritt, setzt an den »Figurationen« an: Diese beschreiben die Beziehungen der Menschen untereinander, darüber hinaus die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund dieser »Figurationssoziologie« gewinnen die Aussagen von Norbert Elias zum Umgang unserer Gesellschaft mit sterbenden Menschen einmalmehr an Bedeutung: Weisen diese doch zum einen darauf hin, dass sich zwischen Sterbenden und ihren Bezugspersonen bestimmte Figurationen ergeben, nämlich dergestalt, dass Sterbende mehr und mehr aus Beziehungen ausgeschlossen, mehr und mehr an den Rand gedrängt werden, mithin nicht mehr im Zentrum von Beziehungen stehen – was zur Folge hat, dass sich die Kommunikation immer weiter »ausdünnt«. Zum anderen machen diese Aussagen deutlich, dass der Umgang mit Sterbenden einen bestimmten Entwicklungsstand unserer Gesellschaft (innerhalb eines dynamischen Entwicklungsprozesses) beschreibt. Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit Sterbenden umgeht (»Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft«), sagt viel über ihren aktuellen Entwicklungsstand aus: Dieser lässt sich auch in der Hinsicht charakterisieren, dass Zeichen der Vergänglichkeit und Endlichkeit aus dem öffentlichen Raum, zudem aus Beziehungen zwischen den Menschen untereinander immer weiter »ausgeklammert«, »unsichtbar« gemacht werden – zum Beispiel dadurch, dass hochvulnerable Menschen bevorzugt in die Obhut von Institutionen gegeben werden.

Trotz aller individuellen Bemühungen, der fachlich und ethisch anspruchsvollen Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen den gebührenden Ort in unserer Gesellschaft zuzuweisen, schwerkranke und sterbende Menschen in die »Mitte der Gesellschaft« zu holen, beobachten wir auch heute noch eine ausgeprägte emotionale Reserviertheit gegenüber Menschen, die uns an unsere eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit erinnern. Wir beobachten auch heute noch die Sprachlosigkeit, das Fehlen von überzeugenden, emotional berührenden Ritualen im Kontakt mit schwerkranken und sterbenden Menschen. In dieser Hinsicht ist unsere Gesellschaft in ihrer Entwicklung über die verschiedenen Epochen tatsächlich ärmer geworden.

Und doch darf nicht übersehen werden, dass Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit wachsendes Interesse auf sich ziehen, in unserer Gesellschaft mehr und mehr eine erinnernde und mahnende Funktion einnehmen: Erinnernd in der Hinsicht, als sie uns an unsere eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit erinnern, mahnend in der Hinsicht, als sie uns ermahnen, rechtzeitig in einen innerpsychischen wie auch in einen sozialkommunikativen Prozess einzutreten, in dem unser Umgang mit der Ordnung des Todes seinen Platz und seinen Ausdruck findet. Neben allen großen, beeindruckenden fachlichen und menschlichen Hilfen, die Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit geben, sind auch die gesellschaftlichen und kulturellen Impulse, die von entsprechenden Initiativen ausgehen, zu würdigen. Diese können (und sollten!) mehr und mehr Einfluss auf den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess nehmen.

