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Für ihren ersten Roman »Familienalbum« hat Kate Atkinson viele internationale Preise erhalten. Mit ihren weiteren Büchern hat sich die bekannte Autorin eine Fangemeinde erschrieben. June ist schwanger und weiß, dass sie bald mit ihren Kindern allein dastehen wird. Addison, uneheliches Kind und von seinem Vater nie anerkannt, stellt bei dessen Begräbnis fest, dass er es letztlich ohne den Vater besser hatte. Die praktische Amerikanerin Meredith muss erfahren, dass es für das Altern kein Patentrezept gibt. Kate Atkinsons Figuren widerfährt nichts Ungewöhnliches, sie erleben das, was das Leben für jeden bereit hält: Altern, Einsamkeit, Liebe, Tod. Doch die Geschichten, die sie erzählt, enden nie in Hoffnungslosigkeit. Kate Atkinsons scharfer und illusionsloser Blick richtet sich stets auch auf den Ausweg aus dem scheinbar unveränderbaren Dasein. Mit ihrem neuen Buch blättert sie ein weiteres Familienalbum auf.
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Seitenzahl: 291
Kate Atkinson
Nicht das Ende der Welt
Erzählungen
Aus dem Englischen von Anette Grube
Knaur e-books
Für Diane Pearson
Dank an:Laura Denby und Dr. John Menzies für die TelomereHelen Clyne für vielesRussell Equi für Autos, Motorräder und StraßenEve Atkinson-Worden für die HochzeitenSally Wray für ihre UnterstützungAli Smith für ihr Verständnis
In nova fert animus mutatas dicere formascorpora; di, coeptis (nam vos mutastis et illas)adspirate meis primaque ab origine mundiad mea perpetuum deducite tempora carmenSingen heißt mich das Herz von Gestalten,verwandelt in neue Leiber.Ihr Götter, gebt, habt ihrdoch auch sie einst verwandelt,Gunst dem Beginnen und leitet mein stetigfließendes Lied vomErsten Ursprung der Welt bis herabzu unseren Tagen.
Ovid, MetamorphosenErstes Buch, 1–4
Für Sally
»Ich möchte«, sagte Charlene zu Trudi, »meiner Mutter ein Geburtstagsgeschenk kaufen.«
»Okay«, sagte Trudi.
»Etwas, was ich mit der Post schicken kann. Etwas, was nicht bricht.«
Trudi dachte an zerbrechliche Dinge, die man nicht mit der Post verschicken konnte:
Eine Karaffe aus Kristall.
Ein Fingernagel.
Ein Ei.
Ein Herz.
Eine Teekanne von Crown Derby.
Ein Versprechen.
Eine Kugel aus Spiegelglas, in der sich nichts außer dem Himmel spiegelt.
»Wie wäre es mit einem Schal?«, schlug sie vor. »Aus Samt Doré. Ich liebe dieses Wort. Doré.«
Charlene und Trudi befanden sich in einem Lebensmittelgeschäft, das so groß war wie eine kleine Stadt. Es roch nach Schokolade und reifem Käse und rohem saftigem Schinken, aber die meisten Dinge waren zu teuer, als dass sie sie hätten kaufen können, und manches sah unecht aus.
Sie schlenderten durch endlose Regalreihen mit Honig.
»Ich könnte ein Glas Honig kaufen«, sagte Trudi.
»Das könntest du«, pflichtete Charlene ihr bei.
Es gab eine große Auswahl an Honig. Da waren Lavendelblütenhonig und Rosmarinhonig, Akazie und Orangenblüten und geheimnisvolles Manuka. Buttergelber Honig aus toskanischen Sonnenblumen und zähflüssiger, anämischer Honig aus englischem Klee. Es gab Gläser so groß wie alte Amphoren und nette kleine Töpfe für alte Jungfern. Es gab Gläser mit Bienenhonig, der aussah wie Bernstein mit Einschlüssen. Es gab organischen Honig aus üppig wuchernden südamerikanischen Regenwäldern und Honig, der knausriger schottischer Heide in windgepeitschten Mooren abgerungen war. Bienen auf der ganzen Welt wurden um ihren Ertrag geprellt, damit Trudi die Wahl hatte, aber sie hatte bereits das Interesse verloren.
»Du könntest ihr Seife kaufen«, sagte Trudi. »Seife zerbricht nicht. Teure Seife. Aus Hafermehl und Buttermilch oder Ziegenmilch und Vanilleschoten aus … wo immer Vanilleschoten herkommen.«
»Mauritius. Hauptsächlich«, sagte Charlene.
»Wenn du es sagst. Seife, für die zehntausend Veilchenblüten ausgepresst und destilliert wurden, um einen Tropfen Öl zu gewinnen. Oder Seife, die mit den Schalen von hundert bittersüßen Orangen parfümiert wurde.«
»Ich habe Hunger. Ich könnte eine Orange kaufen«, sagte Charlene.
»Das könntest du. Eine Bitterorange aus Sevilla oder eine süße Orange aus Marokko?«
»Maurisch«, sagte Charlene verträumt. »Ich möchte an einen maurischen Ort reisen. Die Alhambra. Das ist ein exotisches Wort. Das ist das exotischste Wort, das mir einfällt, auf die Schnelle. Alhambra.«
»Xanadu«, sagte Trudi. »Das klingt exotisch. Ein Vergnügungspark. Stell dir vor, du hättest deinen eigenen Vergnügungspark. Du könntest ihn Land des Vergnügens nennen. Gibt es nicht ein Land des Vergnügens in Scarborough?«
»Arbroath«, sagte Charlene düster.
»Mit schattigen Wegen durch kühle Gärten«, sagte Trudi, »wo die Luft nach Rosenessenz duftet.«
»Und Springbrunnen und Innenhöfe«, sagte Charlene. »Springbrunnen, aus denen Nektar fließt. Und Höfe voller Pfauen und Nachtigallen und Lerchen. Und Schwäne. Und goldene und silberne Fische, die in den Brunnen schwimmen. Und ein riesiger blauweiß marmorierter Karpfen.«
Sie gingen eine Zeile mit Tee entlang. Sie hatten sich verirrt.
