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Im Jahr 2049 entdeckt die Mimi ein uraltes Stück Lebkuchenteig. Sofort lädt sie ihre Cousine Roza zum Backen ein. Die beiden schwelgen in hundertfünfzig Jahren Familiengeschichte mit exzentrischer Lebkuchentradition. Da wurden Botschaften gebacken und Warnungen, die verkrampfte Oma mit anzüglichen Lebkuchen geärgert, es wurden immer neue Methoden entwickelt um dekorative, außergewöhnliche, haltbare, schöne Lebkuchen zu backen: der Teig schmeckt scheußlich- riecht aber immer noch (nach über 50 Jahren) wunderbar. Auf der Suche nach weiteren Erinnerungen stoßen Mimi und Roza auf geheimnisvolle Briefe, anhand derer sie ihre erstaunliche Abstammung aufdecken. Außerdem macht Rozas besondere Gabe plötzlich einen Sinn. Ein Roman über Freundschaft, Familie, Traditionen, eine Zukunft in der der Mensch gerade noch so die Kurve bekommen hat und auch Lebkuchen.
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Seitenzahl: 332
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Leni Gwinner
Lebkuchen und andere Sterne
Roman
© 2023 Leni Gwinner
Website: https://lenigwinner.de/
Lektorate von: Barbara Münch-Kienast Silvia Kuttny-Walser Gesina Stärz
Illustration von: Susanne Leontine Schmidt
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 2049
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 2049
Kapitel 6
Kapitel 2049
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 2049
Epilog
Lebkuchenrezepte
Originalrezept von Anna Oppermann
Dankeslebkuchen für Frau Kandinsky
Maturalebkuchen von Karlis Oma
Pfefferkuchen
Heiratsantragsherzen
Orangenkugeln
Bibis
Strots FluObs
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Titelblatt
Urheberrechte
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Strots FluObs
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Prolog
Am 12. Dezember 1891 stand Anna Oppermann am Küchenbuffet und knetete an einem kleinen Stück Teig herum.
Auf dem Tisch lagen sieben Lebkuchenherzen, fertig gebacken, mit Mandeln und kandierten Früchten verziert. Im Backrohr buken vier Sterne.
Ein Stück Teig war übrig geblieben. Für ein weiteres Herz reichte es nicht und zum Wegwerfen war es zu viel.
Anna sortierte die Ausstechformen in die dafür vorgesehene Blechdose und knetete unentschlossen weiter an dem Teigrest herum.
Da breitete sich von ihrem Rücken her ein Schmerz aus. Sie stöhnte auf, krümmte sich und krallte ihre Hand in das Teigstück. Nach ein, zwei Minuten ging es ihr wieder besser und sie warf den zerknautschten Lebkuchenteig in die Blechdose zu den Ausstechformen und räumte sie in die Speisekammer. Sie holte die Lebkuchen aus dem Ofen, hielt sich während der nächsten Schmerzwelle an ihm fest, schlüpfte in Mantel und Stiefel und lief aus dem Haus, um bei ihrer Nachbarin zu klopfen.
Sechs Stunden später erblickte meine Urgroßmutter Leopoldine in Wien das Licht der Welt.
Im darauffolgenden Jahr schlief das Kind Leopoldine in sein zweites Lebensjahr hinein. Anna stand wie im Vorjahr backend in der Küche. Sie öffnete die Dose mit den Ausstechern und fand darin das Teigstück. Es war hart geworden und man konnte ihren Handabdruck sehen. Sie legte lächelnd ihre Finger in die passenden Vertiefungen. Dabei begann der Teig zu bröckeln.
Was tun damit? Es war ja irgendwie ein historisches Teigstück. In die Erinnerungsschachtel? Zum ersten Hemdchen und zur Haarlocke? Aber wie lange würde sich so ein Teig halten? Sie roch daran und er roch gut. Würzig nach Nelke und Zimt. Wieder brach ein Stück ab und fiel in die Schüssel mit dem neuen Teig.
»Ach was solls.«
Sie zerbröselte den Wehenteig und begann ihn mit kräftiger Hand in den frischen Teig zu kneten.
»Hrmm … darf ich fragen, was du da gerade tust?« Die scharfnasige Schwiegermutter stand in der Tür und ihre linke Augenbraue bildete eine unheilverkündende Zacke.
»Ähhmmm …«, erschrocken wich Anna einen Schritt zurück. »Also ich … fff, haben Sie mich erschreckt.« Sie war leicht errötet und drehte die Teigschüssel im Kreis.
»Ein … ein Brauch in meiner Familie. Für ein gutes Gelingen muss immer ein kleines Stück des letzten Teiges mit eingeknetet werden«, log sie.
Die Augenbraue der Schwiegermutter zuckte zum Haaransatz, aber sie sagte nichts, denn auch wenn sie es gerade ungern zugab, sie hatte etwas übrig für Familienbräuche.
Seitdem kneten wir alljährlich in unseren Teig ein kleines Stück vom Vorjahr. So existiert in jedem unserer Lebkuchen der Ursprungsteig aus dem Jahr 1891 weiter. Im Teig befindet sich Staub im Krieg zerbombter Häuser, Tränen, die um verstorbene Familienmitglieder geweint wurden, Sekt von der Hochzeit meiner Großeltern, ein Popel meiner Tante Bibi, ein außerirdischer Organismus, Hasch, menschliches Blut und noch so manche Zutat, die vielleicht nicht in einen Lebkuchen gehört.
In unsere Lebkuchen aber schon, denn unser Teig ist unser Vermächtnis.
In ihm befinden sich unsere Geschichten und unsere Geheimnisse, die wir lachend erzählen, die weinend aus uns herausbrechen und die wir unter vorgehaltener Hand flüstern, während wir ihn kneten, Formen ausstechen und verzieren.
Der Teig ist unser Chronist.