Eine weitere soziologische Theorie, nämlich jene von der »Geschwätzigkeit des Todes« (Nassehi, 2004; Nassehi & Saake, 2005; Esser, 2019), sei hier angesprochen, weil sie eine andere, gleichfalls bedeutsame Sicht auf den gesellschaftlichen Umgang mit Endlichkeit entfaltet. Eine Todesverdrängung im Sinne eines psychologischen Prozesses wird in der von dem Soziologen Armin Nassehi entwickelten Theorie nicht postuliert. Vielmehr stimuliert gerade das Nicht-Fassbare des Todes, über den Tod zu reden. Somit entwickeln Gesellschaften vielfältige Vorstellungen, Bilder und Gedankengebäude, mit denen sie sich dem Nicht-Fassbaren nähern können. Diese vielfältigen Vorstellungen, Bilder, Gedankengebäude begründen die Geschwätzigkeit des Todes. Geschwätzigkeit meint nicht die tiefgreifende persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit und Endlichkeit, meint nicht die unmittelbar gefühlte, uns berührende Verarbeitung dieses zentralen Merkmals der Conditio humana, sondern ist eher ein unverbindliches Nachdenken und Reden über das Faktum des Todes, bedingt durch die Tatsache, dass sich der Tod unserer unmittelbaren Erfahrung entzieht. Menschen äußern, entsprechend ihrer familiären und kulturellen Herkunft, entsprechend ihrer beruflichen Herkunft, entsprechend ihrer biografischen Erfahrungen ganz unterschiedliche Gedanken zum Tod. Damit geht eine Vielfalt an Vorstellungen und Meinungen, die im öffentlichen Raum ausgetauscht werden, einher: Vielfach, dies sei noch einmal betont, sind diese unverbindlich. Damit erfährt der Begriff der »Todesverdrängung« eine besondere Konturierung, wie der Gerontologe Eric Schmitt – auf Armin Nassehi Bezug nehmend – in einem Beitrag zur »Soziologie des Todes« aufzeigt (Schmitt, 2012): Von einer Verdrängung des Todes, so Eric Schmitt, kann eigentlich nicht gesprochen werden, sondern nur von einer Überlagerung des Faktums eigener Endlichkeit durch Geschwätzigkeit.

Vor dem Hintergrund der Theorie von der »Geschwätzigkeit des Todes« stellt sich einmalmehr die Frage: Gibt es nicht doch einzelne Situationen oder Erlebnisse, in denen wir uns in einem Maße berührt sehen, dass wir in einer offenen, wahrhaftigen Art und Weise über unsere eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit sprechen? Mit dieser Frage stehen wir im Zentrum des existenziellen Bereichs.

Der existenzielle Bereich

Wenn von einem existenziellen Bereich gesprochen wird, dann ist es zunächst notwendig, eine Aussage darüber zu treffen, warum dieser von dem psychologischen Bereich abgegrenzt und als ein eigenständiger Analysebereich verstanden wird. Dabei ist zu konzedieren, dass die psychologische und die existenzielle Analyse bedeutsame Schnittmengen aufweisen (Coleman, Schröder-Butterfill & Spreadbury, 2016; Kruse & Schmitt, 2018; Schweda, Coors & Bozzaro, 2020). Diese liegen vor allem darin, dass sich Menschen in subjektiv bedeutsamen Situationen immer auch von Werten leiten lassen, die sowohl psychologische als auch existenzielle Bezüge aufweisen. Die psychologischen Bezüge liegen darin, dass Werte immer eine kognitive (erkennende), motivationale (Verhaltensziele setzende), emotionale (Gefühle auslösende) und verhaltens- oder handlungsbezogene (sich in den Reaktionen und Aktionen des Menschen widerspiegelnde) Komponente aufweisen – und diese vier genannten Komponenten bilden zentrale Gegenstandsbereiche der Psychologie. Zugleich sind mit Werten Ideen angesprochen, die den Kern unserer Existenz berühren. Wenn wir in einer Situation stehen, die tiefgreifende sittlich-moralische Bezüge aufweist, in der wir uns sittlich-moralisch herausgefordert fühlen, in der unser Gewissen angesprochen ist, dann geht dies, um begriffliche Anleihe an der »Philosophie« (1932/1973) des Heidelberger Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers (1883–1969) zu nehmen, »auf das Ganze unserer Existenz«. Damit ist gemeint, dass wir uns in einer solchen Situation überhaupt erst vollumfänglich unserer Existenz bewusst werden und Erfahrungen mit uns selbst wie auch mit dem uns Umgreifenden machen, die sich nicht ausreichend mit einer wert-, persönlichkeits- und handlungspsychologischen Analyse abbilden lassen. Diese Erfahrungen lassen sich auch nicht immer sprachlich differenziert ausdrücken. Zudem sind sie eher punktueller Natur, sie treten in spezifischen Situationen – in denen unsere Werte zutiefst berührt und damit auch unsere Existenz angesprochen bzw. herausgefordert ist – auf.

