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Anne Finger

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Beschreibung

Die Autorin schildert, wie sie sich trotz ihrer Behinderung dafür entschied, ein Kind zu haben. Ihr überzeugender und nachdenklich stimmender Bericht erzählt eine tief anrührende Geschichte über Elternliebe und reflektiert zugleich kritisch das Verständnis unserer Gesellschaft von Behinderung und Gesundheit, unseren Umgang mit Geburtenkontrolle, Abtreibung, Schwangerschaftsvorsorge, vorgeburtlicher Diagnostik und Gentechnik. Eine mutige und kluge Auseinandersetzung mit einem zutiefst schwierigen Thema. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 266

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Anne Finger

Lebenswert

Eine behinderte Frau bekommt ein Kind

Aus dem Amerikanischen von Christine Frick-Gerke

FISCHER Digital

Inhalt

Die Frau in der [...]VorbemerkungFür Mark und Max [...]EinsI23456Zwei789Drei101112Vier131415Fünf161718Epilog

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Vorbemerkung

Ohne die Hilfe meiner Babysitter Gloria Miranda und Anya Rudnick, der Betreuer vom PICSI Center und von A Children’s Place in Santa Monica hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.

Holly Prado, Barbara Crane, Josie Martin, Betty Greenberg, Linda Berg, Rae Wilken, Celia Woloch, Toke Hoppenbroewers, Marla Petal, Barbara Waxman, Frank Clancy, Michelle Hensley, Janet Gallagher, Robin Siegal und Nina Kleinberg haben alle das Manuskript in seinen Anfängen gelesen und mir mit ihren Kommentaren geholfen.

Tandy Parks, Laura Grass, Lisa Manning, Susan Finger und viele andere, die zu nennen der Platz hier nicht reicht, haben mich in dem schwierigen Jahr nach der Geburt meines Kindes liebevoll unterstützt und somit zu diesem Buch beigetragen. Besonders danke ich meiner Mutter Mary El Finger und meiner Schwester Jane Finger.

Dank auch William MacDuff, der mir beim Fertigstellen des Manuskripts geholfen hat.

Herzlicher Dank gilt auch dem Barbara Deming Memorial Fund, mit dessen rechtzeitiger Hilfe und Ermutigung ich dieses Buch beenden konnte.

Meine Lektorin Faith Conlon hat mich klug und umsichtig bei der Überarbeitung dieses Buchs unterstützt. Ihre Ausdauer und ihre Begeisterung haben mir sehr geholfen.

Das Buch wäre ohne die Überzeugungen und Herausforderungen der Frauenbewegung und Behindertenbewegung nicht zustande gekommen.

Für Mark und Max

Eins

I

Ich arbeitete in einer Abtreibungsklinik, als ich feststellte, daß ich schwanger war.

Ich war an jenem Morgen um vier Uhr aufgewacht. Am Abend zuvor hatte ich jede Menge Sushi gegessen und ein Glas Wasser nach dem anderen getrunken, um den salzigen Fisch und die scharfen grünen Wasabi hinunterzuspülen. Ich stolperte im Dunkeln die Treppe hinab und fand im Schrank unterm Waschbecken ein altes Marmeladenglas, in das ich endlos hineinpinkelte. Ich schraubte das Glas fest zu, nachdem ich zwischen Deckel und Glasrand ein Stück Plastikfolie gelegt hatte, damit kein Urin in meinen Rucksack auslief.

Ich kam kurz nach sieben am Feministischen Gesundheitszentrum an, wo ich arbeitete. Als ich mit einigen meiner Mitarbeiterinnen das Gebäude betreten wollte, rief Heidi uns zu: »Jesus liebt euch. Jesus liebt eure Kinder.« Wir kennen ihren Namen, weil sie seit Jahren vor der Klinik steht. Sie folgte uns bis hinters Haus, dann begriff sie, daß wir keine Patientinnen waren.

»Ihr werdet vor Gott verantworten müssen, daß ihr Kinder tötet.« Sie trug ihr blondgefärbtes Haar toupiert wie Connie Stevens in den fünfziger Jahren. »Bitte«, rief sie uns nach, »Jesus will nicht, daß ihr Kinder tötet.«

Wir waren am Eingang, als sie es noch einmal versuchte: »Vom Moment eurer Empfängnis an hat es euch gegeben, ihr mußtet nur noch genährt werden.«

In der Klinik stellte ich meinen Stock in die Ecke und setzte meinen Rucksack ab.

»Morgenurin«, sagte ich zu Arla, einer meiner Kolleginnen. (Für einen frühen Schwangerschaftstest braucht man den ersten Urin nach dem Aufstehen, weil der am konzentriertesten ist.) »Soll ich ihn in den Kühlschrank stellen?«

Sie nickte. »Ich mache die Tests mittags.« Ich war mir ziemlich sicher, daß ich schwanger war. Meine Periode war an diesem Tag fällig, und ich fühlte mich anders als sonst. Als ich vor zehn Tagen in San Francisco U-Bahn gefahren war und sich ein Junge neben mich setzte, der anfing Erdnüsse zu essen, war mir von dem Geruch schlecht geworden.