»Wer hätte gedacht, dass es so viele verschiedene Teesorten auf der Welt gibt?«, sinnierte Trudi. »Chrysanthementee, Weiße Pfingstrose, Jadegipfel, Oolong Orientalische Schönheit, Grüner Gunpowder, Goldene Nadel, Hubei Silver Tip, Trommelberg Weiße Wolke, Drachenodem-Tee – meinst du, dass er nach Drachenodem schmeckt? Wie, glaubst du, schmeckt Drachenodem?«
»Widerlich, schätze ich«, sagte Charlene. »Und den ganzen Tag lang«, fuhr sie fort, »im Vergnügungspark –«
»Land des Vergnügens«, verbesserte Trudi.
»Land des Vergnügens. Wir würden Melone essen und Feigen und duftende weiße Pfirsiche und türkischen Honig und kandierte Rosenblüten.«
»Und Himbeersorbet trinken und Tequila und kanadischen Eiswein«, begeisterte sich Trudi.
»Ich muss gehen«, sagte Charlene. Seit der Erwähnung von Arbroath war sie nicht wieder in Stimmung gekommen. »Ich muss einen Artikel schreiben.« Charlene arbeitete als Journalistin bei einem Hochzeitsmagazin. »Zehn Dinge, die zu bedenken sind, bevor man ›ja‹ sagt.«
»›Nein‹ sagen?«, meinte Trudi.
»Abrakadabra«, murmelte Charlene vor sich hin, als sie im Regen zwischen den Autos über die Straße ging, »das ist ein exotisches Wort.« Irgendwo in der Ferne explodierte leise eine Bombe.
Es regnete schon seit Wochen und vor dem Radiosender stand kein einziges Taxi. Charlene machte sich Sorgen, dass sie sich in den Mann verknallte, der ihre Handtasche am Eingang des Radiosenders durchsuchte.
»Ich weiß, dass er ziemlich klein ist«, sagte sie zu Trudi, »aber er ist irgendwie männlich.«
»Ich war einmal mit einem kleinen Mann zusammen«, sagte Trudi. »Mir wurde erst klar, wie klein er war, nachdem ich ihn verlassen hatte.« Es standen keine Taxis am Taxistand. Es wurde niemand vor dem Radiosender abgesetzt.
Trudi runzelte die Stirn. »Wann hast du zum letzten Mal ein Taxi gesehen?«
Charlene und Trudi liefen fort vom Radiosender, fort vom Regen, an den Sandsäcken vorbei, die die Straßen säumten, in die warmen nüchternen Räumlichkeiten des nächsten Hotels, setzten sich in das verrauchte Foyer und bestellten Tee.
»Ich glaube, er ist ein Ex-Militär oder so.«
»Wer?«
»Der Mann, der im Radiosender die Taschen durchsucht.«
Eine Kellnerin brachte ihnen dünnen grünen Tee. Sie nippten anmutig daran – ein Adverb, das die unhandlichen Henkel der Tassen nahe legten.
»Ich wollte schon immer mal mit einem Mann in Uniform ausgehen«, sagte Trudi.
»Mit einem Feuerwehrmann«, meinte Charlene.
»Mhm«, sagte Trudi nachdenklich.
»Oder mit einem Polizisten«, sagte Charlene.
»Aber nicht mit einem Wachtmeister.«
»Nein, nicht mit einem Wachtmeister«, pflichtete Charlene ihr bei. »Mit einem Inspektor.«
»Mit einem Hauptmann der Armee«, sagte Trudi, »oder mit einem Hubschrauberpiloten der Marine.«
Der dünne grüne Tee schmeckte bitter.
»Das könnte durchaus Drachenodem-Tee sein«, sagte Trudi. »Was meinst du? Drachenodem?«
Die Luft im Hotel war verbraucht. Zwei große Frauen mittleren Alters aßen mit stiller Entschlossenheit Teegebäck, während ein bekannter Journalist ein blutjunges Mädchen bezirzte. Zwei sehr alte Männer unterhielten sich in leisem freundlichem Tonfall über Musik und längst vergangene Kriege.
»Thermopylen«, murmelten die Männer. »Ägospotami, Cumae. Das Dissonanzen-Quartett.«
»Ich möchte eine Katze«, sagte Trudi.
»In der Stadt kann man keine Katze halten«, sagte Charlene.
»In der Stadt kann man keine Katze falten?«
»In der Stadt kann man keine Katze halten.«
»Man kann.«
»Du bräuchtest etwas Kleines, ein Nagetier«, sagte Charlene.
»Das Wasserschwein ist ein Nagetier, und es ist nicht klein.«
»Ein Hamster«, sagte Charlene, »eine Wüstenrennmaus, eine kleine weiße Maus.«
»Ich will kein Nagetier. Gleichgültig, wie klein. Ich möchte eine Katze. Miez, miez, miez, miez, miez. Wenn man etwas fünfmal sagt, bekommt man es.«
»Das hast du dir ausgedacht«, sagte Charlene.
»Stimmt«, gab Trudi zu.
»Ich möchte etwas Ungewöhnlicheres«, sagte Charlene. »Ein Känguru. Ein Rentier oder einen Otter. Einen sprechenden Vogel oder einen singenden Fisch.«
»Einen singenden Fisch?«
»Einen singenden Fisch. Einen Fisch, der singt und einen Zauberring im Magen hat. Einen großen Karpfen, der aus einem Fischteich geangelt wird – normalerweise an einem Königshof – und gekocht und am Tisch serviert wird, und wenn du in den Fisch beißt, findest du den Zauberring. Und der Zauberring führt dich zu dem Mann, der dich lieben wird. Oder zu der kleinen weißen Maus, in die der Mann verzaubert ist, der dich lieben wird.«
»Das wäre dann ein Nagetier.«
»Wenn das nicht geht«, fuhr Charlene fort und ignorierte Trudi, »möchte ich eine Katze, die so groß ist wie ein Mann.«
»Eine Katze, die so groß ist wie ein Mann?« Trudi runzelte die Stirn und versuchte sich eine mannsgroße Katze vorzustellen.
