Leichengift - Robert Ellis - E-Book
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Leichengift E-Book

Robert Ellis

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Beschreibung

Wenn dein »Freund und Helfer« zum Feind wird: Der fesselnde Thriller »Leichengift« von Robert Ellis jetzt als eBook bei dotbooks. Los Angeles – Stadt der Engel, Stadt der Schatten … Ermordet, zerstückelt, in einen Container geworfen wie Müll: Die Leiche der jungen Frau ist nicht mehr zu identifizieren. Noch bevor Detective Lena Gamble am Tatort eintrifft, sind die Bluthunde von der Boulevardpresse zur Stelle – und verfolgen sie fortan bei jedem Schritt. Doch nicht nur die Presse behindert ihre Ermittlungen: Als Lena in dem schier unlösbaren Fall doch noch eine Spur findet, die direkt ins L.A.P.D. zu führen scheint, stellen sich ihr die eigenen Vorgesetzten in den Weg … und Detective Gamble muss sich der Frage stellen, ob sie ihren Kollegen noch vertrauen kann! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Leichengift« von Robert Ellis aus der L.A.P.D.-Serie »Lena Gamble ermittelt« – jedes Buch der Serie kann unabhängig gelesen werden. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Los Angeles – Stadt der Engel, Stadt der Schatten … Ermordet, zerstückelt, in einen Container geworfen wie Müll: Die Leiche der jungen Frau ist nicht mehr zu identifizieren. Noch bevor Detective Lena Gamble am Tatort eintrifft, sind die Bluthunde von der Boulevardpresse zur Stelle – und verfolgen sie fortan bei jedem Schritt. Doch nicht nur die Presse behindert ihre Ermittlungen: Als Lena in dem schier unlösbaren Fall eine Spur findet, die direkt ins L.A.P.D. zu führen scheint, stellen sich ihr die eigenen Vorgesetzten in den Weg … und Detective Gamble muss sich der Frage stellen, ob sie ihren Kollegen noch vertrauen kann!

Über den Autor:

Robert Ellis wurde in Philadelphia, USA, geboren. Ellis hat als Autor, Regisseur und Produzent in der Werbe- als auch Filmindustrie gearbeitet. Er ist der mehrfach preisgekrönte Autor zahlreicher Spannungsromane, die in 10 Sprachen übersetzt wurden.

Bei dotbooks veröffentliche Robert Ellis die drei Teile seiner Lena-Gamble-Thriller-Serie: »Todesqual«, »Leichengift« und »Todesakt«

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eBook-Neuausgabe November 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »The Lost Witness« bei St. Martin’s Minotaur, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2009 by Robert Ellis

Published by arrangement with St. Martin’s Publishing Group. All rights reserved.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Chris Sargent, Lysenko Andrii

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-96655-911-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Ellis

Leichengift

Ein L.A.P.D.-Thriller

Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner

dotbooks.

Für Deborah Conway Weber

Auf die Dunkelheit folgt ein neuer Tag.

Auf den Tag folgt wieder Dunkelheit

Und dann noch ein Tag …

Johnny Cocteau aus den Blue Monday Sessions

Kapitel 1

Mit einem entnervten Aufstöhnen warf sie einen Blick auf den Bildschirm ihres iPhones. Es war Punkt 22:17, genau drei Minuten und einundzwanzig Sekunden, seit sie das letzte Mal nachgesehen hatte. Leider wusste sie nicht mehr, wen sie sonst anrufen sollte. Auf ihrer Schnellwahlliste waren alle Namen abgehakt.

Allmählich wurde ihr die Warterei zu dumm. Es war schon spät und machte ganz den Eindruck, dass sie die heutige Nacht vergessen konnte. Ein totaler Reinfall, während alle ihre Freunde einen draufmachten.

Sie holte tief Luft, atmete aus und betrachtete, wie der Dampf die Windschutzscheibe beschlug. Die kalte Nachtluft ließ sie frieren. Es war Mitte Dezember in Los Angeles. Zwölf Tage vor Weihnachten. Letzte Woche hatte es in Malibu doch tatsächlich geschneit, das hatte sie in den Nachrichten gesehen. Kinder waren auf Pappkartons die Hügel hinuntergerodelt. Schneemänner ließen den Blick über die Santa Monica Bay schweifen. Es war, als stünde die ganze Welt Kopf, aber darüber verlor niemand im Fernsehen auch nur ein Wort.

Sie verscheuchte den Gedanken, nahm den Schlüssel vom Armaturenbrett und schaltete den Motor an. Nachdem sie die Heizungsdüsen überprüft hatte, stellte sie den Fahrersitz ein und versuchte, sich zu entspannen. Als die angelaufene Windschutzscheibe wieder klar wurde, konnte sie das Motel und das Restaurant jenseits des Müllcontainers auf der anderen Seite des Parkplatzes sehen.