Trotzdem machte ich, als meine Periode fällig war, den Test. Wahrscheinlich ein Beweis dafür, wie sehr auch ich Sklavin der modernen Medizin bin, und das, obwohl ich vertrete, daß diese uns Frauen den Glauben an die eigene Wahrnehmungsfähigkeit nimmt. Eigentlich glaubte ich noch nicht wirklich, daß ich schwanger war.

 

Jeden Samstagmorgen sitze ich auf diesem Tisch und sage:

»Hallo, wie geht’s euch heute. Alles in Ordnung? … Es ist euch schon besser gegangen, habe ich recht?

Ich heiße Anne, ich erkläre jetzt, was bei einer Abtreibung passiert, und beantworte alle eure Fragen. In zehn Minuten kommt die Ärztin, dann gehen wir in der Reihenfolge, wie ihr in die Klinik gekommen seid, in die Behandlungszimmer. Ich bin die ganze Zeit bei euch. Möchte jemand etwas fragen? Wenn euch später etwas einfällt, vergeßt nicht zu fragen.«

Die Arbeit in der Klinik ist nicht mein »eigentlicher« Beruf, sie ist meine Samstagsbeschäftigung. Ich bin Schriftstellerin. Aber Mark, der Mann, mit dem ich zusammenlebe, und ich waren gerade nach Los Angeles gezogen, und ich suchte einen Ort, um Leute zu treffen, weg von zu Hause, eine Abwechslung vom flimmernden Bildschirm meines Computers.

Es ist in der Tat eine Abwechslung. Wenn ich hier bin, kann ich mir kaum vorstellen, daß außerhalb dieser Mauern die Welt weiterexistiert, vergesse ich fast, daß dies nur ein Bruchteil meines Lebens ist.

Alle sagen, ich könne so gut mit den Frauen umgehen. Ich halte ihnen die Hand; ich sage: »Atme langsam ein und halte die Luft an. Atme langsam aus.« Meine Stimme ist leise und sanft. »Das machst du wirklich gut«, sage ich. »Wir haben es gleich geschafft.« Am Ende des Tages riechen die Räume nach Menstruationsblut, nur intensiver; sie riechen nach dem innersten Kern der Frauen. Am Ende des Tages sind die Räume voller Trauer und Erleichterung gleichzeitig, und mir schmerzt der Kopf, und meine Beine schmerzen natürlich auch.

 

Eine Frau flüsterte ins Telefon: »Mein Name ist Tran Le. Ich komme hier nicht weg.« Ich hörte Kindergeschrei im Hintergrund. »Ich habe einen Termin für neun Uhr …«

»Können Sie einen Augenblick warten?« sagte ich. Ein Mann vom United Parcel Service klopfte an die Scheibe, die den Gang vom Aufnahmeraum trennt. Ich öffnete das Fenster einen Spalt und sagte: »Kann ich Ihren Ausweis sehen?«

»Sie müssen so bald wie möglich kommen«, erklärte ich der Stimme am Telefon und wandte mich wieder dem Paketboten zu.

Sein Blick war vielsagend, hieß soviel wie: »Großer Gott, Sie haben Probleme!« Aber es war nur ein Blick; wenn ich mich bei seinem Vorgesetzten beschwerte, konnte er felsenfest behaupten:

»Ich habe gar nichts getan. Die Frau hat einen Verfolgungswahn.«

Er hielt seine Ausweiskarte hoch.

»Danke«, sagte ich.

Er schob mir eine metallene Schreibunterlage und einen Kugelschreiber entgegen. »Route 32.«

»Einen Augenblick«, sagte ich und kontrollierte die Adresse und den Absender auf dem Paket. Ich rief Roxanne an.

»Ich …«

»Ich weiß, Sie haben’s eilig.« Ich sagte ihm das ungern, aber ich wollte noch weniger, daß er glaubte, mein größtes Vergnügen sei, Paketboten zu belästigen. »Dies ist eine Abtreibungsklinik. Wir müssen davon ausgehen, daß in jedem Paket an uns eine Bombe sein kann. Deshalb muß ich zuerst feststellen, ob der Adressat das Paket erwartet …«

»Oh.« Er sah mich an. Er sah auf das in Packpapier gewickelte Päckchen in seiner Hand.

Ich fragte in den Telefonhörer: »Roxanne, erwartest du ein Paket von Dalton Medical Supply? … Okay, es ist hier.«

»Alles in Ordnung. Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat.«

Tran Le kam in die Klinik; sie war erst fünfzehn Jahre alt. Es müssen ihre jüngeren Geschwister gewesen sein, die ich weinen gehört hatte. Sie sorgte sich, daß es lange dauern würde; daß sie zu spät nach Hause kommen und Ärger haben würde. Die anderen Frauen im Wartezimmer rieten ihr, zu Hause anzurufen und der Mutter zu erzählen, ihr Freund habe eine Autopanne. Sie ließen sie alle vor, obwohl sie zuletzt gekommen war.

Als sie sich auszog, schien ihr Körper unglaublich klein. »Bist du schon einmal gynäkologisch untersucht worden?« fragte Valerie, die Ärztin. Sie schüttelte den Kopf. Tränen standen ihr in den Augen.