»Ja. Stell dir vor, Männer hätten ein Fell.«
»Das stell ich mir lieber nicht vor.«
Die Kellnerin fragte, ob sie noch mehr von dem dünnen grünen Tee wollten.
»Mir persönlich«, sagte die Kellnerin unaufgefordert, »sind Hunde lieber.« Charlene und Trudi waren ganz außer sich vor Vergnügen bei dem Gedanken an Hunde.
»O Gott«, sagte Trudi, überwältigt von all den Hunderassen der Welt, »ein Deutscher Schäferhund, ein Golden Retriever, eine Dänische Dogge, ein Barsoi – was für ein tolles Wort – ein Bernhardiner, ein Scottie, ein Westie, ein Yorkie. Ein Österreichischer Pinscher, ein Belgischer Griffon, ein Kromfohrländer. Der Glen of Imaal Terrier, der Manchester, der Norwich, der Englische Toy, der Staffordshire, der Bedlington – alle Terrier. Der Kai, der Podengo Portugueso Medio, der Porzellan- und der Spanische Windhund. Der Bluthund, der Lurcher, der Dunker, der Catahoula-Leopardenhund, der Ungarische Viszla, der Lancashire Heeler und der Deutsche Riesenspitz!«
»Oder eine Promenadenmischung namens Buster oder Spike«, sagte Charlene.
Die Kellnerin räumte das Teegeschirr ab. »Geld, Geld, Geld, Geld, Geld«, murmelte sie beschwörend vor sich hin, als sie die Tür zur Küche mit der Hüfte aufstieß. Der Strom fiel aus, und alle waren plötzlich ganz still. Niemandem war bislang aufgefallen, wie sehr der Regen den Nachmittag verdunkelt hatte.
In der Eingangshalle des Fernsehsenders befand sich ein Aquarium, das eine ganze Wand einnahm. Trudi bemerkte, dass es sich überwiegend um afrikanische Süßwasserfische handelte. Sie fragte sich, ob sie in einem Flugzeug hierher geflogen worden waren und ob ihnen das merkwürdig vorgekommen war. Niemand sonst nahm Notiz von der Wand aus Fischen. Die Empfangsdame mit rotblondem Haar, das auf extravagante Weise hochgesteckt war, schien unter ihrem Tisch eine Heckler & Koch-MP5A3-Maschinenpistole zu haben. Trudi spürte Neid in sich aufwallen.
Trudi war Lektorin bei einem kleinen Imprint eines großen Verlags. Sie hatte eine Zwillingsschwester namens Heidi, und weder Trudi noch Heidi mochten ihren Namen. Es waren die Namen (nach Ansicht von Heidi und Trudi) von Ziegenhirtinnen und amerikanischen Nutten, von Mädchen, die ihr Haar zu Zöpfen geflochten trugen und Milch tranken oder, verkleidet als französische Stubenmädchen und Krankenschwestern, Sex hatten. Von Mädchen, die nie erwachsen wurden. Trudi und Heidi hatten keine Ahnung, warum sie so hießen. Ihre Eltern waren kurz nach ihrer Geburt bei einem grotesken Unfall ums Leben gekommen, und die freundlichen Fremden, die für sie einsprangen, Mr. und Mrs. Marshall, hatten keinen Einblick in die Gedankenwelt ihrer toten Eltern.
Charlene und Trudi bestellten Gin Slings und bedienten sich aus einer kleinen Schale mit schwarzen Oliven, die noch bitterer schmeckten als der dünne grüne Tee.
An der Bar saßen ausgelassene Männer in Anzügen. Sie sprachen darüber, wie sehr sie sich vor Inkrafttreten der Ausgangssperre betrinken konnten.
»Ich brauche einen neuen Haarschnitt«, sagte Charlene.
»Ich brauche neues Haar«, sagte Trudi.
»Und schlankere Knöchel«, sagte Charlene.
»Und größere Brüste«, sagte Trudi. »Oder vielleicht möchte ich auch kleinere Brüste.«
»Deine Brüste sind vollkommen.«
»Danke.«
Sie rochen den Duft der Frauen am Nebentisch, pfeffrig und würzig mit einer Note Deodorant. Die Frauen waren sehr modisch und so hässlich gekleidet, dass die Leute sie anstarrten, weil ihre Kleidung so modisch und hässlich war. Sie rauchten Kette und tranken Martinis. Auf ihren Drinks schwamm ein öliger Film. Sie sahen aus wie Edelnutten, aber sie waren die Ex-Frauen von Rockstars.
Ein Kellner ließ ein Tablett mit Gläsern fallen. Die ausgelassenen Männer klemmten ihre Zigaretten in den Mundwinkel und applaudierten.
»Und«, sagte Trudi, »ich möchte auf einem Pferdeschlitten durch verschneite Wälder fahren, während die Hunde – Barsois – neben uns herlaufen, und ich möchte in Seide und Samt gekleidet sein und in einen Umhang, der gefüttert ist mit dem Fell von Polarfüchsen und Bären und Jungwölfen.«
»Wolfspelz?«
»Der Pelz von Jungwölfen – sie sind sehr selten –, aber nur von denen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, nicht von solchen, die man wegen ihres Fells umgebracht hat.«
»Natürlich nicht.«
»Und Diamanten um den Hals und an den Ohren – alte Diamanten mit Rosenschliff wie dunkles schmelzendes Eis, und an den Fingern Rubine und Opale, so groß wie Lercheneier, und an den Füßen Siebenmeilenstiefel aus rotem Leder –«
»Flach oder mit Absatz?«
»Mit einem bescheidenen Absatz. Und ich möchte aus einem silbernen Flachmann einen Likör trinken, der aus reifen roten Pflaumen gebrannt wurde –« Einer der ausgelassenen Männer im Anzug fiel von seinem Barhocker. Der Barkeeper verkündete den Zeitpunkt seines Todes, es war einundzwanzig Uhr zweiundvierzig.