1
Am 11. Dezember im Jahr 1950 stand meine Urgroßmutter Leopoldine um 5 Uhr auf. Wie jeden Morgen bereitete sie das Frühstück für ihre Enkelkinder Anni und Bibi vor, weckte die Mädchen und schenkte ihnen Tee ein. Während die Bibi schon mit acht Jahren schwarzen Tee bevorzugte, den sie allerdings nur von ihrer Großmutter Leopoldine bekam, trank meine Mutter Anni im Winter Lindenblüten- und im Sommer Pfefferminztee. Eine Angewohnheit, die sie bis ins hohe Alter beibehielt.
»Weißt du schon, was du uns zu Weihnachten schenkst, Omi?«, fragte Bibi und Anni trat ihr unter dem Tisch gegen das Schienbein und zischte: »So was frägt man doch nicht!«
»Nun ja«, sagte Leopoldine und schlüpfte in ihren warmen Wintermantel, der um die Hüften schon etwas spannte, »deshalb fahre ich ja heute nach Wien hinein und schau, was mir Schönes begegnet.« Sie band ein wollenes Kopftuch über ihre Haare, die sie zu einem Dutt hochgesteckt hatte.
»Was wünscht ihr euch denn?«
»Etwas Nützliches«, sagte die Anni.
»Etwas, das glitzert!«, rief die Bibi und beide sahen sie erwartungsvoll aus ihren grünen Augen an. Leopoldine lächelte, nahm ihre Handtasche und ging zur Wohnungstür.
»Nun gut, dann mache ich mich jetzt auf die Suche nach etwas Nützlichem, das glitzert, und ihr trinkt brav aus und brecht. pünktlich in die Schule auf. Und Anni, zieh bitte noch einen Pullover an.«
Es war noch dunkel draußen, als Leopoldine zum Bahnhof ging. Es schneite leicht und in den Lichtkegeln der Laternen sah der weich fallende Schnee so weihnachtlich aus, dass meiner Urgroßmutter ganz weh ums Herz wurde. An genau so einem Tag hatte vor Jahren das Schicksal gleich zweimal bei ihr zugeschlagen.
Der Zug kam, Leopoldine stieg ein, setzte sich ans Fenster und starrte hinaus in die vom Fahrtwind wild wirbelnden Schneeflocken.
Ihre Gedanken führten sie in jenen Winter, als Strot in ihr Leben hinein- und Gustav aus ihrem Leben herausgetreten war. Damals hatten sie die Ereignisse überwältigt. Sie hatte einfach intuitiv gehandelt und nun Jahre später, als sie im Zug saß und nach Wien fuhr, dachte sie sich, dass sie es schon richtig gemacht hatte. Sie war zwar nicht zu allen ehrlich gewesen, aber wirklich gelogen hatte sie nicht. Manche Dinge musste sie für sich behalten, das war wirklich wichtig.
Als der Zug in Wien ankam, brauchte Leopoldine erst mal eine Stärkung. Sie ging zum Kaffeehaus Hapflinger und bestellte sich einen Kaffee und zwei Topfengolatschen. Leopoldine freute sich über die Dekoration, denn zwischen den glänzenden Christbaumkugeln, die an Tannenzweigen hingen, gab es auch ein paar, die wie Ufos aussahen.
An Festen wie Weihnachten oder Geburtstagen vermisste sie
Strot. Sie vermisste ihn mehr als Gustav und hatte deshalb gerade einen Anflug von schlechtem Gewissen. »Lass das! Das bringt gar nichts!«, schalt sie sich, denn Gustav lebte nicht mehr, es war nicht möglich, ihn zu treffen. Bei Strot bestünde diese Möglichkeit schon.
Doch Leopoldine war eine Frau, die sich arrangieren konnte, die in der Gegenwart lebte und nicht dazu neigte Trübsal zu blasen. So verließ sie wenig später gestärkt und gut gelaunt das Kaffeehaus und zog los, um Weihnachtsüberraschungen für ihre Enkelkinder zu kaufen. Sie bummelte durch das verschneite Wien und entdeckte am späteren Vormittag ein kleines Geschäft, das den verlockenden Namen Alles für die Torte trug. Sie stand eine Weile vor dem Schaufenster und betrachtete die überdimensionale Gipstorte, die sich um sich selbst drehte. Ihre Verzierungen waren spektakulär: bunt, glitzernd und detailgetreu. Leopoldine musste sich das genauer ansehen. Sie drückte die schlichte Messingklinke herunter und betrat, begleitet von sanftem Geklingel, einen verwinkelten Laden. Unmittelbar umhüllte sie eine süße Duftwolke. Im Laden drängten sich Regale und Schränke, Podeste und Tische aneinander. Überall standen blitzende, gläserne Behälter, angefüllt mit Leckereien. Es roch nach Vanille und Schokolade und Leopoldine blieb, überwältigt von dem farbenfrohen Geglitzer, mit der Türklinke in der Hand stehen. Ein älterer Herr tauchte hinter einer Theke auf. Über seinem runden Bauch spannte sich eine weiße Schürze, er hatte eine Glatze, in der sich der glänzende Laden zu spiegeln schien.
»Wärn gnädige Frau so liebenswürdig, die Tür zu schließen?« Seine Stimme war weich und warm und Leopoldine musste an Karamell denken. Sie schloss die Tür und näherte sich unentschlossen der Theke.
»Danke schön, Gnädigste, womit kann ich dienen?«
»Äh …«, sagte meine Urgroßmutter und riss ihren Blick von einem Schokoladenkrokodil los.
