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Dieses eBook: "Lebensbilder" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Der erste, der in Paris ein Maler-Atelier für Damen eröffnete, war ein gewisser Herr Servin, ein Künstler von Ruf, der streng auf Sitte hielt, ganz seiner Kunst lebte und aus Zuneigung die Tochter eines Generals ohne Vermögen geheiratet hatte. – Es lag in seinem Plane, nur Schülerinnen aus den reichsten und geachtetesten Häusern anzunehmen, um jeder möglichen Nachrede auszuweichen." Honoré de Balzac (1799-1850) war ein französischer Schriftsteller. In den Literaturgeschichten wird er, obwohl er eigentlich zur Generation der Romantiker zählt, mit dem 17 Jahre älteren Stendhal und dem 22 Jahre jüngeren Flaubert als Dreigestirn der großen Realisten gesehen.
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Seitenzahl: 899
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Ein schwerer bleierner Sargdeckel wurde gesprengt, und eine reiche Fülle gebundener geistigen Energie, die sich seit langem gesammelt hatte und der Entladung zudrängte, wurde frei. Mit seiner ungebändigten Überkraft und seinem ungeberdigen Wollen hatte einer die intellektuelle Kapazität großer Völker in den engen Pferch des Sarges gepreßt und achtete nicht des dumpfdröhnenden Grollens, das immer wieder aus dem Sarginnern herauftönte. Denn der eine wußte nur zu gut, daß er vom Wüten des Geistes, den er in starre Fesseln geschlagen hatte, so gut wie nichts befürchten müsse, daß ihn nur rohe physische Gewalt verderben könne.
Ihr erlag er endlich. Und nun schlug auch für den lebendig Eingemauerten die Befreiungsstunde. Voll ewiger Jugend und Tatkraft, der selbst die vieljährige Einkerkerung nichts hatte anhaben können, entfloh er seiner engen Haft und stürmte in das neugefundene Leben hinaus. –
Von Waterloo und der Beseitigung des geistigen Despotismus, den Napoleon Europa als schlimmste Kontribution auferlegt hatte, und der mit des Korsen Sturze zusammenbrach, ist die Rede. Man feiert Wellingtons und Blüchers Sieg immer nur als politisches Ereignis, womit dessen historische Bedeutung gewiß nicht unterschätzt ist. Aber man sollte nicht übersehen, von welchen nachhaltigen Folgen die Überwindung des Unüberwindlichen für das Wiedererwachen aller erstarrten schönwissenschaftlichen Bestrebungen der Nationen begleitet war. Am sichtlichsten zunächst vielleicht nur in Frankreich, dann aber im übrigen Europa. Alle solange gehemmt gewesenen künstlerischen Regungen brachen sich Bahn und forderten Daseinsberechtigung für sich. Nun konnte man aber auch daran denken, alles morsch und überlebt Gewordene über Bord zu werfen und neue Formen und Gestalten erstehen zu lassen.
Die Invasion der »Vandalen« habe nach Napoleons Sturze in Frankreich begonnen, riefen damals die intellektuellen Konservativen, die nur übersahen, daß von diesen »Vandalen« Frankreich seine neue Kritik, seine neue Philosophie, seine neue Dichtkunst bekommen habe.
Goethe und Schiller erschienen jetzt in der französischen Hauptstadt, geführt von der feinsten Geistigkeit des neueren Frankreich, der Frau von Staël. Sie setzte den drei Klassikern der französischen Bühne Lorbeerkränze auf und schickte sie dann über die Grenze. Und nun begann die Fehde zwischen Klassik und Romantik. Lamartine gab seine »Méditations«. Mit Staunen sah man zu seiner Poesie auf, die kühn und gewaltig in düsterer Majestät himmelanstrebte, von wundersamen Melodien ertönend wie eine gotische Kathedrale, in der alle Glocken durch den stillen Abend läuten. Dann erschien »Éloa« von Alfred de Vigny, ein Gedicht voll schauerlicher Anmut wie die Morgenröte in den Flammen eines Gewitters. Hierauf kamen die »Odes et ballades« von Victor Hugo, die »Poësies« von J. Delorme, »Henri III.« von Dumas und endlich »Hernani«. Es war eine völlige Revolution im Reiche des Schönen. Der Spiritualismus wehte wie ein geistiger Frühling über dem alten Paris, in dem es glühte und grünte und blühte und sang, wie nie zuvor. Das kritische Gerüste der alten Schule stürzte zusammen, die Fesseln der drei Einheiten wurden gesprengt, der Alexandriner stieg von seiner Rosinante und schnallte die klassische Rüstung ab, bewegte sich leicht und behend und änderte die Tracht, je nachdem es Zeit und Sitte geboten. Mit der regelrechten Literatur war es vorbei. Vom Publikum und vom »Globe« aus dem Felde geschlagen, von den kleinen Blättern gehöhnt, vom »Théâtre français« verwünscht, das sich an ihren Trauerspielen arm gespielt, suchten die Klassiker Schutz bei der Regierung, die den Romantikern das Nationaltheater verbieten sollte. Ein solches Gelächter hatte Paris noch nicht gehört, und das Verbot wurde nicht erlassen. «Hernani« wurde in der comédie française aufgeführt, unter dem ungeheueren Beifalls- und Mißfallens-Tumulte. Es war die Schlacht zwischen Vandalen und Perücken – die Vandalen siegten. Aber jeden Abend wurde dieser Kampf erneuert. Bei »Lucrezia Borgia« und »Maria Tudor« dieselben Skandale. Es fehlte nicht viel, und Victor Hugo wäre geprügelt worden. Shakespeare und Schiller wurden angeklagt, daß sie den jungen Leuten die Köpfe verdrehten. Der »Constitutionnel« erhob täglich, von englischen Blättern (Edinbourgh review, New-Monthly-Magazin, theatrical Magazin) unterstützt, die heftigsten Anklagen gegen das junge Geschlecht.
Man konnte es diesem nicht verzeihen, daß es sich mehr an die Phantasie als an den Verstand (wie die verstaubte Klassik) wandte, daß jetzt Menschen mit menschlichen Leidenschaften an die Stelle der blassen, blutleeren Schemen getreten waren.
Englische Blätter leisteten, wie oben gezeigt, den französischen in diesem Kampfe freundnachbarliche Hilfe. Nur dem französischen Kaisertum war man ja im Britenreich feindlich gesinnt gewesen; einer intellektuellen Revolutionierung wollte man dort ebensowenig das Wort reden, wie seit 1789 einer politischen. Man übersah bloß, daß gerade die beständig angefeindete französische Staatsumwälzung in England das Auftreten zwar nicht seines größten, gewiß aber meistgelesenen Dichters des 19.Jahrhunderts gezeitigt hatte. Walter Scotts Siegeslaufbahn begann. Aus der Fülle der welthistorischen Ereignisse, die er selbst miterlebt hatte, war ihm die Anregung geworden, die Geschichte selbst zum Gegenstand der Dichtung zu machen. Wohl war er nicht einmal in England der erste, der solches wagte. Wenn schon nicht mehr de Foes »Memoirs of a Cavalier«, hatte er doch wohl der Damen Lee und Porter »Recess« und »Scottish Chiefs« gelesen, die so etwas wie historische Romane geschaffen hatten, aber von der geschichtlichen Treue oft recht weit abgeirrt waren. Scott hat jedenfalls erst die nicht unwirksame Verbindung von historischer Wirklichkeit und freier Erfindung künstlerisch gehoben und ihr Daseinsberechtigung verschafft. In Jahrzehnten, die dem mächtigen Flügelrauschen gewaltiger Begebenheiten angstvoll hatten lauschen dürfen, mußte seine dichterische Tat ein lautes Echo wecken. Es war ein Taumel der jubelndsten Begeisterung, in die man sich bei Scotts Dichtungen hineinlas. Ganz Europa stand unerschütterlich in dem Banne seines Könnens und verschlang gierig, was er bot. Ein Pseudohistorizismus spannte um die Gebildetsten aller Nationen seine Netze. Es war ein Sieg von unheimlicher Gewalt.
Er kann nicht unbegreiflich erscheinen. Da man so viel Geschichte miterlebt hatte, wollte man selbst deren längstvergessene Phasen wieder an sich vorüberziehen sehen. Und so mußten Richard Löwenherz, Karl der Kühne, Ludwig XI., Cromwell u. v. a. aus ihren Gräbern emporsteigen und in künstlerischer Vollendung zu den Lesern sprechen.
Das waren die zweifachen Folgen der Niederlage Napoleons; einmal die Abschüttelung des unerträglich gewordenen geistigen Joches, die Befreiung von überlebten künstlerischen Richtungen, die der Kaiser favorisiert hatte, dann die Befruchtung der Poesie durch die Geschichte. Die zweitgenannte Wirkung war vielleicht noch intensiver und weiterreichend als die erste. Denn nun brauste durch ganz Europa der Chor der epischen Geschichtsschreiber oder geschichteschreibenden Epiker, denen keine historische Figur und Begebenheit zu unbedeutend schien, um sie nicht in dichterischer Verkleidung auferstehen zu lassen. Ödester Pragmatizismus begegnet dabei ebenso wie willkürlichste Geschichtsverfälschung. Aber die Leser verschlangen alles in wildester Sensationsgier; und wer gegen Ende der Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts im Roman etwas sagen wollte, mußte es in Scotts Manier tun, um beachtet zu werden. Es war nur ein Glück, daß dieser Dichter, dem man sich so völlig und willig ergeben hatte, ein Genie war und selbst seine oberflächlichsten Nachahmer noch insoweit befruchtete, daß sie zwar seine Fehler, deren er ja manche hat, noch übertrieben, aber auch an seinen blendenden Vorzügen lernten und ihnen möglichst nahe zu kommen suchten. In England, Frankreich und selbstverständlich in Deutschland, wo man ja selbst in Zeiten, als man der sprachlichen Ausländerei am schärfsten zuleibe ging, die stoffliche um so lieber ertrug, wie z. B. Philipp von Zesens Wirken dies zeigt, war die Scottnachahmung in höchster Blüte. Die Horace Smith, Crowe, Cooper und Hope, die Soulié, Mesnard, Salvandy und Merimée, die van der Velde, Zschokke, Spindler, Hauff und Alexis offenbaren nicht als die einzigen, aber als die markantesten – all die kleinen und kleinsten Nachbildner aufzuzählen, wäre zu weitläufig – die nachhaltige Einwirkung des Scottschen Vorbildes auf ihr Schaffen.