Sie betrachtete die Mädchen in ihren durchsichtigen Oberteilen, die in dem Lokal aus und ein gingen, und die Männer, die sie unverhohlen und hungrig begafften, als wären sie wieder kleine Jungen, die auf Pappkartons Schlitten fuhren. Gedämpftes Gelächter wurde vom Wind herangetragen und brach sich am Wagen. Als ihr der Geruch eines Holzfeuers in die Nase stieg, wanderte ihr Blick hinauf zum Dach des Gebäudes. Am Kamin prangte ein Hahn aus Neonröhren. COCK-A-DOODLE-DOO, DIE BESTEN HÜHNCHEN IN L.A., verkündete eine zweite Neonreklame.

Sie musste kichern, brach jedoch schlagartig ab, weil zwei Männer sie anstarrten. Die beiden lehnten an einem Geländer vor dem Restaurant, rauchten und pflückten sich Hähnchenreste aus den Zähnen. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu merken, dass sie sie begutachteten, denn schließlich war das hier das Cock-a-doodle-do. Ihre Mägen waren voll, und nun war es Zeit für den Nachtisch. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie, mit welcher Sorte von Kerlen sie es zu tun hatte. Sie duckte sich in den Schatten und betrachtete die Unterschichtgesichter der zwei, die faltigen Stirnen, die tiefen Runzeln um ihre Augen, und die Billigklamotten, die es bei Wal-Mart in Gang sieben gab. Gerne hätte sie sie angeschnauzt, sie sollten aufhören, sie anzuglotzen. Diese Typen sollten kapieren, dass sie es nicht mit Fernfahrern und anderen Verlierern trieb, sondern nur mit Ärzten, Anwälten, Filmschauspielern und Agenten. Aber sie schwieg. Stattdessen öffnete sie ihr Fenster einen Spalt weit, kramte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Als sie wieder aufblickte, hatten sich zwei Blondinen an die beiden Versager herangemacht, und alle vier schienen in bester Stimmung.

Zeit, um ein bisschen nett zueinander zu sein. Zeit zum Feiern und für den Nachtisch. Die besten Hühnchen in L.A.

Sie schaute ihnen nach, als sie das Motel betraten, und hörte die Tür zuknallen. Ein Wunder, dass es so etwas wie das Cock-a-doodle-do überhaupt gab. Nichts lief im Verborgenen ab, und selbst ein Blinder mit Krückstock hätte auf Anhieb erkannt, was das hier für ein Laden war. Sie saß nun schätzungsweise schon seit einer halben Stunde hier. Zwei Bullenwagen waren vorbeigefahren. Einer war sogar in den Parkplatz eingebogen und hatte mit laufendem Motor gewartet, während einer der beiden Polizisten ins Lokal lief, um etwas Essbares zum Mitnehmen zu holen.

Alles nur eine Geldfrage, dachte sie. Ohne Moos nichts los. Man brauchte nur die richtigen Leute zu schmieren, die Hähnchen einzukaufen und sie zu grillen. Und dann war noch eine kleine Dreingabe für besagten Nachtisch fällig.

Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette und achtete darauf, den Qualm aus dem Fenster zu pusten. Dabei hoffte sie, dass es keinen Ärger geben würde, weil sie zum Rauchen nicht ausgestiegen war. Im nächsten Moment hörte sie einen Geländewagen und roch seine Abgase. Als die Nebelscheinwerfer durch das Wageninnere schweiften, kniff sie die Augen zusammen.

Es war ein grellroter Hummer oder vielleicht sogar ein Land Rover. Wegen des grellen Lichts konnte sie das nicht genau feststellen. Aber eigentlich war die Farbe egal. Sie verabscheute Geländewagen grundsätzlich, und dasselbe galt für die Idioten, die darin herumkurvten. Wenn sie jetzt auf dem Freeway gewesen wäre und so ein Arschloch bemerkt hätte, hätte sie ihm mit dem größten Vergnügen den Stinkefinger gezeigt.

Die verdammten Geländewagen waren nämlich schuld daran, dass es in Malibu jetzt schneite.

Sie lauschte, als die überdimensionalen Reifen knirschend über den Kies rollten. Das Ungetüm fuhr weiter und parkte irgendwo hinter ihr ein. Die Scheinwerfer gingen aus, und der spritdurstige Motor verstummte. Sie hörte, wie jemand »Jingle Beils« sang, eine leise, heisere Stimme, die die Hintergrundgeräusche übertönte. Nach einer Weile öffnete sich die Wagentür, und ein Mann stieg aus. Allerdings hatte er nicht viel Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann.

Offen gestanden war er sogar recht attraktiv, ja, beinahe niedlich, schätzungsweise knapp eins achtzig groß mit kurzem blondem Haar. Außerdem war er für ihren Geschmack etwa im richtigen Alter. Mitte bis Ende dreißig, also kein Milchbubi mehr. Doch am besten gefiel ihr, dass er trotz der kalten Nacht keine Jacke trug, sondern nur Jeans und ein T-Shirt. Sie sah seine Muskeln, als er eine Büchertasche schulterte. Seinen straffen Bauch, die kräftigen Beine und die glatte, sonnengebräunte Haut. Je länger sie ihn betrachtete, desto mehr erinnerte er sie an einen Schauspieler, dessen Namen sie vergessen hatte. Irgendeinen Fernsehstar, der in eine Sackgasse geraten und in einem Kabelsender wieder aufgetaucht war.