»Darf ich mich bissal umsehen?«
»Selbstverständlich, gnädige Frau.« Der Glatzköpfige nahm ein rundes Glasgefäß aus dem Regal hinter der Theke und begann rosa Marzipankugeln in Papierschachteln abzufüllen. Leopoldine sah sich nun genauer im Laden um und ihr Staunen steigerte sich mit jedem Glasbehälter und jeder gläsernen Schale und all den wunderschönen Dingen, die sie darin entdeckte. Gezuckerte Veilchen und Rosenblätter, kandierte Beeren und Fenchelstiele, Farnblätter aus Marzipan. Da stand eine Schale aus hellblauem Glas, in dem sich grüne Sprenkel in einer leichten Spirale drehten. In der Schale saßen Frösche aus Marzipan. Nein, nicht einfach nur Frösche, sondern Amphibien. Einen Laubfrosch erkannte sie, hellgrün mit Streifen auf der Backe, und eine Gelbbauchunke. Kröten saßen da, breit mit blasiger Haut, und ein Donaukammmolch. So einen hatte sie letzten Sommer im Burgenland gesehen. Leopoldine holte tief Luft und der Glatzköpfige, übrigens Alexander Kubichek, Tortendekorfabrikant in dritter
Generation, lächelte sie freundlich an. Er wusste um das Staunen, dass seine Kreationen bei den Menschen hervorrief. Er hatte begonnen, einen gewaltigen Nougatblock in Stücke zu zerschneiden. Leopoldine ging in langsamen kleinen Schritten durch die Regalreihen. Sie kam sich vor wie in einem Museum. All die schönen Dinge hinter Glas, die Stille, nur der Geruch war anders.
Herr Kubichek hielt ihr eine Glasplatte hin, auf der sich Würfel aus Schichtnougat stapelten.
»Bitte, greifen Sie zu.«
Leopoldine schob sich eine der Pralinen in den Mund und seufzte. Der Nougat war nussig und fein. Sie ließ ihn ganz langsam auf der Zunge zergehen und wanderte weiter durch die Reihen. Auf einer von Porzellanefeu umrankten Etagere lagen Blüten aus Zuckerguss. Rosen, Maiglöckchen, Vergissmeinnicht, winzig und traumhaft schön. Zu allen Blüten gab es die botanisch korrekten Blätter und weiße Fondant-Schriftrollen mit der lateinischen Bezeichnung Malva und Ranunculaceae. Aber inmitten dieser Kunstwerke aus Zuckerware, bei all diesen Dingen, die sich wie aus einer fantastischen Geschichte entsprungen hier sammelten, steuerte Leopoldine plötzlich wie hypnotisiert auf ein schlichtes dunkles Holzregal zu. Darin befanden sich siebenundzwanzig eckige Gläser mit geschliffenen Glasdeckeln. Sie waren gefüllt mit kleinen Kügelchen. Perlen von Stecknadelkopf- bis Erbsengröße in Rot, Weiß, Rosa und auch in Silber, Gold,
Rosametallic, Grün und Türkis funkelnd. Und genau die hatten es meiner Urgroßmutter angetan.
»Diese Kügelchen …«, sagte sie, musste sich räuspern und blickte dem Herrn hinter der Theke in seine himmelblauen Augen.
»Diese Kügelchen sind aus Zucker, gnädige Frau, mit einer Mischung aus echtem Gold und Silber in Pulverform und anderen geheimen Zutaten überzogen. Sie sind essbar und behalten beim Backen die Form.«
»Was sollen die kosten?«
Bei den Worten »echtes Gold« und »geheime Zutaten« war ihr etwas weich in den Knien geworden. Der Herr Kubichek nannte ein paar Zahlen und meine Urgroßmutter erstand mehrere kleine Tütchen, gefüllt mit jenen metallisch glitzernden Perlen. Als sie noch ein paar der seidig schimmernden schneckenhausförmigen Bonbons, die hinter der Kasse im Regal standen, kaufen wollte, sagte Alexander Kubichek: »Verzeihung Gnädigste, diese Zuckerln sind unverkäuflich. Sie stammen auch schon aus dem Jahr 1891 und dienen nur noch zur Dekoration.« Bedauernd zog er die Schultern hoch. »Wir überlegen, im ersten Stock unseres Stammhauses in der Sechshauserstraße ein Süßwarenmuseum zu eröffnen.«
»Die haben sich aber sehr gut gehalten«, sagte Leopoldine, nahm die Tüte mit den Glitzerkugeln und trug sie wie einen kostbaren Schatz zum Bahnhof. Im Zug musste sie sich sehr beherrschen, um nicht ständig in den Tüten zu kramen. Als sie in dem Wiener Außenbezirk, in dem sie wohnte, angekommen war, machte sie noch einen Abstecher in das Gemischtwarengeschäft und erstand Honig, Gewürze, Backpulver und Pottasche. Sie lief mit schnellen Schritten heim und stellte noch am selben Nachmittag, als die Kinder in ihrem Zimmer die Hausaufgaben machten, den Lebkuchenteig nach Familienrezeptur her:
6 Dekagramm feine Thea (Margarine)
20 Deka Zucker
je 15 Deka Roggen- und Weizenmehl
10 Deka Honig
1 Ei und jeweils einen Esslöffel Backpulver, Lebkuchengewürz und Vanillezucker sowie zwei Prisen Pottasche.
Zunächst gab sie alle Zutaten in eine große Keramikschüssel und rührte sie mit einem Holzlöffel so lange zusammen, bis sie sich zu lauter kleinen, mehligen Teigfetzen verbunden hatten. Dann holte sie aus der Speisekammer ein Einmachglas, in dem ein Stück des Lebkuchenteiges vom Vorjahr ruhte. Sie zerbröselte es über der Schüssel und erst dann begann Leopoldine langsam und kraftvoll den Teig durchzukneten. Währenddessen schaute sie durch das Küchenfenster in den Garten, der bereits dunkel vor dem Haus lag. Nur ein Eck war von einer Straßenlaterne beleuchtet und dort schwebten Schneeflocken im Lichtschein Richtung Boden.
