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»Eine Meisterin des Plots, eine grandiose Stilistin« Tobias Gohlis, Die ZEIT Joanna Hunter, 36 Jahre alt, hat alles, was man sich nur wünschen kann: ein schönes Haus, einen guten Job als Ärztin, einen treuen Hund und einen attraktiven Mann. Doch ihr ganzes Glück ist ihr kleiner Sohn Gabriel. Für ihn würde sie alles tun. Wie wunderbar muss es sein, mit dieser Frau in diesem Haus zu leben, denkt sich das Kindermädchen Reggie. Mit ihren 16 Jahren hat sie schon alles gesehen und erlebt. Joanna lässt sie wieder an das Gute in der Welt glauben. Für sie würde Reggie alles tun. Als Joanna und ihr Sohn eines Tages verschwunden sind, findet Reggie sämtliche Erklärungen des Ehemannes merkwürdig. Sie wendet sich an die Polizei, doch keiner versteht ihre Sorge – bis Jackson Brodie auftaucht. Er kennt Joanna Hunter und ihre dunkle Geschichte und er setzt alles daran, sie ein zweites Mal zu finden … Band 3 der Jackson-Brodie-Reihe Jackson-Brodie-Reihe: Band 1: Die vierte Schwester (Case Histories) Band 2: Liebesdienste (One Good Turn) Band 3: Lebenslügen (When Will There Be Good News?) Band 4: Das vergessene Kind (Started Early, Took My Dog) Band 5: Weiter Himmel (Big Sky) Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 519
Joanna Hunter, 36 Jahre alt, hat alles, was man sich nur wünschen kann: ein wunderschönes Haus, einen guten Job als Ärztin, einen treuen Hund und einen attraktiven Mann. Doch ihr ganzes Glück ist ihr kleiner Sohn Gabriel. Für ihn würde sie alles tun. Wie wunderbar muss es sein, mit dieser Frau in diesem Haus für immer zu leben, denkt sich das Kindermädchen Reggie. Mit ihren 16 Jahren hat sie schon alles gesehen und erlebt. Joanna lässt sie wieder an das Gute in der Welt glauben. Für sie würde Reggie alles tun. Als Joanna und ihr Sohn eines Tages verschwunden sind, findet Reggie sämtliche Erklärungen des Ehemannes merkwürdig. Sie wendet sich an die Polizei, doch keiner versteht ihre Sorge – bis Jackson Brodie auftaucht. Er kennt Joanna Hunter und ihre dunkle Geschichte und er setzt alles daran, sie ein zweites Mal zu finden …
© Helen Clyne
Kate Atkinson wurde bereits für ihren ersten Roman ›Familienalbum‹ mit dem renommierten Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Mittlerweile stehen ihre Bücher regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten. Für ›Das vergessene Kind‹, den vierten Band in der Reihe um den Privatermittler Jackson Brodie, erhielt sie den Deutschen Krimi Preis 2012 und für ihren Roman ›Die Unvollendete‹ den Costa Novel Award 2013. Kate Atkinson lebt in Edinburgh und gilt als eine der wichtigsten britischen Autorinnen der Gegenwart.
Kate Atkinson
LEBENSLÜGEN
Roman
Aus dem Englischen von Anette Grube
Von Kate Atkinson sind bei DuMont außerdem erschienen: Die vierte Schwester Liebesdienste Weiter Himmel
Das Gedicht von Emily Dickinson (Motto) wurde zitiert nach: Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte, S. 471 Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Gunhild Kübler © 2015 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlages.
eBook 2021 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2008 by Kate Atkinson Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel ›When Will There Be Good News‹ bei Doubleday, London. ›When Will There Be Good News‹ erschien auf Deutsch erstmals 2008 unter dem Titel ›Lebenslügen‹ bei Droemer, München. © 2021 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Übersetzung: Anette Grube Coverabbildungen: © Shutterstock Coverdesign nach einer Vorlage von Richard Ogle / TW Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierungg: CPI books GmbH, Leck ISBN eBook 978-3-8321-7106-3
www.dumont-buchverlag.de
Für Dave und Maureen –danke für die vielen guten Zeiten,
Wir wissen nie beim Fortgehn daß wir gehen –Ein Scherz – und zu die Tür –Das Fatum – folgt – schiebt hinter uns den Riegel –Wir sprechen nicht mehr vor –Emily Dickinson
I VERGANGENHEIT
Ernte
Die Hitze, die vom Asphalt aufstieg, schien zwischen den Hecken gefangen, die über ihren Köpfen aufragten wie Zinnen.
»Drückend«, sagte ihre Mutter. Auch sie fühlten sich gefangen. »Wie das Labyrinth in Hampton Court«, sagte ihre Mutter. »Erinnert ihr euch?«
»Ja«, sagte Jessica.
»Nein«, sagte Joanna.
»Du warst noch ein Baby«, sagte ihre Mutter zu Joanna. »Wie Joseph jetzt.« Jessica war acht, Joanna war sechs.
Die schmale Straße (sie nannten sie immer »den Weg«) schlängelte sich hierhin und dorthin, sodass sie nicht sahen, was vor ihnen war. Sie mussten den Hund anleinen und sich dicht an der Hecke halten für den Fall, dass »aus dem Nirgendwo« ein Auto auftauchte. Da Jessica die Älteste war, durfte sie den Hund an der Leine führen. Sie verbrachte viel Zeit damit, den Hund abzurichten. »Fuß!« und »Sitz!« und »Komm!«. Ihre Mutter wünschte, Jessica wäre so folgsam wie der Hund. Jessica hatte stets das Sagen. Die Mutter sagte zu Joanna: »Es ist gut, wenn man einen eigenen Kopf hat. Du solltest für deine Ansichten eintreten, selbst denken.« Aber Joanna wollte nicht für sich selbst denken.
Der Bus setzte sie an der großen Straße ab und fuhr weiter. Es war ein »Theater«, bis sie alle ausgestiegen waren. Ihre Mutter hielt Joseph unter dem Arm, als wäre er ein Paket, und mit der anderen Hand hantierte sie herum, um den neumodischen Buggy aufzuklappen. Jessica und Joanna mühten sich zu zweit ab, die Einkäufe aus dem Bus zu hieven. Der Hund kümmerte sich um sich selbst. »Nie hilft jemand«, sagte ihre Mutter. »Ist euch das schon mal aufgefallen?« Das war es.
»Das ländliche Scheißidyll eures Vaters«, sagte ihre Mutter, als der Bus in einem blauen Dunst aus Abgas und Hitze davonfuhr. »Gebraucht ja nicht solche Ausdrücke«, fügte sie automatisch hinzu. »Ich bin die Einzige, die so was sagen darf.«
Sie hatten kein Auto mehr. Ihr Vater (»der Dreckskerl«) war auf und davon damit. Ihr Vater schrieb Bücher, »Romane«. Er hatte ein Buch aus dem Regal genommen und es Joanna gezeigt, auf das Foto hinten auf dem Umschlag gedeutet und gesagt, »Das bin ich«, aber sie durfte es nicht lesen, obwohl sie bereits gut lesen konnte. (»Noch nicht, später. Ich schreibe leider für Erwachsene.« Er lachte. »Da stehen Sachen drin, na ja …«)
Ihr Vater hieß Howard Mason, ihre Mutter Gabrielle. Manchmal wurden die Leute ganz aufgeregt, lächelten ihren Vater an und sagten: »Sind Sie der Howard Mason?« (Und manchmal sagten sie, ohne zu lächeln, »dieser Howard Mason«, das war anders, auch wenn Joanna nicht genau wusste, inwiefern.)
Ihre Mutter sagte, dass ihr Vater sie entwurzelt und »mitten ins Nirgendwo« verpflanzt habe. »Oder Devon, wie es weithin genannt wird«, sagte ihr Vater. Er brauche »Platz zum Schreiben«, und es wäre gut für sie alle, »in Berührung mit der Natur« zu sein. »Kein Fernsehen!«, sagte er, als würden sie sich darüber freuen.
Joanna vermisste ihre Schule und ihre Freundinnen und Wonder Woman und ein Haus in einer Straße, in der man in einem Laden Beano und Lakritzstangen kaufen und zwischen drei Apfelsorten wählen konnte, statt einen Weg und eine Landstraße entlanggehen, mit zwei Bussen fahren und die ganze Strecke wieder zurückzumüssen.
Als sie nach Devon zogen, kaufte ihr Vater als Erstes sechs braune Hühner und einen Bienenstock. Den ganzen Herbst über grub er den Garten vor dem Haus um, damit er »bereit für den Frühling« wäre. Wenn es regnete, verwandelte sich der Garten in Schlamm, und den Schlamm trugen sie ins Haus, sie fanden ihn sogar auf den Bettlaken. Im Winter fraß ein Fuchs die Hühner, ohne dass sie jemals ein Ei gelegt hätten, und die Bienen erfroren, was laut ihrem Vater noch nie vorgekommen war, und er wollte alle diese Begebenheiten in seinem Buch (»dem Roman«) verwenden, an dem er gerade schrieb. »Dann ist es ja in Ordnung«, sagte ihre Mutter.
Ihr Vater schrieb am Küchentisch, weil die Küche das einzige Zimmer im Haus war, das dank des riesigen, launischen Herdes der Marke Aga ein bisschen warm war. Der Aga, meinte ihre Mutter, »wäre noch ihr Tod«. »Ich würde mich glücklich schätzen«, murmelte ihr Vater. (Er kam mit dem Buch nicht gut voran.) Sie waren ihm alle im Weg, sogar ihre Mutter.
»Du riechst nach Ruß«, sagte ihr Vater zu ihrer Mutter. »Und nach Kohl und Milch.«
»Und du riechst nach Versagen«, entgegnete ihre Mutter.