Auch Wiederholungen brachten Geld.

Sie zog an der Zigarette und schnippte die Asche aus dem Fenster. Offenbar hatte der Mann sie bemerkt, denn er sah in ihre Richtung und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Wegen der Dunkelheit konnte sie zwar die Farbe seiner Augen nicht erkennen, stellte aber fest, dass sie funkelten. Noch ehe sie ihm zuwinken konnte, drehte er sich um, überquerte den Parkplatz und eilte auf das Cock-a-doodle-do zu.

Ganz bestimmt kein Arzt, dachte sie. Und die Anwälte, die sie bis jetzt kennen gelernt hatte, sahen auch anders aus. Vielleicht war er auch kein richtiger Schauspieler. Doch sie fand ihn scharf. Absolut scharf.

Wieder schaute sie auf die Uhr, obwohl es sie eigentlich nicht mehr interessierte. Sie griff nach ihrem iPhone, stöpselte die Ohrhörer ein und klickte sich durchs Menü. Am späten Nachmittag hatte sie den Titelsong der neuen CD von den End Brothers mit dem Titel U All In? heruntergeladen. Als sie ihn gefunden hatte, drückte sie auf PLAY, hörte die Stimme von 187 und steckte das Gerät in die Tasche. Danach wedelte sie sich den Rauch aus dem Gesicht und stieg aus, um die Zigarette draußen zu Ende zu rauchen. Vielleicht würde sie sich ja noch eine genehmigen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass das Auto anschließend nach Qualm stinken könnte.

U all in, pretty woman

U all in, little darling.

That’s right baby, u all in,

’Cause u cheated on your daddy,

And now u done.

Sie lauschte, als XYZ, der Bruder von 187, zu singen begann, und dachte daran, wie die Band es ganz nach oben in die Hip-Hop-Hitparade geschafft hatte. Nach einem letzten Zug an der Zigarette, drückte sie den Stummel am Müllcontainer aus, warf ihn hinein, nahm einen Kaugummi aus der Tasche und versenkte das Einwickelpapier ebenfalls im Container.

In diesem Moment bemerkte sie ihn.

Den Mann, der nicht der Weihnachtsmann war. Vermutlich auch kein Arzt oder Anwalt, ja, nicht einmal ein Schauspieler der von den Tantiemen seiner Wiederholungen lebte. Den scharfen Typen mit dem kurzen blonden Haar, der »Jingle Beils« singend aus seinem dämlichen roten Geländewagen gestiegen war.

Er versteckte sich im Schatten, und zwar ganz in der Nähe. Offenbar hatte er sich zwischen den Reihen geparkter Autos zurückgeschlichen, während sie ihm den Rücken zukehrte. Nun konnte sie seine Augenfarbe erkennen: leuchtend blau, eiskalt und böse. Noch schlimmer war, dass er etwas in der Hand hatte, das er nun auf sie richtete. Zuerst hielt sie es für eine Wasserpistole. Doch als er abdrückte, schossen zwei Haken durch die Luft direkt auf sie zu. Sie stellte fest, dass sie sich in ihren Pullover bohrten. Die Haken erinnerten an Angelhaken und waren mit Drähten versehen, die ihren Körper mit der Waffe verbanden. Angst ergriff sie. Verdattert und voller Panik, blieb sie wie angewurzelt stehen, blickte mit klopfendem Herzen über den Parkplatz und hielt vor dem Cock-a-doodle-do Ausschau nach Hilfe.

Aber sie waren allein. Ganz allein. Alle waren mit ihrem Nachtisch beschäftigt.

Der Mann fing zu lachen an. Plötzlich durchfuhr sie ein scharfer Schmerz. Ein Schlag. Der Stromstoß. Ein Blitz, der sich anfühlte, als würde ihr Körper entzweigerissen.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie bäuchlings auf dem Boden. Der Mann wälzte sie auf den Rücken wie ein überfahrenes Tier. Sie konnte sich weder bewegen noch klar denken. Ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte – und sie mobilisierte wirklich all ihre Kräfte –, gelang es ihr nicht zu schreien. Sie wusste nicht einmal mehr, wo sie sich befand.

Sie hob den Blick und glaubte ein Flugzeug zu erkennen, das im nachtschwarzen Himmel sein Fahrwerk ausklappte. Sie schaute an sich herunter und bemerkte, dass die Angelhaken noch immer in ihrem Pullover steckten. Die Drähte hatten sich mit den Kabeln ihres iPhones verheddert. Der Mann mit der Waffe starrte aus toten Augen zu ihr herunter. Er sagte etwas, das sie wegen der Ohrhörer nicht verstehen konnte. Doch aus seinem Gesichtsausdruck schloss sie, dass es gewiss nichts Angenehmes war. Dann drückte er wieder ab, und sie spürte, wie ein zweiter Stromstoß durch ihren geschundenen Körper und ihre blank liegenden Nerven fuhr.