Nur von einem, der ebenfalls den gebieterischen Einfluß des Engländers verspürte, muß noch gesprochen werden: Tieck verließ damals die Gefilde der »wundervollen Märchenwelt« und trat 1826 mit zwei Abschnitten seiner historischen Novelle »Der Aufruhr in den Cevennen« hervor. Auch an ihm war der epische Historizismus der Zeit nicht spurlos vorübergegangen, und noch 1840 huldigte er ihm in »Victoria Accorombona«. –
Es ist kein Grund vorhanden, über diese weitverzweigte Nachahmungssucht, die in germanischen und romanischen Ländern allenthalben üppig wucherte, bewegliche Klagen anzustimmen. Sie blühte ja zu allen Zeiten, und die Geschichte des Romans aller europäischen Völker lehrt es, daß immer wieder ein bedeutendes Werk der Ausgangspunkt für zahllose Nachfolger wurde. Man hat namentlich in Deutschland schlechtere Vorbilder in der Epik rastlos kopiert, als es Walter Scotts Dichtungen waren.
Aber das kann man auch heute noch bedauernd feststellen, daß das Lesepublikum sich zu allen Zeiten immer nur auf eine Richtung festschwor, daß immer nur einem literarischen Gott gehuldigt wurde und man andere Götter neben diesem nicht duldete. Ein Kreuzen von Richtungen und Gegenrichtungen war dem Sinn der Literaturfreunde nie gemäß und genehm, vielleicht nur deshalb, weil es unbequem ist, sich von dem Trott des Ein- und Angewohnten loszumachen. Für die Entwicklungsgeschichte der Literaturen hatte dieser Beharrungstrieb sicherlich seine Nachteile, für die einzelner Literaten aber, die vielbetretene Pfade meiden wollten, seine niederdrückendsten Mißlichkeiten. Die Geschichte des Romans der Franzosen lehrt dies am sinnfälligsten: denn einer der größten Dichter der Neuzeit verzettelte jahrelang seine besten Kräfte in den verzweifelten Versuchen, der didaktorischen literarischen Forderung des Tages auszuweichen und statt der romanhaften Geschichtsklitterung die Wirklichkeit in der Dichtung abzuspiegeln. Gewiß war auch Scott, weniger seine Nachahmer, Realist, indem er in nicht selten bewunderungswürdiger Objektivität Natur und Persönlichkeiten richtig sah und darstellte. Aber Stoffe, Sitten und Anschauungen in seinen Romanen waren doch nur gründlich durchschaut, niemals durchlebt. Die Erkenntnis war einem Größeren vorbehalten, daß die Zeit selbst mit ihrem überreichen Inhalte, namentlich aber die vom Beginn der Restauration an einsetzende überraschende Umwandlung aller ethischen und sozialen Anschauungen, bedeutendes Objekt der Dichtung sein könne.
Versuche, an Stelle der in der Poesie immer noch spielerisch hintändelnden Pseudorealistik dem Leben sans phrase Denkmale zu setzen, brachten dem kühnen Neuerer nur die schmerzlichsten Mißerfolge, selbst als er es versuchte, nachdem, das Pariser Publikum sich von dem Pseudonym Horace de Saint Aubin nicht zur Anerkennung hatte verlocken lassen, in der sehr geschickten und damals aktuellen Verkleidung als Lord R'hoone seine literarische Aufwartung zu machen.
Man errät schon, daß Honoré de Balzac der beherzte, aber unbeachtet gebliebene Sucher einer neuen Form des realistischen Romans war. Nach zwei Fronten mußte er einen schweren Kampf führen, um sich und seine Ideen durchzusetzen: er hatte die französische Romantik Hugos ebenso zu überwinden, wie die ihr schroff entgegengesetzte englische Scotts. Mit einem Schlage ließ sich ein in diesen beiden Extremen befangenes Publikum nicht für eine dritte literarische Richtung gewinnen, und der junge Balzac mußte zunächst auf ein Kompromiß mit seiner Gedankenwelt sinnen. Scott kam ihm insofern entgegen, als er an ihm die Kunst minutiöser Detailmalerei bewundern konnte, die oft unheimlich realistisch ist. So entschloß er sich denn, da pekuniäre und literarische Mißerfolge ihn fast aufgerieben hatten, dem vergötterten Leserliebling Scott bedenkenlos nachzufolgen und in dessen Manier historisch-romantische Bilder zu entwerfen. »Pour se délier la main« geschah es, wie Balzac spater behauptete; aber eigentlich wird dem jungen Feuerkopf nichts anderes vorgeschwebt haben, als sich kurzerhand das Publikum zu erobern und den Schuldenberg, der auf ihm lastete, abzuschütteln. Wollten die Leser nicht zu ihm kommen, so kam er zu ihnen; und waren die beiden erst beieinander, dann konnte man ja das aufmerksam gewordene Publikum rasch auf Pfade führen, die nicht seinen, sondern des Dichters Neigungen entsprachen.
»Die Chouans« waren der Roman, der Balzac 1829 auf Scotts Spuren der Gunst der Kritik und der Leser zuführte. Die Schilderungen und die Charakteristik verraten deutlich, wie fleißig der Franzose den Engländer studiert hatte. An psychologischem Scharfsinn übertrifft er ihn freilich, namentlich in der fast anatomischen Auseinanderlegung der weiblichen Charaktere zeigt sich schon in diesem Roman die Kunst Balzacs, die er später bis zur höchsten Meisterschaft emportrieb. –
Hatte er mit den scottisierenden »Schleichhändlern« das Publikum einmal für sich eingenommen, so durfte er es wagen, da sein Name nunmehr genügend Zugkraft ausübte, auch mit einem Produkte hervorzutreten, in dem er ganz er selbst war, in dem seine Gedanken und Einfälle, seine Psychoanalysen und -synthesen zum Ausdrucke kamen. In der »Physiologie der Ehe«, die den »Schleichhändlern « noch in demselben Jahre folgte, ist Balzac der »Alchimist des Gedankens«, als den ihn Sainte-Beuve glücklich charakterisiert hat. Schon aus diesem Frühwerke spricht der unerbittliche Gesellschaftskritiker zu dem Leser; die wichtigsten Erkenntnisse hat er seiner Zeit abgelauscht, die zwischen der Vertreibung und Wiedereinsetzung der Bourbonen die bedeutendsten sozialen Institutionen, vornehmlich die Ehe, tiefgreifenden Veränderungen unterworfen, die das Familienleben auf andere ethische Grundlagen gestellt und namentlich den Frauen zu einer selbständigeren Stellung verholfen hatte. Das alles verlangte Darstellung in der Dichtung, und Balzac ging an dieser Forderung der Zeit nicht achtlos vorüber. In der »Physiologie der Ehe« ist sein Realismus bereits zu unheimlicher Größe angewachsen; mag man den Autor einseitig nennen wegen der Art, wie er immer nur eine bestimmte Spezies des weiblichen Geschlechts vor Augen hat, ein tiefer Seher und Erkenner ist er in diesem Buche, und seiner Zeit hat er alle die oft erschütternden Reflexionen über eheliche Verderbnis sicher abgelauscht. Es ist eine tiefe Kluft zwischen den »Chouans«, deren Heldin eine moralisierende Courtisane ist, und der »Ehephysiologie«, deren Verfasser durchaus triebhafte und zynische Frauen vor Augen hat.
Aber das Publikum übersprang diese Kluft mit Leichtigkeit und folgte dem jungen Dichter nun. wohin er es führte. Noch mutete ihm Balzac, nachdem er sich in den Sarkasmen der »Physiologie der Ehe« das Herz ein wenig erleichtert hatte, nicht gleich zu, alles mit einem Schlage zu vergessen, was es bisher angebetet hatte. In den Erzählungen, die er unter dem Titel »Scènes de la vie privée« 1830 veröffentlichte und später in dem großen Rahmen seiner »Comédie humaine« unter dieselbe Rubrik zum Teile aufnahm, ist er noch nicht der schrankenlose Realist, wie er später etwa in »Eugenie Grandet« oder »Vater Goriot« zu erkennen ist. Zwar schwingt er auch schon in diesen Erzählungen mit Geschick das geistige Seziermesser des analysierenden Psychologen, der nichts anderes will, als das menschliche Herz in allen seinen Teilen bloßzulegen und dessen Schläge zu erklären. Aber diese ersten Geschichten – von den mit dem Hauptwerke unzusammenhängenden, posthum herausgegebenen »Oevres de Jeunesse« wird abgesehen – sind noch die wenigen lichten Punkte auf dem trostlos trüben Firmamente, das Balzac über seiner »Comédie humaine« ausspannte, und das ein Abbild der Trostlosigkeit war, die über dem Frankreich der Dreißigerjahre schwebte. Noch war Balzac kein unerbittlicher Sittenschilderer, dessen alleinige Absicht es ist, den Leser nur alle Schauer des Entsetzens fühlen zu lassen und ihn dann in diesem Zustande sich selbst preiszugeben. Ein paar versöhnliche Momente stecken gewiß noch in diesen Erzählungen, und Gestalten, die noch nicht halbe Götter und halbe Bestien sind, sondern denen menschliche Instinkte eigen sind, bevölkern sie.
Anders wurde Balzac, als diese Novellen ihm bewiesen, wie fest er bereits in der Gunst der Leser sitze. Nun konnte er seinen Meisterschuß abgeben und »Das Chagrinleder« erscheinen lassen (1831), das machtvoll die neue poetische Doktrin in Frankreich zur Geltung brachte. Hierin hat er seine dichterische Natur völlig hemmungslos hervorgekehrt und gezeigt, welche ethische Skepsis und welcher moralische Pessimismus die Grundelemente seines Wesens bilden.