»Zeit, nach Hause zu gehen, meine Damen und Herren«, sagte er, »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Später wünschte Charlene, sie hätte Trudi eingehender zu den Jungwölfen befragt.
Charlene machte sich Sorgen, dass sie nie ein Baby bekommen würde. Ein Baby würde sie lieben. Ein Baby würde den leeren Mutterleib in ihr ausfüllen. Das könnte natürlich zu einem Problem werden, wenn es wüchse. »Baby, Baby, Baby, Baby, Baby«, sagte sie zum Spiegel, bevor sie ins Bett ging.
Zuerst müsste sie natürlich einen Erzeuger für das Kind finden, und nach der demütigenden Erfahrung mit dem verstorbenen Anwalt letztes Jahr konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder Sex zu haben. Das bekümmerte sie weniger, als sie gedacht hätte. Vorher. Und Charlene würde das Baby Smiler nennen. Ein Junge. Rund wie ein Mastschwein, schwer wie eine Bombe.
In den Stunden zwischen dem Beginn der Ausgangssperre und dem Heraufziehen der Morgendämmerung horchte Charlene auf die Sirenen, die durch die Nacht heulten, und plante einen Artikel über »Supertipps für Hochzeiten im Frühling«. Sie schlief ein mit der Hand auf der halb automatischen Sig Sauer unter dem Kopfkissen und wachte erst wieder auf, als Eosphorus, der Morgenstern, aufging und die Ankunft seiner Mutter Eos, der Morgendämmerung, ankündigte.
Trudi suchte nach einer schwarzen Hose. Etwas Schlichtes von Joseph oder vielleicht Nicole Farhi. Charlene nahm Hosen von den Stangen im Kaufhaus und hielt sie Trudi mit einer überschwänglichen Verkäuferinnengeste hin. Alle echten Verkäuferinnen schienen verschwunden zu sein. Trudi gefiel keine der Hosen, die Charlene ihr zeigte.
»Vielleicht solltest du die Hose von einem Armani-Anzug nehmen und die Jacke dalassen?«, schlug Charlene vor. »Oder Max Mara – die haben in dieser Saison viele schwarze Hosenanzüge. Guter Schnitt. Ich finde, ich bin ziemlich gut als Verkäuferin, meinst du nicht auch? Vielleicht könnte ich damit meinen Lebensunterhalt verdienen.«
Alle schwarzen Kleidungsstücke waren mit Gipsstaub gesprenkelt wie mit Schuppen.
»Wahrscheinlich vom Erdbeben«, sagte Charlene. »Sie sollten reduziert sein und nicht zum vollen Preis angeboten werden.«
Trudi probierte eine Kleid von Moschino und ein Jackett von Prada und eine Strickjacke von Kenzo und einen Rock von Gucci, aber alle diese Kleidungsstücke waren gemacht für winzige, windhunddünne japanische Mädchen.
»Ich werde nicht zum Ball gehen«, sagte Trudi traurig.
»Wie du sehr wohl weißt, wurden die Bälle vor langer Zeit abgesagt«, sagte Charlene schroff, »probier diesen Wickelrock von Betty Jackson.«
Letztlich beschloss Trudi, einen Strassgürtel zu kaufen, aber nirgendwo war eine Verkäuferin, die ihn zur Kasse gebracht hätte, und im Gegensatz zu fast allen anderen in der Stadt war sie keine Diebin.
»Wir sollten selbst Kleider nähen«, sagte Charlene, als sie durch die Kurzwarenabteilung des Kaufhauses gingen.
»Was für ein wundervolles Wort«, sagte Trudi.
»Was für ein wundervoller Ort?«, sagte Charlene zweifelnd.
»Nein. Wort. Kurzwaren.«
»Wir könnten gemeinsam eine Nähmaschine kaufen«, sagte Charlene. »Wir könnten Stoff und Nähseide und Schnitte aus Papier kaufen und gemütliche Winterabende damit verbringen, Kleider zu nähen. Vielleicht im matten Lichtschein wunderschöner Öllampen aus Glas. Wir könnten in dem goldenen Lichtkreis der wunderschönen Öllampen aus Glas sitzen, und unsere silbernen Nadeln würden schimmern und aufblitzen, während wir unsere Köpfe über die schlichte, aber ehrliche Arbeit beugen.«
Aber Trudi betrachtete die Stoffballen, Regalfach über Regalfach voller verschiedener Stoffe. »Himmel«, sagte sie, »das ist aber beeindruckend. Brokat, Brokatelle, Buckram, Batist und bretonische Wolle. Bombazine und Bouklé, Baumwolle, Baumwollköper, Bedford Kord, Barège, Bobbinet, Balbriggan und Barathea! Und das sind noch nicht mal alle Bs. Und hier … Kaliko, Kambrik, Kattun, Kavallerietwill, Köper –«
Die Lautsprecher setzten mit einer heulenden Rückkopplung ein, und eine körperlose Stimme verkündete, dass sie auf der Suche nach Mr. Scarlet war. »Mr. Scarlet, bitte in die Kurzwarenabteilung, Mr. Scarlet in die Kurzwarenabteilung, bitte.«
Charlene geriet in Panik. »Du weißt doch, was das bedeutet, oder?«, fragte sie Trudi.