Während sie langsam wieder zu Bewusstsein kam, sah sie, dass der Mann ihre Handtasche in den Müllcontainer warf. Er hob sie auf und verfrachtete sie unsanft auf den Rücksitz seines Geländewagens, doch sie konnte nichts spüren. Nicht einmal die Todesangst, die ihr vom Magen in die Brust stieg.

Im nächsten Moment begann der Geländewagen wieder, den Kies aufzuwühlen. Der Mann fuhr mit ihr weg. Sie spähte durch das Fenster auf den Parkplatz, konnte aber nicht allzu viel wahrnehmen. Kurz hatte sie den Eindruck, dass jemand im Schatten zwischen den Autos stand. Wenn die Person Hilfe holen wollte, kam sie etwa zehn bis fünfzehn Minuten zu spät. Aber vielleicht hatte sie sich ja auch geirrt und machte sich falsche Hoffnungen. Es konnte genauso gut ein Traum oder ein Phantom sein, hervorgebracht von dem Stromstoß in ihrem Körper, der alles abgetötet hatte.

Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich lächelnd zu ihr um, sagte jedoch nichts, als er den Parkplatz verließ. Als sie spürte, wie der Wagen beschleunigte, wanderte ihr Blick rückwärts aus dem Fenster. Sie konnte den Neon-Hahn auf dem Dach sehen. Das Cock-a-doodle-do verschwand in der Nacht. Wieder klappte ein Flugzeug sein Fahrwerk aus.

Bald wurde es schwarz vor dem Fenster. Sie versuchte auszublenden, was gerade geschah, und durch die Musik Kraft zu schöpfen. Wenn es ihr gelang, sich zusammenzunehmen und sich wieder zu bewegen, konnte sie die Polizei anrufen. Oder sogar die Tür öffnen und aus dem Wagen springen.

Also lauschte sie der Musik und zwang sich, sich zu konzentrieren. Sie wusste, dass der Sänger mit bürgerlichem Namen Derek Williams hieß, sich aber 187 nannte. Sein Bruder Bobby ließ sich mit XYZ ansprechen. Ihr gefielen die Stimmen der beiden. Und zwar sehr. Doch nach etwa anderthalb Kilometern Fahrt hörte 187 zu singen auf. Das Lied war zu Ende, und die Musik verstummte …

Kapitel 2

Lena Gamble schenkte sich eine neue Tasse Kaffee ein, umrundete damit den Küchentresen und setzte sich an den Tisch im Wohnzimmer. Während sie den ersten Schluck aus der dampfenden Tasse nahm, betrachtete sie die Stadt jenseits der Fensterscheibe. Es war zwei Uhr nachmittags. Das kochend heiße Gebräu schmeckte kräftig und stark und weckte ihre Lebensgeister. Sie hatte den Tag freigenommen und nichts getan, außer die Zeitung zu lesen und Musik zu hören. Es war das erste Mal seit langem, dass sie ganz bewusst dem Müßiggang frönte, ein Gefühl, das sie sehr genoss.

Endlich waren die Reparaturen am Haus abgeschlossen, wirklich ein Grund zum Feiern. Das vor acht Monaten von den Santa-Ana-Winden abgedeckte Dach war erneuert worden, und zwar mit fünfzehn Jahren Garantie auf die Handwerksarbeiten. Das Unterholz rings um das Haus hatte man für den Fall eines erneuten Waldbrandes weitere zwanzig Meter zurückgestutzt. Und außerdem hatte Lena alle Möbel ihres Bruders – und die Beweismittel, die sie enthielten – entfernen und austauschen lassen. Gestern waren die Maler endlich fertig geworden und hatten nur den Geruch nach frischer Farbe und Silikonmasse zurückgelassen. Jetzt war alles still. Leer. Ein Zustand, der in ihr die Sehnsucht nach David wachrief. Sie wünschte, er wäre noch da, am Leben, und würde seine Musik spielen. Hier in diesem kleinen Haus auf dem Hügel oberhalb von Hollywood und Los Angeles, das sie früher miteinander geteilt hatten.

Lena drehte sich um und spähte ins Schlafzimmer. Durch das Fenster war die zweistöckige Garage auf der anderen Seite der Auffahrt zu erkennen. Kurz nach ihrem Einzug hatte ihr Bruder das Gebäude in ein hochmodernes Tonstudio verwandelt und den Erfolg der dritten CD seiner Band auf die verbesserte Akustik zurückgeführt. Doch das alles war nun vorbei. Das Studio wurde seit knapp sechs Jahren nicht mehr benutzt. Als Lena sich abwandte, fragte sie sich, was der Ausdruck »einen Schlussstrich ziehen« wohl bedeuten mochte. Wer hatte ihn erfunden und warum? Für sie war er nur eine abgedroschene Phrase, die keinen Sinn ergab.