»Das Chagrinleder« variiert das alte Märchenmotiv, daß unbesonnenes Wünschen zum Unheile ausschlagen müsse. Am bekanntesten ist die Fassung der Brüder Grimm in den »Drei Wünschen«; hier heben sich aber Leid und Freud, die man sich erbeten hat, am Schlusse auf, und als Resultat ergibt sich weder ein Gewinn, noch ein Verlust für den, der durch bloßes Wünscheaussprechen das Schicksal zu zwingen hoffte. So harmlos endet die Geschichte bei Balzac nicht. Jede Erfüllung eines Wunsches raubt einen Teil der Lebenszeit; Verzweiflung, Angst, Entsetzen und beständige Todesqual sind die steten Begleiter auf dem Lebenswege des Wünschenden, und ein von allen Schauern der Gewissenspein begleitetes, langsames Hinsterben bedeutet nur eine recht armselige Erlösung.
Das harmlose sinnige deutsche Märchen (vielleicht eines der vielen französischen) kann Balzac recht gut zu seiner Dichtung angeregt haben. Deutsche Literaturwerke las man ja damals viel in Frankreich. »Faust«, Schillers Dramen, Jean Pauls »Titan«, ein paar Novellen Tiecks, namentlich aber E. Th. A. Hoffmann lernte man sogar aus Übersetzungen kennen. Diesem schrieb man auch die Einführung des Zuges in Balzacs »Chagrinleder« zu, daß die anfänglich natürliche Erzählung allmählich ins Phantastisch-Orgiastische verfließt. (Sainte-Beuve und die »Revue des deux mondes« 1834, IV. Band, Seite 448.) Aber mochte Balzac, der ein Bewunderer von Hoffmanns Kunst war, vieles dem deutschen Dichter abgesehen haben, im »Chagrinleder« könnte er ihm höchstens die recht äußerliche und mit dem Ganzen in losester Verbindung stehende Einkleidung zu danken haben. Wenn das geheimnisvolle »Chagrinleder« Raphael jede Verkürzung seiner Lebenszeit sinnfällig vor Augen führt, so ist dies nur die romantische Symbolisierung des weit krasseren und realistischeren Motivs, daß der Held der Novelle von seinem Innern unaufhörlich an das jähe Ende seines polykrateischen Daseins gemahnt wird. Aus mystischen, katholisierenden Gedanken, wie solche bei Balzac ja häufig wiederkehren, ist Raphaels Angst vor Vergeltung für diese immer neu eintretenden Glücksumstände, die sich aber auf durchaus natürlichem Wege einstellen und nur durch eine geheimnisvolle Kraft herbeigewünscht erscheinen, leicht zu erklären.
Im »Chagrinleder« ist bereits alles ausgebildet, was Balzacs Größe ausmacht; des Dichters reife, realistische Kunst feiert ihre stärksten Triumphe, und auch seine Mängel kommen prägnant zur Anschauung. Jedenfalls ist er jetzt ein Fertiger, Gefesteter, der nicht tastend neue Formen suchen oder fremden Vorbildern folgen muß. Vielmehr war jetzt er der vielumworbene literarische Tagesgötze, dem ein willenloser Troß erfolgsuchender Nachbeter auf Schritt und Tritt folgte. Psychologische Charakterentwicklung, Schilderung der sozialen Verderbnis, Greuel und Entsetzen – das war die Ware, die von ein paar begabten Dichtern, aber mehr noch von vielen literarischen Flachköpfen in Frankreich verschleißt wurde. Scott wurde nicht entthront: man suchte erst seine und Balzacs Reizmittel zu verschmelzen und etwa die Vergangenheit als Spiegel für die Gegenwart hinzustellen. Aber bald erwiesen sich der Franzose und seine Kunst als die stärkeren, und lärmend und ungehemmt brauste bald der Korybantenzug der sozialen und realistischen Romancíers durch die französische Hauptstadt.
Auf Deutschland und Österreich übte Balzacs Auftreten noch lange nicht diese suggestive Wirkung aus. Das mag verwunderlich erscheinen; war man doch gerade hier immer blinder literarischer Erfolgsanbeter, namentlich wenn es galt, französisches Gut einzuführen und nachzuahmen. Daß das letztere nicht geschah und niemand mit einem eigenen Werke auf Balzacs Spuren einherging, ist unschwer zu erklären; einmal war niemand da, dem diese realistische Richtung kongenial gewesen wäre (die zwanzig- und fünfundzwanzigjährigen Gutzkow und Laube kamen als Novellisten noch nicht in Betracht), dann aber war ein sofortiges energisches Eingreifen aller Zensuren mit größter Sicherheit zu erwarten, wenn nur ein schüchterner Versuch gewagt worden wäre, Balzacs Farben und Töne zu kopieren. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß die sonst in deutschen Ländern prompt einsetzende Übersetzungsmaschinerie sich merkwürdig spät an Balzac heranmachte. Es ist ein Irrtum des vortrefflichen letzten deutschen Balzacbiographen, Wilhelm Weigand, wenn er in seinem schätzenswerten Essay sagt, Balzacs Bücher hätten sofort nach ihrem Erscheinen in Rußland und Österreich eifrige Leser gefunden. Von Rußland kann es zugegeben werden, fand ja der Dichter schon 1831 hier seine begeistertste Leserin, jene wundersame »Fremde«, die in sein Leben so schicksalsschwer eingriff. Aber in Österreich war um diese Zeit nicht einmal sein Name bekannt. Keine Zeitung nennt ihn, nicht der kleinste Hinweis findet sich, daß auch nur das geringste Interesse für den Dichter und seine Werke bestanden hätte. Das darf nicht wundernehmen; boten die damaligen Wiener Redakteure ihren Lesern doch immer nur das, was sie aus deutschen Zeitschriften herausschneiden konnten, die den alleinigen Nährboden für ihre diletierende, plündernde Journalistik bildeten. Aber auch in Deutschland war, was in jeder Hinsicht verblüffend ist, selbst von dem indes berühmt gewordenen Balzac keine Rede. –
Zwar Goethe hat einzelnes von ihm noch kennen gelernt. Unter dem 8. und 10. März 1830 erfährt man bei Soret, beziehungsweise Eckermann, daß er Balzacs Werke durch Vermittlung Davids als Autorgeschenk verehrt erhalten habe. Vom »Chagrinleder« wissen wir sogar (vgl. Goethes Gespräche 2IV. 434), daß er darüber mit Soret am 27. Februar 1832 sprach. – Börne begeisterte sich an den »Scènes de la vie privée« (vgl. den nach Alfred Klaars Zählung, in den Hesseschen Klassikerausgaben VI, 124 und VI, 133, achtzigsten und zweiundachtzigsten Pariser Brief) und interessierte sich für die »Physiologie der Ehe« (ib. VI, 133) . Sonst aber hat Balzac in Deutschland keinen Anklang gefunden. Die Hamburger »Literarischen Blatter der Börsenhalle«, die ausschließlich mit Übersetzungen ihre Spalten füllten, ließen ihn gänzlich unbeachtet, während sie z. B. vieles von Charles Nodier, dem heute allzuwenig Gewürdigten, auftischten. Hells »Abendzeitung«, sonst keine Kostverächterin alles dessen, was aus Frankreich kam, schon wegen des Übersetzereifers des Herausgebers, brachte nur »El Verdugo« (1830, Nr. 61 – 63) als »Episode aus dem spanischen Kriege 1809« und in einem »Pariser Brief« ein flüchtiges Lob des »Chagrinleders«, dafür (1832, Nr. 100) scharfe Angriffe auf die »Contes drolatiques«. Mit Befehdung Balzacs war man in Deutschland überhaupt weniger sparsam als mit Anerkennung oder nur Erwähnung. Obwohl »Die Chouans« dem deutschen Geschmacke der Zeit sehr entgegengekommen wären, erschien vorläufig keine Übersetzung oder Besprechung. Dafür war allenthalben von einem flachen Machwerke, »Die Schleichhändler« von Julie Florentine von Großmann (Berlin 1829) und Raupachs Lustspielchen »Die Schleichhändler« (in Berlin 1828 gegeben, 1830 bei Hoffmann und Campe erschienen) die Rede, worin die deutsche Scottbegeisterung ihre gelinde Verulkung erfuhr, wobei der Satiriker nur übersah, daß sein historisches Dramenkonvolut ohne Scotts Impuls kaum möglich gewesen wäre.
Nur recht schüchtern und überraschend spät setzen die Nachrichten über Balzac in deutschen Zeitschriften ein. Von »Le dernier Chouan«, wie »Le Chouans« ursprünglich hießen, weiß das »Allgemeine Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur« (1830, IV. Band, Seite 304) nur das falsche Erscheinungsjahr 1830 (statt 1829) anzugeben und zu sagen, daß der Roman für die Geschichte »jener« Zeit wichtig sei. Sonst hat sich kein Kritiker mit den Büchern Balzacs beschäftigt, sogar die redseligen und chronistisch stets getreuen »Blätter für literarische Unterhaltung« nicht Eine unbedeutende Notiz über das Werk (1830, Nr. 211), daß »die Schilderung und Zeichnung der Charaktere vortrefflich sei und eine Menge dramatischer Szenen vorkommen soll«, besagt nichts. , bis sie plötzlich im Jahre 1831 (Nr. 184), fast wie aus dem Stegreife heraus, ihre Leser mit der flüchtigen Bemerkung überraschten: »Auch in Deutschland ist Balzacs Name nicht mehr fremd. Wir setzen ihn ohne Bedenken den größten Meistern in der Novelle an die Seite.«
Was war geschehen? Wie waren die »Blätter für literarische Unterhaltung«, die vorher Balzacs Namen nur nebenbei genannt hatten, zu dieser Kenntnis und Erkenntnis gelangt? Daß ihre Mitarbeiter die Werke des Franzosen gelesen haben sollten, ohne darüber Rechenschaft abzulegen, kann man von dieser systematischen Rezensieranstalt nicht annehmen. (In der unten angeführten Bemerkung beriefen sich die »Blätter« auf die »Revue encyclopédique«.) Denn man war immer weit beflissener, ausländische Bücher zu besprechen als deutsche Werke, die man nur zu gerne totschwieg, wenn die Verfasser nicht in irgendwelchen Beziehungen zu den »Blättern« und ihren Schreibern standen . In der Tat war auch kein Mitarbeiter dieser Leipziger literarischen Zeitung wirklich an Balzacs bis dahin publizierte Werke geraten, sondern sie waren auf anderen Wegen zu ihrem Urteile gelangt. –
Im Jahre 1830 erschienen in der Schlesingerschen Buch- und Musikalienhandlung zu Berlin »Lebensbilder von Balzac. Aus dem Französischen übersetzt vom Dr. Schiff«. Ein zweiler Teil unter demselben Titel folgte 1831. Dieses Werk war das erste, welches unter Balzacs Namen in deutscher Sprache erschien und von allen maßgebenden Literaturzeitungen besprochen wurde.