»Nein. Was bedeutet es?«
»Das ist der Kode für Feuer. Es bedeutet, dass in der Kurzwarenabteilung ein Feuer ausgebrochen ist.«
»Ich sehe kein Feuer«, sagte Trudi. »Müssten wir nicht Rauch sehen? Kein Feuer ohne Rauch, so heißt es doch?«
»Nein, so heißt es nicht.«
Verkäuferinnen tauchten auf, von wo immer sie gelauert hatten, von dem unsichtbaren Feuer aufgescheucht wie Ratten. Auch wenn sie es nicht sah, konnte Trudi sich das Feuer vorstellen. Sie malte sich die apokalyptischen Fernsehbilder von Asche und Ruß aus, die Tropfen aus Schmiere und geschmolzenem Eisen, die auf ihre Köpfe fallen würden, sie roch, wie die leicht brennbaren Materialien der Kurzwarenabteilung Feuer fingen und aufloderten, sie spürte, wie der schwarze Rauch ihnen die Luft raubte. Vielleicht sollten sie sich in dicke Stoffbahnen einwickeln wie die armen Mädchen in dem Sweatshop in Bangkok, von denen Trudi gelesen hatte – sie hatten gehofft, dass ihr Aufprall abgefedert würde, als sie aus dem Gebäude sprangen, sich selbst wegwarfen. Trudi fragte sich, ob sie sich während des Falls auswickeln würden, wie Garn sich von Spulen abwickelt, wie ägyptische Mumien, die in der Luft ausgepackt wurden.
»Oder wir könnten ein noch einfacheres Leben führen«, sagte Charlene hastig, »ein Leben ohne Maschinen. Wir würden auf einem grünen Hügel leben und unter den Sternen schlafen und im Wald Feuerholz sammeln. Und wir könnten Tiere halten –«
»Was für Tiere?«, fragte Trudi, als alles von Taft bis Wollgeorgette plötzlich in Flammen aufging.
»Ziegen«, sagte Charlene entschlossen. »Wir werden Ziegen halten. Wir werden auf dem grünen Hügel Ziegen halten und sie melken und Ziegenkäse machen, und nachts entfachen wir ein Feuer und bewachen die Ziegen vor den Wölfen. Und wir kaufen uns ein Spinnrad und spinnen Ziegenwolle und stricken Pullover, und jede Woche bringen wie die Ziegenwollpullover und den Ziegenkäse zum Markt, und die Leute werden sie kaufen, und so werden wir leben.«
Das Feuer sprang auf die Damenmodeabteilung über.
»Ich wusste, ich hätte den Strassgürtel kaufen sollen«, sagte Trudi bedauernd.
Der Radiosender sendete nicht mehr. Der Fernsehsender war vor langer Zeit zerstört worden. In der Stadt gingen der Whisky und der Gin aus. Die Leute verbrannten verstaubte alte Taschenbücher und tranken Rum. Angst und Schrecken sorgten für eine geradezu festliche Atmosphäre.
Es gab kein Futter mehr für die Tiere im Zoo. Militante Tierschützer brachen die Käfige auf, so dass jetzt Bären in den Mülltonnen wühlten und Pinguine im Fluss schwammen und nachts Tiger in den Straßen so laut brüllten, dass niemand schlafen konnte. Trudi lag wach, horchte auf die brüllenden Tiger und die knurrenden Bären und die heulenden Wölfe und die Drachen, die Feuer spien auf die unbeleuchteten, regennassen Straßen der Stadt. Eine Familie kleiner grüner Eidechsen zog in ihre Wohnung.
Es ging das Gerücht um, dass im botanischen Garten im Westen der Stadt ein seltener Jungwolf gesichtet worden war. Alle Bäume im botanischen Garten waren jetzt offiziell tot. Und alle Glasscheiben der Gewächshäuser waren zerbrochen, so dass es hineinregnete und die Pflanzen im Wüstenhaus unter Wasser gesetzt wurden, woraufhin sie auf extravagante Weise blühten und auf noch extravagantere Weise für immer verwelkten. Ein nicht der Jahreszeit entsprechendes Mikroklima im Palmenhaus entwickelte sich zu einem Taifun, der die großen Palmen fällte, die älter waren als jedes andere Lebewesen auf dem Planeten. Ein Eisbär zog auf die Insel im See des botanischen Gartens, und ein Schwarm Papageien flog in der Pagode ein und aus.
Die Museen wurden nicht länger bewacht, und die Besucher nahmen die Ausstellungsstücke mit und verschönerten damit ihre Innenausstattung.
Charlene kam zum Abendessen zu Trudi und brachte ihr die goldene Todesmaske eines vor langer Zeit verstorbenen Königs und eine große Sèvres-Schüssel mit. Dinge, an denen sie Gefallen gefunden hatte. »Diebin«, sagte Trudi mit heiserer Stimme. Beide litten noch unter den Nachwirkungen der Rauchentwicklung während des Kaufhausbrandes.
Trudi hatte nur gerösteten Buchweizen und Sellerie zum Essen. Sie servierten den Buchweizen und den Sellerie in der Sèvres-Schüssel.
»Präsentation ist alles«, sagte Charlene. Danach tranken sie das einzige Getränk, das sie auftreiben konnten, eine Flasche smaragdgrünen Midori, und hörten ein Violinkonzert von Mozart, das von einem ausländischen Radiosender ausgestrahlt wurde. Charlene blieb über Nacht, sie lag auf dem Sofa und beobachtete die über die Decke huschenden Eidechsen. Durch das Oberlicht sah sie ein paar Tropfen der Milchstraße, die, wie sie wusste, die über den Himmel gespritzte Milch aus Heras Brüsten war.
Charlene wurde auf dem Rückweg von einer Hochzeitsmesse durch ein Scharfschützenfeuer im Norden der Stadt festgehalten. In ihrer Manteltasche befanden sich Hochzeitsartikel – blechernes Konfetti in Form der Namen ›Mark‹ und ›Rachel‹, eine Platzkarte geformt wie ein Zylinder, ein kleines silbernes Geschenkkörbchen mit roten Gummiherzen und eine Bonbonniere mit pastellfarbenen gezuckerten Mandeln. Sie suchte Schutz im Eingang einer Bank und rief Trudi mit ihrem Samsung A400 an.
