Harte Wahrheit - Anne Finger - E-Book

Harte Wahrheit E-Book

Anne Finger

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Beschreibung

Die behinderte Fotografin Elizabeth Etters erfährt, daß sie schwanger ist. Gleichzeitig erreicht sie die Nachricht, daß ihr Vater im Sterben liegt. Angesichts dieser Ereignisse erinnert sich Elizabeth an ihre Kindheit, die geprägt war vom politischen Engagement der kommunistischen Eltern, an die frühe Polioerkrankung, an ihr Studentinnenleben am Rande des Existenzminimums. Eine Reise nach Spanien, wo der Vater im Bürgerkrieg kämpfte, wird zur Auseinandersetzung mit dem schwierigen Verhältnis zu jenem lieblosen, selbstzerstörerischen Mann. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 376

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Anne Finger

Harte Wahrheit

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christine Frick-Gerke

FISCHER Digital

Inhalt

Die Frau in der [...]Zur Erinnerung an Laura [...]123456789101112

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Zur Erinnerung an Laura Lenart

1967–1990

1

»Ich habe deine Testergebnisse«, sagt sie. »Und du bist schwanger.«

Der kratzige Kunstfaserbezug an meinen bloßen Ellenbogen. Mein Stock und meine Handtasche auf dem Boden neben dem Sessel. Die Frau, die sich mir vor einer Minute vorgestellt hat (»Hallo, ich heiße Sherry. Ich bin eine der Beraterinnen hier«), sitzt gegenüber auf einem hellen Holzstuhl mit braunem Stoffsitz. Das Plakat an der gegenüberliegenden Wand, ein Bär balanciert auf einem bunten Zirkusball, darunter das Wort CYRK.

»Hast du dir Gedanken gemacht, was du tun wirst?« fragt sie und beugt sich zu mir. Ihre Körperhaltung signalisiert: Ich bin offen, ich bin unvoreingenommen, du kannst mir alles mitteilen.

Beinah hätte ich gesagt, nein, Sherry, ich habe nicht den geringsten Gedanken daran verschwendet. Das Thema Nachwuchs ist mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Nee. Nein. Nie. Ich richte mich im Sessel auf. Ich räume ein: »Ich habe mir schon Gedanken gemacht.«

»Ja?« fragt sie, ein undefinierbares »Ja« mit offenem Ende.

Ich überlege, wie sich ihr Name schreibt. Vielleicht Sherri oder sogar Cheri. Bei allem, was ich meinen Eltern vorwerfen kann, immerhin hatten sie keinen Hang zu seichten Vornamen, zum Niedlichen. Immerhin wurden wir alle nach aufrechten Heiligen benannt.

Sie schaut mich an, wartet, daß ich etwas sage, und ich sage also: »Ich bin mir nicht sicher.«

»Nicht sicher?« wiederholt sie.

»Nicht sicher.«

Sei nicht so hart mit ihr, Etters. Du haßt dieses Mitgefühl, dieses: »Hallo, ich heiße Sherry und nehme deine Gefühle ernst«, aber was willst du – preußische Gründlichkeit?

»Wahrscheinlich hast du mehr zu überlegen als viele andere Leute.«

»Ja.« Wie hat sie das geahnt? Nein, sie ahnt nichts. Sie spielt auf meine Behinderung an. Ich spüre, wie sich mein Eigensinn regt, mein alter Dickschädel Erzähl mir nicht, daß ich es nicht kann. Das letzte, was ich jetzt brauche, ist, daß mein Widerspruchsgeist Oberhand gewinnt.

»Das ist es eigentlich nicht. Es ist … etwas anderes.«

»Etwas anderes? … Bist du verheiratet?«

»Nein.« Ich will aus dem Frauengesundheitszentrum raus. Ich will woanders sein, egal wo, irgendwo. Ich beantworte weiter Sherrys Fragen. Ich nenne ihr das Datum meiner letzten Periode, vor kaum mehr als vier Wochen; ja, ich habe Zeit zum Überlegen. Ich höre ihr zu, und sie erzählt mir, wie sicher eine Abtreibung vor der zwölften Woche ist; ich werfe nicht ein, daß ich dies alles weiß und sie es mir nicht zu erzählen braucht.

Mir ist schwindelig, als ich die steinernen Stufen des Klinikeingangs hinuntergehe. Schwindelig, ein schönes Wort. Ich sehe Eisläufer auf einem zugefrorenen See, beinah fallen sie rücklings, lachend, doch sie fangen sich wieder und laufen weiter. Schwindelig. Ein Kind wächst in mir. Ein Kind. In mir.

Nein, kein Kind, ein Fötus. Nicht einmal ein Fötus. Vielleicht noch nicht einmal ein Embryo. Vielleicht ist es noch eine Zygote, eine Zellenansammlung, die unter dem Mikroskop wie dicke Seifenblasen aussieht. Ich gehe in die Bücherei und leihe mir ein Buch über die Entwicklung des Fötus aus; ich leihe mir eins über Schwangerschaftsgymnastik und eins über Ernährung aus. Ich werde Tofu essen und Algen und Kohl und Mohrrüben und Bienenpollen und –

Was denke ich mir bloß? Es ist verrückt. Matt und ich, das ist so neu. Zu neu. Wie konnten wir ein Kind machen? Wird das nicht Auge in Auge gemacht, in Missionarsstellung? Entspringt das nicht dem Akt der Liebe oder vertrauter Langeweile, unter dicken Decken?

Anscheinend nicht. Nicht immer.

Wenn ich meine Arbeit noch hätte. Die Arbeit in der Anwaltsfirma, meine ich. Ich habe sie immer Job genannt, im Unterschied zur richtigen Arbeit, meiner Kunst. Ich könnte etwas Geistloses gebrauchen, etwas fast Körperliches, vor dem leeren Bildschirm sitzen und Worte verarbeiten. »Hiermit versichert der Verpächter dem Pächter, daß keine früheren Verträge oder Einschränkungen außer den hier genannten existieren und …«

Ich mühe mich die Geary Street hinauf, eine von San Franciscos sachte steigenden Straßen, immer noch steil genug, daß ich an jeder Ecke halte, weil ich sonst vor Asthma pfeife. Ich finde eine Telefonzelle und rufe Ann Marie an. Vor vier Tagen, als wir hinten am Nickel-Becken im Missionsgelände saßen, fiel ihr die Rolle des Erzengels Gabriel zu.

Sie reichte mir den Sonnenschutz und sagte: »Schmierst du mir den Rücken ein? Ich möchte lieber alt werden und an Alzheimer sterben.« Als ich mich zu ihr beugte, meinte sie: »Mein Gott, du hast einen Riesenbusen … Du bist doch nicht – schwanger?«

Ich schaute hoch. Das erste, was ich sah, waren die Worte, die seitlich am tiefen Beckenende auf den türkischen Kacheln standen. Ich las sie laut: »Agua profundo.«

»Agua profundo«, stimmte sie zu.

Jetzt steht ein schwindeliges Mädchen in der Telefonzelle Ecke Geary und Bush Street und sagt in den schwarzen Plastikhörer: »Ich bin schwanger.« Ich sage es schon, während das Telefon noch läutet, und dann sage ich es zu Marie, die »Hallo« antwortet.

»Willst du herkommen? Ich habe bis Mittag keinen Patienten.«

Ann Maries Krücken baumeln an ihren Unterarmen, als sie mich umarmt.

»Ich bin glücklich«, sage ich. »Mir ist wahnsinnig zumute, aber ich bin glücklich.«

Dann fange ich an zu weinen. Sie gibt mir ein Kleenex, holt mir ein Mineralwasser mit Zitrone und streichelt meinen Rücken.