Sie weinte während der gesamten Operation, hielt meine Hand fest, während ich leise sagte: »Langsam atmen, atmen, atmen.«

Als es vorüber war, sagte ich: »Darf ich dich in den Arm nehmen?« und drückte sie an mich.

Eine andere Frau begann während meiner Erklärungen zu weinen. »Entschuldigung«, sagte sie, »ich hatte einen salinen Abort im sechsten Monat … Entschuldigung.«

»Diesmal wird es ganz anders sein«, sagte ich.

Ein saliner Abort wird im zweiten Schwangerschaftsdrittel vorgenommen. Die Frau bekommt dann Wehen und gebärt einen toten Fötus.

»Das muß schwer für dich gewesen sein … War wenigstens jemand bei dir?«

»Meine Mutter«, schluchzte sie.

Sie weinte, während ich ihre Hand hielt, weinte auch, während ihr Freund schlechte Witze machte, und weinte während der gesamten Abtreibung, obwohl sie zwei Valiumspritzen bekam.

 

Ich gehe mit den Frauen in die Kabinen. Ich sage ihnen, daß sie sich ausziehen sollen. Ich gebe ihnen einen Operationskittel, wenn sie möchten. Wir reden über ihre Ausbildung oder darüber, was sie gestern im Fernsehen gesehen haben, oder über ihre Ängste. Das Absaugegerät wird hereingerollt. Die Frauen setzen sich auf den Operationsstuhl und legen ihre Beine hoch; ich halte ihnen die Hand. »Die Ärztin führt jetzt das Spekulum ein«, sage ich. Eine Plastikkanüle, der Aspirator wird eingeschaltet, das Absauggerät spült Zellen heraus, aus denen eine neue Sappho, eine Maggie Thatcher, vielleicht ein Beethoven, ein Hitler hätte werden können. Knips die Maschine an, und ein gekrümmter Embryo verschwindet, klein wie ein Fragezeichen, in einem Schwall von Blut und jähem Schmerz.

 

Manchmal, wenn die Gesichter der Frauen vor meinen Augen verschwammen, wenn ich hörte, wie das Absauggerät eingeschaltet wurde, wenn die Frauen meine Hand zu fest drückten, wenn mich der Geruch benommen machte, wenn es schien, als würde mir alles zuviel, erinnerte ich mich, wie ich zum erstenmal zum Gynäkologen ging. Das war 1969. Ich war siebzehn Jahre alt, und Abtreibungen waren noch lange nicht legal. Ich saß im Behandlungszimmer, trug einen weißen Baumwollkittel (die Einwegkittel gab es damals noch nicht), wartete unruhig, daß ich an die Reihe kam, als eine Frau nebenan schrie:

»Nein! Ich kann nicht schwanger sein! Nein! Nein!«

Und in der diskreten Praxis des Gynäkologen schrie sie immer wieder: »Nein!«; das Wartezimmer war voll schwangerer Frauen, die mit übergeschlagenen Beinen Ladies Home Journal und Mac-Calls lasen, deren Blick scheinbar heiter war, aber in meinen Augen oft müde und resigniert schien, und sie schrie immerzu: »Nein!« in jenem efeubewachsenen Bürohaus in der von Bäumen gesäumten Waterman Street.

Seine Stimme hörte ich auch, eine beruhigende, tiefe männliche Stimme, die etwas entgegnete – was? Daß sie dieses Kind eines Tages lieben würde? Daß er ihr niemanden empfehlen könne, der eine Abtreibung vornahm, weil er sonst seine Lizenz verliere, aber daß ihre Freundinnen vielleicht eine Adresse wüßten? Daß sie schließlich schon fünf Kinder habe und das sechste kaum noch merken würde? Daß Fehlgeburten häufiger seien, als man annehme? Daß er ihr nichts versprechen könne, daß er aber angesichts ihres Blutdrucks und des Zusammenbruchs vor fünf Jahren der Krankenhauskommission plausibel machen könnte, daß ihr Leben durch die Schwangerschaft gefährdet sei? Daß viele Mädchen in Heimen entbinden und ihre Kinder zur Adoption freigeben würden und dann weiterlebten, als sei nichts passiert?

Und sie schrie: »Nein! Nein! Ich kann nicht schwanger sein! Ich kann nicht schwanger sein! Ich kann nicht schwanger sein!«

 

Gegen Mittag steckte ich den Kopf aus dem Untersuchungszimmer, und als Arla mich sah, nickte sie.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte ich der Frau, die auf der Tischkante saß und auf die Ärztin wartete.

Roxanne kam aus dem Sterilisationsraum und umarmte mich. »Vielleicht ist es ein Mädchen.«

Constance umarmte mich. »Es wird bestimmt ein Mädchen.«

Ginny löste mich ab, damit ich Mark anrufen konnte. »Herzlichen Glückwunsch«, flüsterte sie. »Hoffentlich ist es ein Mädchen.«

Ich rief Mark an, aber er war nicht zu Hause. Ich hinterließ ihm eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. »Hallo, ich bin’s. Ich bin schwanger. Großer Gott. Oh. Ich bin vermutlich um vier zu Hause. Bye.«

Ich griff nach der Schwangerschaftstabelle, die auf dem Schreibtisch lag, mit der man den Geburtstermin berechnen kann. Meine Tochter würde am 7. September 1985 geboren. Ich wollte eine Hausgeburt. Ich stellte mir vor, daß meine Tochter im gedämpften Licht eines Septembernachmittags zur Welt käme.