Ihre Mutter roch immer nach allen möglichen interessanten Dingen, Farbe und Terpentin und Tabak und nach dem Parfum ›Je Reviens‹, das ihr Vater ihr schenkte, seitdem sie siebzehn und ein »katholisches Schulmädchen« gewesen war, und das bedeutete »Ich komme wieder« und war eine Botschaft für sie. Ihre Mutter war laut ihrem Vater »eine Schönheit«, doch ihre Mutter sagte, sie sei »eine Malerin«, obwohl sie seit ihrem Umzug nach Devon nichts mehr gemalt hatte. »Für zwei Kreative ist in einer Ehe kein Platz«, sagte sie auf ihre unnachahmliche Art, hob die Augenbrauen und inhalierte den Rauch der kleinen braunen Cigarillos, die sie rauchte. Sie sprach es wie eine Ausländerin Sigarijo aus. Als Kind hatte sie an weit entfernten Orten gelebt, die sie ihnen eines Tages zeigen würde. Sie sei warmblütig, sagte sie, nicht wie ihr Vater, der ein Reptil sei. Ihre Mutter war schlau und komisch und steckte voller Überraschungen, ganz anders als die Mütter ihrer Freundinnen. »Exotisch«, sagte ihr Vater.
Der Streit, wer wonach roch, war offenbar noch nicht beendet, denn ihre Mutter nahm einen blau-weiß-gestreiften Becher aus dem Schrank und warf ihn nach ihrem Vater, der am Tisch saß und auf seine Schreibmaschine starrte, als würden sich die Worte selbst schreiben, wenn er nur lange genug geduldig wartete. Der Becher traf ihn seitlich am Kopf, und er schrie vor Schreck und Schmerz auf. Mit einer Geschwindigkeit, die Joanna nur bewundern konnte, hob Jessica Joseph aus dem Kinderstuhl und sagte »Komm« zu Joanna, und sie gingen nach oben, wo sie Joseph auf Joannas und Jessicas Doppelbett legten und kitzelten. Im Zimmer gab es keine Heizung, und auf dem Bett lagen Berge von Daunenbetten und alten Mänteln ihrer Mutter. Irgendwann schliefen alle drei ein, aneinandergekuschelt in einer Geruchsmischung aus Feuchtigkeit, Mottenkugeln und ›Je Reviens‹.
Als Joanna aufwachte, saß Jessica an Kissen gelehnt da, sie trug Handschuhe, Ohrenschützer und einen Mantel vom Bett, in dem sie verschwand wie in einem Zelt. Sie las im Schein einer Taschenlampe ein Buch.
»Stromausfall«, sagte sie, ohne vom Buch aufzublicken. Von der anderen Seite der Wand hörten sie die schrecklichen Tierlaute, die bedeuteten, dass ihre Eltern sich wieder gut waren. Jessica hielt ihr wortlos die Ohrenschützer hin, damit sie sie nicht hören musste.
Als es endlich Frühling wurde, zog ihr Vater, statt einen Gemüsegarten anzulegen, zurück nach London zu »seiner anderen Frau« – und das war eine große Überraschung für Joanna und Jessica, wenn auch offenbar nicht für ihre Mutter. Die andere Frau ihres Vaters hieß Martina – die Dichterin –, ihre Mutter sprach den Namen aus, als wäre es ein Fluch. Ihre Mutter bedachte die andere Frau (die Dichterin) mit Namen, die so schlimm waren, dass sie in der Luft hingen wie Gift, wenn sie sich trauten, sie (Schlampe-Fotze-Hure-Dichterin) unter der Bettdecke zu flüstern.
Obwohl die Ehe jetzt nur noch aus einer Person bestand, malte ihre Mutter nicht.
Sie gingen im Gänsemarsch den Weg entlang, »wie die Indianer«, sagte ihre Mutter. Die Plastiktüten hingen von den Griffen des Buggys, und wenn ihre Mutter sie losließ, kippte er nach hinten.
»Wir müssen wie Flüchtlinge aussehen«, sagte sie. »Trotzdem sind wir guten Mutes«, fügte sie beschwingt hinzu. Sie würden am Ende des Sommers, »rechtzeitig zum Schulanfang«, in die Stadt zurückziehen.
»Gott sei Dank«, sagte Jessica auf die gleiche Art wie ihre Mutter.
Joseph schlief mit offenem Mund im Buggy, ein leises Röcheln in der Brust, weil er eine Sommergrippe nicht loswurde. Er war so heiß, dass ihre Mutter ihn bis auf die Windel auszog und Jessica auf seine dünnen Rippen blies, um den kleinen Körper abzukühlen, bis ihre Mutter sagte: »Weck ihn nicht auf.«
Die Luft war getränkt vom Gestank nach Gülle, und die Gerüche nach feuchtem Gras und Wiesenkerbel stiegen Joanna in die Nase, und sie musste niesen.
»Pech gehabt«, sagte ihre Mutter, »du hast meine Allergien geerbt.« Das dunkle Haar und die blasse Haut ihrer Mutter hatte Joseph geerbt, ihre grünen Augen und »Malerhände« Jessica. Joanna hatte die Allergien abbekommen. Pech gehabt. Joseph und ihre Mutter hatten außerdem am selben Tag Geburtstag, doch bislang hatte Joseph noch keinen Geburtstag gehabt. In einer Woche wäre der erste. »Das ist ein besonderer Geburtstag«, sagte ihre Mutter. Joanna hielt jeden Geburtstag für etwas Besonderes.
Ihre Mutter trug Joannas Lieblingskleid, rote Erdbeeren auf blauem Grund. Ihre Mutter meinte, dass es alt sei und sie nächsten Sommer etwas für Joanna daraus nähen würde, wenn sie wollte. Joanna sah, wie sich die Muskeln in den braunen Beinen ihrer Mutter anspannten, als sie den Buggy die Steigung hinaufschob. Sie war stark. Ihr Vater sagte, sie sei »ungebärdig«. Joanna mochte das Wort. Jessica war auch ungebärdig. Joseph war noch nichts. Er war nur ein Baby, dick und zufrieden. Er mochte Haferbrei und zerdrückte Banane und das Mobile aus kleinen Papiervögeln, das ihre Mutter für ihn gebastelt hatte und das über seinem Bettchen hing. Er mochte es, wenn er von seinen Schwestern gekitzelt wurde. Er mochte seine Schwestern.
Joanna spürte, dass ihr Schweiß über den Rücken rann. Das fadenscheinige Baumwollkleid klebte ihr an der Haut. Sie hatte es von Jessica geerbt. »Arm, aber ehrlich«, sagte ihre Mutter und lachte. Ihr großer Mund verzog sich nach unten, wenn sie lachte, und sie sah nie glücklich aus, auch wenn sie es war. Alles, was Joanna hatte, stammte von Jessica. Es war, als gäbe es ohne Jessica keine Joanna. Joanna füllte die Räume, die Jessica zurückließ, wenn sie weiterzog.
Auf der anderen Seite der Hecke muhte unsichtbar eine Kuh, und Joanna zuckte zusammen. »Das war nur eine Kuh«, sagte ihre Mutter.
»Red-Devon-Kühe«, sagte Jessica, auch wenn sie sie nicht sehen konnte. Woher wusste sie das? Sie wusste die Namen von allem, was sichtbar oder unsichtbar war. Joanna fragte sich, ob sie je so viel wissen würde wie Jessica.
Nachdem sie den Weg ein Stück weit entlanggegangen waren, kamen sie zu einem hölzernen Gatter mit einem Drehkreuz. Der Buggy passte nicht durch das Drehkreuz, weshalb sie das Gatter öffnen mussten. Jessica ließ den Hund von der Leine, und er kletterte über das Gatter, wie sie es ihm beigebracht hatte. Auf einem Schild stand: »Bitte das Gatter schließen«. Jessica lief immer voraus und zog den Riegel zurück, dann stießen sie zu zweit das Gatter an, stellten sich darauf und schwangen es so auf. Ihre Mutter mühte sich mit dem Buggy, weil der Schlamm vom Winter in tiefen, krummen Furchen getrocknet war, in denen die Räder hängen blieben. Sie schwangen auf dem Gatter zurück, und Jessica verriegelte es. Manchmal ließen sie sich mit dem Kopf nach unten vom Gatter hängen, und ihr Haar reichte bis zum Boden und fegte darüber wie ein Besen, und ihre Mutter sagte: »Das sollt ihr doch nicht tun.«
Der Weg grenzte an ein Feld. »Weizen«, sagte Jessica. Der Weizen war sehr hoch, wenn auch nicht so hoch wie die Hecke neben dem Weg. »Der wird bald geerntet werden«, sagte ihre Mutter. »Sie werden ihn abschneiden«, fügte sie für Joanna hinzu. »Dann werden wir niesen und keuchen, wir beide.« Joanna keuchte bereits, sie hörte die Luft in ihrer Brust pfeifen.
Der Hund lief ins Weizenfeld und verschwand. Einen Augenblick später sprang er wieder heraus. In der Woche zuvor war Joanna dem Hund ins Feld gefolgt und hatte nicht mehr herausgefunden, und sie suchten sie sehr lange. Sie hörte sie rufen, aber sie entfernten sich immer weiter von ihr, und niemand hörte ihre Rufe. Der Hund fand sie.