»Hast du es Matt erzählt?«

»Ich wollte es ihm nicht am Telefon erzählen … Ich bin noch nicht soweit.«

Zehn Minuten nach meiner Ankunft gehe ich wieder. Ann Marie leiht mir eine Sonnenbrille, hinter der ich meine roten Augen verstecke.

Bei Lucca, einem italienischen Delikatessengeschäft am Rand der Mission, reihe ich mich in eine lange Schlange, um ein Sandwich zu kaufen. Aber als ich bedient werde, weiß ich immer noch nicht, was ich will. Das Problem ist nicht, daß mich nichts lockt, sondern ich möchte alles auf einmal: Ich möchte Thunfisch auf Sauerteig mit Pfefferschoten und Schweizer Käse; ich möchte Copa und Provolone mit Essig und Öl; ich möchte Cheddar und Schweizer Käse auf Weizenvollkornbrot. Ich möchte Essen, das mich tröstet, und Essen, das brennt und meine Geschmacksnerven weckt.

Als ich dran bin, sage ich: »Ich glaube, ich möchte eigentlich gar nichts« und gehe. Draußen angelangt, weiß ich genau, was ich will: Thunfisch. Aber es ist mir zu peinlich, wieder hineinzugehen.

Ich fahre nach Twin Peaks und schaue über die Stadt. Weil Wochentag ist, sind kaum Touristen da. Nur ein Charterbus steht auf dem Parkplatz. Ich stehe ein paar Minuten dort, schaue über den Ozean und die Bay, das Golden Gate und die Bay-Brücken. Mission-Blue-Schmetterlinge gibt es nur hier an den Hängen und nirgends sonst in der Welt. Eine bedrohte Spezies. Jedesmal, wenn ich hierherkomme, halte ich Ausschau, aber ich habe noch nie welche gesehen.

Ich fahre in mein Atelier. Daß ich schwanger bin und mein Leben zwischen Himmel und Erde hängt, braucht nicht zu heißen, daß ich keine ernsthafte Künstlerin werde und nicht wenigstens sechs Stunden täglich darauf hinarbeite.

An meiner Tür klebt ein großer brauner Umschlag. Ich reiße ihn ab. Auf meinem Anrufbeantworter leuchtet die Fünf – wenn er die Null anzeigt, bin ich deprimiert, wenn auch nur kurz. Ein paar Anrufe von meinen Schülerinnen; Bücher, die ich bestellt habe, sind angekommen. Kein Anruf von meiner Mutter. Keine Nachricht ist eine gute Nachricht. Mein Vater stirbt im Krankenhaus an Leberzirrhose.

Als Clara, meine ältere Schwester, mich vor drei Monaten anrief und erklärte, sie hätten seine Krankheit diagnostiziert, schlug ich in medizinischen Lehrbüchern nach. Leberzirrhose, gewöhnlich verursacht durch Alkoholmißbrauch, führt zum Tode … Faserbänder (innere) lösen sich aus der Leberstruktur. Die überlebenden Zellen vermehren sich zu Zellinseln, die von totem Gewebe umgeben sind … das Syndrom geht auf den restlichen Körper über … die Therapie verläuft unspezifisch, unterstützend …

In einem Buch war tabellarisch aufgelistet, was mit ihm geschehen würde. Bewußtseinszustand war die erste Spalte überschrieben: Er würde vom Dauerschlaf zur Schlaflosigkeit oder Umkehrung des Schlafmusters, zur Schlafsucht oder Betäubung und schließlich zur Bewußtlosigkeit dahinsiechen. Die nächste Spalte, Intellektuelle Funktion, zeichnete die Reise von beeinträchtigtem Urteilsvermögen und eingeschränkter Konzentration sowie Zeitverlust über Gedächtnisschwund bis zu Verlust des Ortssinns; Ich-Verlust. Unter Persönlichkeit/Verhalten hieß es: übertriebenes Normalverhalten; Euphorie oder Depression; Hemmungslosigkeit; bizarres Verhalten; Paranoia oder Wut; am Ende »Wahnsinn« und dann »Nichts«. Den ersten Schritt abwärts hat er schon hinter sich.

Ich öffne den großen braunen Umschlag, der an meiner Tür klebte, nehme die Kontaktbögen heraus, die Cyndi mir schickt. Wenn dieser letzte Schub Negative abgezogen ist, habe ich die Vorbereitungen für meine Ausstellung, die in wenigen Wochen stattfindet, hinter mir.

Ich studiere die Kontaktbögen mit dem Vergrößerungsglas, betrachte eingehend die Frauenkörper. Ich decke sie mit schwarzen Kartonstreifen ab, schiebe sie hin und her, suche mögliche Ausschnitte aus. In meiner Ausstellung zeige ich Fotos von behinderten Frauen, nackt.

Im Synonymwörterbuch suche ich den Begriff behindert. Er steht unter der Rubrik Impotenz. Impotenz, Machtlosigkeit … Unvermögen, Untauglichkeit, Unfähigkeit, Unzulänglichkeit, Unangemessenheit, Insuffizienz, Unbrauchbarkeit, Geistesschwäche; Behinderung, Invalidität, Kampfunfähigkeit, Disqualifikation. 5. Verstümmelung, Entmannung, Verweichlichung; Kastration. 6. impotent, unfähig, untauglich; Versager, Platzpatrone, Niete (ugs.); Eunuch. VERBEN. 9. unfähig machen, außerstand setzen, außer Gefecht setzen; schwächen, zum Krüppel machen, verstümmeln, lähmen, Sehnen durchschneiden, Knochen brechen; Unzucht treiben; verhunzen (ugs.), einen Strich durch die Rechnung machen (ugs.).

Ich lese diese Worte laut; ich überlege, ob ich sie auf Band aufnehme und in meiner Ausstellung zur Untermalung abspiele. Aber ich bin mir nicht sicher, vielleicht mindert es die Wirkung der Fotos.

Ich halte es nur zwei Stunden in meinem Atelier aus.

Ich gehe in die 24. Straße in Noe Valley und kaufe ein Paar lila Socken, ein Paar Ohrringe, einen Häagen-Dasz-Eiscremeriegel – obwohl gegen Häagen-Dasz ein Boykott läuft, weil der Besitzer rechte Projekte unterstützt –, eine Bluse aus Guatemala und einen Strauß Lilien. Ich gebe über 100 Dollar aus. Sonst tue ich so etwas nie. Ich kaufe Sachen im Ausverkauf, und selbst dann überlege und überlege und überlege ich. Bin ich das, jetzt?

Ich fahre nach Hause nach Bernal Heights und sitze, sitze nur, schaue aus dem Fenster.

Eine Stunde später ruft Matt an und sagt, Sean, sein Mitarbeiter, der Aids hat, habe wieder einen dieser leichten Schlaganfälle gehabt – wie heißen die noch? – nicht TIAS, da sind wir uns einig, aber die richtige Abkürzung fällt uns nicht ein – jedenfalls übernimmt Matt seine Schicht. Eine Doppelschicht, das bedeutet, daß er in sechzehn Stunden fast 500 Dollar verdient. Seine Stimme wird leise; ist es okay, wenn er um kurz nach Mitternacht kommt?