Sie dachte an jenen Morgen im Winter 1914. Es war ebenfalls kurz vor ihrem Geburtstag gewesen, als sie auf dem Heimweg vom Hieberbauern war, der ihr zwei halbe Liter Milch gegeben hatte und einen Stapel Hemden, die sie dafür flicken sollte. Damals hatte es noch keine Straßenlaternen gegeben, aber sie hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt und ging schnellen Schrittes die Straße entlang. Es schneite leicht und die Schneeflocken fielen weich und groß auf den Boden. Auf einmal sah Leopoldine eine Gestalt vor sich. Einige Meter entfernt stand ein junger Mann und es erschien ihr, als stünde er in einem Lichtschein, als wäre er von Licht umgeben, ja, als schiene er vielleicht selbst. Er hatte die Arme ausgebreitet und versuchte mit der Zunge Schneeflocken zu fangen. Dabei bewegte er den Kopf ruckartig hin und her wie ein Huhn. Leopoldine stand da und beobachtete ihn und sie konnte nicht sagen warum, aber er berührte ihr Herz. Er war sehr groß und sehr dünn, trug einen violetten Anzug aus einem ganz leichten Material und kam ihr vor, als wäre er aus einem seltsamen Märchenbuch entsprungen.
Als er Leopoldine bemerkte, erschrak er und starrte sie an. Leopoldine ging langsam näher, sah ihn freundlich an, bemerkte seine ungewöhnlich tiefgrünen Augen, lächelte und sagte: »Guten Morgen.«
Auch er verzog seinen Mund, als wollte er lächeln, und wieder traf das Leopoldine ins Herz, er war so bemitleidenswert in seiner unbeholfenen Art und dennoch imposant. Dann sagte auch er etwas, das wie »Guten Morgen« klang oder mehr wie »Guttn Morrgn« mit einem ganz kurzen o.
Der Schnee faszinierte ihn, er versuchte nach den Flocken zu greifen und starrte dann erstaunt auf seine Hand, in der sie schmolzen. Dann rieb er die Hände aneinander und streckte sie wieder aus. Anstatt warm waren sie anscheinend kälter geworden, denn die Flocken blieben nun liegen, wunderbare kleine Sterne, und beide betrachteten sie.
Dann schüttelte er sich und Leopoldine dachte, er würde frieren. Sie zog ihren Handschuh aus und reichte ihm die Hand, um mit ihrer warmen seine kalte zu wärmen. Seine Hand war so eiskalt, dass es auch Leopoldine schüttelte, und über das Gesicht des jungen Mannes huschte nun ein echtes Lächeln und das gefiel Leopoldine sehr. Er knetete kurz seine Hände, machte irgendwelche Verrenkungen mit ihnen und nahm dann wieder Leopoldines Hand in seine. Sie betrachtete sein dünnes Gewand.
»Haben Sie keinen Mantel?«, fragte sie ihn, aber er schien sie nicht zu verstehen, sah sie nur aus seinen großen grünen Augen an und sagte »Mantel« oder eher »Monttell«. Da traf Leopoldine eine Entscheidung.
»Kommen Sie.« Sie ging los und zog den jungen Mann durch das dichter werdende Schneegestöber. Plötzlich wurde seine Hand warm und wärmer und die Wärme durchströmte Leopoldine und als sie bei ihrer Wohnung ankamen, war ihr direkt heiß. Trotzdem kochte sie Tee, schenkte dem jungen
Mann eine Tasse ein und der trank ihn, verbeugte sich und schlief dann auf dem Kanapee ein. Leopoldine begann die Hemden vom Hieberbauern zu flicken und nach einer Weile, in der es draußen hell geworden war, klopfte es. Sie schob die Küchentür zu, bevor sie aufmachte, sie wollte nicht, dass jemand diesen fremden Mann in ihrer Wohnung sah. Der Postbote brachte ihr einen Brief, der schrecklich offiziell aussah. Er lag schwer und kalt in ihrer Hand, als sie ihn zum Küchentisch trug. Lange saß sie davor, bis sie allen Mut zusammennahm, um ihn zu öffnen.
Der Brief enthielt die Sterbeurkunde ihres Ehemannes Gustav Lindermann, der am 29.11.1914 in der Schlacht von Kolubara ehrenvoll für sein Vaterland gefallen war.
Leopoldine kamen die Tränen, als sie daran dachte, wobei sie nicht hätte sagen können, ob sie um Gustav weinte oder weil sie Strot vermisste. Wahrscheinlich beides. Eine oder zwei Tränen tropften in den Teig.
»Ach du sentimentales altes Weib«, schalt sie sich, wischte die Tränen weg und rollte den Teig zwischen den Händen zu einer großen Kugel. Sie roch an ihm, sog genüsslich den Duft nach Zimt, Nelke und Honig ein, legte ihn zurück in die Schüssel, breitete ein Tuch darüber und stellte ihn zum Ruhen auf das kühle Fensterbrett.
Später am Abend, als die Enkelkinder schliefen, rollte sie den Teig aus, schnitt handflächengroße Herzen, Sterne und zum ersten Mal Engel aus, bestrich sie mit verquirltem Ei und verzierte sie mit den Kügelchen, die sie bei Herrn Kubichek in Alles für die Torte erstanden hatte.
»Nützlich und glitzernd«, sagte sie zufrieden und schob das erste Blech in den Ofen. Der Teig ging beim Backen stark auf und dabei verschoben sich die glitzernden Muster. Trotzdem sorgte das Gebäck an Weihnachten für größtes Aufsehen.
»Jöööö, wie schön die glitzern!«, rief die Bibi und biss sofort in ihren Lebkuchen.
»Sehr hübsch!«, sagte die Anni, lehnte den Lebkuchen gegen einen Kerzenständer und betrachtete ihn aufmerksam.