»Eine Bonbonniere?«, fragte Trudi zweifelnd.
»Oder, wenn dir Italienisch lieber ist, eine Bomboniere. Gebunden aus einem rosafarbenen durchsichtigen Tüllkreis mit dunkler abgesetztem Rand und mit roten Rosen in der Mitte.«
»Warum?«
»Eine Bonbonniere ist eine wunderbare Art, den Gästen dafür zu danken, dass sie an diesem Freudentag dabei waren. Jede Bonbonniere enthält fünf gezuckerte Mandeln erster Wahl, fünf ist eine Primzahl, die durch nichts geteilt werden kann, so wie Braut und Bräutigam durch nichts –«
»Okay.«
»Sie stehen für Glück, Gesundheit, Wohlstand, Fruchtbarkeit und ein langes Leben –«
»Es reicht. Wenn ich heirate«, sagte Trudi, »möchte ich Hochzeitsschuhe aus weißem Satin, silberne Hufeisen, geschmückt mit weißem Heidekraut, Glück bringende schwarze Katzen und einen Strauß regennassen Flieder. Oh, und einen unebenen Holzboden, um darauf zu tanzen, und einen Vater, der mich zum Altar führt, und eine Mutter, die weint, und eine Schwester als Brautjungfer – aber ich habe nichts davon, keinen Vater, keine Mutter, keine Schwester.«
»Und keinen Bräutigam«, erinnerte Charlene sie.
»Danke.«
»Ich werde dich zum Altar führen«, sagte Charlene, »und ich werde weinen und deine Brautjungfer sein.«
»Danke.«
Der Bankomat in der Mauer explodierte, und Geldscheine flatterten wie traurige Vögel in den schmutzigen Himmel.
Charlene versuchte, sich an die Grundsätze der pythagoreischen Philosophie zu erinnern, um nicht an den Regen, den Scharfschützen und die fliegenden Geldscheine denken zu müssen.
»Wenn du aus dem Bett aufstehst, roll die Laken zusammen und glätte den Abdruck deines Körpers.
Die sichtbare Welt ist eine Täuschung und trügerisch.
Enthalte dich der Bohnen.«
»Bohnen?«
»Für den Fall, dass darin die Seele eines Vorfahren wohnt.«
»Natürlich.«
»Männer und Frauen sind einander ebenbürtig und Besitz gehört ihnen gleichermaßen.
Alle Dinge sind Zahlen.
Alles ist unendlich teilbar, und auch der kleinste Teil der Materie enthält etwas von jedem Element.«
»Und die Seelenwanderung«, flüsterte Trudi, »vergiss nicht die Seelenwanderung. Ruf mich an, wenn du zu Hause bist.« Ein Kassierer rannte mit einem gezückten Colt Defender aus der Bank und wurde erschossen. Charlene dachte über Mark und Rachel nach. Gab es sie wirklich, oder hatten die Leute, die die Hochzeitsartikel machten (für diesen Beruf schien es keine Bezeichnung zu geben), sie als ein ideales Paar erfunden?
Während sie im Dunkeln wach lag, wünschte Charlene, sie hätte eine Wunschlampe.
»Siehst du den Mond? Siehst du die silbernen Strahlen der Selene?«, flüsterte sie Trudi zu, obwohl sie wusste, dass Trudi sie nicht hören konnte, weil die Telefonvermittlung brannte und schmolz und die Funkmasten für die Handys umgestürzt waren, und außerdem schlief Trudi auf der anderen Seite der Stadt hinter Barrikaden aus Draht und Joggingschuhen und toten Hunden, überwiegend Promenadenmischungen.
»Ich wäre gern auf dem Mond«, murmelte Charlene, »aber es sollte Sauerstoff dort geben oder besser noch eine Atmosphäre. Und etwas zu essen. Oder vielleicht hätte ich auch gern einen Planeten ganz für mich allein. Aber du dürftest auch dort leben, Trudi. Wir könnten ihn Land des Vergnügens nennen. Und wir wären Göttinnen. Wir wären die Göttinnen aus dem Land des Vergnügens. Und würden für immer dort leben.
Oder vielleicht gibt es eine andere Welt – nur dass sie genau so ist wie diese –, in der wir französischen Wein kaufen und Sauerteigbrot und süße Orangen aus Marokko und Garnspulen und Trommelberg-Weiße-Wolke-Tee, und nachts schlafen wir in unseren Betten, während draußen leise der Verkehr rauscht und Hunde bellen, und um Mitternacht zanken sich Ehemänner und ihre Frauen, und sie heißen Mark und Rachel. Das wäre eine gute Welt, um darin zu leben.«
Charlene und Trudi tranken große Milchkaffees und frühstückten Muffins in einem Café.
»Also, was hast du deiner Mutter zum Geburtstag gekauft?«, fragte Trudi.
»Rate.«
»Eine halb automatische Glock 17?«
»Nein.«
»Eine Kugel aus Spiegelglas, in der sich nichts außer dem Himmel spiegelt?«
»Nein.«
»Einen Karpfen? Eine Harfe? Ein scharfes silbernes Messer? Ein Stück Melone oder eine Scheibe vom gelben Mond? Einen Spanischen Windhund? Eine Katze, so groß wie ein Mann, einen Mann, so groß wie eine Katze? So klein wie ein Baby? Ein Männeken?«
»Handschuhe«, sagte Charlene.
»Handschuhe?«
»Ja«, sagte Charlene. »Handschuhe aus dem Leder eines Jungwolfs.«
Joy and Woe are woven fine,A Clothin for the Soul divineUnder every grief and pineRuns a joy with silken twine.