»Klar«, sage ich. Ich habe ihm nichts erzählt: Nicht, daß meine sonst so auf die Minute pünktliche Periode ausgeblieben ist, nicht, daß ich gestern morgen einen Test habe machen lassen. Beinah sage ich, Matt, ich muß mit dir etwas besprechen. Doch ich lasse es. Soll er seine Doppelschicht arbeiten; ich erzähle es ihm später. Aber er spürt das Zögern in meiner Stimme und fragt: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, sage ich. »Ich bin nur nicht ganz da. Ich denke über meine Ausstellung nach.«

An drei Abenden in der Woche sitzt Matt in einer Anwaltsfirma am Computer. Wenn er drei Schichten pro Woche arbeitet, verdient er beinah genug für seinen Lebensunterhalt. Der Trick liegt darin, an Feiertagen zusätzliche Schichten zu ergattern, Doppelschichten, in denen man die Hälfte mehr verdient und dann, nach zwölf Stunden, das Doppelte. Bei Marx steht, daß die Proletarisierung der Arbeit voranschreitet. Im Computerraum sieht es wie in einer Fabrik aus: reihenweise Bildschirme, an denen vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, gearbeitet wird. Geschlossen nur an Thanksgiving und Weihnachten.

Bis vor einem Jahr habe ich auch am Computer einer Anwaltsfirma gesessen, Spätschicht, genau wie er, obgleich ich mit meiner Kunst genug verdiente, so daß ich wöchentlich nur eine Schicht arbeiten mußte. Wenn ich nachmittags um halb fünf das Gebäude betrat, waren alle noch zugeknöpft. Anwälte in Tausend-Dollar-Seidenanzügen, Sekretärinnen, die nach Erfolg aussahen. Wurde es Abend, legten die Teilhaber Jacken und Krawatten ab; die Schreibkräfte, Korrekturleser und Gehilfen zogen Schuhe und Socken aus. Wir gingen barfuß auf dicken Teppichen, hängten die Bilder an den Wänden um (die wahre Kunst, gnadenlos und unaufdringlich), bestellten Essen im chinesischen Schnellimbiß und setzten es Drexel Burnham Lambert, dem größten Klienten, auf die Rechnung. Wenn wenig los war, sangen Kirk, George und Roger, drei Schwule, die Korrektur lasen, im Chor synchron zu alten Ronettes- oder Supremes-Songs.

Die meisten, die Spätschicht arbeiteten – vom späten Nachmittag bis Mitternacht –, waren Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, manche fast erfolgreich. Sie arbeiteten ein, zwei Schichten in der Woche, manche zahlten ihr neues Auto ab oder ihre Schulden im Nobelkaufhaus Saks Fifth Avenue. In der »Gruftschicht« – Mitternacht bis morgens, halb neun – arbeiteten die wirklich irren Typen, deren Sozialverhalten für einen Job am hellichten Tag nicht reichte, manche gefährlich dicht am Rande der Psychose.

 

Vor vier Monaten zog Matt in das gegenüberliegende Atelier auf meiner Etage. Er brachte mich zur Weißglut – ein Junge, kaum ein paar Jahre aus der Kunstschule, der mit seinen Motorradstiefeln die Treppen rauf- und runtertrampelte, aus dessen Atelier ständig laute Gespräche und Musik kamen. Aber nicht nur der Lärm: die Jeans, Lederjacke, Motorradstiefel, die ganze Künstler-als-böser-Mann-Nummer nervte mich. Und die vielen Freunde in seinem Atelier. In meins lasse ich niemanden rein, ich will nicht, daß jemand bei mir herumschnüffelt und mich ausfragt, woran ich gerade arbeite. Ich mißtraue großen Posen.

»Kannst du den Fahrstuhl festhalten?« rief er mir eines Tages zu und kam trapp-trapp mit seinen schweren Stiefeln über den Flur getrampelt. Ich wollte gerade etwas über den Lärm sagen, suchte noch nach Worten, hart, aber nicht zickig, da sagte er:

»Du bist doch Elizabeth Etters? … Matt Roth.«

Wir gaben uns die Hand.

»Ich mag deine Arbeiten. Ich mag sie sehr.«

»Danke«, sagte ich.

»Meine Mutter mochte deine Arbeiten. Theresa Gagliardi.«

»Oh, ach …« Sie war eine feministische Künstlerin. »Es tut mir leid, daß sie gestorben ist.«

»Yeah«, sagte er. »Meine Mutter war eine klasse Frau.«

Klasse Frau?

»Was für Sachen machst du?« fragte ich, als der Fahrstuhl rumpelnd hielt.

»Ich bin Fotograf«, sagte er, machte einen Schritt und zog an dem Gurt, damit die Tür sich öffnete. »Und ich habe einen Job als Schreibkraft.«

Ein paar Tage später klopfte er an meine Tür. »Ich habe eine Ausstellung«, sagte er und überreichte mir die postkartengroße Einladung.

»Okay«, sagte ich. Ich bin kurz angebunden – wie immer im Atelier. Unterbrich mich nicht; ich versuche mich zu konzentrieren. Ich wollte nicht zu unfreundlich sein, deshalb sah ich zu ihm hinauf und lächelte.

Seine Augen, haselnußbraune Iris, schwarz umkränzt, schauten direkt zurück, überraschten mich. Ich spürte die Anziehungskraft, scharf, nicht diffus und weiblich, die reine pochende Lust.

»Ich sehe zu, daß ich kommen kann«, sagte ich.

»Ich hoffe es.«

Auf der Karte war ein Foto von einer leeren zweispurigen Straße, irgendwo im Südwesten, der gerade weiße Mittelstreifen verblich beinah zur Unsichtbarkeit, an den Straßenrändern dürre Salbeistauden; auf einer Seite in den Geländerzwischenräumen zerrissener Stacheldraht.

Während des Tages spielte ich mir das Treffen wieder vor. War ich verrückt, dachte ich, daß ich in oberflächliche Banalitäten Bedeutung hineinlas, in sein: »Ich hoffe es.« Wie kann eine Frau wie ich, eine solide Feministin mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen, immer noch wegen Jungen den Verstand und die Sprache verlieren, Herzflattern haben, als sei sie wieder sechzehn? (Außer, daß ich mit sechzehn keinen Freund hatte, nicht die Sprache verloren und auch kein Herzflattern hatte. Ich nahm alles ernst: ernst, daß der Krieg ein Ende hatte, ernst, daß die Unterdrückung ein Ende hatte, viel zu beschäftigt, um zu kichern und mich um Jungen zu kümmern.)

Ich hatte Tagträume voll Lust: lud ihn auf ein Glas Wein ein, warf ihm ein scheues Lächeln zu, zog ihn dicht zu mir heran, zog den Reißverschluß seiner Jacke auf, seiner Jeans. Pfeif auf die Romantik. Außerdem gibt es Aids. Heutzutage müssen wir uns vorm Vögeln ernsthaft unterhalten; wir hüllen uns in Gummi. Abgesehen davon, daß ich viel zuviel Angst habe, den ersten Schritt zu tun, Angst, mich lächerlich zu machen, Angst, abgelehnt zu werden.

Hier saß ich und hatte Lust auf einen Mann, der klein war. Zuerst, als ich mit Danny, meinem Exehemann, nicht mehr klarkam, traf ich alle möglichen Männer, Elektroingenieurstudenten, Möchtegern-Buddhisten, Männer, die mich langweilten, aber die mir keine Angst machten. Groß, sie mußten groß sein – nicht klein wie Danny, wie Daddy. Ich sah die Tatsache, daß mich ein kleiner Mann so anzog, als ein gutes Zeichen an, ein Zeichen, daß ich den Bann der Vergangenheit brach.

Ich ging zu seiner Eröffnung.

Die leere Straße.