Leopoldines Lebkuchen waren köstlich, weich, würzig und süß. Während Bibi ihren mit großem Genuss verspeiste, tat es Anni leid um den schönen Engel und sie bewahrte ihn auf, bis kurz vor Ostern jemand ein Stück davon abbiss. Da beschloss sie, dass es an der Zeit war, den Lebkuchen selbst zu essen. Sie popelte einzelne Silberkügelchen herunter und ließ sie auf der Zunge zergehen, dann biss sie ein Stück Flügel ab. Das war ganz schön schwierig, denn über den Winter war der Lebkuchen zusammengefallen und flach und hart geworden. Dadurch hatte aber das Muster aus Glitzerkügelchen wieder in seine ursprüngliche Form zurückgefunden. Anni klemmte den Lebkuchen zwischen die Zähne und drückte ihn hoch und runter, bis endlich ein Stück davon abbrach. Leopoldine, die das beobachtete, kam die Idee, dass diese Weihnachtsbäckerei gleich hart gebacken werden könnte, um ein Verschieben der Goldkügelchen zu verhindern.
Im Advent des Jahres 1951 ließ Leopoldine Lindermann das Backpulver und die Pottasche weg und stellte einen festen Teig her, der kaum aufging. Die Lebkuchen waren schwierig zu essen und dafür waren sie auch zu schön. Ein weiteres Jahr später bestanden Anni und Bibi darauf, ebenfalls in das kleine Geschäft zu fahren. Zusammen kauften sie bei Herrn Kubichek zahlreiche mit unterschiedlichsten Kügelchen gefüllte kleine weiße Papiertütchen. Am 12. Dezember saßen nun Leopoldine Lindermann, Anni, Bibi und deren Mutter Rotraud um den Küchentisch und verzierten Teigherzen und -sterne. Rotraud war von ihren Töchtern gezwungen worden und machte ein verdrießliches Gesicht. Da sie das aber meist machte, ließen sich die anderen drei nicht beirren und kneteten munter los.
»Was könnt ich der Steffi für einen Lebkuchen backen?«, fragte die Bibi in die Runde.
»Mach ihr halt ein Herz. Für die beste Freundin kann man ruhig ein Herz backen«, riet ihr die Anni.
»Geh, ein Herz bekommt jeder. Für die beste Freundin muss man ein besonderes Geschenk haben. Sonst ist die auf ewig beleidigt.« Bibi rollte ihren Teig aus.
»Wie geht es denn der Steffi ihrem Fuß?«, fragte Leopoldine.
»Immer noch im Gips.« Nebenbei zeichnete Bibi ein Gipsbein auf den Teig. Das schnitt sie aus, belegte es eng mit weißen Minikügelchen und deutete die Fußnägel mit rosa Glitzerkügelchen an. Ihre Mutter Rotraud fand das ordinär, die Steffi aber war begeistert. Über mehrere Wochen machte die
Geschichte vom Lebkuchengipsfuß die Runde im Bezirk und so buken im darauffolgenden Jahr beide Mädels Lebkuchen, die persönlich zu ihren Freunden passten. Eine Freundin bekam eine Geige, weil sie in dem Jahr begonnen hatte, das Instrument zu spielen, eine andere einen gepunkteten Regenschirm, weil ihrer im Herbst bei einem Sturm davongeflogen war. Sogar Leopoldine wagte ein Experiment: Sie belegte ein
Lebkuchenoval mit zahllosen metallischen Kügelchen.
»Was ist das, Omi?«, fragte die Anni.
»Schaut aus wie ein Raumschiff«, sagte die Bibi.
»Na dann ist es das auch!« Leopoldine grinste und die Mädchen lachten.
»Muss das sein?«, fragte Rotraud mürrisch und zuckte mit dem Kopf hin und her, »könnt ihr euch nicht einfach an die Tradition halten und Sterne und Herzen backen?«
»Nein«, antworteten Anni und Bibi und Leopoldine sagte: »Dann ist es ab jetzt Tradition, dass ich jedes Jahr ein Raumschiff backe.«
»Geschmacklos«, zischte Rotraud und ging in ihr Zimmer.
Einmal blieb ein sehr großes Stück Teig übrig und ruhte in einem leeren Salzgurkenglas hinten im Kühlschrank, bis es Ende März von meiner Tante Bibi entdeckt wurde.
»Bitte Omi, backen wir was aus dem Teig?«
»Geh, Mädel, im Frühjahr Weihnachtsgebäck?«
»Er riecht super.«
»Was ist den super für ein Wort?«
»Also er riecht sehr gut, bitte Omi.« Sie knetete an dem Teig herum und rollte minikleine Kügelchen.
»Na gut«, seufzte Leopoldine Lindermann und holte das Nudelholz aus der Speisekammer.
»Warte kurz«, sagte sie und lief aus der Küche. Kurz darauf kam sie mit einem Glas wieder. Sie öffnete es, schnupperte daran und kratzte mit einem kleinen Löffel eine klebrige, rötliche Masse in den Lebkuchenteig.
»Was ist das, Omi?«, fragte Bibi und schnupperte nun selbst an der Teigschüssel.
»Dein Restteig? Warum ist der so rot?«
»Ja, eine Art Restteig, Bibilein, ein besonderer, also mit besonderen Zutaten.« Sie seufzte, dachte an Strot, der so weit weg war. Bei seinem letzten Besuch hatte er ihr stolz das Glas mit dem roten Batz darin überreicht. »Damit auch etwas aus meiner Heimat in deinem Teig ist«, hatte er gesagt und »Das ist sehr gesund, du solltest also auch mal ein Stück Lebkuchen essen«. Leopoldine knetete die rote Masse in den Teig ein. Da von der Weihnachtsbäckerei keine Glitzerkügelchen übrig waren, verzierte Bibi die Lebkuchen mit ihren selbst gedrehten Kügelchen. Beim Backen blieben die Herzen gleichmäßig flach und die Kügelchen rund.