Die Differenzierung zwischen einem psychologischen und einem existenziellen Bereich – bei Anerkennung der Schnittmengen zwischen diesen Bereichen – findet sich zum Beispiel in den Arbeiten des Wiener Psychiaters und Neurologen Viktor Frankl (1905–1997). Dieser belegte die von ihm begründete »Dritte Schule der Wiener Psychotherapie« mit den Begriffen »Logotherapie« und »Existenzanalyse« und entfaltete in seinen Schriften – so zum Beispiel in dem Buch »Der Wille zum Sinn« (1972/2016) – sowohl eine existenzphilosophische als auch eine existenzpsychologische Sicht auf den Menschen als ein wertverwirklichendes Wesen (auf zentrale Aussagen dieser Theorie werde ich an späterer Stelle des Buches zurückkommen). Die existenzphilosophische Sicht konzentriert sich dabei auf das Wesen des Menschen; es wird dargelegt, dass die menschliche Existenz ohne die Offenheit für Werte, ohne das Wertfühlen, ohne die Wertverwirklichung gar nicht gedacht werden kann. Weiterhin wendet sie sich den grundlegenden Aufgaben zu, die der menschlichen Existenz gestellt sind, wie auch der Freiheit und den mit der Freiheit gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich dem Menschen bieten. Die existenzpsychologische Sicht zeigt auf, welche Bedeutung die Wertverwirklichung für die persönliche Sinnerfahrung, für das Gefühl der Stimmigkeit in der aktuell gegebenen Situation, schließlich für das gelingende Leben besitzt.

Wenn in diesem Buch vom existenziellen Bereich – oder existenziellen Erfahrungen – gesprochen wird, dann ist damit gemeint: a) das Individuum, das sich im Kern seiner Existenz angesprochen und herausgefordert sieht (hier ist auch der Begriff der »Erschütterung« wichtig), b) das Individuum, das sich mehr und mehr der Grenzen der eigenen Existenz bewusst wird und sich damit als in besonderem Maße auf sich selbst zurückgeworfen erlebt, c) das Individuum, das sich in diesem grundlegenden Angesprochen- und Herausgefordert-Sein wie auch in der Erfahrung der Grenzen zur Selbsttranszendenz aufgefordert sieht, das heißt zu einem Überschreiten früherer Arten und Weisen des Deutens einer Situation, des Umgangs mit dieser Situation.

Der existenzielle Bereich ist, folgen wir der bereits genannten Schrift »Philosophie« (1932/1973) des Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers, vor allem in Grenzsituationen des menschlichen Lebens angesprochen, zu denen die Konfrontation mit eigener Vergänglichkeit und Endlichkeit gehört. Grenzsituationen versteht Karl Jaspers als Grundsituationen der Existenz, das heißt, als Situationen, die »mit dem Dasein selbst sind«. Sie zeichnen sich durch Endgültigkeit aus, oder in den Worten von Karl Jaspers: »Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem anderen erklären und ableiten zu können.« (Jaspers, 1973, Bd. II, S. 203) Das heißt, dass Grenzsituationen eine tiefgreifende Veränderung des Menschen erfordern, und zwar nicht nur in seiner Lebensgestaltung, sondern auch und vor allem in seiner Lebenshaltung oder Lebenseinstellung: »Auf Grenzsituationen reagieren wir nicht sinnvoll durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten.« (ebd., S. 204) Die von dem Philosophen Thomas Rentsch verwendete Charakterisierung des Alterns als »Werden zu sich selbst« (Rentsch, 2012; 2020) weist Ähnlichkeiten mit der hier angeführten Aussage von Karl Jaspers auf. Thomas Rentsch sieht in dem Altern des Menschen zunächst eine »Erfüllungsgestalt des Lebens«, in deren Verlauf sich dieser mehr und mehr der Einmaligkeit (Unverwechselbarkeit) seiner Existenz bewusst wird. Dabei werden aber die Grenzen der Selbst- und Weltgestaltung, mit denen der Alternsprozess in zunehmendem Maße konfrontiert, nicht geleugnet. Im Gegenteil, in diesen Grenzen wird der Mensch mehr und mehr auf sich zurückgeworfen, was auch bedeutet: Er bzw. sie spürt mehr und mehr, dass er, dass sie es ist, der bzw. die hier herausgefordert ist (Coors, 2020). Ähnlich wie Karl Jaspers sieht auch Thomas Rentsch in der wahrhaftigen Kommunikation eine zentrale Größe für einen reifungsorientierten Umgang mit Grenzen bzw. Grenzsituationen. Hier nähern wir uns wieder den kritischen Aussagen von Norbert Elias, dieses Mal aber in umgekehrter Weise: Wenn es nämlich gelingt, an die Stelle des Ausschlusses von schwerkranken oder sterbenden Menschen aus wahrhaftig geführter Kommunikation einen Einschluss in diese Art der Kommunikation treten zu lassen, dann können Menschen möglicherweise sogar im Prozess der Krankheit, ja sogar im Prozess des Sterbens Reifungsschritte tun.