Ein ungemachtes Bett in einem billigen Hotelzimmer; ein eisernes Bettgestell, ein Waschbecken in der Ecke, zerschlissene Vorhänge, durch die das Sonnenlicht brach.

Ocean Bay an einem grauen Tag, eine niedrige Welle rollt träge an den einsamen Strand, die Flutlinie der Kiesel, Plastiktüten, Seetang, Bierdosen.

Er grinste, als er mich sah. Wir redeten. Ich hoffte, er würde mich fragen, ob ich nachher mit ihm etwas trinken ginge. Ich hätte ihn fragen können. Aber ich hatte den ersten Schritt getan, indem ich zur Eröffnung gekommen war. Vielleicht schüchtere ich ihn ein, dachte ich, und eine Behinderte muß es manchmal dem anderen mit dem Holzhammer sagen: »Hier bin ich, ich bin eine Frau, ich habe ein Geschlecht, sieh mich an!«

»Okay«, sagte ich, nachdem er sich ein paar Minuten mit mir unterhalten hatte, »geh lieber und rede mit den wichtigen Leuten.«

»Wenn du mit mir hinterher etwas trinken gehst.«

Zehn Minuten später schlängelte ich mich durch die Menge zu ihm. »Komm am Atelier vorbei, und hol mich ab, wenn du fertig bist. Ich möchte noch etwas tun.«

Fast zwei Stunden später klopfte es. »Nein«, sagte ich, »ich bin ohne Auto da. Ich bin mit dem Bus gekommen.«

Ob ich mit seinem Motorrad mitfahren könnte, mit dem Stock und so? Er war geradeheraus. Das mochte ich an ihm.

Der Stock war nicht das Problem; besaß er einen weiteren Helm?

Nein, er trug keinen Helm; wenn er einen schweren Unfall hätte, wollte er lieber ganz tot als halb tot sein.

Ich überlegte, ob ich sagen sollte: »Einige meiner besten Freunde hatten eine Gehirnverletzung.« Ich ließ es lieber. Ich glaube zwar nicht, daß wir uns gestritten hätten; aber der Abend hätte einen unguten Beigeschmack gehabt. Und ich wollte gern hinter ihm sitzen; ich wollte gern seine Taille umarmen.

Ich kletterte auf den Sitz hinter ihm. Er fuhr nicht besonders schnell, aber es kam mir schnell vor. Ich fühlte wieder die Anziehungskraft. Jahrelang hatte Sex immer Sex mit Jeremy bedeutet, dem Mann, mit dem ich fünf Jahre zusammenlebte: Sex mit Liebe und später Liebe und Wut, Vertrautheit und später Verpflichtung. Wir kannten uns so gut. Wir wußten, was wir mochten; wir wußten, was wir brauchten.

Dies war etwas anderes. Die Spannung war hart: nichts Diffuses; keine Sehnsucht, die in Depression versank. Dies war reine Lust, ich hatte Angst.

Die Kellnerin fragte, was ich trinken wollte. Ich erklärte, daß ich noch nicht wisse, was. Ich trinke selten, es ist jedesmal ein besonderer Anlaß. Einen Margarita, beschloß ich. Ich bin wie ein Kind, ich mag es süß, Getränke, die wie Eiscremesoda schmecken, keine harten Sachen.

»Ich bin vierundzwanzig«, sagte er.

»Dreiunddreißig.«

»Ich dachte nur, wir sollten das hinter uns bringen.«

Wir redeten; über die Museumsschule, die Kunstakademie in Boston, die wir beide besucht hatten; über die Heizprobleme in unseren Ateliers. Er fragte mich. Ich antwortete. Wie lange ich hier wohne? Sieben Jahre. Nach Kalifornien bin ich gekommen, weil ich hier zur Kunstakademie gehen wollte. Woher ich komme? Ursprünglich aus Massachusetts, West Massachusetts und dann Boston. Ich erzählte ihm, daß meine Eltern alte Linke waren, mein Vater auf der schwarzen Liste stand und wie wir versucht hatten, von der Landwirtschaft zu leben. Ich war lustig, nett, erzählte meine Geschichte von den Stadtmenschen auf dem Bauernhof.

»Nach Boston dann London«, sagte ich.

»London, warum London?« fragte er.

»Dort bin ich aufs College gegangen. Und dann habe ich einen Engländer geheiratet. Es hat nicht lange gehalten. Und dann habe ich fünf Jahre mit jemandem zusammengelebt. Wir haben uns gerade getrennt, vor einem halben Jahr.«

»Oh«, sagte er. Dreißig Sekunden Schweigen, während die Worte sich setzten. Ich wette, daß er dachte, als sie heiratete, war ich neun. Dann: Also wann bist du zur Museumsschule gegangen?

Nachdem ich meinen Mann verlassen habe. Dann habe ich ein Stipendium an der Kunstakademie von Kalifornien bekommen.

Matt erklärte, Südkalifornien gefalle ihm, so etwas hatte ich noch niemanden in San Francisco sagen hören. »Gefällt dir Valencia?« fragte ich, dort in der Wüste lag nämlich die Kunstakademie. »Jetzt ist San Francisco mein Zuhause«, sagte ich.

Meine Single-Freunde behaupteten, es sei wie ein Rap-Song, den du singen mußt: deine Familiengeschichte, deine Ehen/wesentlichen Beziehungen, die Orte, an denen du gewohnt hast, deine politischen/philosophischen/geistigen Bindungen und Werte.

Dann stellte ich ihm endlose Fragen. Er war in San Francisco aufgewachsen. Seine Mutter kam aus North Beach; sein Vater auch; sein Vater arbeitet in einer Werbeagentur. Er ist Art-Director. Seine Mutter war Italienerin; sein Vater ist jüdisch. Die Kräche waren schrecklich, aber das Essen war fabelhaft. Matt ging an der Ostküste in die Kunstschule, er wollte nicht der Sohn seiner Mutter sein. Dann kam er wieder hierher. Mein Spiel dauerte eine halbe Stunde; seins dauerte zehn Minuten.

Ich mochte seine Augen, ich mochte den Klang seiner Stimme. Draußen mochte ich seinen Mund an meinem Mund; ich mochte die Leichtigkeit seiner Hände auf mir.

 

Ich liege wach im Bett und warte, daß er nach Hause kommt. In diesen fast kahlen Raum. Die Fenster haben keine Jalousien, keine Vorhänge, und das Mondlicht, das Sternenlicht, das gelegentliche Flackern der nachbarlichen Fernseher, die wenigen Lichter, die um Mitternacht noch leuchten, die Straßenlaterne, alles macht die Luft grau. Der einfache Umriß meines Schreibtischs, mein elektrischer Luftreiniger, die einzelne Halogenlampe neben meinem Bett sind von dunklerem Grau.

Keine Vorhänge. Keine Jalousien. Kein Teppich. Kein Bettüberwurf, keine indischen Läufer. Keine Bücherregale. Keine Zeitungen, keine getragenen Kleider über den Boden verstreut. Früher hab ich Frida Kahlo nachgeahmt; mein Schlafzimmer war ein üppiges, chaotisches, lebendiges antiklassisches Kunstwerk; Drucke von Freunden mit Heftzwecken an die Wand gepinnt, Karnevalsmasken, Erinnerungsstücke, Souvenirs von Orten, in denen ich war, Orten, von denen ich nur träumte.

Das war damals, bevor ich Asthma hatte.