Nun würde man aber vergeblich unter allen Produkten Balzacs nach »Lebensbildern« forschen; weder ein Jugendwerk, noch eines aus der Reifezeit, noch eines der für die »Comédie humaine« geplanten, aber unausgeführt gebliebenen führt diesen oder einen ähnlichen Titel. Er rührt vielmehr von dem angeblichen Übersetzer her, der vielleicht eine ganz kurz vorher erschienene Novellensammlung von G. Reinbeck (Essen bei Baedeker) vor Augen hatte, die «Lebensbilder« hieß. Aber die gemeinsame Etikette, die Dr. Schiff den sieben Novellen, die er als »Lebensbilder« vereinigte, aufklebte, hat ihre besondere Bedeutung, weil sie erkennen läßt, daß sich der Herausgeber dessen bewußt war, wie sehr Balzac nach dem Leben male, das unverfälscht und unverhüllt darzustellen, er sich vorgesetzt hatte. Eine tiefere Vertrautheit mit den Absichten des französischen Dichters muß also bei Schiff vorausgesetzt werden, der wohl der erste in Deutschland war, der sich intensiv mit allem, was bis dahin von Balzac bekannt war, beschäftigte.
Wenn er nicht auch der einzige war! Nur so ist es nämllch zu erklären, daß er den Mut aufbrachte, unter Balzacs Namen Novellen herauszugeben, die in dieser Form niemals von Balzac waren. Denn nicht nur der Gesamttitel des zweiteiligen Novellenbandes rührt von Schiff her, sondern auch ein wesentlicher Teil des Inhaltes. Er operierte nur mit Balzacs Namen und den Äußerlichkeiten seiner Dichtung. Er hat sie nicht übersetzt, wie er auf dem Titelblatte vorgab, sondern neugestaltet und ihres Wesens Kern gründlich abgeändert. Der einzige, aber sehr flüchtige Biograph Schiffs. Karl Goedeke (in der 1. Auflage seines »Grundrisses« III. Band, Seite 747), war sogar geneigt, diese Novellen als freie Erfindungen und Balzac unterschoben hinzustellen. Diese Behauptung geht etwas zu weit. Richtig ist nur, daß Schiff Balzac nicht übersetzt, sondern frei bearbeitet hat. Das Wesentliche dieser «Lebensbilder« rührt von dem Deutschen her, die Folie von dem Franzosen. Damit ist freilich dessen Werk gewaltsam geändert, wenn nicht zerstört. Denn Balzacs kühne Schilderungen auch nur abzuschwächen, heißt, diesen Dichter des Besten, was er besitzt, berauben. Aber Schiff gestattete sich noch viel mehr, indem er nicht nur manches abschwächte, sondern fast alles willkürlich umgestaltete, kürzte und erweiterte, Situationen änderte, steigerte und milderte, Charaktere umwandelte und die meisten krasseren Effekte tilgte. So ist er gewiß nicht Balzacs Übersetzer, sondern Neugestalter seiner Themen gewesen. Es wird noch näher gezeigt werden, wie weit Schiff darin ging. Vorläufig soll nur gesagt werden, daß er der ganzen literarischen Kritik Deutschlands mit seinem Unternehmen einreden konnte, er habe Balzac unverändert übersetzt. Die »Jenaische Literaturzeitung« (1832, Nr. 72, Seite 93) lobte überschwenglich, die »Hallesche Literaturzeitung« (1831, III. Band, Seite 384) pries Balzac als eine der bemerkenswertesten Erscheinungen in der neuere»französischen Literatur. »Wahrheit, Erfindungskraft und Freiheit sind die Vorzüge seines schönen Darstellertalentes, welches sich unter den vielen gleichartigen Erscheinungen seines Vaterlandes zwar nicht originell, doch vorteilhaft auszeichnet.« Es war gewissenhaft von dem Rezensenten, daß er eine Beurteilung der Übersetzung (die sich »leicht liest«) unterließ, weil er das Original nicht zur Hand hatte. So gewissenhaft waren die »Blätter für literarische Unterhaltung« (1830, Nr. 357, Seite 1428) nicht. Balzac habe lebensvolle Gemälde geliefert, die ein bedeutendes Darstellungstalent verraten. »Wir sind selten in der neueren französischen Romanliteratur so gediegenen, stoffhaltigen und von aller larmoyanten Sentimentalität entfernten Darstellungen begegnet.« Nur mit der Einleitung, die Balzac und der »Übersetzer« dem Werke voranschickten, waren die «Blätter« nicht einverstanden. Sie nennen die Vorrede nüchtern und einfältig und wenden sich gegen die »moralischen« Absichten des Dichters ebenso wie gegen die Behauptung des Übersetzers, daß die »Lebensbilder« keinen poetischen, sondern einen praktischen Zweck hätten.
Des Franzosen Erfolg war nach diesen maßgebendsten Anerkennungen in der damaligen deutschen Publizistik vollkommen: niemand hatte erkannt, daß nicht der unverfälschte Balzac zu Worte gekommen war, sondern ein armer deutscher Dichter, der keinen anderen Weg sah, um zum Publikum zu sprechen, als indem er sich maskierte und Leser und Kritik düpierte. Da es ihm gelungen war, ohne daß jemand seine Täuschung durchschaut hätte, – was die damalige deutsche Kritik immerhin scharf charakterisiert! – konnte er ein Jahr später noch kühner seine literarische Fälscherkunst fortsetzen. Unter demselben Haupttitel »Lebensbilder« gab er zunächst in Gubitz' »Gesellschafter« (1831, Nr. 192 – 201) den ersten Teil von »La Peau de chagrin«. »Das Elendsfell« hat Schiff sehr glücklich die Originalbezeichnung umschrieben. Er zerfällt die französische Novelle in drei scheinbar unzusammenhängende Novellen, von denen die erste (»Das Elendsfell«) 1831 in der Berliner Zeitschrift erschien, während die beiden anderen erst 1832 im «Gesellschafter« (Nr. 1 – 18 und 28 – 35) und dann, mit der ersten vereint, in demselben Jahre auch in Buchform an die Öffentlichkeit traten. (»Das Elendsfell. Drei Novellen nach Balzac. Berlin 1832.«) Im »Gesellschafter« konnte Schiff seiner Novelle folgende Bemerkungen voranschicken: »Die Übersetzung der ›Lebensbilder‹ von Balzac wurde in Deutschland allgemein gut aufgenommen. Die Rezensionen darüber fielen sehr günstig aus. Die ›Blätter für literarische Unterhaltung‹ nahmen keinen Anstand, Balzac den ersten Meistern der Novelle gleichzustellen: sie rühmten seine schöne, poetisch-leidenschaftliche Sprache und sinnreiche Charakteristik. – Die ›Jenaer Literaturzeitung‹ glaubte, ihn auf ganz andere Weise den Damen zur Lektüre empfehlen zu dürfen – kurz, jedermann wunderte sich über diesen französischen Romantiker, und der Übersetzer, indem er ein neues Lebensbild Balzacs unter dem alten Titel (la peau dee chagrin) hingibt, hofft, dieselbe Zufriedenheit des Lesers zu erwerben mit seiner Arbeit .....«
Über »diesen französischen Romantiker«, wie ihn Schiff vorführt, kann man sich in der Tat verwundern, und zwar über das »Elendsfell« noch weit mehr als über die »Lebensbilder«. Denn während er in dem letztgenannten Werke noch einigermaßen zaghaft mit seiner Vorlage umgegangen war, ließ er in dem erstgenannten nicht einmal das Gerippe unangetastet, sondern verkehrte Balzacs Ansichten in ein völlig entgegengesetztes Extrem. Es ist erst später (1835) bekannt geworden, welche Pläne Schiff eigentlich bei seinem Tun leiteten. Er hat nicht, wie Goedeke behauptet, selbst bekannt , daß er sich gestattet habe, ganz Deutschland zu düpieren, sondern Willibald Alexis war es, der in seinem »Freimüthigen« (1835, Nr. 220 – 222) die überraschende Mitteilung machte, daß es Schiffs Vorsatz gewesen sei, Balzac zu parodieren. Dieser Aufsatz wird noch in der Biographie Schiffs, die, um den Zusammenhang dieser Erörterung nicht zu stören, gesondert mitgeteilt wird, seinen Platz finden müssen. Er ist nicht nur inhaltlich, sondern auch wegen seines Verfassers von der größten Bedeutung. Denn da gerade Alexis von Schiffs tieferen Absichten, die Balzacumdichtung betreffend, Mitteilung machte, liegt die Annahme sehr nahe, daß zwischen den beiden Freunden diese Düpierung verabredet wurde. Alexis konnte den jungen Literaten ja aus eigener Erfahrung darauf verweisen, wieviel Glück man mit eigenen Arbeiten machen könne, wenn man sie in Deutschland unter dem Aushängeschild berühmter ausländischen Autoren erscheinen lasse.
Literarische Unterschiebungen sind bei allen Völkern anzutreffen. Entweder man annektierte einen berühmten Namen eines Dichters und gab ein in seinem Geiste geschaffenes Werk heraus, oder man ging noch um den bedeutsamen Schritt weiter, unter dem Namen irgendeines vielgelesenen Schriftstellers eine Parodie seiner Schriften erscheinen zu lassen, oder man bediente sich einer Zelebrität nur als des Deckmantels, um irgendein beliebiges Buch, das mit der Eigenart des um seinen Namen betrogenen Schriftstellers gar nichts zu tun hat, leichter abzusetzen. So gibt es z. B. ein Buch von A. von Chammisso »Die Gauner oder Galerie der pfiffigsten Schliche und Kniffe berüchtigter Menschen« (Sondershausen 1836). Die Verdoppelung des m in Chammisso hat weiter nichts zu sagen; der Verfasser dieser Verbrechergalerie beabsichtigte lediglich eine Spekulation mit dem berühmten Namen des Dichters.