Wie ihr klar war, grübelte sie vermutlich deshalb darüber nach, weil sie die letzte Nacht zum ersten Mal seit dem Abschluss des Falls Romeo und der Aufklärung des Mordes an ihrem Bruder nicht oben im Gästezimmer verbracht hatte. Eine ganze Flasche Wein war nötig gewesen, um die Erinnerungen zu vertreiben und Lena außer Gefecht zu setzen. Allerdings hatte sie in ihrem neuen Bett die ganze Nacht durchgeschlafen, und zwar ohne Träume, Alpträume oder eines der anderen quälenden Phänomene, die mit dem Ziehen eines Schlussstriches einherzugehen schienen.

Sie hatte schlechte Karten gehabt. So viel stand fest. Der Mord an ihrem Bruder war sinnlos gewesen. Etwas, das sie für den Rest ihrer Tage mit sich würde herumschleppen müssen. Doch nun war es Zeit, die Karten neu zu mischen. Zeit, für eine neue Runde und ein neues Spiel. Zeit, dem Drang zu widerstehen, zu passen und die Schulden zu bezahlen.

Lena legte die Zeitung weg, öffnete die Schiebetür und trat auf die Terrasse hinaus. Der Wind hatte aufgefrischt und trocknete die Stadt, nachdem es zehn Tage pausenlos wie aus Kannen geregnet hatte. Obwohl im ganzen Tal, von der Innenstadt bis zum Meer, hell die Sonne schien, würden die Temperaturen vermutlich nicht die zehn Grad übersteigen. Dennoch war die Aussicht vom Gipfel des Hügels an diesem Nachmittag atemberaubend. Die ganze Stadt wirkte blitzblank und schimmerte im dunstigen Licht. Lena hatte den Pool zwar nicht geheizt, doch Dampf stieg aus dem Wasser auf und trieb wie ein farbiger Nebel der Sonne entgegen. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Der Friede. Die trügerische Ruhe in einer Stadt, die so viele Menschen ihr Zuhause nennen wollten.

Sie fragte sich, wie lange diese Illusion sich wohl halten würde. Allein in diesem Jahr waren in Los Angeles vierhundertachtundsiebzig Morde verübt worden. Da es bis Silvester nur noch achtzehn Tage waren, stand zu befürchten, dass sie die Fünfhunderterhürde noch reißen würden. Lena hielt das zumindest für wahrscheinlich. Innerhalb der letzten elf Monate war die Anzahl der Gefängnisinsassen auf einhundertdreiundsiebzigtausend gestiegen, was in etwa der Bevölkerungszahl der amerikanischen Stadt entsprach, die im Hinblick auf ihre Größe an vierundzwanzigster Stelle im Land stand. Die Strafanstalten, obwohl eine Stadt ohne Namen, eigene Footballmannschaft oder Festtagsparade, bildeten eine Gemeinde, in der mehr Menschen lebten als in Pasadena.

Ob diese trügerische Ruhe wohl irgendwann Wirklichkeit werden würde?

Die Heizung sprang an, und der Wind, der von draußen hereinwehte, pustete die Zeitung vom Tisch. Lena kehrte ins Haus zurück und schloss die Schiebetür. Beim Aufheben der Zeitung bemerkte sie auf Seite drei des Kalifornienteils ein Foto, das ihr zuvor nicht aufgefallen war. Eine Villa in Beverly Hills war unter einem halben Meter Schnee begraben. Da sie sich an die Wetterkapriolen der letzten Woche in Malibu erinnerte, las sie den Artikel weiter, bis ihr klarwurde, dass der Schnee nicht Ergebnis eines Unwetters, sondern von einer Firma für Spezialeffekte in Burbank künstlich hergestellt worden war. Wieder eines der vielen Trugbilder dieser Stadt, eigens produziert und über Haus und Garten verteilt, weil irgendein reicher Mann seinen Kindern weiße Weihnachten spendieren wollte. Anstatt die Ferien in den Bergen zu verbringen, plante er, sein Haus jeden Tag für zehntausend Dollar pro Lieferung einschneien zu lassen. Lena rechnete nach. Weiße Weihnachten in Beverly Hills waren offenbar für kümmerliche einhundertzwanzigtausend Dollar zu haben. L.A. war als gewaltige Täuschungsmaschinerie bekannt, gegen den hier vorherrschenden Wahnsinn war anscheinend kein Kraut gewachsen.

Das Telefon läutete in seiner Ladestation auf dem Küchentresen. Lena blätterte die Zeitung um, stand auf und warf einen Blick auf die Anzeige, bevor sie das Gespräch annahm. Es war ihr Vorgesetzter Lieutenant Frank Barrera vom Dezernat für Raub und Tötungsdelikte, der sie an ihrem freien Tag anrief.