Als es zuerst richtig schlimm wurde, riet mir der Arzt, alle Staubfänger aus meinem Schlafzimmer zu entfernen und einmal täglich feucht zu wischen, wenn ich nicht für den Rest meines Lebens Steroide einnehmen wollte. Er zeigte mir im Elektronenmikroskop ein krabbenähnliches Monster: eine Staubmilbe. Ich reagiere auf die »Fäkalsubstanz«, wie er so schön sagte, dieses Wesens, das sich von abgeworfenen menschlichen Hautzellen ernährt.

Ich entfernte meine vertrauten Dinge, packte mein mexikanisches Saxophon blasendes, Schlapphut tragendes Allerseelenskelett ein; meine Sorgenpuppen aus Guatemala; meine gerahmte japanische Postkarte; meine erstaunlich echt aussehende griechische gefälschte Ikone (sechshundert Drachmen, ein bißchen weniger als ein Dollar), die Ann Marie mir geschenkt hat, als wir auf Santorin waren: Mutter und Kind – ich hatte mit Glitzerklebstoff ein kitschiges Plastikbaby darangeklebt.

Früher habe ich Frida Kahlo verehrt. Jetzt verehre ich Matts tote Mutter.

Als ich zum erstenmal in seinem Atelier war, bei unserem zweiten Treffen, zeigte er mir ein Bild von ihr, das über seinem Sofa hing: ein reiner, schwarzer kreisrunder Pinselstrich auf Reispapier.

»Ist das schön«, sagte ich.

»Vor ihrem Tod hat sie sich mit Zen-Buddhismus beschäftigt. Sie hat nur noch Pampelmusen und braunen Reis gegessen, meditiert und Hunderte dieser Bilder gemalt. Immer das gleiche. Der Kreis auf Reispapier. Und manchmal hat sie sie in einem Ritual verbrannt. Einmal sind wir an einem windigen Tag mit ein paar hundert dieser Bilder nach Twin Peaks gefahren, und sie hat sie alle davonflattern lassen. Sie konnte die Häute zwischen den Pampelmusenscheiben so perfekt schälen, daß jede Scheibe heil blieb. Ich meine, ich habe meine Mutter wirklich geliebt, aber am Ende war sie ganz schön plemplem.«

Eine Wasserscheide: Vor drei Jahren, als mein Asthma so schlimm wurde, daß ich das Malen aufgeben mußte; von den Farbdämpfen wurde mir schlecht.

Wenn ich dieses Kind bekomme, wird es mein Leben grundsätzlich teilen: Die Zeit wird sich in »Vor dem Kind«, »Nach dem Kind« scheiden.

Das Gewebe aus Glück und Verstand, kleinen Wundern, das mein Leben zusammenhält und mein Künstlerin-Sein, meine politische Arbeit möglich macht, ließe sich leicht entflechten. Das Stipendium vom Arts Council, mit dem ich am Independent Living Center in San Francisco unterrichte. Das Rezept, das Isaiah mir gegeben hat, von seiner Großmutter, koschere schwarze Kuba-Bohnen mit Reis, höchst proteinhaltig, ballaststoffreich, Vitamin-C- und -A-haltig, das zwanzig Cents pro Mahlzeit kostet und das ich zwei-, dreimal wöchentlich esse. Das Einkaufstalent meines Studenten Carl, der früher Museumskurator war und dann multiple Sklerose bekam. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden, er schaffte seine Arbeit nicht mehr, lebt jetzt von seiner Krankenversicherung, ist von einem schicken Mittelklasse-Dasein in ein gemietetes Zimmer umgestiegen und fährt Bus statt Saab. Keine Reisen mehr nach Italien, Griechenland, auf irgendeine unentdeckte Insel vor Venezuela. Aber Geschmack hat der Mann. Er kauft aus Überzeugung in Trödel- und Wohlfahrtsläden. Carl findet für mich Leinenhemden, schwarzsamtene Herrensmokingjacken, versteckt sie unter alten Bettlaken, fährt nach dem Unterricht mit mir zum Heilsarmeeladen zur Anprobe.

Matt hat mir noch einen Heilsarmeetrick beigebracht, den er von einer Exfreundin gelernt hat, die Textilkünstlerin ist. Kleider mit gräßlichen Mustern oder Farben kann man mit Chlornatrium bleichen und dann schwarz färben oder, wenn man abenteuerlustig ist, grau oder entenbraun.

Und das größte Wunder überhaupt ist diese mietpreisgebundene Zweizimmerwohnung. Meine Freundin Lydia hatte jahrelang darin gewohnt. Dann zog sie aus; ich trennte mich gerade von Jeremy und brauchte eine Wohnung. Der einzige Haken war, in San Francisco war Mietpreisbindung an den Mieter gebunden: Die Hausbesitzerin konnte die Miete soviel erhöhen, wie sie Lust hatte, wenn Lydia auszog.

»Tu, als seist du ich«, sagte Lydia.

»Als sei ich du?«

»Sie kommt selten hierher. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, bescheinigt sie das, oder sie schickt den Klempner oder Elektriker. Außerdem sehen wir für die alle gleich aus«, sagte Lydia.

»Lydia, wir gehen beide am Stock. Sonst gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen uns. Du bist einen Kopf größer als ich. Damit kommen wir nie durch«, sagte ich.

»Für die sehen wir alle gleich aus.«

Allmonatlich ging ich zur Bank und zahlte eine Überweisung auf Lydias Namen ein. Und eines Tages, als ich zum Briefkasten hinunterhinkte, stand da eine Dame mit Besitzerinnenmiene; sie sagte: »Hallo, Lydia«, und ich sagte: »Hallo, Mrs. DeSantini.«

 

Um ein Uhr nachts öffnet Matt die Schlafzimmertür.

Ich schlafe nicht, aber ich tu, als ob. Ich tu, als ob ich schliefe, während er auf einer Ecke des Bettes sitzt und sich auszieht. Ich tu, als schliefe ich, während er ins Bett kriecht und mit seiner Zeigefingerspitze meine Brustwarze umkreist. Ich weiß, daß, wenn ich jetzt rede, ich ihm alles erzähle, und ich möchte noch ein letztes Mal, daß alles klar und unbelastet ist, wir beide nur zwei ehrliche Körper in der Nacht sind.

Die dunklen Umrisse meines Schreibtischs, meiner Kommode, sein Umriß über mir. Ein Auto parkt vor dem Nachbarhaus – seine Schweinwerfer werfen Schatten auf die Fensterscheiben gegenüber. Im Licht sehe ich Matts Gesicht: Er sieht so jung aus. Wenn ich zuviel arbeite, bekomme ich Ränder unter den Augen, mein Gesicht ist verquollen, und ich sehe aus, als hätte ich die Grenze zum Mittelalter überschritten. Wenn er zuviel arbeitet, sieht er weicher aus, verletzlicher, jünger.

Wir schlafen zusammen ein, wir schlafen schweigend ein.

Eine lange Nacht, tiefer Schlaf, Schlaf ohne Träume.

 

Morgens wache ich auf und überlege, wie teuer eine Schachtel Pampers ist. Nein, Pampers nehmen wir nicht: Stoffwindeln, wir nehmen Stoffwindeln. Wie viele brauchen wir? Ich besorge – Wir besorgen? – eine Waschmaschine … Ich überlege, wie teuer die wohl ist. 200 Dollar? 500 Dollar? Ich kann schlecht eimerweise schmutzige Windeln in den Waschsalon schleppen.