Arla kam ins Büro und umarmte mich, sagte: »Es wurde auch Zeit.« Ich hatte es nur drei Monate »versucht«, was eigentlich gar nicht lange war – aber das vergaß man leicht, wenn man in einer Abtreibungsklinik arbeitete und so viele Frauen mit ungewollten Schwangerschaften erlebte, Frauen, die nur einmal ihr Diaphragma vergaßen, Frauen, die schwanger wurden, obwohl sie die Pille nahmen. Wohingegen ich versuchte – ganz im Stil der achtziger Jahre – schwanger zu werden: jeden Morgen meine Temperatur maß, meinen Uterusschleim untersuchte, Mark erklärte: »Okay, heute müssen wir es tun.«

Versuchen, schwanger zu werden. Wie komisch ich diesen Satz vor zehn Jahren gefunden hätte.

Als ich nach Hause kam, legten Mark und ich uns zusammen hin. Es war nicht wie im Film: Er war nicht Cary Grant, ich war keine Myrna Loy. Weder sah er mir in die Augen, noch flüsterte er: »Oh, Darling, ich bin noch nie so glücklich gewesen.«

Ich fragte mich, ob ich genauso ängstlich aussah wie er. Was hatten wir getan? War ich mir wirklich ganz, ganz sicher, daß dies genau war, was ich wollte? Ganz, ganz sicher? Jetzt saßen wir zusammen in der Falle.

Wie konnte ich so versessen darauf gewesen sein, schwanger zu werden, und jetzt soviel Angst davor haben?

Ich lag da und sah Mark an und dachte an all die Gespräche, die wir im Dunkeln gehabt hatten, wenn wir wach im Bett lagen. Ich wollte ein Kind haben; er nicht, noch nicht. Ich war dreiunddreißig. Wie lange würde das »noch nicht« dauern?

Wie würden unsere Leben dann aussehen? Ich hatte als Kind Polio gehabt. Wie würde die Schwangerschaft für mich sein? Hatten wir genug Geld? Wir berechneten auf einem blaulinierten Blatt sogar die monatlichen Kosten für Windeln, für die Beaufsichtigung, für eine größere Wohnung mit einem zweiten Schlafzimmer. Wir dachten an alles, wir haben alles durchdacht.

Marks Eltern waren beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er zwölf Jahre alt war, und eines Nachts sagte er:

»Ich habe Angst, daß das Kind sterben könnte«, und fing an zu weinen.

»Hab keine Angst«, sagte ich, »alles Schreckliche, das uns geschehen konnte, ist doch schon passiert.« Wir hatten unsere Tragödien erlebt, unsere Schuldigkeit getan. Von jetzt an würde für uns beide das Leben leichter.

2

Vielleicht beginnt die Geschichte hier gar nicht; vielleicht beginnt sie an einem warmen Oktobermorgen 1981.

Ich wohnte im dritten Stock eines Apartments in San Francisco. In meiner Kindheit in Providence, Rhode Island, hieß solch ein Gebäude »Dreifachdecker«. Heute würde ein Makler es viktorianisch nennen: ein Treppenhaus, hohe Decken, ein Kamin, eine richtige Küche, keine Einbauküche.

Ich war neunundzwanzig Jahre alt. In wenigen Wochen würde ich dreißig, aber ich war immer noch neunundzwanzig. Morgens war ich Schriftstellerin, saß an meiner grünen Selectric, die ich gebraucht gekauft hatte. Jeden Morgen um elf hörte ich mit dem Schreiben auf, duschte, zog mich an, aß irgend etwas und lief um zwanzig nach elf durchs Treppenhaus nach unten. Nachmittags war ich Sekretärin bei einem Rechtsanwalt, tippte Verhörprotokolle und Beschwerden. An jenem Morgen ging ich etwas früher aus dem Haus, um unten in der Waschküche meine Wäsche aus dem Trockner zu holen.

Vor einigen Monaten hatte ich in einer Fachzeitschrift von einer Konferenz über Erkrankungen der Atemwege und vorzeitiges Altern bei Post-Polio-Patienten gelesen, die im Mittelwesten stattfinden sollte und von der Rehabilitation Gazette veranstaltet wurde. Ich warf die Zeitschrift unters Bett.

Ich habe 1954, als ich drei Jahre alt war, Kinderlähmung gehabt. Als Kind hatte ich Krücken und Stützen; ich bin so oft operiert worden, daß ich, auf Fragen, wie oft, die dicken raupenähnlichen Narben zählen mußte, die sich mein Bein hinaufschlängelten. Jetzt gehe ich an einem Stock, der Räder hat; meine Beine bewegen meinen Körper nicht fort, sondern Schultern, Hüfte und Bauch leisten dies gemeinsam – meine ganze rechte Seite hebt sich, und dann werfe ich mein Bein voran.

Ich mußte immer an den Artikel denken. Jede Woche sagte ich am Ende meiner Therapiestunde zu Pat: »Ich mache mir deshalb Sorgen – was meinen sie damit – Post-Polio-Patienten und vorzeitiges Altern?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mit therapeutischem Stoizismus.