Auf halbem Weg setzten sie sich im Schatten eines Baums ins Gras neben dem Weg. Ihre Mutter nahm die Plastiktüten von den Griffen des Buggys und zog kleine Kartons mit Orangensaft und eine Schachtel mit Schokoladenkeksen aus einer Tüte. Der Orangensaft war warm, die Schokoladenkekse waren zusammengeklebt. Sie gaben dem Hund ein paar Kekse. Ihre Mutter lachte mit nach unten gezogenen Mundwinkeln und sagte: »Gott, was für eine Schweinerei«, schaute in die Babytasche und holte Wischtücher für ihre schokoladenverschmierten Hände und Münder heraus. Als sie noch in London lebten, machten sie richtige Picknicks, beluden den Kofferraum des Wagens mit einem großen Korb von der Mutter ihrer Mutter, die zwar reich, aber tot war (was offensichtlich nur zu ihrem Besten war, weil sie nicht mit ansehen musste, dass ihre einzige Tochter mit einem selbstsüchtigen, fremdgehenden Geldverschwender verheiratet war). Wenn ihre Großmutter reich gewesen war, warum hatten sie dann kein Geld? »Ich bin durchgebrannt«, sagte ihre Mutter. »Ich bin davongelaufen, um euren Vater zu heiraten. Es war sehr romantisch. Damals. Wir hatten nichts.«
»Ihr hattet den Picknickkorb«, sagte Jessica, und ihre Mutter lachte und sagte: »Du kannst wirklich witzig sein, weißt du das?« Und Jessica sagte: »Ich weiß.«
Joseph erwachte, und ihre Mutter knöpfte das Oberteil ihres erdbeergemusterten Kleides auf und stillte ihn. Er schlief wieder ein, während er trank. »Armes Lämmchen«, sagte ihre Mutter. »Er wird die Erkältung nicht los.« Sie legte ihn zurück in den Buggy und sagte: »Okay. Gehen wir nach Hause. Wir holen den Gartenschlauch, und ihr könnt euch abspritzen.«
Er schien aus dem Nirgendwo aufzutauchen. Sie bemerkten ihn, weil der Hund knurrte, ein seltsames gurgelndes Geräusch in seinem Hals, das Joanna nie zuvor gehört hatte.
Er ging sehr schnell auf sie zu, wurde zunehmend größer. Er gab komische laut schnaufende Laute von sich. Sie dachten, dass er an ihnen vorbeigehen und »Schöner Nachmittag« oder »Hallo« sagen würde, weil das die Leute immer sagten, wenn man ihnen auf den Wegen begegnete, aber er sagte nichts. Ihre Mutter sagte normalerweise »Schöner Tag« oder »Ist es nicht heiß?«, doch zu diesem Mann sagte sie nichts. Stattdessen ging sie schneller, kämpfte mit dem Buggy. Sie ließ die Plastiktüten mit den Einkäufen im Gras liegen, und Joanna wollte eine aufheben, aber ihre Mutter sagte: »Lass sie liegen.« In ihrer Stimme, in ihrem Gesicht war etwas, das Joanna Angst einjagte. Jessica nahm sie bei der Hand und sagte scharf wie eine Erwachsene: »Komm schon, Joanna.« Joanna erinnerte sich an damals, als ihre Mutter ihrem Vater den blau-weiß-gestreiften Becher an den Kopf geworfen hatte.
Der Mann ging jetzt in dieselbe Richtung wie sie, neben ihrer Mutter. Ihre Mutter lief nahezu und sagte »Kommt schon, schnell« zu ihnen. Sie klang atemlos. Der Hund lief vor den Mann und bellte und sprang an ihm hoch, als wollte er ihm den Weg versperren. Ohne Vorwarnung trat er so fest nach dem Hund, dass er durch die Luft flog und im Weizen landete. Sie sahen ihn nicht, aber sie hörten den schrecklichen, jaulenden Laut, den er ausstieß. Jessica stand vor dem Mann und schrie ihn an, deutete mit dem Finger auf ihn, rang nach Luft, als könnte sie nicht atmen, und dann lief sie ins Feld auf der Suche nach dem Hund.
Alles war schlimm. Daran bestand kein Zweifel.
Joanna starrte auf den Weizen, versuchte zu sehen, wo Jessica und der Hund verschwunden waren, und sie brauchte einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass ihre Mutter mit dem Mann kämpfte, mit den Fäusten auf ihn einschlug. Aber der Mann hatte ein Messer, das er immer wieder in die Luft hob, sodass es in der heißen Nachmittagssonne wie Silber glänzte. Ihre Mutter begann zu schreien. Auf ihrem Gesicht, ihren Händen, ihren kräftigen Beinen, ihrem Erdbeerkleid war Blut. Dann wurde Joanna klar, dass ihre Mutter nicht den Mann anschrie, sondern sie.
Ihre Mutter wurde niedergestochen, wo sie stand, das große silberne Messer schnitt durch ihr Herz, als würde es Fleisch auf der Metzgertheke schneiden. Sie war sechsunddreißig Jahre alt.
Er musste auch auf Jessica eingestochen haben, bevor sie davonlief, denn es gab eine Blutspur, einen Pfad, der sie zu ihr führte, obwohl es dauerte, weil sich der Weizen wie eine goldene Decke um Jessica geschlossen hatte. Sie lag da, die Arme um den Hund geschlungen, und beider Blut hatte sich vermischt und die trockene Erde getränkt, das Korn genährt wie ein Opfer für die Ernte. Joseph starb, wo er war, in den Buggy geschnallt. Joanna wollte glauben, dass er nicht aufgewacht war, aber sie wusste es nicht.
Und Joanna. Joanna gehorchte ihrer Mutter, als sie sie anschrie: »Lauf, Joanna, lauf.« Und Joanna rannte in das Feld und verschwand im Weizen.
Später, als es dunkel war, kamen andere Hunde und fanden sie. Ein Fremder hob sie hoch und trug sie fort. »Sie hat keinen Kratzer«, hörte sie eine Stimme sagen. Die Sterne und der Mond glänzten hell am kalten schwarzen Himmel über ihrem Kopf.
Natürlich hätte sie Joseph mitnehmen sollen, sie hätte ihn aus dem Buggy reißen oder mit dem Buggy davonlaufen sollen (Jessica hätte es getan). Es spielte keine Rolle, dass Joanna erst sechs Jahre alt war, dass sie es mit dem Buggy nie geschafft hätte, dass der Mann sie innerhalb von Sekunden erwischt hätte, darum ging es nicht. Es wäre besser gewesen, bei dem Versuch, das Baby zu retten, getötet zu werden, als es nicht zu versuchen und zu leben. Es wäre besser gewesen, mit Jessica und ihrer Mutter zu sterben, als allein zurückzubleiben. Doch daran dachte sie nicht, sie tat, was ihr aufgetragen war.
»Lauf, Joanna, lauf«, befahl ihre Mutter. Und sie tat es.
Es war komisch, aber das, was sie jetzt, dreißig Jahre später, in den Wahnsinn trieb, war, dass sie sich nicht an den Namen des Hundes erinnern konnte. Und es gab niemanden, den sie hätte fragen können.
II HEUTE
Fleisch und Blut
Die Wiese war so lang wie das Dorf und wurde von einer schmalen Straße zweigeteilt. Die Grundschule ging auf die Wiese hinaus. Die Wiese war nicht, wie erwartet, quadratisch, genauso wenig gab es den Ententeich, den er sich ebenfalls vorgestellt hatte. Da er aus derselben Grafschaft stammte, sollte man denken, dass er diesen Landstrich kannte, aber es war ein fremdes Kornfeld für ihn. Seine Kenntnisse der Yorkshire Dales waren aus zweiter Hand, zusammengesetzt aus Film und Fernsehen – da eine Szene aus Emmerdale, dort eine halb wache Nacht auf dem Sofa, während Kalender Girls im Kabelsender lief.
Es war still heute, ein Mittwochmorgen Anfang Dezember. Ein Weihnachtsbaum stand auf der Wiese, noch so, wie die Natur ihn geschaffen hatte, ungeschmückt und unbeleuchtet.
Das letzte (erste) Mal, als er hier war, um das Dorf in Augenschein zu nehmen, war an einem Sonntagnachmittag im Hochsommer gewesen, und es hatte vor Menschen nur so gewimmelt, Touristen picknickten auf der Wiese, kleine Kinder tollten herum, alte Leute saßen auf Bänken, alle aßen Eis. Am Ende der Wiese befand sich eine Art Sandkasten, in dem Leute – Einheimische, keine Touristen – etwas spielten, was er für Quoits hielt: Sie warfen große eiserne Ringe, die schwer wie Hufeisen waren. Ihm war nicht klar gewesen, dass so etwas noch gespielt wurde. Es war bizarr. Es war mittelalterlich. Auf der Wiese befanden sich neben dem Marktkreuz noch ein Pranger und – laut dem Reiseführer, den er gekauft hatte – ein »bull ring«. Er dachte an das Einkaufszentrum gleichen Namens in Birmingham, bis er weiterlas und feststellte, dass der Zweck des »bull ring« in der Stierhetze bestanden hatte. Er nahm an (hoffte), dass Pranger und »bull ring« historisch – für die Touristen – und nicht mehr in Gebrauch waren. Das Dorf war ein Ort, an den die Leute mit dem Auto fuhren, um auszusteigen und spazieren zu gehen. Das tat er nie. Wenn er spazieren ging, dann brach er von da auf, wo er sich gerade befand.
Er versteckte sich hinter der Darlington and Stockton Times und studierte die Kleinanzeigen der Bestattungsinstitute, Raumgestalter und Gebrauchtwagenhändler. Er hielt sie für weniger auffällig als eine überregionale Zeitung, er hatte sie in Hawes gekauft und nicht im Dorfladen, wo er vielleicht zu große Aufmerksamkeit erregt hätte. Die Leute hier hatten gut entwickelte Antennen für die falsche Art von Fremden. Wahrscheinlich verbrannten sie jeden Sommer einen Mann aus Weidenzweigen.