»Gute und schlechte Nachrichten«, begann er. »Bei Ihnen alles in Ordnung, Lena?«

»Bestens. Was gibt es denn? Ich kann Sie kaum verstehen.«

»Moment. Ich mache rasch die Tür zu.«

Barrera flüsterte. Lenas Blick fiel auf die Kaffeetasse auf ihrem Tisch. Nachdenklich nahm sie noch einen Schluck. Der Schreibtisch ihres Vorgesetzten stand ganz vorne im Großraumbüro. Wenn er also eine Tür schließen wollte, bedeutete das, dass er sich im Büro des Captains befand und nicht belauscht werden wollte.

In den letzten Monaten war Lena mit Fällen von Schusswechseln unter Beteiligung eines Polizeibeamten förmlich zugeschüttet worden. Derartige Ermittlungen verschlangen viel Zeit, verursachten jede Menge Verwaltungsarbeit und waren deshalb das genau Gegenteil dessen, was sie an ihrem Beruf liebte. Noch schlimmer war, dass der Befehl, sie aus der gewöhnlichen Ermittlungstätigkeit herauszunehmen, direkt aus dem Büro des Polizeipräsidenten im fünften Stock kam. Lena sah das als klares Zeichen dafür, dass man in der Chefetage einen Sündenbock brauchte und sie ausgesucht hatte, um für die Ergebnisse im Fall Romeo zu büßen. Immerhin hatte der letzte gefallene Dominostein eine Dienstmarke getragen, wieder ein Schlag ins Kontor der Polizei. Doch allmählich machte es ihr zu schaffen, dass kein Ende der Strafarbeit abzusehen war. Der neue Polizeichef Richard S. Logan, sein Kofferträger Lieutenant Ken Klinger und die Bürokraten im fünften Stock waren offenbar recht nachtragend. Noch immer hatte Lena keinen neuen Partner, und sie machte sich langsam Sorgen, dass an den Gerüchten, die in der Abteilung kursierten, etwas Wahres sein könnte: Die Lawine der Fälle von Schusswechseln unter Beteiligung eines Polizeibeamten würden nie enden, weil man versuchen wollte, sie auszuhungern und ihr das Leben so lange zur Hölle zu machen, bis sie freiwillig um eine Versetzung ersuchte oder, noch besser, ihren Hut nahm.

Als Barrera sich wieder meldete, klang seine Stimme klarer, allerdings noch immer besorgt.

»Es ist etwas passiert«, sagte er. »Eine Leiche in Hollywood.«

»Warum ausgerechnet ich?«

»Weil Sie in der Nähe sind. Die Tote wurde einen halben Häuserblock nördlich des Hollywood Boulevard gefunden. Das ist eine Seitengasse zwischen der Ivar Avenue und der Cahuenga Avenue.«

»Also hinter dem Tiny’s.«

»Genau. In der Gasse hinter der Kaschemme.«

Lena wollte schon nach einem Stift greifen, hielt aber inne. Es war unnötig, dass sie sich die Adresse notierte. Vor ihrer Beförderung in die Eliteabteilung Raub und Tötungsdelikte im letzten Februar hatte sie, erst als Streifenpolizistin, dann als Detective, in Hollywood gearbeitet und kannte das Viertel, ja, sogar die besagte Kneipe und die Seitengasse hinter der Ivar Avenue. Der Tatort befand sich mitten im Stadtzentrum, nur einen Häuserblock westlich der Vine Avenue.

»Kennen wir den Namen des Opfers?«, fragte sie.

»Wir haben überhaupt nichts in der Hand. Ich weiß nur, dass die Kollegen aus Hollywood bereits dort sind und uns den Fall übergeben werden.«

Barrera war ihr Verbündeter. Als sie hörte, wie seine sonst so feste Stimme zitterte, setzte sie sich auf einen Hocker an den Küchentresen. Für gewöhnlich wurden Tötungsdelikte von den Detectives vor Ort bearbeitet. Dass man den Fall an höhere Ebene weiterleitete, konnte nur eines von zwei Dingen bedeuten: Er war entweder medienwirksam oder ganz besonders grausig.

»Warum wir, Frank?«

»Eine schlimme Sache, Lena, wirklich schlimm. Das Mädchen wurde total zerstückelt.«

»Also kriege ich nach acht Monaten wieder einen Fall, nur weil ich in der Nähe wohne?«

Barrera räusperte sich. »Jetzt kommt die schlechte Nachricht, der eigentliche Grund meines Anrufs, Lena. Der Befehl stammt vom Polizeichef persönlich. Erst dachte ich, es wäre wieder einer dieser Fälle von Schusswaffengebrauch unter Beteiligung eines Polizeibeamten, aber Fehlanzeige.«

»Was mag dahinterstecken?«

»Irgendwie macht mich die Sache stutzig. Entweder hat er Druck von außen gekriegt, Sie einzusetzen, oder es ist eine Art …«

Falle, dachte Lena. Der Lieutenant brauchte den Satz gar nicht zu beenden. Sie hatte schon verstanden. Der Polizeichef wollte sie loswerden und hoffte, ihr etwas unterschieben zu können, um ihren Abschied zu beschleunigen. Vielleicht würde dieser Fall ja ihr letzter sein.