»Ich sollte ihnen schreiben, was meinst du?«

Sie wartete einige Sekunden, bis sie sagte: »Wir müssen jetzt Schluß machen.«

Ich verließ ihre Praxis mit dem Entschluß, nach Hause zu gehen, einen Umschlag zu adressieren und einen sachlichen Brief zu entwerfen: »Ich habe Ihre Ankündigung gelesen … Da ich nicht in der Lage bin, teilzunehmen, würde ich mich freuen, mehr über … zu erfahren … Vielen Dank im voraus … Hochachtungsvoll.« Eine Zwanzig-Cent-Briefmarke, den Umschlag zukleben.

Was ich schließlich tat. Ich schrieb den Brief, setzte meinen Namen darunter, leckte die Briefmarke an und drückte sie mit der Faust fest, strich mit der Zunge am Briefverschluß entlang.

An jenem Oktobermorgen 1981 ging ich hinunter, und auf der Fußmatte lag mit der Aufschrift nach unten ein großer brauner Umschlag. Nicht schon wieder ein abgelehntes Manuskript, dachte ich. Ich drehte ihn um, um den Absender zu lesen: Rehabilitation Gazette, riß den Umschlag auf und blätterte, bis ich die Titelgeschichte fand und las.

»In den vergangenen Jahren ist es Post-Polio-Patienten, Ärzten und Fachleuten auf dem Sektor der Rehabilitation zunehmend deutlich geworden, daß Post-Polio-Patienten über vierzig mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert werden, die eher typische Altersprobleme sind als charakteristisch für die mittleren Jahre.« Ich stellte mir vor, wie eine Flut von Problemen wie ein Un-Segen vom Himmel fiel.

Ich war gerade erst kein Kind mehr, ich begann gerade erst, eine Erwachsene zu werden, die ihre Bücher pünktlich in der Bücherei abgab und die Einnahmen und Ausgaben auf ihrem Konto überwachte, und mit einemmal erklärte man mir, ich sei auf dem besten Wege, alt zu werden? Ich war neunundzwanzig, als ich die Treppe hinunterkam; dort auf meiner Veranda wurde ich in Sekunden um zehn Jahre älter. »Viele Frauen und Männer stellen fest, daß die zunehmende Schwäche sie dazu zwingt, sich anstelle von Krücken und Stützen mit dem Rollstuhl fortzubewegen; Frauen und Männer, die bisher ihren Rollstuhl selbst anschieben konnten, brauchen nun motorisierte Rollstühle.«

Ich stand auf der Veranda und weinte, preßte meine Handballen gegen die Augäpfel. Ich will keinen Rollstuhl, ich will keinen Rollstuhl, ich will keinen Rollstuhl.

Ich wollte meine Karten auf den Tisch werfen: Ich passe. Bitte, teilt mir bessere Karten aus, ich will ein neues Spiel. Gebt mir einen anderen Kampf zu kämpfen, diesen habe ich satt.

Ich schob die Zeitschrift in meine Handtasche und ging in die Waschküche. Ich faltete meine Wäsche, die noch warm vom Trockner war, legte Manschette auf Manschette, strich Falten glatt; weinte. Überlegte, ob ich wieder die Treppe hinaufgehen und Beth bitten sollte, bei meiner Arbeitsstelle anzurufen: »Anne ist krank, sie kommt heute nicht.« Doch ich wollte den Trost der Routine, den Trost, mit meinen Fingern anderer Leute Worte zu tippen, also fuhr ich ins Büro.

In dem Artikel stand, daß die besten Patienten am schlimmsten dran sein würden. Die Polio-Nachbehandlung war aggressiv – stundenlange physikalische Therapie, um die geschädigten Nerven wieder funktionstüchtig zu machen. Die protestantische Ethik wurde auf die Spitze getrieben, je mehr du dich anstrengtest, desto mehr würdest du bekommen. Je mehr du littest, desto mehr würdest du gewinnen. Die neue Theorie hieß »Überrehabilitation«, wir hatten eine Überdosis Nachbehandlung erhalten – unsere geschwächten Nerven machten schlapp, weil man zuviel von ihnen verlangt hatte.

In der Highschool ging ich jeden Tag zu Fuß nach Hause, atemlos, bevor ich an der ersten Ecke angekommen war. Alle meine Kleider hatten riesige Schweißflecken unter den Armen; immer, selbst im tiefsten New-England-Winter, triefte ich vor Schweiß, wenn ich zu Hause angekommen war. Meinen Mantel warf ich immer auf den Fußboden, weil ich zu müde war, die paar Schritte zum Garderobenschrank zu gehen. Immer taten mir die Beine weh, und immer strengte ich mich an, mühte mich ab, versuchte ich, noch mehr zu erreichen.

Nach der Arbeit ging ich in die medizinische Bibliothek des San-Francisco-Zentralkrankenhauses, um die in der Rehabilitation Gazette zitierten anderen Artikel zu suchen. Der Mann hinter dem Tresen aß einen Pfirsich, der Saft tropfte ihm in den Bart. Ich stapelte Zehn-Cent-Münzen auf dem Rand der Kopiermaschine und kopierte »Amyotrophe Lateralsklerose oder Polio-Spätfolge?« und »Späte Läsion des motorischen Neurons«. Ich setzte mich hin und unterstrich alle Wörter in den Kopien, die ich nicht verstand: Faszikulation, Babinski-Reflex, extrapyramidal.