Letztes Mal hatte er einen schicken Wagen gefahren, jetzt war er besser angepasst und fuhr einen schmutzbespritzten, gemieteten Discovery, trug Wanderstiefel und eine Jacke von North Face mit Fleecefutter, und um seinen Hals hing in einer Plastikhülle ein OS-Reiseführer, den er ebenfalls in Hawes erworben hatte. Wenn er einen hätte organisieren können, hätte er sich einen Hund ausgeliehen, und dann hätte er wie ein Klon des durchschnittlichen Besuchers ausgesehen. Man sollte Hunde mieten können. Das war eine Marktlücke.
Er war vom Bahnhof mit dem Leihwagen gefahren. Er wäre die ganze Strecke (in seinem schicken Wagen) gefahren, aber nachdem er sich auf den Fahrersitz gesetzt hatte und den Motor anlassen wollte, musste er feststellen, dass die Maschine tot war. Vermutlich etwas Mysteriöses wie zum Beispiel die Elektronik. Jetzt wurde das Auto in einer Werkstatt in Walthamstow von einem Polen namens Emil versorgt, der Zugang (ein hübscher Euphemismus) zu originalen BMW-Ersatzteilen zum halben Preis einer offiziellen BMW-Werkstatt hatte.
Er schaute auf die Uhr, eine goldene Breitling, ein teures Geschenk. Schöne Stunden. Er mochte männliche Paraphernalien – Autos, Messer, technische Spielereien, Armbanduhren –, aber er war sich nicht sicher, ob er so viel Geld für eine Uhr ausgegeben hätte. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul«, hatte sie lächelnd gesagt, als sie sie ihm gab.
»Oh, verdammt, jetzt kommt schon«, murmelte er und schlug mit dem Kopf gegen das Lenkrad, aber sanft für den Fall, dass er die Aufmerksamkeit eines einheimischen Passanten auf sich zog. Er wusste, dass er sich trotz seiner Verkleidung nur begrenzt in einem kleinen Ort wie diesem aufhalten konnte, ohne dass jemand anfing, Fragen zu stellen. Er seufzte und blickte wieder auf die Uhr. Er gab sich noch zehn Minuten.
Nach neun Minuten und dreißig Sekunden (er zählte mit – was sonst gab es hier zu tun, als der Zeit zuzuschauen?) kam eine Vorhut, bestehend aus zwei Jungen und zwei Mädchen, aus der Schultür gerannt. Sie trugen Fußballtore und stellten sie gekonnt auf der Wiese auf. Die Wiese diente offenbar als Schulhof. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, in so einer Schule unterrichtet zu werden. Seine Grundschule war ein miserabel ausgestattetes, überfülltes Drecksloch gewesen, in dem der Sozialdarwinismus fröhliche Urständ feierte. Es überlebten die Schnellsten. Das war das Positive gewesen, das man ihm beigebracht hatte. Seine eigentliche Ausbildung, als er tatsächlich in einem Klassenzimmer saß und etwas lernte, erhielt er in der Armee.
Ein Strom Kinder in Sportkleidung floss aus der Schule und ergoss sich über die Wiese wie ein Delta. Es folgten zwei Lehrer, die Fußbälle aus einem Korb verteilten. Er zählte die Kinder, alle siebenundzwanzig. Die Kleinen kamen zuletzt.
Dann kamen die, auf die er wartete – die Vorschulkinder. Jeden Mittwoch- und Freitagnachmittag trafen sie sich in dem kleinen Anbau hinter der Schule. Nathan war einer der Kleinsten, stolperte an der Hand eines viel älteren Mädchens hinterher. Nat. Klein wie eine Mücke. Er steckte in einem Schneeanzug. Er hatte dunkle Augen und schwarze Locken, die er unbestreitbar von seiner Mutter geerbt hatte. Eine kleine Stupsnase. Es bestand keine Gefahr, Nathans Mutter war nicht da, sie besuchte ihre Schwester, die Brustkrebs hatte. Niemand kannte ihn hier. Fremder in einem fremden Land. Keine Spur von Mr Arty-Farty. Dem falschen Vater.
Er stieg aus dem Wagen, konsultierte die Karte. Schaute sich um, als wäre er gerade angekommen. Er hörte den Wasserfall. Man sah ihn vom Dorf aus nicht, aber man hörte ihn. Skizziert von Turner laut Reiseführer. Er schlenderte über ein Stück Wiese, als wollte er zu einem der vielen Fußgängerwege, die das Dorf wie ein Spinnennetz durchzogen. Blieb stehen, tat so, als würde er erneut die Karte studieren, spazierte näher zu den Kindern.
Die größeren Kinder wärmten sich auf, warfen und schossen einander Bälle zu. Ein paar der Älteren trainierten Kopfbälle. Nathan versuchte, einem Mädchen aus der Vorschule einen Ball zuzuschießen. Er stolperte über seine eigenen Füße. Er war zwei Jahre und drei Monate alt. Das Gesicht vor Konzentration verzerrt. Verletzlich. Er hätte ihn mit einer Hand hochheben, zum Discovery zurücklaufen, ihn auf den Rücksitz werfen und davonfahren können, bevor jemand reagiert hätte. Wie lange hätte die Polizei gebraucht? Ewig, genau so lange.
Der Ball rollte auf ihn zu. Er hob ihn auf, grinste Nathan an und sagte: »Ist das dein Ball, Kleiner?« Nathan nickte schüchtern, und er hielt ihm den Ball hin wie einen Köder, lockte ihn zu sich. Sobald er in Reichweite war, gab er ihm mit einer Hand den Ball und fuhr mit der anderen über den Kopf des Jungen, tat so, als wollte er ihm das Haar zerzausen. Der Junge wich zurück, als hätte er sich verbrüht. Das Mädchen aus der Vorschule nahm den Ball und zerrte Nathan an der Hand weg, schaute finster über die Schulter. Mehrere Frauen – Mütter und Lehrerinnen – blickten in seine Richtung, aber er studierte wieder die Karte, heuchelte Gleichgültigkeit für alles, was um ihn herum vor sich ging.
Eine Mutter kam auf ihn zu, ein freundliches, höfliches Lächeln im Gesicht, und sagte: »Kann ich Ihnen helfen?« Tatsächlich meinte sie: »Wenn Sie vorhaben, einem dieser Kinder etwas zu tun, schlage ich Sie mit bloßen Händen zu Brei.«
»Tut mir leid«, sagte er und machte auf charmant. Manchmal überraschte er sich selbst mit seinem Charme. »Ich finde mich nicht zurecht.« Frauen konnten es nie glauben, wenn ein Mann eingestand, dass er sich nicht zurechtfand, und erwärmten sich sofort für ihn. (»Fünfundzwanzig Millionen Spermien sind nötig, um ein Ei zu befruchten«, hatte seine Frau gesagt, »weil nur eins nach der Richtung fragt.«)
Er zuckte ratlos die Achseln. »Ich suche den Wasserfall.«
»Der ist dort«, sagte die Frau und deutete hinter ihn.
»Ah«, sagte er, »ich glaube, ich habe die Karte falsch herum gehalten. Vielen Dank«, fügte er hinzu und marschierte den Weg zum Wasserfall entlang, bevor sie noch etwas sagen konnte. Er musste sich zehn Minuten geben. Es wäre zu verdächtig, wenn er geradewegs zum Discovery zurückkehrte.
Am Wasserfall war es hübsch. Kalkstein und Moos. Die Bäume waren schwarz und skelettartig, und das Wasser, braun und moorig, sah nach Hochwasser aus, aber vielleicht tat es das immer. In der Gegend nannten sie den Wasserfall eine »Kraft«, und das war ein gutes Wort dafür. Eine unaufhaltsame Kraft. Wasser fand immer einen Weg, letzten Endes war es stärker als alles andere. Papier, Schere, Stein, Wasser. Möge die Kraft mit dir sein. Er schaute erneut auf seine teure Uhr. Er wünschte, er würde noch rauchen. Er hätte auch nichts gegen einen Drink. Wenn man nicht rauchte und trank, dann konnten zehn tatenlose Minuten an einem Wasserfall wirklich lang werden, weil man mit seinen Gedanken allein war.
Er kramte in seiner Tasche nach der mitgebrachten Plastiktüte. Vorsichtig ließ er die Haare hineingleiten, verschloss sie mit einer Büroklammer und steckte sie in seine Jackentasche. Er hatte die hauchdünnen schwarzen Fasern, die er dem Jungen ausgerissen hatte, bislang fest in der Hand gehalten. Aufgabe erledigt.
Zehn Minuten waren vorbei. Er kehrte rasch zum schmutzbespritzten Discovery zurück. Unter normalen Umständen wäre er in einer Stunde in Northallerton und säße dann wieder im Zug nach London. Er entledigte sich der OS-Karte, legte sie auf eine Bank, ein unvorhergesehenes Geschenk für jemanden, der glaubte, dass Wandern die richtige Fortbewegungsart war. Dann stieg Jackson Brodie in seinen Wagen und ließ den Motor an. Es gab nur einen Ort, an dem er sein wollte. Zu Hause. Nichts wie weg hier.