»Wenn jetzt Ende März der Teig so stabil ist«, die Bibi rechnete nach, »dann sollten wir ihn für Weihnachten schon im Juli herstellen!«
So stand meine Urgroßmutter Leopoldine in jenem Jahr an einem Abend Ende Juli in der Küche und rührte die Teigzutaten ohne Pottasche zusammen.
Rotraud betrat die Küche. Sie hielt sich wie immer sehr gerade und sah mit ihrem typischen, leicht verkniffenen Gesichtsausdruck in die Teigschüssel.
»Was machst du da, Mutter?«, fragte sie und sog die Luft ein, »Lebkuchenteig im Juli? Erst Lebkuchen backen zu Ostern, dann Teig im Sommer, bist du närrisch?«
Leopoldine lachte.
»Nein, Kind«, sagte sie, »der Teig, den wir an Ostern gebacken haben, war so herrlich zu verarbeiten, dass ich nun schon den für Weihnachten mache.«
»Ich weiß nicht, was daran lustig sein soll.« Rotraud ging zum Waschbecken und begann ein paar Geschirrstücke abzuspülen, die dort noch vom Mittagessen standen.
Leopoldine knetete den Teig fertig, stellte ihn in die Speisekammer und kam mit einer Flasche selbst gemachtem Kirschlikör zurück. Sie schenkte sich ein Glas ein und fragte ihre Tochter:
»Möchtest du auch ein Schlückchen?«
Rotraud grunzte, legte die Spülbürste auf die Seite und sagte: »Du gibst es wohl nie auf, mich zu diesen ungesunden Dingen wie Alkohol oder Zigaretten nötigen zu wollen.«
»Ich nötige dich doch nicht, Kind«, sagte Leopoldine und trank einen Schluck, »ich biete dir etwas an. Der Likör ist köstlich und ich habe schon den nächsten angesetzt und hier ist noch eine ganze Flasche vom letzten Jahr übrig.«
Rotraud sah ihre Mutter von oben herab an. Sie zuckte ruckartig mit dem Kopf hin und her, wie sie es immer tat, wenn sie verärgert war. Dann ging sie zur Küchentür.
»Warte!«, rief Leopoldine, »ich habe die Post hier.« Sie griff in ihre Schürzentasche und zog ein paar Umschläge hervor. Einen gab sie Rotraud. Die erkannte sofort die Handschrift ihres Mannes, seufzte tief, zuckte mit dem Kopf und verließ die Küche.
Rotrauds Mann Jakob war vor fünf Jahren nach Deutschland gezogen. Er hatte dort eine sehr gut bezahlte und interessante Stelle bei einem Automobilunternehmen bekommen und Rotraud angefleht, mit ihm nach München zu ziehen. Aber Rotraud hatte sich geweigert und war mit den Kindern in Wien geblieben. Schon nach wenigen Wochen war Leopoldine zu ihr gezogen, denn meine Großmutter Rotraud war nicht in der Lage, ihre Kinder gut zu versorgen. Sie verbrachte große Teile des Tages in ihrem Zimmer und kam oft nur nachts heraus, sie war eine sehr unbegabte Köchin, Veränderung vertrug sie nicht gut.
Ich glaube, heutzutage hätte meine Großmutter eine Aspergerdiagnose erhalten, aber damals sagte man einfach, dass sie etwas eigen sei. Mein Großvater war erleichtert, dass sich Leopoldine um seine Frau und seine Kinder kümmerte. Er schickte jeden Monat großzügig Geld und jede Woche einen
Brief, den Rotraud in ihrem Zimmer las oder nicht las, das wusste niemand so recht, denn sie sprach nicht darüber.
Im Juni 1954 ging Leopoldine während der Teigherstellung der Honig aus und sie ersetze die fehlende Menge durch Zuckerrübensirup. Das führte dazu, dass der Teig dunkler wurde, was sich im Kontrast mit den glänzenden Kugeln sehr gut machte. Als sie im Winter mit den Enkelinnen Lebkuchen ausstach, fragte die Bibi:
»Omi, warum backen wir eigentlich immer Lebkuchen? Steffis Oma macht jedes Jahr etwas anderes. Letztes Jahr Vanillekipferl, mmhhh … die waren so lecker, und dieses Jahr will sie Zimtsterne mit Zuckerguss backen!«
Leopoldine nickte und setzte sich zurück: »Ich hab euch doch schon öfters von meiner Mutter erzählt, der Anna, nach der du benannt wurdest, Annilein.«
»Die so krank war«, sagte die Bibi.
»Ja, sie war wirklich sehr lange krank«, erwiderte meine Urgroßmutter Leopoldine. »Niemand wusste, was sie eigentlich hatte, aber sie wurde über die Jahre immer schwächer. Eines Tages überließ sie die Arbeit in unserem Gemischtwarenladen einfach meinem Vater und blieb ab diesem Zeitpunkt in der Wohnung. Sie hörte Musik auf dem Grammophon und las viel. Sie war eine sehr sanfte Frau und immer freundlich. Ich glaube, für alles andere fehlte es ihr an Kraft.«
Leopoldine rollte ein Stück Teig aus und griff nach einem
Messer, um eine Figur auszuschneiden.
»Es war oft nicht so schön für mich«, fuhr sie fort, »denn sie war weder an meinem ersten Schultag noch beim Tanzball dabei, sie war nie dabei. Sie war immer zu Hause und oft lag sie schwach im Bett und konnte nicht mal mit mir sprechen. Aber sie hörte mir immer zu und was sie jedes Jahr gemacht hat, war Lebkuchen backen. Egal wie krank sie war, und in den letzten Jahren war sie richtig bettlägerig und schaffte es manchmal nicht mal zum Klo zu gehen und wir mussten ihr eine Schüssel bringen, sie buk aber immer Lebkuchen mit mir. Immer am Wochenende vor meinem Geburtstag. Jedes Jahr hob sie ein Stück vom Teig auf, um ihn im nächsten Jahr in den neuen zu kneten.« Leopoldine seufzte und schnitt geübt einen Engel aus.