Ich las Krankengeschichten: »Der besagte Patient war 1922 zum Zeitpunkt seines ersten Eintritts in unsere Klinik zehn Jahre alt, die Diagnose lautete damals ›Kinderlähmung‹. Im Oktober 1965 kam er nach vierzig Jahren stabiler Gesundheit ohne besondere medizinische Probleme wieder, klagte lediglich über zunehmende Schwäche. Er war Politiker und hatte festgestellt, daß er seit zwei Jahren zunehmend Schwierigkeiten hatte, seine rechte Hand zum Händeschütteln zu heben, daß er den Golfschläger nicht mehr festhalten konnte … Vier Jahre nach seiner Schwächung mußte er einen Rollstuhl benutzen. Nach fünf Jahren konnten ihn nur noch seine Frau und seine Sekretärin verstehen, wenn er sprach, und dem Bericht zufolge brauchte seine Frau täglich zweieinhalb Stunden, um ihn zu füttern. Als er zuletzt im Juni 1969 in der Mayo Klinik gewesen war, konnte er seine Zunge nicht mehr im Mund halten, seinen Hals nicht mehr aufrecht halten; er hatte progressive Anzeichen von Schwäche und Atrophie …«

Das Wort »progressiv« war kein politischer Begriff mehr, der irgendwo zwischen liberal und radikal angesiedelt war. Jetzt bedeutete es progressive Krankheit, progressiver Zustand, progressive Verschlechterung.

Zum erstenmal seit Jahren ging ich wegen meiner Polio-Erkrankung zum Arzt. Bis dahin war das sinnlos erschienen, denn ich bekam dort lediglich zu hören, daß ich »stabil« sei. Ich mußte drei Wochen auf den Termin warten, in denen ich jeden Morgen beim Aufwachen dachte: »Noch zwanzig Tage«, dann: »Noch neunzehn Tage.«

Das erste, das er mich fragte, war nicht, wann ich Polio gehabt hatte, sondern, was ich sei. Ich bin Sekretärin, sagte ich, aber eigentlich Schriftstellerin. Prosa, Kurzgeschichten, ich arbeite an einem Roman. Wir unterhielten uns über Schriftsteller; er fragte mich, wen ich mochte. Tillie Olsen, Grace Paley, ich mochte die Kurzgeschichten einer Schriftstellerin namens Stephanie Vaughn, die im New Yorker gestanden hatten.

»Oh, Stephanie«, sagte er, »mit der bin ich ins College gegangen.«

Er war so freundlich; ein Arzt, der las, der Prosa las; ein Segen.

Ich erklärte ihm, daß ich mir Sorgen machte über das, was ich in letzter Zeit über Polio gelesen hatte. Er meinte, die Ärzte dächten heute anders über diese Krankheit, untersuchten die Wirkung von Polio auf den gesamten Körper, beschäftigten sich mit den Auswirkungen auf Gelenke und Muskelkraft.

Wir sprachen über meine Operationen.

»Ich glaube, ich bin viermal – nein fünfmal – operiert worden.«

Er berührte die Narben an meinem Bein. »Ist die von einer Knochenmarkstransplantation?« fragte er.

»Ich war noch so klein, ich weiß es nicht mehr.«

»Und diese hier?«

»Eine Sehnentransplantation.«

Mit einem blauen Kugelschreiber malte er mehrere X auf meinen Rücken und erklärte mir, ich hätte eine Rückgratverkrümmung: Meine Wirbelsäule sei nicht gerade, sondern neige sich leicht nach rechts. Ich sagte ihm, daß ich mich um meine Lunge sorgte, mein Atmen. Er meinte: »Um die Lungen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, sorgen Sie sich lieber um Ihren rechten Arm.«

Er riet mir, einen Stock zu benutzen; er überwies mich zur Krankengymnastik, zum Röntgenarzt, um meinen Rücken zu untersuchen.

Er erzählte mir von einer Tagung, die in einigen Wochen in Berkeley stattfand, bei der sich Post-Polio-Patienten aus der Umgebung trafen.

 

Bei jener Tagung in Berkeley saß ich zum erstenmal in meinem Leben in einem Saal voller Menschen, die auch behindert waren. Ich weiß noch, wie nervös ich war. Mark saß neben mir, und ich war froh, einen blonden, gutgewachsenen Liebsten neben mir zu haben. Ich war immer in »normale« Schulen gegangen; ich war »angepaßt«, bevor das Wort in Mode kam. Ich hatte mich als eine normale Person, die lediglich hinkte, durch die Welt bewegt, und vielen Dank – ich brauchte keine Hilfe, ich schaffte alles blendend. Und, nein, ich war ganz und gar nicht wie »die da«. Ich war weder weinerlich noch bedürftig, noch voller Selbstmitleid. Bis ich in jenem Saal saß, hatte ich genug von diesem Ballast abgeworfen, um zu wissen, daß ich all diese Gedanken nicht haben sollte. Also saß ich einfach da und empfand, was Psychologen freifließende Angst nennen.