Leben und Abenteuer von Reggie Chase
unter Einbeziehung einer wahrhaftigen Schilderung von Glücksfällen und Missgeschicken, Aufstieg und Fall und dem vollständigen Werdegang der Familie Chase
Reggie löffelte dem Baby Gemüsebrei in den Mund. Nur gut, dass das Baby in seinem Hochstuhl festgeschnallt war, denn es streckte immer wieder Arme und Beine und versuchte, sich in die Luft zu stürzen wie ein selbstmörderischer Seestern. »Unkontrollierbare Freude«, hatte Dr. Hunter Reggie erklärt. Dr. Hunter lachte. »Essen macht ihn sehr glücklich.« Das Baby war nicht wählerisch, der Gemüsebrei (»Süßkartoffel und Avocado«) roch wie alte Socken und sah aus wie Hundedurchfall. Das Baby bekam nur Bionahrung, von Dr. Hunter selbst gekocht, püriert und in kleinen Plastikbehältern eingefroren, sodass Reggie es in der Mikrowelle nur auftauen und warm machen musste. Das Baby war gerade ein Jahr alt, und Dr. Hunter stillte es noch, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. »So viele langfristige Vorteile für seine Gesundheit«, sagte sie. »Dafür sind Brüste da«, fügte sie hinzu, als Reggie verlegen den Blick abwandte. Das Baby hieß Gabriel. »Mein Engel«, sagte Dr. Hunter.
Reggie war jetzt seit einem halben Jahr Dr. Hunters »Haushaltshilfe«. Sie hatten sich beim sogenannten Vorstellungsgespräch auf diese altmodische Ausdrucksweise geeinigt, weil beide das Wort »Kindermädchen« nicht mochten. »Klingt zickig«, sagte Reggie. »Ich hatte mal ein Kindermädchen«, sagte Dr. Hunter. »Sie war absolut grauenhaft.«
Reggie war sechzehn und hätte als zwölf durchgehen können. Wenn sie die Monatskarte für den Bus vergaß, ließ man sie mit einer Kinderkarte einsteigen. Niemand fragte nach, niemand überprüfte, niemand beachtete Reggie. Manchmal fragte sie sich, ob sie unsichtbar war. Es war ganz einfach, durch die Maschen zu fallen, vor allem, wenn man klein war.
Als ihre Monatskarte ablief, bot Billy sich an, ihr eine neue zu machen. Er hatte ihr bereits einen Ausweis gemacht. »Damit du in Kneipen gehen kannst«, sagte er, aber Reggie ging nie in Kneipen. Zum einen hatte sie niemanden, der mit ihr gegangen wäre, zum anderen hätte niemand den gefälschten Ausweis ernst genommen. Erst letzte Woche, als sie am Sonntag in Mr Hussains Laden die Frühschicht übernommen hatte, sagte eine Frau zu ihr, dass sie zu jung sei, um Make-up zu tragen. Reggie hätte am liebsten erwidert: »Und Sie sind zu alt«, aber im Gegensatz zu offenbar allen anderen auf der Welt behielt sie ihre Ansichten lieber für sich.
Reggie lief herum und sagte »Ich bin sechzehn« zu Leuten, die ihr nicht glaubten. Das Blöde war, dass sie innerlich hundert Jahre alt war. Und außerdem wollte Reggie nicht in Kneipen gehen, sie begriff nicht, wozu Alkohol oder Drogen gut sein sollten. Die Leute hatten sowieso schon zu wenig Kontrolle über ihr Leben. Reggie dachte an Mum und den Mann-der-vor-Gary-kam, wie sie sich billigen Weißwein von Lidl hinter die Binde kippten und »ihre Hemmungen ablegten«, wie der Mann-der-vor-Gary-kam es nannte. Gary hatte zwei große Vorteile gegenüber dem Mann-der-vor-ihm-kam – erstens, er war nicht verheiratet, und zweitens, er gaffte Reggie nicht jedes Mal lüstern an, wenn er sie sah. Wenn Mum Gary nicht kennengelernt hätte, würde sie jetzt – Reggie schaute auf ihre Uhr – Barcodes einscannen und sich auf die Nachmittagspause freuen (Tee, Twix und eine Fluppe, Liebes).
»Willst du ein Handy?«, fragte Billy sie immer wieder und nahm zwei oder drei aus der Tasche. »Was für eins willst du – Nokia, Samsung?« Es war zwecklos, Billys Handys funktionierten nie länger als eine Woche. Es schien ihr in jeder Beziehung sicherer, bei ihrem Virgin-Prepaid zu bleiben. Reggie gefiel es, wie Richard Branson »Virgin« zu einer riesigen globalen Marke aufgebaut hatte, so wie die Katholiken Jesus’ Mutter. Sie sah das Wort gern dort draußen. Reggie wäre zufrieden, als Jungfrau zu sterben. Die Königin der Jungfrauen, Virgo Regina. Eine vestalische Jungfrau. Ms MacDonald behauptete, dass vestalische Jungfrauen, die »ihre sexuelle Unschuld verloren«, lebendig begraben wurden. Das vestalische Feuer verlöschen zu lassen, war ein Zeichen der Unreinheit, was ziemlich hart schien. Wie neurotisch wurde man deswegen? Vor allem zu einer Zeit, als es noch keine Feuerzeuge gab.
Sie hatten gemeinsam unvorbereitet ein paar Briefe von Plinius übersetzt. »Plinius der Jüngere«, betonte Ms MacDonald immer, als wäre es von entscheidender Bedeutung, dass man die Pliniusse auseinanderhalten konnte, obwohl es wahrscheinlich kaum mehr jemanden auf Erden gab, dem es nicht scheißegal war, wer der Jüngere und wer der Ältere war. Dem sie nicht überhaupt scheißegal waren, Punkt.
Dennoch, es war gut zu wissen, dass Billy etwas für sie tun wollte, auch wenn es fast immer etwas Ungesetzliches war. Den Ausweis hatte sie angenommen, weil er praktisch war, wenn wieder einmal niemand glaubte, dass sie sechzehn war, aber die Buskarte hatte sie abgelehnt. Man wusste nie, es konnte der erste Schritt einen rutschigen Abhang hinunter sein, der womöglich zu etwas viel Schlimmerem führte. Billy hatte damit angefangen, Bonbons in Mr Hussains Laden zu stibitzen, und man sehe ihn sich jetzt an, nahezu ein Berufsverbrecher.
»Hast du Erfahrung mit Kindern, Reggie?«, hatte Dr. Hunter sie bei dem sogenannten Vorstellungsgespräch gefragt.
»Ach, jede Menge. Wirklich. Jede Menge«, erwiderte Reggie, nickte und lächelte Dr. Hunter aufmunternd zu, die nicht viel Erfahrung mit Vorstellungsgesprächen zu haben schien. »Jede Menge, ich schwör’s.«
Reggie hätte sich selbst nicht eingestellt. Sechzehn und keinerlei Erfahrung mit Kindern, aber großartige Zeugnisse, was ihren Charakter betraf, von Mr Hussain und Ms MacDonald und einen Brief von Mums Freundin Trish, die schilderte, wie gut sie mit Kindern umgehen konnte, basierend auf der Tatsache, dass sie als Gegenleistung für ein Abendessen ein Jahr lang jeden Montagabend mit Grant, Trishs Deppen von Ältestem, verbracht und versucht hatte, ihn durch den Hauptschulabschluss in Mathe zu schleusen (ein hoffnungsloser Fall, so es je einen gab).
Reggie war noch nie zuvor einem einjährigen oder einem anderen Kleinkind nahegekommen, aber was gab es da schon zu wissen? Sie waren klein, sie waren hilflos, sie waren verwirrt, alles Eigenschaften, mit denen sich Reggie mühelos identifizieren konnte. Und es war noch nicht lange her, dass sie selbst ein Kind gewesen war, obwohl sie laut einer Wahrsagerin eine »alte Seele« hatte. Der Körper eines Kindes mit dem Verstand einer alten Frau. Alt vor der Zeit. Nicht, dass sie an Wahrsagerinnen glaubte. Die Wahrsagerin, die ihr von ihrer alten Seele erzählt hatte, lebte in einem neuen Haus mit Blick auf die Pentlands und hieß Sandra. Reggie hatte sie auf dem Polterabend für eine von Mums Freundinnen kennengelernt, die eine weitere katastrophale Ehe eingehen wollte, und Reggie war wie immer mitgegangen wie ein Maskottchen. So war es, wenn man keine eigenen Freundinnen hatte, dein Sozialleben bestand aus Ausflügen zu Wahrsagerinnen, Bingohallen und Konzerten von Daniel O’Donnell (»Pass the Revels along to Reggie«). Kein Wunder, dass sie eine alte Seele hatte. Auch jetzt, da Mum nicht mehr da war, riefen ihre Freundinnen sie noch an. »Wir fahren nach Glasgow zum Einkaufen, Reggie, willst du mitkommen?« Oder: »Hast du Lust, Blutsbrüder im Playhouse zu sehen?« Nein und nein. Das Fest ist nun zu Ende. Ha.
An der wahrsagenden Sandra war nichts Überirdisches gewesen. Eine füllige Anwaltssekretärin in den Fünfzigern mit einer rosaroten Strickjacke mit Schalkragen, zusammengehalten von einer Gemme aus Koralle. Die Toilettenartikel in ihrem Bad stammten alle aus der Reihe »Gardenie« von Crabtree and Evelyn, genau zweieinhalb Zentimeter vom Rand des Regals aufgereiht, als stünden sie noch immer zur Ansicht im Geschäft.
»Dein Leben wird sich verändern«, sagte Sandra zu Mum. Sie täuschte sich nicht.
Auch jetzt glaubte Reggie noch manchmal, den eklig süßen Duft der Gardenien zu riechen.
Dr. Hunter war Engländerin, hatte jedoch in Edinburgh Medizin studiert und die Grenze nach Süden nie wieder überschritten. Sie arbeitete vormittags ab halb neun als Allgemeinärztin in einer Praxis in Liberton, weswegen Mr Hunter die »Frühschicht« mit dem Baby übernahm. Reggie kam um zehn und blieb, bis Dr. Hunter um zwei nach Hause zurückkehrte (meistens war es fast schon drei. »Ich arbeite Teilzeit, es fühlt sich aber an wie Vollzeit«, sagte Dr. Hunter und seufzte), und Reggie blieb bis um fünf, und das war die beste Zeit des Tages, weil sie mit Dr. Hunter zusammen war.