»Was ist mit einem Partner?«, erkundigte sie sich.

»Sie sind auf sich allein gestellt. Ich werde dafür sorgen, dass Sanchez und Rhodes Sie wenn nötig unterstützen, aber ansonsten fliegen Sie solo. Meldung erstatten Sie direkt beim Polizeichef oder seinem Assistenten.«

»Klinger?«

»Ja, Klinger. Ich habe Ihnen gerade den heutigen Terminplan des Polizeichefs gemailt. Er möchte informiert werden, nachdem Sie den Tatort besichtigt haben. Selbst wenn Sie ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen müssen, will er Sie unbedingt sehen. Also seien Sie da.«

»Kein Problem.«

»Lena.«

»Ja?«

»Ich habe mit Rhodes geredet und ihn gebeten, Sie nicht damit zu belasten. Doch er denkt das Gleiche wie ich.«

»Und das wäre?«

»Dass an der Sache etwas faul ist.«

Lena wandte sich zum Fenster um und stellte fest, dass ihre Finger leicht zitterten.

»Als ich ans Telefon gegangen bin, haben Sie von guten und von schlechten Nachrichten gesprochen, Frank. Wo bleiben denn die guten?«

Er lachte auf, um sie aufzumuntern. »Der Tatort ist in Hollywood. Sie haben doch früher mit Pete Sweeney zusammengearbeitet? Er war Ihr Partner, richtig?«

»Ja.«

»Nun, Sweeney und Banks haben den Notruf entgegengenommen. Sie wissen, dass es Ihr Fall ist, und werden Ihnen den restlichen Tag unter die Arme greifen. Danach lassen sie Sie in Ruhe. Einverstanden?«

Sie nickte, bevor ihr einfiel, dass sie ja am Telefon war. Dabei dachte sie an die fünfte Etage des Parker Center und betrachtete durch den Türspalt ihre Pistole auf dem Nachttisch. Eine Smith & Wesson, Kaliber .45 Halbautomatik. Die Sonne hing tief am Dezemberhimmel und war zur anderen Seite des Hauses gewandert. Die durch das Fenster hereinströmenden Strahlen tauchten die Waffe in einen rotgoldenen Schein. In diesem Jahr hatte sie im Dienst einen Mann getötet, ein Schuss, abgefeuert, als es keinen anderen Ausweg mehr gab. Jeden Tag musste sie an diesen Blick in den Abgrund denken.

»Ich schaffe das«, sagte sie.

Barrera senkte die Stimme. »Gut«, erwiderte er. »Aber nichts überstürzen. Immer auf Nummer sicher gehen. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Kapitel 3

Lena warf ihren Aktenkoffer auf den Beifahrersitz, sprang in ihren Honda Prelude und ließ den Motor an. Nachdem sie die Heizung reguliert hatte, drehte sie am Radio herum, bis sie den Sender KEOQ gefunden hatte. Aber noch ehe sie lauter stellen konnte, begann ihr Mobiltelefon zu vibrieren. Ein Blick auf die Anzeige verriet ihr, dass der Moment der Wahrheit da war. Der Anruf kam direkt aus Polizeipräsident Logans Büro im Parker Center.

»Hier spricht Lieutenant Klinger, Gamble. Sind Sie schon am Tatort?«

Sie zuckte mit den Achseln. Klinger musste doch wissen, dass Barrera sie gerade erst kontaktiert hatte. Also konnte es ihm nicht um Informationen gehen. Der Mann führte etwas anderes im Schilde.

»Ich fahre soeben los, Lieutenant.«

»Drücken Sie mal ein bisschen auf die Tube, Detective. Beeilung.«

Offenbar war das ein Vorgeschmack auf das zukünftige Arbeitsklima, sagte sich Lena. Klinger und seine Leute im fünften Stock würden ihr die ganze Zeit über die Schulter schauen. Am liebsten hätte sie entgegnet, dass in einer Mordermittlung kein Platz für Bürohengste und Besserwisser war. Verbrechen wurden mit dem Verstand rekonstruiert und auch damit aufgeklärt. Aber sie schwieg. Während sie lauschte, wie Klinger alles wiederholte, was Barrera ihr erst vor zehn Minuten erzählt hatte, wurde ihr klar, dass sie diesen Mann kaum kannte. Ihre Wege kreuzten sich nur selten. Klinger war etwa vierzig und seit fünfzehn Jahren bei der Polizei. Soweit Lena gehört hatte, hielt er sich für einen begabten Ermittler, obwohl er kaum praktische Erfahrung mit tatsächlichen Mordfällen besaß. Stattdessen hatte er den Großteil seiner beruflichen Laufbahn im Parker Center bei der Abteilung Interne Ermittlungen verbracht, die unter Polizeichef Logan im Dezernat für Qualitätskontrolle umbenannt worden war. Bei der gesamten Polizei gab es keinen einzigen Kollegen, der dieser Abteilung – ganz gleich, wie sie inzwischen auch heißen mochte – nicht von ganzem Herzen misstraute. Deshalb war Lena ebenso erstaunt gewesen wie alle anderen, als der Polizeipräsident bei seinem Amtsantritt Klinger zu seinem Assistenten ernannt hatte. Auch wenn der Polizeipräsident von auswärts stammte, musste ihm doch klar gewesen sein, dass er damit die Moral der Truppe aufs Spiel setzte. Ganz gleich, welche Talente Klinger auch haben mochte, war es kein kluger Schachzug gewesen.