Ich erinnere mich, wie Judy Heumann, eine Aktivistin für die Rechte der Behinderten, in den Saal kam. Einige Stühle standen ihr im Weg, und bis zum heutigen Tage sehe ich Judy vor mir, wie sie die grünen Plastikstühle beiseite fegte. Die Szene war schockierend (weil sie so grob schien) und zutiefst befriedigend: Sie stand vor einem Hindernis. Sie bahnte sich einen Weg.

Ich empfand solche Gemeinsamkeiten mit den anderen, die Polio gehabt hatten. Es war, als hätte ich mein Leben lang in einem fremden Land gelebt, eine Sprache gesprochen, die nicht meine Muttersprache war. Hier befand ich mich unter Menschen, die verstanden, die ohne besondere Darlegungen, ohne Erklärungen verstanden.

Einer der Sprecher bei einer Podiumsdiskussion mit Leuten, die alle Polio gehabt hatten, war ein Mann, der nur noch einen Arm bewegen konnte. Eines Tages auf dem Weg zum Auto fielen ihm seine Schlüssel hin. Er beugte sich in seinem Rollstuhl nach vorn, um sie aufzuheben, und konnte sich mit einemmal nicht mehr aufrichten: Er hatte plötzlich in seinem »heilen« Arm keine Kraft mehr. Eine Frau, die ebenfalls im Rollstuhl saß, sprach auch. Ihr Körper sah normal aus (ich gebe zu, ich habe das gedacht); sie war weder krumm noch verwachsen. Sie sagte, früher brauchte sie nur einen Stock zum Gehen.

Sie sah beinah normal aus, wie ich, dachte ich.

Ich hätte am liebsten alle in den Arm genommen. Und gleichzeitig wäre ich am liebsten davongelaufen. Ich wäre am liebsten in die Welt zurückgekehrt, in der ich mehr oder weniger als normal galt. Normal. Gelten. Belastete Worte.

Und dann war da die Angst. Ich wollte nicht, daß mir passierte, was ihnen passiert war. Ich wollte nicht schwächer werden, weniger tun. In meiner Werteskala folgte darauf »weniger sein«.

3

Die Ereignisse jenes Herbstes lösten in mir etwas aus. Ich wollte ein Kind haben. Ich wollte aus meinem unvollkommenen Körper etwas Vollkommenes zustande bringen. Ich wollte ein Kind, mit der glatten Haut eines Kindes, ohne Narben, Zeichen, Makel. Ich habe mir niemals ausgemalt, einen Sohn zu haben, immer eine Tochter: Ich wollte mich neu erschaffen. Ich wollte Macht über meinen Körper: Er sollte nicht zerbrechlicher werden, nicht seine Kraft verlieren, er sollte wachsen, mehr schaffen, nicht weniger.

Ich wollte körperliche Stärke. Meine Freundin Mary, die vollständig gelähmt war, bekam immer zu hören: »Du hast immer noch deinen Verstand.« Sie sagte dann: »Ich habe immer noch meinen Körper.« Die Welt erklärt mir, ich solle mich von meinem Körper trennen und ein Kopfleben führen. Einmal zeigte mir jemand ganz aufgeregt eine Briefmarke aus Nicaragua: ein Mann im Rollstuhl, der allein über ein Mikroskop gebeugt arbeitete. Es gibt eine Briefmarke aus den Vereinigten Staaten, die fast identisch ist. Immer dreht es sich um jemanden, der allein arbeitet, vorzugsweise männlich, hervorragend, körperlos, ein Kopf. Ich wollte nicht allein sein; ich wollte nicht körperlos sein.

Wochenlang war ich vernarrt in die Idee, ein Kind zu haben, sah mir in Schaufenstern Babysachen und Kinderzimmermöbel an. Ich plante nicht bewußt, schwanger zu werden, aber einen Monat lang benutzte ich keine Verhütungsmittel.

Am 31. Dezember stellte ich fest, daß ich schwanger war. In San Francisco wirft jeder an Silvester seinen alten Kalender auf die Straße. Ich erinnere mich, wie ich auf meinem Weg zur Arbeit durch all die vergangenen Tage – August, Juni, Mai, Oktober – stolperte.

Um zwei Uhr sollte ich die Klinik, die den Schwangerschaftstest gemacht hatte, anrufen. Um eins saß ich im Büro an meinem Schreibtisch und ging mit dem Finger die Namen im Telefonbuch durch:

Buena Vista Alternative Grundschule

Buena Vista Kirche Christi

Buena Vista Hof

Buena Vista Spirituosen

Buena Vista Weinkellerei

Buena Vista Frauenzentrum; ich wählte die Nummer.