Ich bin immer davongekommen. Es liegt mir im Blut. Meiner Mutter auch. Sie hat mit uns fünfen von Luft und Sonderangeboten gelebt, von Versprechungen und dem Geld, das eine Frau damals verdiente. In den fünfziger Jahren, als angeblich »Wohlstand« herrschte, erinnerten sich meine Mutter und »Tante« Louise an Rezepte aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Große-Bohnen-Eintopf und braune Bohnen mit Chili und Linsensuppe und Erbsensuppe, und wenn man Butter mit Eiswasser schlägt, reicht sie doppelt so lange. Geht das auch bei Margarine? In der Pine Street ist ein Großbäckereiverkauf. Da kann man Brot vom Vortag für fünf Cent bekommen. Geh zum Sozialhilfebüro, dort gibt es Armeebestände. Die Armeebestände gibt es in Fünf- oder Zehnpfundbüchsen: Erdnußbutter oder Milchpulver, Honig und weißes, klumpiges Backfett. Die Büchsen haben schwarzweiße Etiketten: ARMEEBESTÄNDE, NICHT ZUM WIEDERVERKAUF.

Krankenversicherung. In ein paar Monaten läuft die Versicherung aus, die ich abgeschlossen hatte, als ich in der Anwaltsfirma arbeitete. Ich bin nicht versicherbar. Ich muß wieder arbeiten, um krankenversichert zu sein, oder ich muß mich arbeitslos melden, damit ich in die staatliche Krankenversicherung komme: arm wie eine Kirchenmaus leben wie die Hälfte meiner behinderten Freunde. Ein Zwanzig-Cent-Telefonat: ein Luxus. Sich ein Buch kaufen: unmöglich.

Aber vielleicht komme ich mit heiler Haut davon.

Auf meinem Auto ist ein Aufkleber »Freies Recht auf Fortpflanzung für alle Frauen«. Als ich sechzehn, siebzehn war, 1967/68, erzählten mir die Freundinnen meiner Mutter, Frauen, für die ich als Babysitter jobbte, von ihren Ehen – vielleicht lag es an dem Drink, den sie sich gegönnt hatten, oder einfach an der vielversprechenden Zeit damals –, wie sie durch ungewollte Schwangerschaften oder, wenn sie anständige Mädchen geblieben waren und keinen Sex vor der Ehe hatten, aus Lust in diese Ehen geschliddert waren. Manchmal bekam ich Geschichten von illegalen Abtreibungen zu hören. Ich empfand eine jugendliche Mischung aus Verachtung, Mitleid und sicherer Überlegenheit gegenüber jenen Frauen, die Gewißheit, daß mein Leben so viel besser als ihres sein würde. Wir hatten die Antibabypille. Bald wären Abtreibungen legal. Es gab keine starre Trennung zwischen anständigen und bösen Mädchen mehr. Ich dachte, es würde uns befreien. Ich dachte, die Freiheit würde uns glücklich machen. Jetzt weiß ich, daß die Freiheit uns nur auf bessere Art unglücklich macht.

Jetzt kann ich wählen. Ich Glückliche. Ich darf in meinem Kopf eine Gleichung aufstellen, auf der einen Seite: »Gründe für ein Kind«, auf der anderen »Gründe gegen ein Kind«. Auf der Plus-Seite stehen all meine wilden, egoistischen Gründe: daß ich gern wüßte, wie es ist, wenn ein anderer Mensch in mir wächst; daß ich die Gewalt der Wehen spüren möchte; daß ich das Muttersein als Inspiration für meine Kunst erleben möchte.

Und auf der Minus-Seite? Nur die Vergangenheit, mehr nicht.

Wenn ich ein Kind bekomme, bin ich wirklich die Außenseiterin. Ich und meine vier kinderlosen Schwestern. Ich bin die ohne Altersrente, die kein gepflegtes Auto mit niedrigem Benzinverbrauch fährt. (Meine Schwester Jenny besitzt kein Auto, fährt mit dem Fahrrad zur Universität, immer mit unterm Kinn festgezurrtem Helm.) Von mir sagten die Tanten immer: »Was für ein hübsches Gesicht!« und fragten mich, wie sie die Jungen fragten: »Was willst du denn mal werden, wenn du erwachsen bist?« Wenn ich ein Kind bekomme, wird das die endgültige Verweigerung: Ich bin dann nicht mehr nur Kopf, abgetrennt von einem übersehenen Körper, schwebend wie das rumpflose Katzengesicht in Alice im Wunderland, mit Krüppel-Bettel-Lächeln.

Ich stehe auf. Ich schließe die Schlafzimmertür vorsichtig hinter mir. Ich tappe durch die Wohnung. Ich gieße mir eine halbe Tasse Kaffee ein. Ich sitze in meinem großen Sessel. Nach einer Weile höre ich durch die Tür Matt seufzen, das Bett ein bißchen ächzen, als er aufsteht, seine Schritte, die Tür sich knarrend öffnen, Schritte, die lauter werden, als er ins Badezimmer schlurft. Ich treffe ihn in der Küche. Ich reiche ihm eine Tasse Kaffee.

»Ich bin schwanger«, sage ich.

Er nimmt die Kaffeetasse, trinkt einen Schluck.

»Was wirst du tun?«

»Ich weiß nicht«, sage ich.

Die Luft zwischen uns ist plötzlich zerbrechlich.

»Ich habe vorgestern einen Test gemacht.«

Er legt einen Arm um mich. »Mein Vater war vierundzwanzig, als ich geboren wurde.«

»Wie passend«, ich lache fast. »Vielleicht.«

Er hält mich fest. »Ich muß wieder zu Hutchinson-Rubin. Sonst hätte ich die Doppelschicht nicht gekriegt. Ich muß die Tagesschicht machen, die keiner haben wollte.«

Ich fange an zu weinen. »Wir können später reden. Mir geht’s okay.«

»Gut«, sagt er. Er streichelt mein Haar im Nacken gegen den Strich. Er reibt meine Schultern. »Es wird okay. Soll ich mich krank melden?«

»Nein«, sage ich. »Es geht.«

Dann bin ich allein. Ich setze mich in mein kahles Schlafzimmer, ziehe die Knie an die Brust.

Als ich mit Jeremy zusammenlebte – dem perfekten, kühlen Jeremy, der (fast immer) sanft und gut war, der jede Woche zu vier politischen Veranstaltungen ging und an den anderen Abenden The Nation, Left Business Observer, The Guardian, Radical Teacher las, Romane von Nadine Gordimer, Bücher über die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas, Bevölkerungskontrollmethoden der USA in Lateinamerika, mein Genosse Jeremy –, beschlossen wir, keine Kinder zu bekommen.

Es war weniger meine eigene Geschichte. Oder – wie hieß es in den juristischen Texten, die ich früher getippt habe? – diese Frage wurde nie erörtert. Wir sahen zu, wie unsere Freunde Kinder bekamen. Sahen, daß es ans Unmögliche grenzte, alles unter einen Hut zu kriegen – politisches Engagement, acht Stunden arbeiten, Kinder versorgen. Und noch etwas: Alle waren davon überzeugt, gingen davon aus, daß sie ihre Kinder formen könnten – gaben ihnen nur nichtsexistische, multikulturelle Bücher von linken Verlagen zu lesen, schickten sie in den fortschrittlichen Kindergarten – und stellten dann fest, daß sich die Welt nicht in einer einzigen Familie neu erschaffen läßt. Die Kinder wollen mit G.I. Joe und Schlümpfen spielen. Die Mädchen wollen Make-up und die Jungen Gewehre. Und die Eltern? Sie werden Eltern.