»Das Lebkuchenbacken war die einzige verlässliche Unternehmung, die ich mit meiner Mutter hatte, und als sie gestorben ist, habe ich mir und auch ihr geschworen, dass ich jedes Jahr Lebkuchen backen und an sie denken werde.« Leopoldine tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Und wisst ihr was«, sie streichelte kurz über Annis dunkelbraunes und Bibis kastanienfarbenes Haar, »ich freue mich wahnsinnig, dass ihr zwei jetzt auch jedes Jahr mit mir backt. Denn eure Mama, die hatte da nie Lust dazu.«
»Ist unsere Mama auch krank wie deine?«, fragte Bibi.
»Ach nein«, Leopoldine griff in die Teigschüssel, »sie ist nur ein bisschen anders als äh … andere Menschen und deshalb tut sie sich so schwer.«
Genau in dem Moment kam Rotraud in die Küche, holte sich ein Brett und setzte sich zu ihrer Mutter und ihren Kindern an den Tisch.
»Ich werde auch einen Stern machen«, sagte sie und griff in die Teigschüssel.
Bibi, Anni und Leopoldine schauten sie an und Leopoldine musste sich noch mal ein paar Tränen abtupfen.
»Das ist wirklich sehr schön, Kind.«
»Ja, das finde ich auch«, sagte die Anni und Bibi nickte.
»Ach und«, sagte Rotraud, »ich bin jetzt über 40 du könntest aufhören, mich ›Kind‹ zu nennen.«
Erschrocken sahen Anni und Bibi zu Leopoldine, aber die lächelte und sagte: »Ja, Kind« und alle lachten bis auf Rotraud, die ihre Augenbraue zu einer scharfen Zacke hochzog und einen sehr exakten Stern ausschnitt.
Leopoldine schnitt eine lange, schmale Form aus und bestrich sie mit Ei.
Rotraud stöhnte:
»Und was wird das, Mutter?«
»Mein alljährliches Raumschiff«, antwortete Leopoldine.
Rotraud zuckte hektisch mit dem Kopf, so wie sie es immer tat, wenn sie sich über etwas aufregte.
» Herrje …«, sagte sie und drückte eine goldene Kugel in die Mitte ihres Sterns.
Im Sommer des Jahres 1955 durften Bibi und Anni ihren Vater in Bayern besuchen. Seine Aufenthalte in Wien waren in den letzten Jahren immer seltener geworden und damit der Kontakt nicht ganz abbrach, hatte Leopoldine die Reise organisiert. An einem verregneten Sommermorgen brachte sie die Mädchen zum Bahnhof und hatte auch selbst einen Koffer dabei.
»Fährst du auch weg, Omi?«, fragte Anni.
»Ja«, antwortete Leopoldine.
»Wohin?«
»Ach das erzähl ich euch ein anderes Mal.«
»Ach komm, Omi, mach kein Geheimnis draus!«, sagte Anni.
»Wir haben keine Zeit«, Leopoldine ging Richtung Gleise, »euer Zug fährt gleich.« Sie setzte die Mädchen in den Waggon, gab jedem ein Abschiedsbussi, stieg aus und ging davon. Verwundert sahen Anni und Bibi ihr nach.
»Sie hat irgendein Geheimnis«, stellte die Anni fest.
»Vielleicht einen Liebhaber.« Die Bibi kicherte.
»Komisch«, sagte Anni und dann fuhr der Zug los und beide schauten aus dem Fenster.
»Sie war doch früher auch schon manchmal weg, oder?«, fragte Bibi.
»Ja.« Anni hauchte an das Zugfenster und zeichnete ein Herz in die beschlagene Stelle. »Aber ich habe mich nie gewundert, was sie da macht. Ich dachte immer, dass sie halt auch noch eigene Angelegenheiten zu erledigen hat.«
»Aber da ist sie dann vielleicht auch schon verreist.«
»Ja, könnte sein.«
Während der Zugfahrt überlegten die beiden, was ihre Großmutter wohl tat. Am Nachmittag holte Jakob dann seine Töchter in München am Bahnhof ab. Leopoldines Geheimnis war schnell vergessen. Jakob besaß ein eigenes Auto und fuhr mit Anni und Bibi aus der Stadt heraus in ein kleines bayerisches Dorf, in dem er ein Haus gekauft hatte. Darin gab es zwei Wohnungen. In der einen lebte Jakob und die andere hatte er für die Mädchen hergerichtet. Sie hatten dort unter dem Dach jede ein eigenes Schlafzimmer, eine Wohnküche und ihr eigenes Bad mit Wanne, was beide als ungemein luxuriös empfanden.
Die Bibi war begeistert, als sie bei einem Ausflug zum Kloster Andechs einen Stand mit Lebkuchenherzen entdeckte.
»Ihr müsst mal im Herbst kommen, dann gehen wir aufs Oktoberfest, da wimmelt es nur so von Lebkuchenherzen.«
Der Besuch war so erfolgreich, dass die Mädchen in den folgenden Jahren jeweils eine Woche in den Winterferien und drei Wochen in den Sommerferien nach Bayern fuhren. Immer wieder verreiste dann auch Leopoldine, aber sie verriet nicht wohin und die Mädchen waren selbst so aufgeregt vor Freude, dass sie bald aufhörten, sich über die Fahrten meiner Urgroßmutter Gedanken zu machen.