Spekulative Interessen waren es ja immer, die zu solchen Irreführungen den Anlaß gaben. Wenn der junge Thomas Chatterton an Horace Walpole ein »Verzeichnis alter Maler«, das aus dem Jahre 1469 stammen sollte, und ein Gedicht auf Richard Löwenherz, vorgeblich von einem Abte John herrührend, einsandte (die diesbezügliche Korrespondenz in Rüttmans Chattertonausgabe), so hatte er bloß die Absicht, seinen eigenen Werken, unter der Fiktion, sie stammten aus vergangenen Iahrhunderten, den altertumsfreundlichen Walpole zugänglich zu machen. Die vortreffliche Beherrschung der alten sächsischen Sprache durch den halbreifen Knaben verbürgte das Gelingen dieser Täuschung, bis er, in einem Anfall von Scham oder Ruhmsucht, seine Tat eingestand. Es war eine zu harte Strafe, daß der düpierte Walpole den Betrug in alle Welt hinausschrie und der Knabe, der keine Lebenshoffnung mehr sah, sich mit siebzehn Jahren vergiftete! So offenherzig wie Chatterton war der schottische Fälscher Macpherson nicht, dessen Ossianlieder niemals an einem geheimnisvollen Orte gefunden worden waren, nicht aus dem dritten Jahrhunderte und aus dem Gälischen stammten, sondern – wie schon Hume vermutete – eigene Dichtungen Macphersons sind. Wie auch die Tragödie Shakespeares, die William Henry Ireland ihm zuschob, eine eigene Dichtung des Jünglings war, der, nachdem London sich an dem neuaufgefundenen Drama Shakespeares erbaut hatte, seine Verfasserschaft eingestand. (Vgl. Curt Müller in der »Vossischen Zeitung« vom 15. Juli 1912.) –
Aus Deutschland sind ein paar ähnliche Fälle von »Einfühlungen« in fremde Werke bekannt. Allerdings den falschen »Wanderjahren« des süßen Pustkuchen war die Eigenart Goethes, dessen damals noch nicht erschienene »Wanderjahre« von dem stümpernden Pfarrer ersetzt werden sollten, zu wenig aufgeprägt, als daß der Betrug nicht sehr rasch hätte durchschaut werden können. In Stil und Darstellung war Goethe manches abgesehen; aber Stellen, wie I,161, wo sich Äußerungen über Goethe finden, machten dessen Autorschaft von vornherein unglaubhaft. Glücklicher war Hauffs Claurennachahmung im »Mann im Monde«: sie gilt gewöhnlich als Parodierung des unerquicklichen Modeschriftstellers, ist aber doch eher ein Roman, der gerade mit den Mitteln des zu Verspottenden die stärksten Wirkungen erzielt. Als Parodie auf die unselige Manier Claurens können zwei Arbeiten von Herloßsohn gelten, eine satirische Posse »Der Luftballon« und »Löschpapiere aus dem Tagebuche eines reisenden Teufels«, die unter dem Namen Heinrich Clauren erschienen. (Leipzig 1827.) Diese Claurenparodie Herloßsohns besteht aus drei Teilen: 1. Erzählungen, 2. Silvesternachtbilder, 3. Nachtgedanken Schmuel Baruch Froschs. Nur der dritte Teil ist interessant nicht nur deshalb, weil er, wie Herloßsohn selbst mitteilt, von der österreichischen Zensur in einer Zeitschrift nicht zum Druck zugelassen wurde, da man eine Satire auf Juden darin sah, sondern auch wegen des aggressiven Inhaltes, einer scharfen Satire auf Tieck und seine Schule. Eine Dame aus dieser Schule hält eine Vorlesung über die Barbarei der Zeit, die an Müllner, Houwald, Grillparzer und Raupach Gefallen gefunden habe. Müllner tritt plötzlich in die Versammlung und hält eine Kapuzinerpredigt voll persönlichster Bosheiten, z. B.:
»Der Tieck nennt ihre Werke all schlechten Plunder, Und wie Kriegszeichen, schwarz und rot, Hängen seine Didaskalien herunter. Seine Shakespeare-Theorie steckt er wie eine Rute Drohend im Dresdner Theater aus; Das dortige Theater ist ein Trauerhaus, Die ganze deutsche Poesie schwimmt in ihrem Blute.... Über den Raupach schreit er Weh und Ach, Und der Houwald und Grillparzer Meint er, wären ein Mulatte und ein Schwarzer....«
»Die Abenteuer und Erzählungen in Callot-Hoffmannscher Manier« von B. S. Ingemann (übersetzt von Dr. Bartels; Leipzig 1826) atmen weit mehr den Geist Fouqués (dessen »Galgenmännlein« in der Erzählung »Das hohe Spiel« kopiert ist) als den Hoffmanns; und »Skizzen in der Manier des seligen A. G. Meißner«, herausgegeben von Adolf von Schaden (3 Bände, Augsburg 1827 – 1829), beweisen, daß der Vielschreiber jede gerade in Gunst stehende Manier, die des «Rochus Pumpernickel« ebenso wie die der »Sappho« fixfingerig nachzubilden sich erdreistete, mochte sie ihm wesensverwandt sein oder nicht. Er ist der Typus des skrupellosen literarischen Freibeuters, den niemals innere Notwendigkeit dazu trieb, mit fremder Eigenart sein arges Spiel zu treiben. –
Diesen Vorwurf wird man der geschicktesten und feinstem Beobachtungsgeiste erflossenen deutschen Nachahmung eines fremden Dichterwerkes nicht machen können; Willibald Alexis' »Walladmor«, weniger sein »Schloß Avalon«, erweist wohl am zutreffendsten, bis zu welchem Grade sich ein Autor in die Gedankengänge eines Vorläufers einlesen und einleben konnte. Man darf es dem Berliner Dichter, der die Entstehungsgeschichte «Walladmors« selbst in späteren Jahren dargestellt hat (Erinnerungen von Willibald Alexis. »Aus dem 19. Jahrhundert.« IV. Band. Seite 266 ff.), glauben, daß sein Beginnen nicht Spekulationsgier entsprang, sondern einer teufelsmäßigen Lust, zu beweisen, wie leicht und genau man Scott nachahmen könne. Es war nur literarische Ehrlichkeit von ihm, wenn er, nachdem die ersten zwei Bände des »Walladmor« die größte Spannung erregt hatten und fast ausnahmslos als Werk des Briten galten, in dem dritten durch offensichtliche Verhöhnung des Ganzen selbst die Schleier lüftete und seine wahren Absichten enthüllte. Daß Scott, anders als Clauren, wegen der Verwendung seines Namens keine Klage erhob, sondern selbst in einer Rezension die humoristische Täuschung günstig anerkannte, mochte vielleicht Alexis den Mut geben, vier Jahre nach dem »Walladmor« (der 1823 erschienen war) sein »Schloß Avalon« wieder unter Scotts Namen erscheinen zu lassen. Aber diesmal wurde eine ähnlich große Wirkung nicht mehr erzielt, wenn auch die Täuschung des Publikums vollkommen gelang. 1837 hat dann Gutzkow unter Bulwers Namen seine »Zeitgenossen« erscheinen lassen, und der »Verlag der Klassiker« war unaufrichtig genug, in allen gelesenen Zeitungen immer wieder zu annoncieren, daß er das Buch von Bulwer um große Summen zur alleinigen Veröffentlichung angekauft habe. Karl Buchner hat das Verdienst, die Unterschiebung sehr rasch aufgedeckt zu haben (vgl. »Hamburger literarische und kritische Blätter der Börsenhalle« 1837, Nr. 1353-1354). Der Kuriosität halber sei angeführt, daß auch unter Grillparzers Name eine ihm nicht angehörige Broschüre geht. Sie heißt »Die Stadttheatergrille« (Hamburg, Fritz Schuberth, 1857) und erschien gelegentlich der Erstaufführung der Birch-Pfeifferschen »Grille« im Hamburger Stadttheater. – –
Es ist kaum ein Zweifel, daß Alexis Hermann Schiff bewog, das an Balzac zu erproben, was ihm mit Scott so sehr gelungen war. Nur übersah der Balzacparodist, daß er seinen Witz an einem Dichter übte, der in Deutschland noch völlig unbekannt war. Dadurch war von vornherein verhindert, die tieferen Absichten Schiffs zu durchschauen. Eine dichterische Manier zu parodieren, kann nur dort einen Sinn haben, wo das Original selbst Populäritat genießt. Statt also Balzac zu verspotten, wäre es damals weit angebrachter gewesen, ihn erst, wie er war, den deutschen Lesern vorzustellen. Bis sich diese in seiner Denk- und Dichtweise zurechtgefunden hätten, wäre es an der Zeit gewesen, diese nach- oder weiterzubilden.
Übrigens war für Schiff nicht nur Alexis' Vorbild maßgebend, wenn er unter Balzacs Namen Eigenes veröffentlichte. Dieser hatte ja Ähnliches getan, als er »L'Elixir de longue vie« für eine verschollene Phantasie Hoffmanns ausgab . Und auch sonst war in Frankreich gerade damals die Mode der literarischen Mystifikation verbreitet. Im April 1829 erschienen in Paris «Les soirées de W. Scott par M. Jakob bibliophile«. Damals begann der Geschmack an historischen Romanen nachzulassen, nur Scott behauptete noch immer sein Ansehen. In der Vorrede behauptete nun Jakob, daß er eine Sammlung historischer Skizzen herausgebe, die Scott in Paris, als er 1825 dort war, in mehreren Abendgesellschaften erzählt habe.