Die Sehnsucht nach dem kleinen Körper, der sich an mich schmiegt, nach dem schwangeren Bauch, war wie alle meine übrigen Sehnsüchte, die nie in Erfüllung gingen: die Sehnsucht nach schönen Kleidern, die Sehnsucht, überallhin zu reisen, in die Karibik, auf die Ägäischen Inseln, nach Thailand, Burma. Gegen die Sehnsucht war nichts einzuwenden, nur der Preis war zu hoch.

Schwangerschaftshormone. Vor einer halben Stunde, war ich da nicht in Hochstimmung, glücklich, beschwipst vor Hoffnung? Und jetzt bin ich traurig und niedergeschlagen. Vor einer halben Stunde war ich mir sicher, daß alles richtig war, so sicher, wie ich mir jetzt bin, daß es ein Fehler ist, die Schwangerschaft fortzusetzen.

Mein Embryo. Nicht größer als mein Daumennagel, schon hast du mein Leben ins Chaos gestürzt. Wachsen, schneller als jeder Krebs, jeden Tag doppelt und dreifach.

Mit zwanzig hatte ich einen Zusammenbruch; drei Jahre bin ich verrückt durchs Leben getaumelt. Ein Wunderkind, das für sein Alter so reif und klug war und, als es erwachsen werden sollte, zusammenbrach, ein Fehlstart.

Und als ich dreiundzwanzig war, sagte ich: Ich will nicht mehr im Haus der Tochter leben. Ich will nicht mehr die sein, die von meinem Vater abstammt, geboren als Beweis, daß er nicht nur ein Geist war in der Haut- und Knochenhülle eines Mannes. Ich sagte: Nie mehr.

Ich faltete meine Vergangenheit zusammen und packte sie fort. Ich wußte, daß sie da war; ich wußte, was da war. Ich legte die Scham und den Haß ab, die meine zweite Haut geworden waren, faltete sie zusammen, schloß sie ein, versiegelte das Schloß.

Nicht, daß ich sie jetzt zurückhole, eher holt sie mich ein.

2

Mein Vater Jake ist der Augapfel seiner Mutter und seines Vaters. Der roteste, leuchtendste Apfel, den je einer gesehen hat. Seine Mutter verwöhnt ihn, sagt sein Vater. Sein Vater denkt, er selbst verwöhne ihn schließlich schon genug. (Ein Mädchen gibt es auch, Jakes Schwester Eloise.)

Für Jakes Mutter ist das Leben nicht ohne Härte: Aus den Mädchenkammern riecht es nach billiger Pomade, und welche Ausdrücke Jake von den Dienstboten auffängt; die Müllmänner, die einfach hinterm Haus über den Rasen laufen, obwohl sie schon zweimal ihren Aufseher angerufen hat; Gesellschaften, zu denen sie manchmal nicht eingeladen wird; und neue Anwohner, die sie nicht mit dem nötigen Respekt behandeln.

Fast habe ich es vergessen, damals heißt er noch nicht Jake, sondern Jacques, wie seine Mutter ihn genannt hat.

Jacques’ Vater ist Rechtsanwalt. Er hatte noch nie Dreck unter den Fingernägeln, auch kein Blut an den Händen. Er arbeitet nur für Leute, die das haben. Männer mit neuem Geld und großem Ärger kommen in sein Büro, ein Büro, in dem die Ledersessel, wenn einer sich hineinsetzt, knarren: »Wir kennen die Regeln«, und die polierten Holzwände flüstern: »Wir wissen, wie man es macht.«

Jacques baut in seinem Schlafzimmer mit dem Erector-Baukasten Brücken und Hochhäuser. Sein Vater kauft ihm immer neue runde Schachteln voll Aluminiumschienen und Schrauben, und die metallene Stadt voller Türme und weitspannender Brücken, die unbevölkerte Stadt wächst und wächst und wächst.

Jacques will Ingenieur werden. Der Vater erwidert: »Hach. Ach«, ein Laut irgendwo zwischen Lachen und Seufzen. Doch Jacques will es sich nicht noch einmal überlegen.

Jacques segelt problemlos durch die Schule. Mit sechzehn die High-School hinter sich. An dem Tag, an dem er von Detroit nach Cambridge geht, wird er fotografiert. Er steht auf dem Trittbrett der Eisenbahn und winkt. Seine Mutter hat ihm die Pose befohlen – ganz bestimmt –, er macht ein verlegenes Gesicht.

Im Sommer vor seinem letzten Semester am Massachusetts Institute of Technology will er nach San Francisco, ansehen, wie die Golden-Gate-Brücke gebaut wird. Natürlich fährt die ganze Familie hin; solch eine Familie sind sie. Sein Vater hat einen Klienten, der mit dem Ingenieur befreundet ist. (Seine Mutter schmollt. Eigentlich wollte sie nach Mexiko – schließlich fährt Jacques, wenn er mit dem Studium fertig ist, nach Europa.)

Die Brücke ist fast fertig. Jacques sieht zu, wie die schwebenden Straßenteile eingehängt werden. Atemberaubend, wie die Männer sich gemeinsam bewegen. Ein Wunderwerk: als sähe er dem Pyramidenbau zu. Seine Eltern lassen ihn dort allein, ihr Chauffeur soll sie zu anderen Sehenswürdigkeiten fahren. Der Ingenieur unterhält sich mit Jacques wie mit seinesgleichen; die beiden Männer gehen um die Bauhütte herum, der Ältere will dem Jüngeren eine der riesigen Nieten zeigen. Sie stehen am Steilufer, als sie ein seltsames Geräusch hören.

Das Metall stöhnt. Das freischwebende Gerüst ist vom Brückenunterbau losgerissen. Männer fallen und landen im Sicherheitsnetz, doch das Gerüst zerreißt es. Vom Ufer aus sieht es für den Bruchteil einer Sekunde wunderschön aus: das Netz, eine riesige flatternde Fahne, die die Männer abwärts zieht. Ein Mann rudert mit den Armen durch unmöglichen Raum nach dem Arm eines anderen Mannes, der durch den Raum taumelt.

Alles fällt: Das Haus am Lake Shore Drive, die Gärten, der Tee im Cadillac-Hotel, der kommende Sommer in Europa, das leichte Leben, das vor ihm lag, stürzen vor ihm in die Bay, stürmen durchs Golden Gate, auf Nimmerwiedersehen.

Der Ingenieur wird aschbleich. Fünf Minuten steht er da, die Hände halten das Geländer, und schaut über die einsamen Türme, die aus dem kalten, kalten Wasser ragen. Dann hat er viel zu tun. Er ruft die Zeitungen an, redet von Hilfsfonds für die Familien der toten Arbeiter. Persönlich geht er hin und spricht sein Beileid aus, sitzt neben reglosen Witwen, die Tränen kommen ihm. Er fordert eine sofortige Untersuchung, dennoch lautet am nächsten Tag in der Zeitung die Schlagzeile:

ZWÖLF TOTE BEIM ZUSAMMENBRUCH DES GERÜSTS!

Gewerkschaft gibt nachlässigen Sicherheitsvorkehrungen die Schuld.

Jacques liest die Zeitung, einmal und noch einmal. Im Mark-Hopkins-Hotel streiten sich die Eltern, warten, daß er zum Essen herunterkommt; die Mutter nippt am Wein, der Vater trinkt Scotch. Die Mutter sagt, natürlich sei ihr Jacques entsetzt, er sei empfindsam, sie habe es immer gewußt.