»Ja«, sagte ich, »ich kann am Apparat bleiben«, und hoffte, die andere Leitung werde nicht läuten. »Hier spricht Anne Finger, ich habe gestern eine Blutuntersuchung machen lassen. Ist das Ergebnis schon da?«

»Anne Singer?«

»Nein. Finger. Wie das Ende der Hand.«

»Oh, Finger«, sagte sie und blätterte. »Urin oder Blut?«

»Blut.«

»Da haben wir’s. Ihr Test war positiv.«

»Positiv?«

»Sie sind schwanger.«

Ich schwanger? Als ich klein war, kamen mir die typischen Mädchenspiele – Verkleiden, Puppen – vor wie das, was sie waren, Spiele. Mein eigentliches Ich war das eines Wildfangs – ich kletterte auf Felsen und sammelte Mäuseskelette und den Schädel einer Kuh. Wie konnte ich schwanger sein?

Mark und ich dachten das ganze Wochenende darüber nach. Wir gingen die 24. Straße hinauf; überall waren Babys. Ich verzichtete auf den Neujahrssekt; ich kaufte eine Zwei-Liter-Flasche Milch. Seit ich Mitte Zwanzig war, wollte ich ein Kind. Aber – ich hatte genau fünf Dollar auf meinem Girokonto; zehn Dollar auf meinem Sparkonto. Als Mark am Montag sagte, eigentlich sei er noch nicht bereit, ein Kind zu haben, war ich erleichtert, daß er meinem Hin-und-Hergerissen-Sein, meinen Ängsten und Sehnsüchten ein Ende machte. Ich konnte kein Kind bekommen, nur weil ich Trost brauchte. Was ich wollte, war der Traum von Vollkommenheit, kein wirkliches Kind.

Ich rief gleich an jenem Montagmorgen die Kaiser-Klinik an, die für mich zuständige kommunale Gesundheitseinrichtung. Die Sekretärin am Telefon erklärte, ich könne erst in zehn Tagen einen Termin mit der für mich zuständigen Ärztin bekommen, also verabredete ich einen Termin mit dem erstbesten Arzt, der frei war.

Der erstbeste freie Arzt, stellte ich fest, war frei, weil niemand einen Termin bei ihm wollte.

Er kam in den Behandlungsraum und bombardierte mich mit Fragen: »Wem gehört dieser Stock? Wie sind Sie schwanger geworden? Wer sind Sie?« (Letztere Frage war an Mark gerichtet.) Er wartete nicht auf meine Antworten, sondern donnerte weiter. Ein militärischer Zugang zur Medizin.

Er fragte mich, wann ich Polio hatte; ich antwortete: »Da war ich noch nicht drei.« Er warf mir einen vernichtenden Blick zu: »In welchem Jahr?« Orthopädische Operationen? Wie oft? »Fünf- oder sechsmal.« Sonst etwas nicht in Ordnung? Herzbeschwerden, Epilepsie oder ähnliches? Was ist mit Ihrer Familie? Ist in Ihrer Familie etwas nicht in Ordnung? »Nein«, sagte ich, »in meiner Familie ist alles in Ordnung!«

Bevor ich auf dem Formular meine schriftliche Einwilligung gebe, rattert er wie eine Dreiunddreißiger-Schallplatte, die mit fünfundvierziger Geschwindigkeit gespielt wird, eine Rede herunter: »Wie Sie wissen, besteht bei jeder Operation ein Risiko, selbst wenn Sie einen Zahn gezogen bekommen, besteht Lebensgefahr; die gleiche Gefahr besteht statistisch auch bei einer Abtreibung. Okay. Sind Sie sicher, daß mit Ihnen alles in Ordnung ist?«

Er untersuchte meine Vagina so grob, daß ich für den Rest des Tages Schmerzen hatte, und gab mir einen Termin in drei Wochen. (Es gab eine Warteliste.). Er ging und schlug die Tür hinter sich zu.

Allmorgendlich wachte ich, nachdem ich länger als je zuvor in meinem Erwachsenenleben geschlafen hatte, mit einem Übelkeitsgefühl auf; jeden Tag nach der Arbeit stand ich vor der langen Treppe, die zu unserem Apartment führte, und konnte mir nicht vorstellen, daß ich es bis oben schaffen würde. Mount Everest, das Matterhorn, Denali: Ich stieg und stieg. Immerzu fiel ich hin: zweimal auf Betonboden flach auf den Rücken, meine Knie wurden weich, immer wieder kam ich ins Taumeln. Ein Hormon, erinnerte ich mich, einmal gehört zu haben, das die Beckengegend lockert, lockert sämtliche Gelenke. Deshalb bekommen Frauen nach dem ersten Kind größere Füße. Aber wenn man keine normale Muskulatur hat, die die Gelenke stützt, machen diese schlapp, werden schwach und geben nach.

Nachdem ich drei Wochen lang immer wieder hingefallen war und die Tage bis zu meinem Termin gezählt hatte, ging ich morgens früh um sechs in die Kaiser-Klinik. Man hatte mir ein Informationsblatt mitgegeben, auf dem es hieß: »Tragen Sie kein Make-up, keinen Nagellack, keine Perücken oder Schmuck. Vergessen Sie nicht, Ihren Krankenschein mitzubringen.« Wir waren fünf Frauen, die zusammen auf einen Schwangerschaftsabbruch warteten. Wir mußten unsere Kleider ausziehen und Papierkittel anziehen, Papiermützen übers Haar, Papiersocken für die Füße. Zusammen schlurften wir über den Flur, fast identisch, eine wie die andere, mit bloßen Händen und ungeschminktem Gesicht.