Das war unwahr: tatsächlich hat sich Jakob (Pseudonym für Paul Lacroix) nur mit viel Verständnis in Scotts Romane eingelesen und sie als fruchtbarer Nachahmer auszunützen gewußt. In demselben Jahre 1829 hat Jules Janin mit seinem »L'âne mort et la femme guillotinée« (in der deutschen bei Frankh erschienenen Übersetzung beruht der Titel «Der tote Esel und die guillotinierte Frau« auf einer Oberflächlichkeit: es handelt sich um keine Frau, sondern um ein Mädchen) Viktor Hugos Kunst in genialer und durchdringender Weise nachgebildet. Man war (vgl. »Blätter für literarische Unterhaltung« 1830. Nr. 172) in Verlegenheit, ob hier eine Nachahmung oder eine Persiflage von »Le dernier jour d'un condamné« vorliege. Diese Streitfrage ist nicht leicht zu entscheiden. Man hat immer das Gefühl, daß Janin vorhatte, den grausigen Stoff Hugos zu ironisieren, daß ihn aber unter dem Schreiben das Mitleid mit seinen eigenen poetischen Gestalten erfaßte und er dann, allen Sarkasmus über Bord werfend, ernst und ergreifend wurde.
Dieses reizvolle Buch war für Schiff von der größten Bedeutung. Auch er schwankt zwischen den beiden Gegensätzen des Ergriffenseins mit den Schicksalen seiner Personen und der unbezähmbaren Lust, diese Schicksale ins Lächerliche zu ziehen. Seine Balzacnachbildungen sind ein buntes Gemisch von beklemmendem Ernst und verruchter Necklaune. Er treibt die Menschen Balzacs und seine Leser von einer Stimmung in die andere; eine reelle Absicht leitet ihn niemals und konnte ihn nicht leiten. Denn seine ganze Natur, die sich an den Schöpfungen der deutschen Romantiker vollgesogen und berauscht hatte, konnte für den extremen Realismus Balzacs nichts übrig haben. Der französische Dichter war ihm gerade recht als Sprungbrett, um sich von diesem abzuschnellen und dann seine eigenen tollen Kapriolen auszuführen. In Deutschland nahm man freilich – wie die mitgeteilten Referate zeigten – Schiffs »Übersetzungen« ernst und beurteilte nach ihnen einen der größten französischen Realisten ....
Ja, ein Kritiker, Wolfgang Menzel, nahm das »Elendsfell« sogar zum Anlasse, um dem unschuldigen Balzac gehörig den Text zu lesen. (Literaturblatt zum Morgenblatt 1833, Nr. 19.) Er meinte, daß die vernünftigen, gescheiten und praktischen Franzosen auf dem Wege seien, recht fade und albern zu werden. Die Romantik habe den Franzosen den Kopf verwirrt, und es sei zum Lachen, wenn sie Hoffmann und den Satan in den Mund nähmen. – »Eine hagere Gestalt, ein blasses Gesicht, langstarrendes Haar, ein glühendes Auge, ein Spieltisch, perdu, ein versuchter Selbstmord, eine Engelsschönheit, eine Entführung, die Blasphemie – das sind die Farben, womit sie einen Teufel an die Wand malen. Das sind ihre Vorstudien der Hölle. Besäßen sie nicht im Stil ihre bewundernswerte Leichtigkeit und das Talent, aus jeder Kleinigkeit etwas Anziehendes zu bilden, sie würden mit ihrer ästhetischen Desperation, mit ihren Bizarrerien und ihren Nachtstücken eine klägliche Rolle spielen. Balzac will in jeder Beziehung der französische Hoffmann sein. Er ist unerschöpflich in Erfindungen, die auch er die Nachtseite des französischen Lebens nennt. Balzac schildert keine Menschen, sondern nur Schatten. Was die Tiefe ihres Charakters sein soll, sind Widersinnigkeiten, mit denen man sich nicht befreunden kann.« Nun erzählt Menzel den Inhalt des »Elendsfell« genau nach Schiff und schließt: »Raphael wäre jetzt tot, wenn Herr von Balzac jetzt nicht zu lachen anfinge, das ganze für einen Spuk erklärte und Raphael reich und zufrieden mit seiner Pauline leben ließe.« –
Man darf sich noch hinterher freuen, daß Schiff sein Betrug so vorzüglich gelang und er den allwissenden lilerarischen Papst Deutschlands so betören konnte. Denn was Menzel an Balzacs Erzählung nicht gefallen wollte, hatte dieser gar nicht geschrieben. Es war vielmehr Schiffs bizarrer Einfall, der ganzen logischen Aufeinanderfolge der Ereignisse die Spitze abzubrechen, dem durch den grausigen Schluß zu tiefst ergriffenen Leser plötzlich jovial auf die Achsel zu klopfen und zu sagen, daß das Ganze nicht erlebt sei, sondern nur eine Novelle, die der Held des »Elendsfell« eben geschrieben habe. Solche romantische Ironien standen Schiff gut an; er, der letzte Bekenner der allmählich sanft ausklingenden romantischen Doktrin, hatte bei Tieck und Heine oft gesehen, wie schlichte Märchen durch einen jähen Stimmungsumschlag der Dichter um ihre tiefsten Wirkungen kamen, wie die Erschütterung dem befreienden Lachen wich. Der Schlußeffekt von Heines »Seegespenst« ist von ihm glücklich in novellistisches Gebiet übertragen worden. Balzac hat mit dieser überraschenden, von Menzel getadelten Schlußwendung nichts zu tun! –
Wie Schiff Balzac umgestaltete oder sogar neu gestaltete, soll hier nur an zweien der mitgeteilten »Lebensbilder« gezeigt werden. (»Das Elendsfell« erschien zwar in der ersten Buchausgabe nicht unter dem gemeinsamen Titel »Lebensbilder«. Da aber Schiff bei der Veröffentlichung im »Gesellschafter« auch über diese Novelle »Lebensbilder von Balzac« schrieb, ist die Vereinigung aller Balzacunterschiebungen Schiffs unter der einen Bezeichnung in dieser Ausgabe wohl gerechtfertigt.) Am schwerstwiegenden sind die Überarbeitungen von »La Peau de chagrin«. Schon äußerlich schneidet Schiff aus Balzacs, zwar auch in drei Abteilungen mit einem Epilog gegliedertem, Werke drei fast selbständige Novellen, die nur durch den Helden Raphael verknüpft sind. Schiff setzt ganz ernsthaft ein: er folgt Balzacs Introduktionsszenen getreu: Der Spielverlust Raphaels, die Selbstmordabsicht, die Erwerbung des Chagrinleders bei dem Antiquitätenhändler, dessen Hinweis auf die mysteriöse Kraft, die in dem Felle stecke, die rasche Erfüllung der ersten Wünsche auf durchaus natürlichem Wege (Begegnung mit den Freunden, die Raphael zu einem opulenten Diner führen) – all das ist, zwar wesentlich verkürzt und der subtileren Kunst der Detailmalerei Balzacs beraubt, auch in Schiffs Buch übergegangen. Aber doch nur ganz äußerlich, denn Schiff stört die Illusion des Lesers, der voll frommen Märchenglaubens der Allmacht des Chagrinleders traut, indem er gleich anfangs sagt, daß sich alle Wünsche Raphaels erfüllen würden, ohne daß Wunder geschehen. So entkleidet er das gespenstische Märchen sofort seines Zaubers: er ist hier durchaus nicht Romantiker, sondern Realist, etwa wie der junge Tieck im Dienste Nikolais die «Straußfederngeschichten« am Schlusse immer auf den nüchternen Boden der Wirklichkeit stellte. In dieser Tonart fährt Schiff auch fort: er benützt die Bankettszene, die Balzac in breitester Umständlichkeit als raffinierte Orgie ausmalt, zum Vortrage seiner literarischen Gesinnungen, die der französischen Romantik durchaus abhold sind. Er beklagt die Entthronung Racines und des »geistvollen Popanzes« Voltaire, an deren Stelle de la Vigne, Lamartine und Chateaubriand getreten seien, die der Ruin von Frankreichs Ehre seien! Nur von der Bändigung des ungezügelten Journalismus erwartet er das Heil; der Geist müsse in Frankreich erwachen, damit dieses seine geschichtlichen Aufgaben erfülle.
Diese zweite Hälfte der ersten Novelle des »Elendsfell« zeigt schon, daß Schiff anderes vorhatte, als ein Übersetzer Balzacs zu sein. Er verliert ihn denn auch immer mehr aus dem Auge, und in der zweiten Novelle »Die Herzlose« offenbart er bald, was er im Grunde mit der Bearbeitung bezweckte. Er hat wohl erkannt, daß Raphael im wesentlichen nur ein Abbild Balzacs sei, des in seiner Jugend ruhelos Gequälten, der sich im Kampf um den Erwerb aufrieb, der stets in literarische und finanzielle Spekulationen verstrickt war, die ihn an der Oberfläche halten sollten. Als dann der große Wurf gelungen war, konnte Balzac mit breitem Behagen von dem entnervenden Kampf um das Glück erzählen, wie er es im »Chagrinleder« tut; er macht es sehr deutlich, daß er Raphael sei, wenn er z. B. diesen, wie er es selbst getan hatte, sich mit einer Abhandlung über den Willen (Traité de la volonté) abplagen laßt. Schiff folgt Balzac; aber Raphael ist in seiner Novelle nicht ein Abbild Balzacs, sondern Schiffs. –
Schon äußerlich weicht er völlig von der französischen Vorlage ab. Raphael erzählt im »Chagrinleder« seine Jugenderlebnisse, die ihn endlich bis zur Selbstmordabsicht trieben, bei der nächtlichen Orgie einem Freunde. Diese Erzählung ist so breit ausgesponnen, daß sie kaum während des Zeitraumes einer Nacht hätte vorgetragen werden können. Schiff verschmäht das Kunstmittel der Binnenerzahlung (später hat er es freilich bis zum Überdrusse häufig angewendet) und teilt Raphaels Geschick in Form eines Tagebuchs mit. Zu diesem Auskunftsmittel mußte er greifen, weil er in die Erzählung der Jugenderlebnisse des Helden eine von diesem (richtiger gesagt von Balzac) verfaßte Novelle verflocht. Die Form dieser zweiten Abteilung des »Elendsfell« ist also recht verkünstelt: der Inhalt freilich noch in höherem Maße. Raphael ist Verehrer der deutschen Romantik und Klassik; denn «auch die Klassizität war zu ihrer Zeit eine Romantik«. Er haßt Lord Byron, berauscht sich an Shakespeare und vergöttert Goethe. Darin ist er ein vollkommenes Abbild Schiffs, der in der Zeit der heftigsten Goethegegnerschaften treu an diesem hing und wiederholt nachdrücklich für ihn eintrat. Auch an Tieck erfreut sich der französische Enthusiast: »man träumt, schwärmt, phantasiert, lächelt, lacht und faselt bei ihm und stets mit Vernunft und Weise.«
Ganz anders denkt er über die französischen Dichter, von denen er niemanden gelten läßt, nicht einmal – Balzac. Mit dessen Erwähnung zeigt Schiff schon, daß er den Franzosen nicht übersetzt hatte. Aber man verstand ihn nicht, zumal er in der Auseinandersetzung über Balzac dessen Namen nicht weiter nannte. Und aus dieser Erörterung über Balzacs Kunst ist auch zu erkennen, wie wenig sie Schiff behagte. Er wirft ihm das Fehlen von Weltanschauung. Dichtergeist, Phantasie und Seele vor und tadelt (wie schon in der Vorbemerkung zu den »Lebensbildern«) feine breitausgesponnenen Beschreibungen, die ja bisweilen wirklich zu sehr ausarten. Auch die »Unsittlichkeit« Balzacs ist ihm widerwärtig, dessen Heldinnen nur für das Hospital leben, und deren einziges Ziel es sei, im Golde zu wühlen. (Schiff war wohl der erste, der das verschwenderische Umgehen mit Geld als bezeichnend für Balzac erkannte.)