Die Hunters hatten einen 40-Zoll-Flachbildschirm, auf dem sie Balamory-DVDs mit dem Baby anschaute, obwohl es schon bei der Erkennungsmelodie einschlief, auf dem Sofa an Reggie gekuschelt wie ein Äffchen. Sie war erstaunt, dass Dr. Hunter es fernsehen ließ, aber Dr. Hunter sagte: »Ach, warum nicht? Hin und wieder, was kann es schaden?« Reggie meinte, dass es nichts Schöneres gab als ein Baby, das auf einem einschlief, außer vielleicht einem Kätzchen oder einem Welpen. Sie hatte einen Welpen gehabt, aber ihr Bruder hatte ihn aus dem Fenster geworfen. »Ich glaube nicht, dass er es mit Absicht getan hat«, sagte Mum, aber es war nicht gerade etwas, was man aus Versehen tat, und das wusste Mum. Und Reggie wusste, dass Mum es wusste. Mum sagte immer: »Billy ist eine Plage, aber er ist unsere Plage. Blut ist dicker als Wasser.« Und auch wesentlich klebriger. Der Tag, an dem der Welpe durch das Fenster flog, war der zweitschlimmste Tag in Reggies bisherigem Leben. Der Tag, an dem sie von Mum erfuhr, war der schlimmste. Klar.
Dr. und Mr Hunter wohnten in einer wirklich hübschen Gegend von Edinburgh mit Blick auf Blackford Hill, in jeder Beziehung weit entfernt von der Schuhschachtel im dritten Stock in Gorgie, in der Reggie jetzt, da Mum nicht mehr da war, allein wohnte. Zwei Busfahrten, aber das machte Reggie nichts aus. Sie saß immer oben und schaute in die Häuser anderer Leute und fragte sich, wie es wäre, darin zu leben. Zurzeit kam noch der zusätzliche Bonus hinzu, durch die Fenster die ersten Weihnachtsbäume zu entdecken. (Dr. Hunter sagte immer, dass die einfachen Freuden die besten waren, und sie hatte recht.) Außerdem konnte sie Hausaufgaben machen. Sie ging nicht mehr in die Schule, aber sie lernte weiterhin nach dem Lehrplan. Englische Literatur, Altgriechisch, Geschichte des Altertums, Latein. Alles, was tot war. Manchmal stellte sie sich vor, Mum würde Latein sprechen (Salve, Regina), was unwahrscheinlich war, um es vorsichtig auszudrücken.
Da sie keinen Computer besaß, bedeutete das natürlich, dass Reggie viel Zeit in den öffentlichen Bibliotheken und in Internetcafés verbringen musste, aber das war in Ordnung, weil im Internetcafé niemand »Regina reimt sich auf Vagina« zu ihr sagte, im Gegensatz zu der schrecklichen piekfeinen Schule, in die sie gegangen war. Bis er seinen letzten Atemzug tat, durfte Reggie Ms MacDonalds uralten Dinosaurier von einem Hewlett-Packard benutzen. Er war zu Anbeginn der Zeit gekauft worden – Windows 98 und ein analoger AOL-Internetzugang –, und sich einwählen war eine schwere Übung in Geduld.
Reggie selbst hatte eine kurze Zeit ein MacBook besessen, mit dem Billy letztes Weihnachten aufgetaucht war. Ausgeschlossen, dass er es in einem Laden gekauft hatte, das Konzept des Einzelhandels war Billy fremd. Sie hatte darauf bestanden, dass er Weihnachten mit ihr verbrachte (»unser erstes Weihnachten ohne Mum«). Sie machte einen Truthahn mit allem Drum und Dran, flambierte sogar den Nachtisch mit Brandy, aber Billy hielt nur bis zur Rede der Queen durch, dann sagte er, er müsse irgendwohin gehen und was erledigen, und Reggie sagte: »Was? Was musst du an Weihnachten erledigen?«, und er zuckte die Schultern und sagte: »Dies und das.« Reggie verbrachte den Rest des Tages mit Mr Hussain und seiner Familie, die ein erstaunlich viktorianisches Weihnachten feierten. Einen Monat später kam Billy in die Wohnung, als Reggie nicht da war, und nahm das MacBook mit, weil er offensichtlich auch das Konzept des Schenkens nicht verstand.
Und, seien wir ehrlich, Bibliotheken und Internetcafés waren besser als Reggies leere Wohnung. »Ah, ein sauberes, gut beleuchtetes Café«, sagte Ms MacDonald. Das war der Titel der Erzählung von Hemingway, die sie für Ms MacDonald lesen musste (»Ein grundlegender Text«, brummte sie zornig), obwohl Hemingway für das Abitur nicht vorgeschrieben war. Wäre es nicht besser, protestierte Reggie, wenn sie etwas Vorgeschriebenes lesen würde? »Msss MacDonald«, wie sie stets betonte, und dabei klang sie wie eine wütende Wespe (was eine ziemlich treffende Definition ihres Charakters war).
Ms MacDonald war ganz versessen darauf, »um das Thema herumzulesen«. (»Willst du eine gute Ausbildung oder nicht?«) Ja, meistens schien sie versessener auf das Herumlesen als auf das Thema selbst. Ms MacDonalds Vorstellung vom Herumlesen um das Thema war etwa so, als wollte man ein Flugzeug erwischen und gleichzeitig schauen, wie weit man sich davon entfernen konnte. Das Leben war zu kurz dafür, wollte Reggie protestieren, nur war das wahrscheinlich kein gutes Argument gegen den Standpunkt einer sterbenden Frau. Reggie hatte sich bei den vorgeschriebenen Texten für Große Erwartungen und Mrs Dalloway entschieden und meinte, genug damit zu tun zu haben, um die Themen Dickens und Virginia Woolf herumzulesen (das hieß ihr gesamtes »Œuvre« lesen, wie Ms MacDonald es beharrlich nannte), einschließlich der Briefe, Tagebücher und Biographien, ohne sich von Hemingways Erzählungen ablenken zu lassen. Aber Widerstand war zwecklos.
Ms MacDonald hatte Reggie nahezu alle Romane von Dickens geliehen, und den Rest kaufte sie in den Läden von Wohlfahrtseinrichtungen. Reggie mochte Dickens, in seinen Büchern wimmelte es von tapferen, allein gelassenen Waisen, die sich einen Platz in der Welt erkämpften. Reggie kannte diesen Kampf nur zu gut. Sie nahmen auch Was ihr wollt durch. Reggie und Viola, Waisen des Sturms.
Ms MacDonald war Altphilologin und Reggies Lehrerin in der schrecklichen piekfeinen Schule gewesen, in die sie einst ging, und versuchte jetzt, Reggie auf das Abitur vorzubereiten. Ms MacDonalds Qualifikation, Reggie in englischer Literatur zu unterrichten, basierte auf Ms MacDonalds Behauptung, alle Bücher gelesen zu haben, die jemals geschrieben worden waren. Reggie zweifelte diese Behauptung nicht an, die Beweise lagen überall in Ms MacDonalds kriminell unordentlicher Wohnung herum. Sie hätte eine Zweigstelle der Bibliothek eröffnen (oder das Haus spektakulär in Flammen aufgehen lassen) können, so viele Bücher stapelten sich hier. Sie besaß zudem ein Exemplar aller Loeb-Klassiker, die je veröffentlicht worden waren, rot für Latein, grün für Griechisch, Hunderte davon in ihrem Bücherregal. Oden und Epoden, Eklogen und Epigramme. Alles.
Reggie fragte sich, was aus den schönen Loebs werden würde, wenn Ms MacDonald starb. Vermutlich war es nicht sehr höflich, darum zu bitten.
Der Unterricht war nicht wirklich umsonst, weil Reggie ständig für Ms MacDonald Botengänge erledigte, ihre Medikamente holte und für sie Strumpfhosen bei British Home Stores, Handcreme bei Boots und »diese kleinen Schweinefleischpasteten bei Marks and Spencer« kaufte. Sie war sehr eigen, wenn es darum ging, in welchen Geschäften man was kaufte. Reggie war der Meinung, dass eine Person vor den Toren des Todes nicht allzu zimperlich sein sollte, wenn es um die Herkunft ihrer Schweinefleischpasteten ging. Mit ein wenig Anstrengung hätte Ms MacDonald diese Sachen auch selbst besorgen können, da sie noch immer mit ihrem Auto unterwegs war, einem blauen Saxo, den sie fuhr wie ein leicht erregbarer, kurzsichtiger Schimpanse, beschleunigte, wenn sie hätte bremsen sollen, bremste, wenn sie hätte beschleunigen sollen, langsam auf der Überholspur, schnell auf der linken Spur, wie jemand an einem Simulator in einer Spielhalle und nicht auf einer richtigen Straße.
Reggie ging nicht mehr in die schreckliche piekfeine Schule, weil sie sich dort wie eine Maus in einem Haus voller Katzen gefühlt hatte. Einzigartige Zusatzangebote, Ausflüge und Schulspeisung. Sie hatte mit zwölf ein Stipendium gewonnen, aber es war keine Schule, in der eine Person, die teilweise von einem anderen Planeten stammte, ankam mit nichts als ihrem Grips als Empfehlung. Eine Person, die nie die richtigen Teile der Uniform trug, die nie die richtige Sportkleidung hatte (die im Sport auf ganzer Linie versagte, richtige Kleidung oder nicht), die die geheime Sprache und die Hierarchien der Schule nicht verstand. Ganz zu schweigen von einer Person, die einen älteren Bruder hatte, der bisweilen vor dem Schultor herumhing und die Mädchen mit den gut geschnittenen Frisuren und netten Familien angaffte. Reggie wusste, dass Billy manchen Jungen (nette Familien, guter Haarschnitt et cetera) Drogen verkaufte, Jungen, denen zwar beschieden war, dem spiralförmig in ihren Adern verankerten genetischen Code zu folgen und Anwälte in Edinburgh zu werden, die aber nichtsdestowenier Freizeitdrogen von Reggie Chases Wicht von einem Bruder erwarben. Er war genauso alt wie die anderen Jungen, aber in jeder Beziehung anders.