William BlakeAuguries of Innocence
Wenn Eddie die Wahl gehabt hätte, wäre er gern ein Fisch gewesen. Ein großer Fisch ohne natürliche Feinde, der den ganzen Tag unbehindert zwischen Schilf und Binsen in klarem Wasser schwimmt, das so kalt war wie kaltes Blut. Seine Mutter, June, meinte, er solle sich keine Sorgen machen, er hätte es schon halbwegs geschafft, so wie ihm ständig der Mund offen stehe wie einem besonders begriffsstutzigen Lurch, ganz zu schweigen von den dicken Gläsern seiner Brille, hinter denen seine Augen hervorträten wie bei einem Schellfisch.
Im Nachhinein tat es June natürlich Leid, dass sie das gesagt hatte, aber Eddie stellte sich bisweilen so unglaublich dämlich an, dass sie nicht anders konnte. June hatte gehofft, dass Eddie intelligenter aussehen würde, nachdem ihm im Alter von acht Jahren die Polypen entfernt worden waren. Dem war nicht so. Als er neun war, hoffte sie auf die Brille. Die meisten Menschen, die sie kannte, wirkten mit Brille geistreicher als ohne, aber Eddie schaffte es irgendwie, damit noch bescheuerter auszusehen. Als ihm mit zehn die Ohren ausgeblasen wurden, meinte June, ihn damit aus der Unterwasserwelt der Taubheit herausgeholt zu haben, und theoretisch war das laut seinem HNO-Arzt auch der Fall, aber Eddie verhielt sich weiterhin so, als würde er nicht hören, was June sagte. Auch gut, dachte June, weil die Hälfte der Dinge, die sie zu ihm sagte, sowieso nicht besonders nett war.
Aus Gründen, die er selbst am besten kannte, katalogisierte Eddie seit kurzem zwanghaft Fische. Er hatte sich bereits durch Muscheln, Münzen, Briefmarken und Flaggen gearbeitet. June fragte sich, nicht zum ersten Mal, ob Eddie unter einer milden Form von Autismus litt. Sie hoffte, dass seine exzentrischen Züge genetischen Ursprungs waren und nicht mit ihrem willkürlichen Verhalten als Mutter in Zusammenhang standen.
Seit einem Jahr ging Eddie auf die höhere Schule, und jeden Tag rechnete June mit einem Polizisten vor der Tür, der ihr mitteilte, dass ihr Sohn in einer Ecke des Pausenhofs zu Brei geschlagen worden war oder sich in jugendlicher Verzweiflung aus dem Fenster des Physiksaals gestürzt hatte. (June war von Natur aus Pessimistin.) Wie June wusste, war Eddie genau die Sorte Junge, die sogar freundliche Kinder und normalerweise anständige Lehrer so aufbrachte, dass sie ihn schikanierten und verfolgten. Und so war es in gewisser Weise eine Erleichterung, als June beim ersten Elternabend feststellen musste, dass keiner von Eddies Lehrern wusste, wer er war.
June trug Hawks Kind unter dem Herzen. Sie mochte den Ausdruck ›unter dem Herzen tragen‹. Bei ›schwanger‹ musste sie immer an Tiere denken – an Kühe und Schweine und Hunde und an den Hamster (»Hammy«), das einzige Haustier, das ihre Eltern, die beide unter Allergien litten, ihr als Kind zugestanden hatten. Sie bedauerte Hammy wegen seines einsamen Daseins, das ihres widerspiegelte, und ließ ihn mit Jock, dem Hamster ihrer Freundin, spielen. ›Spielen‹ erwies sich als Euphemismus und ›er‹ erwies sich als ›sie‹, und die Folge war, dass June mit einem Wurf winziger nackter Nagetiere dasaß, die aussahen wie Minischweine und vor denen ihr graute. »Oh, June«, sagte ihre Mutter und seufzte. Das sagte sie immer – »Oh, June« –, so packte sie ihre große Enttäuschung in zwei kleine Worte.
June hatte die Allergien ihrer Eltern nicht geerbt, trotzdem rechneten sie jeden Augenblick damit, dass sie tot umfallen würde, wenn nicht aufgrund eines Asthmaanfalls aus heiterem Himmel, dann weil sie an einem Bonbon erstickte oder von einem Auto überfahren wurde (oder von einem Fahrrad oder einem Zug, ganz zu schweigen davon, dass sie von einem tief fliegenden Flugzeug enthauptet werden könnte, als ob so etwas in Edinburgh alle Tage passierte). Ihr Vater war Risikosachverständiger bei Standard Life und behauptete, ihm kämen zu viele Unfälle unter, groteske und andere, um die Gefahren ignorieren zu können, die hinter jeder Ecke lauerten. Das Schlimmste war, dass sie, nachdem sie ihre ganze Kindheit und Jugend damit verbracht hatte, die erbärmlichen Ängste ihrer Eltern abzuschütteln, ihnen als Erwachsene selbst mit Haut und Haaren zum Opfer fiel.
June gab ihren Eltern die Schuld. Sie schob alles auf ihre Eltern, obwohl es ein bisschen schändlich war, ihrem Vater die Schuld in die Schuhe zu schieben, der nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen, sondern in seinem Bett gestorben war, »zermürbt« gemäß Junes Mutter. »Wovon?«, fragte June. »Von seinem Leben«, antwortete ihre Mutter. Seinem Standardleben. Das war eins der Dinge, vor denen June große Angst gehabt hatte – ein Standardleben, ein gewöhnliches Leben, ein Leben wie das ihrer Eltern –, die in einer Doppelhaushälfte aus rosa Sandstein in einem Vorort mit einem ordentlichen Garten und einem Elternschlafzimmer mit dazugehörigem Bad und Einbauschränken gelebt hatten. Jetzt hätte sie nichts mehr dagegen. In ihrer Wohnung hatten sie kein Bad, sondern nur eine Toilette und eine Dusche. Und ein Schrank, eingebaut oder nicht, wäre eine große Erleichterung für die überladene Stange, über der ihre gesamte Kleidung hing.