In einer im Jahre 2017 erschienenen Schrift des Soziologen und Philosophen Hans Joas mit dem Titel »Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung« werden existenzielle Erfahrungen als »Erschütterungen der symbolischen Grenzziehungen, die das Selbst ausmachen«, gedeutet, wobei Hans Joas für Erschütterungen – sowohl im positiven als auch im negativen Fall – den Begriff der »Selbsttranszendenz« verwendet. Die damit verbundenen Herausforderungen des Selbst sind »nicht aktivisch«, wie dies Hans Joas nennt, zu bewältigen (siehe hier die Übereinstimmung mit der von Karl Jaspers vorgenommenen Charakterisierung des Umgangs mit Grenzsituationen). Es geht, so Hans Joas, »vielmehr um Erfahrungen, die eine fundamental passive Dimension aufweisen – um Erfahrungen nicht des Ergreifens von Handlungsmöglichkeiten, sondern des Ergriffenwerdens etwa durch Personen oder Ideale.« (2017, S. 431) Entsprechende Erfahrungen der Selbsttranszendenz können wir in der Liebe, im gelingenden Dialog ebenso wie im erschütternden Mitleid gewinnen. Auch religiöse Erfahrungen, von Hans Joas mit dem Begriff »sakrale Erfahrungen« umschrieben, sind hier anzuführen. Schließlich sind jene Erfahrungen zu nennen, die in diesem Buch im Zentrum stehen, nämlich »Erfahrungen der Angst, in denen ein Mensch sich seiner tiefen Verletzlichkeit und Endlichkeit bewusst wird durch eigene Krankheit und Todesangst oder durch das Leiden geliebter Menschen und deren Verlust; Erfahrungen, in denen die Welt für uns ihren Handlungsreiz verliert und wir in die Depression der Sinnlosigkeit unserer Existenz hineinfallen.« (ebd., S. 433).