Von den Schulgebühren hätte man jedes Jahr zwei wirklich gute Autos kaufen können, ihr Stipendium deckte nur ein Viertel davon ab, den Rest zahlte die Armee. »Späte Schuldgefühle«, sagte Mum. Leider gab es niemanden, der für die Zusatzangebote aufkam, die Uniformteile, die ihr ständig fehlten, die Bücher, die Schulausflüge, den guten Haarschnitt. Reggies Vater war Soldat bei den Royal Scots gewesen, aber Reggie kannte ihn nicht. Ihre Mutter war im sechsten Monat schwanger, als er während des Golfkriegs umkam, irrtümlich erschossen von den eigenen Streitkräften, »friendly fire«. Die meisten Menschen waren aus dem Bauch heraus, wenn sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit Ironie machten, sagte Reggie zu Ms MacDonald.
»Das ist Geschichte«, sagte Ms MacDonald.
»Das sind wir alle, Ms Mac.«
Sowohl Mum als auch Reggie hatten immer Jobs. Mum arbeitete im Supermarkt und bügelte für ein paar Frühstückspensionen, und Reggie arbeitete jeden Sonntagmorgen in Mr Hussains Laden. Schon bevor sie von der Schule ging, hatte Reggie immer gearbeitet, morgens Zeitungen ausgetragen, irgendwelche Samstagsjobs und so weiter. Sie brachte ihr Geld auf die Sparkasse, kalkulierte bis zum letzten Penny für Miete und Rechnungen, ihr Prepaid-Handy und ihre Topshopkarte. »Deine Versuche häuslicher Sparsamkeit sind lobenswert«, sagte Ms MacDonald. »Eine Frau sollte mit Geld umgehen können.«
Mum war aus Blairgowrie, und nach der Schule hatte sie als Erstes in einer Hühnerfabrik gearbeitet, ein Fließband mit gänsehäutigen Kadavern überwacht, die in brühend heißes Wasser getaucht wurden. Das hatte für Mum den Maßstab gesetzt, und was immer sie danach tat, sie sagte stets: »Es ist nicht so schlimm wie in der Hühnerfabrik.« Reggie glaubte, dass die Hühnerfabrik ziemlich schlimm gewesen sein musste, denn Mum hatte ein paar grauenhafte Jobs gehabt. Mum liebte Fleisch – Schinkensandwichs, Hackfleisch und Bouletten, Würstchen und Schnitzel –, aber Reggie sah sie kein einziges Mal Huhn essen, auch nicht, als der Mann-der-vor-Gary-kam Essen von KFC mitbrachte, und der Mann-der-vor-Gary-kam brachte Mum dazu, so gut wie alles zu tun. Aber nicht dazu, Huhn zu essen.
Trotz der guten Bildungsaussichten – eine hervorragende Mittlere Reife – war es eine große Erleichterung für Reggie, als sie einen Brief von Mum fälschte und schrieb, dass sie nach Australien zögen und Reggie nach den Sommerferien nicht mehr in die schreckliche piekfeine Schule zurückkehren würde.
Mum war so stolz gewesen, als Reggie das Stipendium erhielt (»Das Kind ist ein Genie! Mein Kind!«), aber nachdem sie nicht mehr da war, schien es sinnlos, und es war schlimm genug, morgens in die Schule zu gehen, wenn niemand »Auf Wiedersehen« sagte, aber in eine leere Wohnung zurückzukehren, in der niemand »Hallo« sagte, war noch schlimmer. Wer hätte gedacht, dass drei kleine Worte so wichtig sein konnten. Ave atque vale.
Auch Ms MacDonald ging nicht mehr in die schreckliche piekfeine Schule, weil in ihrem Gehirn ein Tumor wuchs wie ein Pilz.
Sie wollte ja nicht egoistisch sein, aber Reggie hoffte, dass Ms MacDonald sie durch das Abitur brachte, bevor der Tumor ihr Gehirn vollständig auffraß. NADA unser, der du bist im NADA, sagte Ms MacDonald. Sie war wirklich verbittert. Von einer sterbenden Person war zu erwarten, dass sie etwas gereizt war, aber Ms MacDonald war schon immer so gewesen, die Krankheit hatte sie nicht netter werden lassen, und obwohl sie jetzt religiös war, mangelte es ihr an christlicher Barmherzigkeit. Sie konnte in einzelnen Dingen freundlich sein, aber nie im Allgemeinen. Mum war zu allen nett gewesen, das hatte einen mit ihr versöhnt, auch wenn sie sich dumm verhielt – mit dem Mann-der-vor-Gary-kam oder mit Gary selbst –, sie vergaß nie, nett zu sein. Aber auch Ms MacDonald hatte etwas Versöhnliches – sie war gut zu Reggie, und sie liebte ihren kleinen Hund, und diese zwei Dinge bedeuteten eine Menge für Reggie.
Reggie meinte, dass Ms MacDonald sich glücklich schätzen konnte, weil sie viel Zeit hatte, um sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass sie starb. Reggie gefiel die Vorstellung nicht, dass man so vergnügt, wie man nur sein konnte, herumlief und im nächsten Augenblick einfach nicht mehr existierte. Aus einem Zimmer gehen, in ein Taxi laufen.
In das kühle blaue Wasser eines Pools springen und nie wieder auftauchen. Nada y pues nada.
»Haben Sie mit vielen Mädchen wegen dieses Jobs gesprochen?«, fragte Reggie Dr. Hunter, und sie sagte: »Mit jeder Menge«, und Reggie sagte: »Sie sind eine schlechte Lügnerin, Dr. H.«, und Dr. Hunter wurde rot und lachte und sagte: »Das stimmt. Ich weiß. Ich kann nicht einmal Lügen spielen. Aber was dich angeht, hatte ich ein gutes Gefühl«, fügte sie hinzu, und Reggie sagte: »Seinen Gefühlen soll man immer trauen, Dr. H.« Das glaubte Reggie nicht wirklich, weil ihre Mutter ihren Gefühlen gefolgt war, als sie mit Gary in den Urlaub fuhr, und man schaue sich nur an, was dann passiert war. Und Billys Gefühle führten ihn nur selten an einen guten Ort. Er mochte ein Wicht sein, aber er war ein böser Wicht.
»Sag Jo zu mir«, sagte Dr. Hunter.
Dr. Hunter sagte, dass sie eigentlich nicht wieder hatte arbeiten wollen, und wenn es nach ihr ginge, würde sie das Haus nie verlassen.
Reggie fragte, warum es nicht nach ihr ging. Also, »Neils« Geschäfte steckten »in der Bredouille«, erklärte Dr. Hunter. (Er war »im Stich« gelassen worden, und »etwas hatte nicht geklappt«.) Wann immer sie über Mr Hunters großes Geschäft sprach, kniff Dr. Hunter angestrengt die Augen zusammen, als versuchte sie, die Einzelheiten von etwas weit Entferntem zu erkennen.
Wenn sie in der Praxis war, rief Dr. Hunter ständig zu Hause an, um sich zu vergewissern, dass es dem Baby gut ging. Dr. Hunter sprach gern mit ihm, und sie führte lange einseitige Gespräche, während es versuchte, das Telefon zu essen. Reggie hörte, wie Dr. Hunter sagte: »Hallo, Goldschatz, hast du einen schönen Tag?«, und: »Mummy kommt bald nach Hause, sei lieb zu Reggie.« Oder sie rezitierte Gedichtzeilen und Kinderreime, sie schien Hunderte zu kennen und platzte plötzlich mit »Diddle, diddle, Dickerchen, mein Sohn John« oder »Georgie Porgie Pudding und Pastete« heraus. Sie wusste sehr viel sehr Englisches, das Reggie fremd war, die mit »Katie Bairdie hatte eine Kuh« und »Ein nettes kleines Mädel, ein fröhliches kleines Mädel war die hübsche kleine Jeannie McCall« aufgewachsen war.
Schlief das Baby, wenn sie anrief, bat Dr. Hunter Reggie, den Hund ans Telefon zu holen. (»Ich habe vergessen, etwas zu erwähnen«, sagte Dr. Hunter am Ende des »Vorstellungsgesprächs«, und Reggie dachte, oje, das Baby hat zwei Köpfe, das Haus steht am Rand einer Klippe, ihr Mann ist ein Verrückter, aber Dr. Hunter sagte: »Wir haben einen Hund. Magst du Hunde?« – »Total. Ich liebe Hunde. Wirklich. Ich schwör’s.«)
Obwohl der Hund nicht sprechen konnte, schien er das Konzept des Telefonierens besser zu verstehen als das Baby (»Hallo, Mäuschen, wie geht’s meinem prächtigen Mädchen?«), und er horchte aufmerksam auf Dr. Hunters Stimme, während Reggie ihm das Telefon ans Ohr hielt.