Wieder zu Hause, schließt Jacques sich in seinem Zimmer ein und liest – Upton Sinclair, Emma Goldmans Gelebtes Leben, Maxim Gorki. In der Buchhandlung kauft er sich eine Fünf-Cent-Ausgabe des Kommunistischen Manifests. Im Daily Worker liest er über Äthiopier, die in Makale gegen die Faschisten kämpfen, über Angel Herndon, einen »heroischen jungen Negerarbeiter … verdammt zum langsamen, barbarischen Tod als Kettensklave«. Die Modellstädte der Zukunft verstauben. Er sucht im Telefonbuch nach der Nummer der Kommunistischen Partei, ruft sie an: »Ich werde Mitglied.«

 

Mein Vater fährt im Sommer nach seinem Examen mit dem Schiff nach Europa. Er fährt auf der Normandie über den Atlantik, doch nicht erster Klasse. Er spielt nur noch den Studenten, der in den Sommerferien nach Frankreich reist. Den mitreisenden Männern erzählt er über die Traumstädte, die er nach der Revolution bauen wird; wie die Welt vor Geschäftigkeit summen wird, wenn die Produktionskräfte zum Wohle der Menschheit eingesetzt werden.

 

»Nichts davon«, sagt meine Mutter gern, »nichts davon spielt eine Rolle.« Sie meint ihre Kindheit in Mechanic Falls, Maine. Eine Rolle spielt nur der Tag, an dem sie in Cambridge, Massachusetts, ankommt.

»Auf der einen Straßenseite war eine Buchhandlung. Und auf der anderen Straßenseite war eine andere Buchhandlung. Ich dachte, ich sei tot und im Himmel – zwei Buchhandlungen.«

Ende der dreißiger Jahre leben meine Mutter und mein Vater – sie Radcliffe-Studentin, er Student am MIT – beide in Cambridge, doch sie lernen sich nicht kennen. Ich stelle sie mir manchmal in der gleichen Straßenbahn vor, meine Mutter sitzt, mein Vater steht und hält sich am Haltegurt fest; sie geht an Orten vorbei, an denen er vor einer Viertelstunde war.

Eines Tages bleibt meine Mutter stehen, hört einem linkischen Jüngling zu, der auf einer Kiste steht und etwas über Faschismus schreit; schreit über die Juden in Deutschland; schreit über die Spanische Republik, die von der Welt im Stich gelassen wird; schreit über die Sowjetunion, wo die Menschen ihr Schicksal in die Hand genommen haben.

Meine Mutter hört zu. Eine junge Frau verkauft den Zuhörern in der Menge The Daily Worker. Es ist der 21. Dezember 1937. Ich erinnere mich an das Datum, weil ich genau dreizehn Jahre später geboren werde. Meine Mutter wird mir die Zeitung später zeigen, als ich ihr beim Umzug aus Springfield beim Packen helfe. Sie wird sie mir zeigen und sagen: »Vergiß nicht, manche Leute begreifen nicht.«

 

LYNCHENDE MEUTE STÜRMT STADT IN TENNESSEE. LENIN-GEDENKVERANSTALTUNG IN CHICAGO ERZWUNGEN. HÄNDE WEG VON DER SOWJETUNION. ZU HAUSE:

In vielen Fällen haben Mädchen und Frauen, die sich der Bewegung anschließen, das Gefühl, sie müßten sich vollkommen von ihren alten Beziehungen, ihrem alten Leben lossagen. Sie kleiden sich sehr leger. Sie packen Lippenstift, Puder und Rouge beiseite. Sie setzen eine Baskenmütze auf, ziehen Rock, eine lose Bluse oder Jacke an und kämmen sich morgens das Haar glatt zurück …

 

Meine Mutter verwahrt diese Ausgabe des Daily Worker zwanzig Jahre, bis sie sie an einem Apriltag, 1957, verbrennt. Nicht wissend, daß das Schlimmste vorbei ist, befürchtet sie, daß ihr das Schlimmste noch bevorsteht, und wirft Stapel ihrer schwarzen Notizhefte, alte Zeitungen und Zeitschriften, die Bücher mit den geprägten Marx- und Leninköpfen auf den cremefarbenen Umschlägen in den Müllverbrenner hinterm Haus in Jefferson und zündet sie mit der Flüssigkeit an, mit der wir auch den Grill im Hof anzünden.

 

Mein Vater sieht verwegen und hübsch aus, unrasiert. Der Junge aus Grosse Point, früher Jacques, jetzt Jake, läßt sich neben den spanischen Bauern fotografieren, die zweimal im Jahr Fleisch essen. Mein Vater ist blond, blondes Haar und klare blaue Augen, so daß jeder ihn für einen deutschen Antifaschisten der Ernst-Thälmann-Brigade hält. Doch mein Vater wird nicht nach Dachau verschleppt; er kehrt in ein Haus in Grosse Point zurück, wo eine schwarze Frau ihre Arme um seinen Hals schlingt. »Lobet den Herrn«, ruft sie und weint an seiner Schulter, tritt einen Schritt zurück, wischt sich die Augen und sagt: »Verzeihung, Mr. Etters.« Das Haus, in dem er aufgewachsen ist, kommt ihm fremder vor als alles in Spanien: die Ulmen, die Dienstboten, der gepflegte Rasen, der Garten, die in dicken Teppichen erstickte Stille.

»Gott sei Dank, die Flausen sind vorbei«, sagt sein Vater. Seine Mutter will wissen, ob er sich in Spanien zum Abendessen umgezogen hat. »Aber du warst doch Offizier«, sagt sie, »die Offiziere haben sich doch sicher zum Abendessen umgezogen.« Seine Mutter hatte gehört, daß die Republikaner gegen den Katholizismus waren, und deshalb erlaubt sie sich ein gewisses Maß an Sympathie. Ignorante Religion aus dem finsteren Mittelalter, die steinerne Götzen verehren läßt.

Oben trällert das Radio: »When the deep purple falls, over sleepy garden walls, and the clouds begin to twinkle in the ni-i-i-ght. In the mist of a memory …« Seine Schwester möchte mit ihm tanzen, wiegt sich vor ihm, doch er sagt schockiert: »Hör sofort auf, Eloise! Du bist doch meine Schwester!«

 

Im Dezember kauft meine Mutter ihre Ausgabe des Daily Worker; im Januar nimmt sie an einer Demonstration teil; im Februar an einer Arbeitsgruppe; und im Mai ihres ersten Semesters wird sie Mitglied der Kommunistischen Jugendorganisation. Im Sommer kehrt Eleanor nach Mechanic Falls zurück, als käme sie auf einen fremden Planeten. Sie arbeitet wieder als Verkäuferin im Laden eines väterlichen Freundes, und wenn Mr. Kenyon seinen Arm um ihre Schulter legt, muß sie sich ins Gedächtnis rufen, daß er ihr Klassenfeind ist, ein Ausbeuter. Ich bin eine Arbeiterin, denkt sie, während sie die Seidenschals auf der gläsernen Theke drapiert. Ich bin eine Arbeiterin.

Doch sie ist immer noch die Tochter ihrer Eltern, hilft den alten Damen, die bei Kenyon ihre Strümpfe und Unterwäsche kaufen, hält Abstand zu den Fabrikarbeitertöchtern im Lager, die keine Ahnung von ihrer historischen Aufgabe als Zugehörige der Arbeiterklasse haben.

Entrüstung und Langeweile: Bridge-Abende und Eiswürfel, die in hohen Gläsern klingeln, die Langsamkeit, mit der ihre Mutter alles erledigt, der puderfeine Zucker wird in den Krug mit Zitronensaft und Wasser geschüttet und dann gerührt und gerührt und gerührt, die Zeit, bis entschieden ist, ob es Fischpastete oder Kartoffelpuffer gibt, langsames Blättern in Fannie Farmers Bostoner Kochschulbuch.