1.2       Sterbensängste, Todesängste: Ein erstes Fazit

Zunächst wurde – mit Blick auf die Ängste des Menschen – eine Unterscheidung zwischen Sterben und Tod vorgenommen. Diese Unterscheidung wurde aber nicht in der Hinsicht getroffen, dass die von vielen Menschen getätigte Aussage, nämlich mit Sorgen auf ein qualvolles Sterben zu blicken, hingegen dem eigenen Tod eher gelassen gegenüberzustehen, bestätigt worden wäre. Zumindest für jenen Menschen, der mit Freude gelebt hat, ist auch der Tod selbst eine große Herausforderung, bedeutet er doch, endgültig Abschied zu nehmen von einer Welt, in der man sich zu Hause gefühlt hat. Sorgen vor einem qualvollen Sterben können – aufgrund der erkennbaren Erfolge von Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit – in vielen Fällen genommen werden. Nur ist es wichtig, dass diese Versorgungsbereiche institutionell deutlich ausgebaut werden. Ohne hier Intensivmedizin und Palliativmedizin gegeneinander ausspielen zu wollen: Es sollte auch von politischen Entscheidungsträgern zur Kenntnis genommen werden, dass für den Ausbau der Intensivmedizin ein Vielfaches der Mittel bereitgestellt wird, die in den Ausbau der Palliativmedizin und Palliativpflege fließen. Dabei werden diese – einschließlich der Hospizarbeit – in Zukunft noch wichtiger werden, als sie heute schon sind, gehen doch die familiären Pflegeressourcen mehr und mehr zurück.

Wenn über Sterben gesprochen wird, so bedeutet dies zumindest im hohen Lebensalter vielfach einen Übergang von einer chronisch-progredienten Erkrankung in einen präfinalen und schließlich in einen finalen Zustand; zum Teil verlaufen diese Übergänge diskret, von Patientinnen und Patienten wie auch von ihren persönlichen und fachlichen Bezugspersonen kaum bemerkt. Damit wird zum einen deutlich, dass die Palliativmedizin und Palliativpflege – ebenso wie die Hospizarbeit – sich nicht allein auf sterbende Menschen konzentrieren (sollten), sondern ausdrücklich auch Angebote für schwerkranke Menschen bereithalten (sollten). Die Differenzierung zwischen einer Palliative Care und einer End of Life Care (Remmers & Kruse, 2014) trägt der Tatsache Rechnung, dass im Kontext palliativmedizinischer und palliativpflegerischer Versorgung auch auf die Bedürfnisse schwerkranker Menschen zu achten ist, die noch nicht unmittelbar mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert sind. Mit den diskreten Übergängen wird aber auch noch etwas Anderes deutlich, nämlich die zum Teil viele Monate, wenn nicht sogar mehrere Jahre andauernde Konfrontation des schwerkranken und sterbenden alten Menschen mit der eigenen Vergänglichkeit. Der kontinuierlich zunehmende Verlust der körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit, die kontinuierlich wachsende Symptomvielfalt, Symptomtiefe und Symptomschwere, die kontinuierlich zunehmende Angewiesenheit auf umfassende Hilfe oder Pflege: Dies sind Prozesse, die dem Menschen mehr und mehr vor Augen führen, dass er verletzlich, dass er vergänglich ist (Bozzaro, Boldt & Schweda, 2018; Rüegger, 2020). Für die Psyche, für die innere Verarbeitungskapazität des Individuums sind damit hohe, zum Teil außerordentlich hohe Anforderungen verbunden. Hier gibt es nichts zu verklären oder schön zu reden. Hier ist vielmehr festzustellen und zu konstatieren.

Aber es ist schon ein großer Gewinn, wenn wir begreifen, dass am Ende des Lebens die Psyche besonderen Anforderungen ausgesetzt ist, dass diese in der Tat »Großes« leisten und eine hohe Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen muss, wenn die innere Verarbeitung der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit gelingen soll. Dass diese gelingen kann, wurde unter dem Rubrum »psychischer Bereich« ausdrücklich festgestellt. Diese kann aber nicht gelingen, dies sei ebenfalls betont, wenn das Individuum mit seinen Krankheiten, Symptomen, Ängsten alleine gelassen wird und keine fachlich überzeugende medizinisch-pflegerische, psychologische, soziale und seelsorgerische Hilfe erhält. Wenn diese Hilfe sichergestellt ist und gegeben wird, kann es dem Individuum durchaus gelingen, sich bewusst auf den herannahenden Tod einzustellen und möglicherweise in diesem Verarbeitungsprozess seelisch-geistige Reifungsschritte zu tun. Zahlreiche Beiträge aus Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit zeigen uns, dass solche Reifungsschritte nicht nur Wunsch, sondern auch Wirklichkeit sind.