Reggie war beunruhigt, als sie Sadie zum ersten Mal begegnete – einer riesigen Schäferhündin, die aussah, als sollte sie eine Baustelle bewachen. »Neil hat sich Sorgen gemacht, wie der Hund reagieren würde, wenn das Baby da wäre«, sagte Dr. Hunter. »Aber ich würde ihr mein Leben anvertrauen und das Leben des Babys. Ich kenne Sadie länger als sonst irgendjemand außer Neil. Als Kind hatte ich einen Hund, aber er ist gestorben, und mein Vater wollte keinen mehr. Jetzt ist er auch tot, da sieht man mal wieder.«
Reggie wusste nicht, was man mal wieder sah. »Tut mir leid«, sagte Reggie. »Dass er tot ist.« Das sagte man in Fernsehkrimis. Sie meinte den toten Hund, aber Dr. Hunter glaubte, dass sie ihren Vater meinte. »Dazu besteht kein Grund«, sagte sie. »Er hat sich vor langer Zeit selbst überlebt. Sag Jo zu mir.« Dr. Hunter mochte Hunde. »Laika«, sagte sie. »Der erste Hund im Weltraum. Sie ist nach ein paar Stunden an Hitze und Stress gestorben. Sie wurde aus einem Tierheim geholt und muss geglaubt haben, dass sie in ein neues Zuhause gebracht würde, zu einer Familie, aber stattdessen haben sie sie in den einsamsten Tod auf der Welt geschickt. Wie traurig.«
Dr. Hunters Vater lebte halbwegs in seinen Büchern fort – er war Schriftsteller gewesen –, und Dr. Hunter sagte, dass er früher sehr in Mode gewesen war (»Berühmt zu seiner Zeit«, sagte sie und lachte), aber seine Bücher »hatten die Zeit nicht überdauert«. »Mehr ist nicht mehr von ihm übrig«, sagte sie und blätterte in einem muffigen Buch mit dem Titel Der Ladenbesitzer. »Von meiner Mutter ist überhaupt nichts übrig«, sagte Dr. Hunter. »Manchmal denke ich, dass es nett wäre, eine Bürste oder einen Kamm zu haben, einen Gegenstand, den sie jeden Tag berührt hat, der Teil ihres Lebens war. Aber alles ist weg. Halte nichts für selbstverständlich, Reggie.«
»Keine Angst, Dr. H.«
»Man schaut einen Augenblick lang nicht hin, und es ist weg.«
»Ich weiß, glauben Sie mir.«
Dr. Hunter hatte die Bücher ihres Vaters in einem wackligen Stapel in eine Ecke des kleinen fensterlosen Abstellraums im oberen Stock verbannt. Eigentlich war es ein großer Schrank und »überhaupt kein Zimmer«, sagte Dr. Hunter, obwohl es größer war als Reggies Zimmer in Gorgie. Dr. Hunter nannte es »Rumpelkammer«, und es war voller Dinge, mit denen niemand etwas anfangen konnte – ein einzelner Ski, ein Hockeyschläger, ein altes Federbett, ein kaputter Drucker, ein tragbarer Fernseher, der nicht mehr funktionierte (Reggie hatte es ausprobiert) und eine Menge Nippes, die entweder Weihnachts- oder Hochzeitsgeschenke waren. »Quelle horreur!«, sagte Dr. Hunter, wenn sie gelegentlich den Kopf in die Kammer steckte. »Manches von dem Zeug ist wirklich schauderhaft«, sagte sie zu Reggie. Schauderhaft oder nicht, sie konnte es nicht wegwerfen, weil es Geschenke waren, und »Geschenke müssen in Ehren gehalten werden«.
»Außer trojanischen Pferden«, sagte Reggie.
»Andererseits schaut man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul«, sagte Dr. Hunter.
»Vielleicht sollte man das manchmal«, sagte Reggie.
»Timeo Danaos et dona ferentes«, sagte Dr. Hunter.
»Total.«
Sie wurden nicht auf ewig in Ehren gehalten, wie Reggie bemerkte, weil Dr. Hunter jedes Mal, wenn die Plastiktüte einer Wohlfahrtsorganisation durch den Briefschlitz fiel, diese mit Dingen aus der Rumpelkammer füllte und – mit schlechtem Gewissen – vor die Tür stellte. »Gleichgültig, wie viel ich weggebe, es wird nicht weniger«, sagte sie und seufzte.
»Ein Naturgesetz«, sagte Reggie.
Der Rest des Hauses war sehr ordentlich und mit geschmackvollen Dingen eingerichtet – Teppiche und Lampen und Ziergegenstände. Eine andere Art Ziergegenstände als Mums Sammlung von Fingerhüten und Miniaturteekännchen, die trotz ihrer Größe wertvollen Raum in der Wohnung in Gorgie einnahmen.
Das Haus der Hunters war viktorianisch, und es war zwar mit allem modernen Komfort ausgestattet, doch alle originalen Kamine und Türen und Stuckleisten waren noch vorhanden, was laut Dr. Hunter ein Wunder war. In der Haustür befanden sich farbige Glaspaneele, rote Sternenexplosionen, blaue Schneeflocken und gelbe Rosetten, die Prismen aus Farbe warfen, wenn die Sonne durchschien. Es gab sogar einen vollständigen Satz Glocken, um Dienstboten zu rufen, und eine Hintertreppe, damit die Dienstboten ungesehen herumwuseln konnten. »Das waren Zeiten«, sagte Mr Hunter und lachte, als er erklärte, dass er, hätte er gelebt, als das Haus gebaut wurde, Feuer gemacht und Stiefel geputzt hätte. »Und du wahrscheinlich auch, Reggie«, während »Joanna oben majestätisch herumschweben würde wie was Besseres«, weil ihre Familie Geld hatte.
»Alles weg«, sagte Dr. Hunter, als Reggie sie fragend ansah.
»Leider«, sagte Mr Hunter.
»Schlechte Investitionen, Rechnungen vom Pflegeheim, verschwendet für Nichtigkeiten«, sagte Dr. Hunter, als wären der Erwerb und das Ausgeben von Geld bedeutungslos. »Mein Großvater war reich, aber verschwenderisch, allem Anschein nach«, sagte sie.
»Und wir sind arm, aber ehrlich«, sagte Mr Hunter.
»Allem Anschein nach«, sagte Dr. Hunter.
Doch eines Tages gab Dr. Hunter zu, dass etwas Geld übrig geblieben war und sie damit »dieses sehr, sehr teure Haus« gekauft hatte. »Eine Investition«, sagte Mr Hunter. »Ein Zuhause«, sagte Dr. Hunter.
Die Küche war Reggies Lieblingsraum. Reggies ganze Wohnung in Gorgie hätte hineingepasst, und es wäre noch immer Platz gewesen, um ein paar Elefanten zu schaukeln, wenn einem danach war. Überraschenderweise kochte Mr Hunter gern und veranstaltete dabei immer ein Chaos in der Küche. »Meine kreative Seite«, sagte er. »Frauen kochen, weil die Menschen essen müssen«, sagte Dr. Hunter. »Männer kochen, um anzugeben.«
Es gab sogar eine Speisekammer, ein kalter Raum mit Steinboden und Regalen aus Stein und einer Holztür aus Paneelen mit ausgesägten Herzen. Dr. Hunter bewahrte Käse, Eier und Schinken sowie Dosen und Vorräte darin auf. »Ich sollte Marmelade einkochen«, sagte sie schuldbewusst im Sommer. »Eine Speisekammer wie diese schreit nach hausgemachter Marmelade.«
Jetzt, kurz vor Weihnachten, sagte sie: »Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich keine Plätzchen gebacken habe. Oder einen Weihnachtskuchen. Oder einen Plumpudding. Die Speisekammer schreit nach einem Plumpudding, eingewickelt in ein Tuch und voller silberner Sixpence und Amulette.« Reggie fragte, ob Dr. Hunter dabei die Weihnachten ihrer Kindheit im Sinn hatte, aber Dr. Hunter sagte: »Um Gottes willen, nein.«
Reggie fand nicht, dass die Speisekammer nach irgendetwas schrie, außer vielleicht nach Aufräumen. Mr Hunter wühlte dort immer herum, suchte nach Zutaten und brachte Dr. Hunters ordentliche Dosen- und Gläserreihen durcheinander.
Dr. Hunter (»Sag Jo zu mir«), die nicht an Religion glaubte, die an »keine Art von Transzendenz außer der des menschlichen Geistes« glaubte, glaubte felsenfest an Ordnung und Geschmack. »Morris sagt, dass man nichts im Haus haben sollte, was man nicht für nützlich oder schön hält«, sagte sie zu Reggie, als sie eine hübsche kleine Vase (»Worcester«) mit Blumen aus dem Garten füllten. Reggie dachte, sie meinte jemanden namens »Maurice«, einen schwulen Freund vielleicht, bis sie eine Biographie von William Morris im Regal sah und dachte: »Pah, wie dumm«, weil sie natürlich wusste, wer er war.
Zweimal in der Woche kam eine Putzfrau namens Liz und stöhnte über die viele Arbeit, aber Reggie fand, dass sie es ziemlich leicht hatte, weil die Hunters alles unter Kontrolle hatten und keine Putznazis oder so waren, sondern den Unterschied zwischen Komfort und Chaos kannten im Gegensatz zu Ms MacDonald, deren ganzes Haus eine »Rumpelkammer« war – überall altes Zeug, Quittungen und Stifte, Uhren ohne Zeiger, Schlüssel ohne Schlösser, Kleiderhaufen auf Truhen, Säulen alter Zeitungen, im Flur ein halbes Fahrrad, das eines Tages dort aufgetaucht war, ganz zu schweigen von dem Wald aus Büchern. Ms MacDonald führte die unmittelbar bevorstehende Entrückung und Wiederkunft Christi als Ausrede an (»Wozu noch aufräumen?«), aber in Wahrheit war sie einfach eine schlampige Person.