Diese Charakteristik beweist, daß Schiff nie die ernste Absicht hatte, Balzac, wie er ihn vorfand, in Deutschland einzuführen. Denn man kann sich unmöglich zum Interpreten eines Dichters machen, an dessen Eigenart man alles Wesentliche auszusetzen findet. Aus dieser Abneigung gegen Balzacs Manier ist also Schiffs Bearbeitung zu erklären, die nichts unverrenkt läßt, was uns an dem Franzosen fesselt, was aber zu erkennen, dem romantischen Träumer Schiff, dem für kräftigen Realismus jedes Verständnis fehlte, völlig versagt war. Er stellte sehr bewußt andere Dichtungen der Balzacs entgegen: Shakespeares »Sturm«, »Runenburg« und »Liebeszauber« von Tieck, »Melusine« von Goethe. Eine »Runenburg« wird man unter Tiecks Werken vergeblich suchen; Schiff meint den 1802 entstandenen »Runenberg.« (In unserem Abdruck war kein Anlaß, diesen Flüchtigkeitsfehler Schiffs, der für seine saloppe Art charakteristisch ist, zu tilgen. Tiecks »Runenberg« erschien im 3. Jahrgang des in Köln bei Haas & Sohn verlegten »Taschenbuches für Kunst und Laune«, später im »Phantasus«, Band I, Seite 239–272 und in den »Gesammelten Schriften«, Band IV, Seite 214 ff.)
Diese rein romantischen, phantastischen Kunstwerke sollen nach Schiffs Wunsch den in Mode gekommenen Realismus verdrängen. Das ist für ihn eine Herzenssache, für die er in seinem »Elendsfell« warm eintritt. Er gibt vor, daß Raphael diese romantischen Märchen in Übersetzungen den Franzosen zugänglich mache, wobei ihn auch die Absicht leitet, die »Contes phantastiques« Hoffmanns, die in Loeve-Weimars Übersetzung ein großes Publikum fanden, (vgl. darüber den Bericht in der »Wiener Zeitschrift« vom Mai 1830, Nr. 58) aus dem Felde zu schlagen . Natürlich dachte Schiff weniger daran, den Franzosen den Geschmack an diesen Märchen beizubringen, als die deutschen Leser eindringlich darauf aufmerksam zu machen. Und so schwelgt er in geradezu dithyrambischen Verherrlichungen dieser wundersamen, blütenzarten Märchengebilde. Aber das nüchterne Publikum, dem Raphael sie vorliest, findet keinen Gefallen daran: die kleine Pauline und die große Feodora. zwischen denen ihn sein Liebesgefühl hinund hertreibt, lehnen – jede aus anderen Motiven – diese Märchennaivität ab. Ein materieller Erfolg ist für den schwer enttäuschten Vermittler deutscher Poesie in dem realistischen Zeitalter ebensowenig zu erreichen wie ein ideeller, er muß, wie es Mode war, Memoiren fabrizieren, die für echt gelten und um hohe Summen von den Verlegern gekauft werden. (Damals wurde gerade – woran wohl auch Balzac denkt – mit unterschobenen Memoiren viel Unfug getrieben: der Betrug mit den «Denkwürdigkeiten einer Frau vom Stande« und den »Memoirs d'un Pair de France et ex-Senateur« wurde eben aufgehellt.)
Erst als Raphael reich geworden ist, kann er wieder daran denken, seinen dichterischen Neigungen zu folgen. Goethes »Faust«fragment ist es diesmal, das er seinen Landsleuten in einer Übersetzung zugänglich macht. Aber auch jetzt bleibt ihm der Erfolg versagt: sogar seine Frau Pauline – die übrigens bei Schiff ihr verlorenes Vermögen nicht zurückgewonnen hat, sondern arm geblieben ist, wodurch sich eine recht deutsch-sentimentale Vereinigung eines reichen Mannes mit einem armen Mädchen ergibt – lehnt die Dichtung kühl ab. Sie verweist ihn darauf, daß für ihn aus der Vertiefung in Dichtungen nie das Heil kommen könne, das ihm vielmehr nur aus der unbegrenzten Hingabe an das Christentum erblühen werde. Mit diesem begeisterten Preis der Lehre Christi schließt Schiffs Dichtung im Grunde genommen ab. Es ist ein wundersam versonnener Ausblick, den der jüdische Schriftsteller Schiff als echter Bekenner der romantischen religiösen Anschauungen eröffnet. Tiefstinnerliche Gläubigkeit spricht aus dieser Apostrophe, die zu zeigen bestimmt ist, daß alle Dichtung – vor allem ist selbstredend die realistische Balzacs gemeint – vor dem großen Werke Christi verblassen müsse. »Das Christentum ist im höchsten Sinne des Wortes die Poesie der Poesien, die Religion der Religionen, denn Religion und Poesie sind Glaube«. –
Mit diesem Bekenntnisse, das einem echten Gefühle Schiffs entsprang, – er hat es oft genug in anderen Dichtungen wiederholt – ist natürlich Balzacs Tendenz in das gerade Gegenteil verkehrt. Dieser läßt seinen Helden verzweifelt sterben, der deutsche Umdichter aber weist ihm den Weg zur Befreiung und Läuterung. Heine mag schuld daran sein, daß Schiff es sich mit diesem durchaus reinen und erhebenden Schlusse nicht genug sein ließ, sondern noch den zweiten anfügte, worin er sehr bizarr den Helden wieder zum Leben erweckte. Damit wollte er nur seine parodistischen Absichten verdeutlichen, die in vielen Einzelheiten der Novelle unverkennbar sind. So interessiert sich bei Balzac eine Episodenfigur für Bücher über Wasserbau; bei Schiff schwärmt sie für Hydraulik, aber nur insofern, als sie bei jeder Gelegenheit Tränen vergießt.
Wie Schiff Balzacs Tendenzen in der schroffsten Weise abändert, so verfährt er auch mit den Charakteren und der dichterischen Form seiner Vorlage. Bei ihm ist Raphael kein melancholischer Träumer, der das Liebesweh, das ihm Feodora bereitet, geduldig hinnimmt, sondern er ist ein brutal polternder Rächer seines gekränkten Mannesstolzes. In einer großen Gesellschaft zieht er die verräterische Geliebte zur Rechenschaft, indem er eine Analogiegeschichte vorträgt, aus der jedermann erkennen soll, daß sie einen Parallelismuszu seinem eigenen Lebensmißgeschicke enthalte. Schiff verkapselt in den Rahmen des »Elendsfell« Balzacs Novelle »Sarrasine«, der er den Titel »Zambinella« gibt – die Geschichte von dem unglücklichen Kastraten, in den sich ein junger Maler (bei Balzac ein Bildhauer) verliebt, den deshalb ein Gönner des Sängers, der Kardinal Cicognara, den Schiff Cicogna nennt, ermorden läßt. Nur recht gewaltsam läßt sich ein Zusammenhang zwischen den beiden Liebesabenteuern herausfinden, und Schiff mußte, um verstanden zu werden, eine lange Erklärung anführen, die indessen seinen Gedankengang nicht gerade klarer erscheinen läßt. –
Verbreiterte er «Das Elendsfell« durch diese Einschaltung beträchtlich, so war er andererseits geneigt, die schwersten Verkürzungen an Balzacs Darstellungen vorzunehmen. Dabei verfuhr Schiff rücksichtslos; er übersah die Feinheiten der psychologischen Ausmalung, die so sehr subtilster Strichelkunst gleichen, kümmerte sich nicht um die bis ins Kleinste vorschreitende Beobachtung der zartesten Einzelheiten und verstand es namentlich nicht, – was Balzac so meisterhaft konnte – aus Kleinigkeiten, die der Franzose seinen Frauengestalten absah, eine Welt von Wundern aufzubauen, aus denen diese zusammengesetzt sind. Schiff stand bei der Porträtierung von Frauen noch immer auf der Stufe, wie etwa die Scudery, die Schönheiten auf Schönheiten häufte, wenn sie ein weibliches Wesen beschrieb. Diese Methode kannte Balzac nicht, dem selbst kleine Monstrositäten, wenn sie nur pikant und apart wirkten. nicht ungeeignet erschienen, eine Frau im ganzen als schön erscheinen zu lassen. Solche extravagante Details verbannte Schiff regelmäßig: Frauen mußten bei ihm einem vulgären Romanschönheitsbegriffe entsprechen, um sein dichterisches Gefallen zu finden. Dies ist wieder nicht realistisch, sondern romantisch und bedeutet eine arge Verkennung der ihreWege gehendenSchilderungskunst Balzacs. –