Besonders Anni liebte Bayern. Sie liebte die hügelige Landschaft, die Kühe, die jeden Morgen und jeden Abend gleich neben Jakobs Haus über die Straße getrieben wurden. Sie liebte den Wald, der wenige Gehminuten vom Haus begann und sich schier unendlich streckte und so wundervoll nach Pilzen und Harz duftete. Sie liebte die Milchverkäuferin in dem kleinen Molkereiladen.
Die alte Verkäuferin sagte: »Liabs Madl« und »Mogst a Milli« zu ihr und zwischendrin erzählte sie der Anni Geschichten aus dem Dorf, die sie kaum verstand, die ihr aber ein heimeliges Gefühl gaben.
Die Mädchen liebten aber auch die Unbekümmertheit, mit der ihr Vater lebte. Manchmal weckte er sie um 6 Uhr in aller Herrgottsfrüh, um am See die besten Badeplätze zu ergattern, und dann frühstückten sie frische Semmeln und ein Stück Käse, von dem sie sich einfach etwas abbrachen, und beobachteten, wie der Nebel sich langsam über dem Wasser auflöste. Oder sie hingen zwei Tage völlig planlos zu Hause rum, lasen und spielten Karten. Jakob war immer freundlich und gut gelaunt, ganz anders als ihre Mutter, die ständig gegen irgendetwas anzukämpfen schien.
Einmal brachte die Anni ihrem Vater in einem Marmeladenglas ein Stück Lebkuchenteig mit, damit er es in seinen nächsten Teig kneten konnte. Als Bibi es im nächsten Jahr unangetastet ganz hinten im Kühlschrank fand, nahmen sie es wieder mit nach Wien und Leopoldine knetete es im Winter mit in ihren Teig ein.
Leider kam Jakob in den letzten Minuten das Jahres 1958 bei einem Verkehrsunfall mit drei Wildschweinen ums Leben.
Er hinterließ seinen Töchtern das Haus im bayerischen Dorf und erstaunlicherweise auch eine Wohnung in Wien, die er anscheinend erst kurz zuvor selbst von einer Großtante geerbt hatte. Seine Frau Rotraud erhielt eine großzügige Summe aus einer Lebensversicherung und eine monatliche Rente von seiner Firma.
Eines Abends im Frühjahr 1959 eröffnete Rotraud, dass sie sich eine Wohnung gekauft habe.
»Wie, eine Wohnung?«, fragte Leopoldine.
»Ich habe mir eine Wohnung im 5. Bezirk gekauft und werde da bald hinziehen.«
»Und wir?«, fragten Bibi und Anni.
Rotraud sah sie erstaunt an.
»Ihr …«, sie schaute Leopoldine an, »also ihr bleibt doch sicher lieber bei meiner Mutter.«
Das stimmte zwar, aber trotzdem fühlte es sich sehr komisch an, dass eine Mutter, auch wenn sie sich noch nie wie eine benommen hatte, plötzlich bei ihren Kindern auszog.
»Wir können uns doch immer im Dezember zum Lebkuchenbacken treffen«, sagte Rotraud.
»Das machen wir.« Leopoldine nahm die Hände der beiden Mädchen und lächelte sie an.
Kurz darauf verließ Rotraud mit zwei gepackten Koffern die gemeinsame Wohnung. Die Anni weinte ein wenig. Aber bereits am nächsten Tag stellte die Bibi fest: »Eigentlich ist es angenehm ohne die Mutter.«
Und das war es. Denn es ging niemand mehr griesgrämig durchs Haus, monierte die Unordnung oder bemerkte, was sich gehöre und was nicht.
Als sie Rotraud in ihrer Wohnung besuchten, hatte diese sich ein Teleskop gekauft und auf der Dachterrasse aufgestellt. »Ich interessiere mich für den Nachthimmel«, sagte sie.
Bald löste sich auch die Oma-Enkelkinder-WG auf. Die Bibi zog in die Wohnung, die sie von ihrem Vater geerbt hatten, und ging bei einer Hut- und Kleidermacherin in die Lehre.
Anni übersiedelte nach München, um Forstwirtschaft zu studieren. Sie lebte kurzzeitig in einer Studentenbude nahe der Uni, aber das Leben in der fremden Stadt fiel ihr schwer, und so ließ sie das Haus, das der Vater ihnen hinterlassen hatte, leerräumen und richtete sich die untere Wohnung her. Sie musste zwar jeden Tag über eine Stunde mit Bus und Bahn nach München fahren, aber genoss es, abends in ihr kleines Häuschen zu kommen. Sie baute sieben verschiedene Pfefferminzsorten an und pflanzte hinten im Garten eine kleine Linde und schon im zweiten Winter konnte sie ihren eigenen Lindenblütentee trinken. Zwar nur eine Tasse, aber immerhin.
Leopoldine mietete eine kleinere Wohnung nur ein paar Straßen von Bibi entfernt.
Die beiden besuchten sich oft gegenseitig und alle paar Monate kam auch Anni aus Bayern angereist. Am Wochenende vor Leopoldines Geburtstag trafen sich dann alle vier bei ihr zum Lebkuchenbacken.
Bibi und Anni erzählten aufgeregt von ihren Ausbildungen und als irgendwann ein Moment des Schweigens entstand, fragte Leopoldine ihre Tochter, wie es ihr alleine in der Wohnung gehe.
»Es geht mir gut«, erzählte Rotraud, »ich gehe einmal in der Woche zu einem Treffen der Freizeitastronomen Wien.«
Das war an sich schon außergewöhnlich, aber was ihre Familie wirklich in Erstaunen versetzte, war die Ankündigung, dass sie vorhabe, 1963 nach Kanada zu fliegen, um sich dort die Sonnenfinsternis anzusehen.
»Du willst fliegen?«
»Österreich verlassen?«
»Wegen einer Sonnenfinsternis?«
Rotraud winkte ab, beugte sich über den Teig und schnitt einen präzisen Stern aus.