Und außerdem sah June ein, dass es mit dreißig – und das war sie seit drei Wochen – wahrscheinlich an der Zeit war, nicht mehr ihre Eltern in die Verantwortung zu nehmen für alles, was in ihrem Leben schief gegangen war, denn wenn sie sich an ihren Rat gehalten hätte, hätte sie jetzt einen Studienabschluss und einen Job und ein anständiges Haus und wahrscheinlich sogar einen Mann und würde nicht in einer heruntergekommenen Mietwohnung leben mit Eddie und Hawk, der, wie sie sehr wohl wusste, nur bei ihnen wohnte, weil er sonst keine Bleibe hatte.
Und dann war da noch der Hund, der die Sache auch nicht besser machte. Tammy war eine überenthusiastische Terriermischung, die sie aus dem Hundeheim in Seafield geholt hatte, damit Eddie nicht wie sie seine Kindheit ohne Haustier verbringen musste, aber dann stellte sich natürlich heraus, dass die Allergien nur eine Generation übersprungen hatten, und Eddie schniefte und nieste und keuchte, wann immer der Hund sich ihm näherte, was in der kleinen Wohnung ständig der Fall war. Und die Hündin war trächtig. Sie trug Welpen unter dem Herzen.
June war erst achtzehn, als sie Eddie bekam (was für ein großes, bekümmertes »Oh, June« gesorgt hatte), wohingegen ihre Mutter zweiundvierzig gewesen war, als sie June bekommen hatte. June rechnete allen Ernstes damit, mit zweiundvierzig tot zu sein. Ihre Eltern waren alt, richtig alt. Deswegen hatten sie ihr einen so altmodischen Namen gegeben. June, weil sie im Juni geboren war. Wenn sie im November auf die Welt gekommen wäre, hätten sie sie dann November genannt? June war ein Name für Frauen in Filmkomödien und Seifenopern, ein Name für Frauen, die mit synthetischer Wolle strickten und Gerichte mit Cornflakes kochten, nicht der Name für eine Dreißigjährige mit einem Ring in der Nase (»oh, June«).
Zumindest wusste sie diesmal, dass sie schwanger war – während der ersten fünf Monate von Eddies intrauteriner Existenz hatte sie gedacht, dass sie abstoßend dick würde. Natürlich hatte June Eddie nie wirklich gewollt, und tief in ihrem Herzen war sie überzeugt, dass Eddie ein anderes Kind geworden wäre, hätte sie ihn gewollt – ein lauter, unhöflicher, krakeelender Junge, der über Fußballfelder rannte und keine Angst und keine Defekte hatte. June wusste, dass Hawks Baby ihre zweite Chance war, die einzige Möglichkeit, wieder gutzumachen, was sie beim ersten Mal vermasselt hatte.
Eddie wollte die evolutionäre Leiter hinunterklettern. Er wollte Kiemen statt einer verstopften Nase. Und Schuppen aus Silber und Perlmutt statt seiner blassen, zu Dermatitis neigenden Haut. Eddie fragte sich, ob es das Wort ›unevolvieren‹ gab. In der alten lateinischen Grammatik, die Hawk in einer Mülltonne gefunden hatte, fand er eine Liste lateinischer Vorsilben. Eddie versuchte, sich die Sprache selbst beizubringen, da er nicht in eine Schule ging, in der Latein je auf dem Lehrplan gestanden hätte. Lateinischen Bezeichnungen war eine mystische Macht eigen. Wenn Eddie die auf großartige Weise unergründlichen Namen von Fischen rezitierte – Pomacanthus imperator (der Kaiserfisch), Zanclus cornutus (der Maskenwimpelfisch) –, dann fühlte er sich als Zauberer.
In-volvieren, re-volvieren, de-volvieren. Eddie brütete über der Grammatik und strich sich über den imaginären Bart. »›Retro-volvieren‹ vielleicht, Professor«, sagte er laut in albernem Tonfall zu sich selbst. Die meisten Gespräche führte Eddie mit sich selbst. Seine Mutter glaubte, er würde in der Schule schikaniert, aber Eddie wusste, dass er dafür in der Hierarchie der Schule viel zu weit unten angesiedelt und nicht wichtig genug war. Er gehörte in die Reihen der Unsichtbaren, aber das war in Ordnung, es gab eine Menge unsichtbarer Jungen, die einen inoffiziellen unsichtbaren Club bildeten. Sie machten untereinander schwache Witze übereinander – die alten Freaks, freakige Götter –, und sie alle glaubten insgeheim, dass die Welt eines Tages an die Freaks fallen würde.
Ein paar Monate zuvor hatte Hawk ein altes Aquarium und einen Goldfisch gefunden, aber der Fisch gedieh nicht, entwickelte seltsame Geschwüre und pilzförmige Auswüchse, bis er zu Eddies Erleichterung eines Tages bleich und mit dem Bauch nach oben im Wasser trieb. Ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt verlor Eddie das Vertrauen in Hawk. Hawk wusste zwar, wie man an Dinge rankam, aber nicht, wie man sie behielt.
Hawks richtiger Name war ›Alan‹, aber ›Alan‹ klang nicht heroisch genug. Hawk war Engländer, aus Cheshire, ein Ort, der sowohl für June als auch Eddie, die dabei stets nur an Käse und Katzen dachten, ein Rätsel war. Sein Raubvogelspitzname war Folge einer Nacht in einer Sauna-Hütte in den Highlands, als ihm sein wahres Selbst – der falkenköpfige Sonnengott Ra – enthüllt wurde. »So was wie ein Totem«, erklärte er Eddie. Eddie erzählte Hawk nicht, dass auch er seine wahre Identität kannte – die ihm von einem riesigen dicken Karpfen enthüllt worden war, der gemustert war wie blauweißer Marmor und in einem Teich in einem Gewächshaus des botanischen Gartens lebte. Eddie wusste, dass er sein Totem war, weil er zu ihm gesprochen hatte.