In den »Lebensbildern« macht sich allenthalben diese schrankenlose Willkür geltend. Sie soll nicht an allen Erzählungen aufgezeigt werden – die den »Anhang« des Bandes bildende »Das Abenteuer« ist übrigens gar nicht Balzac nachgebildet – ein Beispiel wird Schiffs Verfahren genügend veranschaulichen. »Die Blutrache« (»La Vendetta«) sei zu diesem Zwecke herangezogen. Das Thema war Schiff außer durch Balzac von anderer Seite nahe gebracht. Er wird kaum des älteren Stefanie fünfaktiges Drama »Die Liebe in Korsika oder welch ein Ausgang« (Wien 1770) gekannt haben, sicherlich aber Chamissos Gedicht »Maleo Falcone« und das im »Morgenblatt« (1830. Nr. 61 – 64) veröffentlichte »korsische Sittengemälde« »Mateo Falcone«, möglicherweise Prosper Mérimées Novelle »Mateo Falcone« und dessen »Colomba«, die ein ähnliches Motiv wie Balzacs »Vendetta« enthält. Mit seiner Vorlage verfuhr Schiff in freiester Weise. Er machte aus dem brutalen, atemlos dem tragischen Ende zustrebenden Charakterdrama Balzacs eine rührselige deutsche Famllienkomödie, in der er alles nicht durchaus Stoffliche sorglos beiseite schob. Es mag hingehen, daß er von Luigi Portas Jugendtagen im Hause Colonnas nichts mitteilt. Aber charakteristisch ist es schon, daß Ginevra in der Nachdichtung nicht erst im Hause der Frau Servin Zuflucht sucht und dort eine arge Demütigung erfährt. Dieses Detail, dem Balzac sicherlich Bedeutung beimaß, erschien Schiff wohl als unnötige Kränkung des Mädchens. Dafür läßt er über dieses von dem Vater einen gräßlichen Fluch sprechen, während dieser bei Balzac nicht die Kraft zu einem Fluche aufbringt. Dieses Motiv war ältestes Gut der larmoyantesten Familienromanschreiber, erschien also Schiff für seine daran gewohnten deutschen Leser als kein unwirksames Rührmittel. Die Hochzeitsfeierlichkeit, die im Original wiederholt zu den peinlichsten seelischen Mißhandlungen Ginevras führt, schildert Schiff ganz knapp; wieder bäumt sich seine Sentimentalität gegen Verunglimpfungen des Mädchens auf. das bei ihm ungekränkt zum Altar geht. Auch die Jahre des ehelichen Zusammenlebens, das harte Aufreiben im Kampfe um Erwerb fehlt bei ihm vollständig. Gerade diese Szenen gehören aber zu den packendsten Eingebungen des französischen Dichters, der mit unerbittlicher Realistik jede Phase des ertötenden Ringens um des Lebens Unterhalt – sicherlich aus eigener Erfahrung – schildert. Wenn Schiff alle diese wesentlichen Einzelheiten fortläßt, versündigt er sich aufs schwerste an dem festgefügten Bau der Novelle Balzacs. Aber in dieser Form war sie ihm zu unheimlich wahr: daß man infolge des Mangels an dem Nötigsten zugrunde gehen könne, wollte er den an verlogene deutsche Romane, in denen Geldnot immer durch einen deus ex machina beseitigt wird, gewöhnten Lesern nicht erzählen. So bleibt also von der erschütternden sozialen Tragödie, in der zwei arbeitsfreudige Menschen, die nicht wie Gerstenbergs Ugolino in einen Hungerturm gesperrt sind, Hungers sterben, nichts übrig als eine in larmoyanter Empfindelei aufgehende Familiengeschichte. Ginevra und Luigi verspüren bei Schiff nicht des Lebens Grausamkeit: sie stirbt im Wochenbette. Daß Luigi, gerade als die Not am höchsten ist, zu Gelde kommt und jetzt seine Frau vor dem Hungertode erretten könnte – eine unheimlich tragische Szene voll unwiderstehlicher Kraft – kann Schiff natürlich nicht erzählen, wie er auch Luigi nicht vor Ginevras Eltern zusammenbrechen, sondern weiterleben läßt. In einer Hinsicht geht er weiter als Balzac; bei diesem wünscht Ginevra kurz vor ihrem Hinscheiden, daß ihr Gatte ihr Haar den Eltern überbringen möge. Bei Schiff wird dieser Wunsch der Sterbenden wirklich erfüllt, eine Szene, die der Verfasser sentimental ausspinnt.
Diese Gegenüberstellung von Balzacs Novellen mit den Überarbeitungen durch Schiff lehrt deutlich, daß man es bei diesem nur mit sehr schwachen Anlehnungen an die Originale zu tun habe. Aber es wäre verfehlt, Goedekes Behauptung zu wiederholen, daß Schiff diese Novellen unterschoben habe, um ihnen durch widerrechtliche Benützung von Balzacs Namen in Deutschland leichter Eingang zu verschaffen. Einmal war dieser – wie gezeigt wurde – in Deutschland nicht so bekannt, als daß sich daraus ein sicherer Erfolg ergeben hätte. Dann aber mußte Schiff, seiner ganzen Veranlagung zufolge, so verfahren, wie er es tat. Ihn leitete nur eine Absicht. Mit seinen schwachen Kräften wollte er dem Einbruche der aufkeimenden literarisch-realistischen Flut steuern. Rückkehr zur Romantik! tönt es unaufhörlich aus seinen Dichtungen. Der Romantik, die in Deutschland im sichtlichen Absterben begriffen war, mußte die neue Dichtung, die sich in Frankreich Boden bereitet hatte und von der mit Recht zu befürchten war, daß ihr dasselbe in Deutschland gelingen werde, den Todesstoß versetzen. Aufzuhalten war das Unheil vielleicht durch den frommen Betrug, den sich Schiff gestattete. Auf alles Ausländische horchte man ja in den Dreißigerjahren voll gespanntester Aufmerksamkeit. Und wenn ein französischer Dichter predigte, daß in den Werken der deutschen Romantiker alle künstlerische Freihelt und Schönheit vergraben liege, nach denen man in deutschen Landen dürstete, dann stand zu hoffen, daß die entblätterte Romantik doch wieder neue Blüten und Früchte treiben würde. Noch lebte ja ihr vollwertigstes dichterisches Talent, Schiffs heiß verehrter Meister Ludwig, und auch sein ergebenster Jünger – eben Schiff – stand bereit, im echt romantischen Sinne seine Stimme zu erheben. Es war eine Spekulation, die Schiff mit Balzacs Werken – weniger mit seinem Namen – trieb; aber sie entsprang durchaus ideellen Motiven, der entthronten Romantik wieder den Platz an der Sonne zu sichern. –
Die Spekulation mißlang völlig. Man schritt achtlos an den poetischen Forderungen des einsamen Schwärmers vorbei und ergötzte sich nur an dem rein Stofflichen, das man bei Balzac entdeckt hatte. Aus keiner Besprechung ersieht man, daß Schiffs klar ausgesprochene Gedanken erfaßt worden wären. Die »Jenaische Literaturzeitung« (1832, Nr. 235) z. B. schob die eingestreuten Reflexionen im »Elendsfell« verächtlich beiseite und berauschte sich nur an dem nackten Handlungsgerüste. – »Stets am Stoff klebt unsere Seele« – die verbitterte Klage des einsamen Lyrikers Platen könnte beinahe auch auf die allmählich einsetzende Wertung Balzacs in Deutschland Anwendung finden. Was Schiff aus und mit ihm gemacht hatte, ging fast spurlos vorüber. Zum Bekämpfer seiner eigenen Anschauungen eignete sich Balzac wohl am allerwenigsten.
Wenn er im »Chagrinleder« einen Hoffmann abgelauschten Zug anbrachte, so war er dennoch gewiß kein Nachfolger deutscher romantischen Tradition, von der ihn in seinem Dichten so gut wie alles trennte. Deshalb war Schiffs gut gemeinter Betrug durchaus fehl am Orte. Was er bekämpfen wollte, dem öffnete er unfreiwillig Tür und Tor. Sein Eintreten für die Romantik war kaum ein Eintagserfolg; man kümmerte sich weiter nicht darum, hielt sich bloß an die effektvollen Begebenheiten, die der Franzose schilderte, und begehrte stets mehr davon.
Balzacs Sieg wurde in Deutschland nach Schiffs Verfälschungen vollständig. Die große Übersetzungsflut brach nach des begeisterten Romantikers Verkünstelungen herein und bewirkte, daß die guten Deutschen, ohne durch unangebrachte literarische Forderungen und Theorien, wie sie Schiff hinemverflochten hatte, behelligt zu werden, ihren Balzac, wie er war, verdeutscht erhielten. Nun rückten sie alle an, die gewerbsmäßigen Übersetzer, die froh genug waren, wenn sie einen französischen Autor in ein schlechtes deutsches Gewand stecken konnten, die oft nur recht mühsam eine wirkliche Übertragung zustande brachten, selten bis zu den tieferen Gedankengängen des Ausländers vordrangen und gewiß diesen niemals umzuarbeiten versuchten. Von solchen Ideologien, wie sie nur ein romantischer Phantast vom Schlage Schiffs wagen konnte, hielten sich die phantasielosen (und oft ach! so geistlosen) Übersetzer alle fern. Sie waren trockene Pedanten, die am Worte klebten, wie Theodor Hell, der schon 1833 den »Grafen Chabert« in ein mühseliges Deutsch übertrug, wofür ihm Laube in der »Zeitung für die elegante Welt« (1833, Nr. 148) in der ungestümen Weise seiner draufgängerischen Jugend mit Recht den Text las : der Vielschreiber O.L. B. Wolff und die Vlelschreiberin Fanny Tarnow durften nicht zurückstehen und ließen «Neue Erzählungen« (Leipzig 1833) und »Eugenie« (»Ein Genrebild« schrieb sie geschmackvoll darunter; Leipzig 1835) erscheinen. »Vater Goriot« wurde von einem Friedrich von R. »ein Familiengemälde aus der höheren (!) Pariser Welt« genannt (Stuttgart 1835), dem «Israeliten« pfropfte ein Or...n (Leipzig 1840) ein gedankenloses Nachwort auf, »Le Médicin de campagne« erschien (Berlin 1837) in einer durch Karl von Lützow bewerkstelligten Form, in der man das Original kaum wiedererkennen kann« . »Balzacs erzählende Schriften, teutsch bearbeitet von Friedrich Seybold