Lena zwang sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Klinger hatte ihr gerade eine Frage gestellt, aber bis auf seinen herablassenden Tonfall war nichts bei ihr angekommen.

»Hören Sie mir überhaupt zu, Gamble?«

»Ja, Lieutenant.«

»Dann antworten Sie mir. Liegt Ihnen der Terminplan des Polizeichefs vor oder nicht?«

»Ich bin bestens gerüstet.«

»Dann wissen Sie ja, wo Sie uns finden können, ganz gleich, wie spät es ist. Und jetzt fahren Sie zum Tatort und melden sich so schnell wie möglich, Detective. Der Polizeipräsident behält Sie im Auge und möchte über jeden Schritt der Ermittlungen informiert werden. Ist das klar? Jeden Bericht. Jeden Hinweis.«

»Gibt es da etwas, das ich wissen sollte, Lieutenant?«

Er zögerte einen Moment, als hätte er nicht mit diesem Einwand gerechnet und läse nur von einem Drehbuch ab. »Jeder Fall ist wichtig«, entgegnete er schließlich. »Es ist eine Ermittlung wie alle anderen, Gamble.«

Lena verstand genau, was Klinger ihr sagen wollte, denn eigentlich entsprach es auch ihrer eigenen Auffassung. Allerdings schwang in seiner Stimme etwas mit, das sie argwöhnisch machte. Was wurde hier gespielt? Plötzlich hatte sie eine Idee, warum der Polizeipräsident diesem Fall solche Bedeutung beimaß.

Es war die Mordstatistik. Er wollte verhindern, dass die Anzahl der Fälle während seiner Dienstzeit die Fünfhundertermarke überschritt, weil das seinem guten Ruf geschadet hätte. Gestern hatten bis zu dieser magischen Grenze dreizehn Leichen gefehlt. Heute waren es nur noch zwölf.

Es ging nur um politische Eitelkeiten.

Der bloße Gedanke stieß sie so ab, dass sie am liebsten aufgelegt hätte. Diesen Leuten kam es nur auf Äußerlichkeiten an, nicht auf Menschen. Zahlen waren wichtiger als Menschenleben. Dem Polizeichef und seinem Helfershelfer war das Opfer völlig gleichgültig. Sie wollten den Fall so schnell wie möglich abschließen, bevor die Presse sich daran festbiss. Wenn man den Polizeichef dann nach der Mordrate fragte, konnte er guten Gewissens erwidern, die Aufklärungsquote sei gestiegen. Auf diese Weise hatte er die Möglichkeit, die Debatte an sich zu reißen und die Statistik sowie die dazugehörigen Opfer unter den Teppich zu kehren.

»Sonst noch etwas, Lieutenant?«, erkundigte sie sich.

»Jawohl, Gamble. Sie sind Detective bei der Polizei von Los Angeles. Verhalten Sie sich entsprechend und fallen Sie nicht aus der Rolle.«

Ein Klicken. Er hatte aufgelegt.

Eine Weile verging. Lena klappte ihr Telefon zu und blickte die Auffahrt entlang und hinüber zu ihrem Haus. Ein leichter Westwind wehte, und sie hörte trotz des Motorengeräuschs das Rascheln der Palmen. Sie überlegte, warum sie Polizistin hatte werden wollen. All die Gründe, warum sie sich für diesen Beruf entschieden hatte. Und sie wusste, dass sie es schaffen würde. Ganz gleich, wie sie sich jetzt auch fühlen mochte, sie würde sich behaupten.

Lena schaltete das Radio ab, rollte die Auffahrt entlang und machte sich über die Serpentinenstraße auf den Weg nach Hollywood. Sie öffnete die Fenster und ließ den kalten Wind durchs Auto peitschen, bis sie sich endlich beruhigt hatte und die Gedanken an Klinger im Rückspiegel verschwunden waren. Sie freute sich schon darauf, endlich wieder einen richtigen Fall zu bearbeiten. Doch sie hatte auch Angst davor.

Als sie die Gower Street erreichte, wurde die Straße gerade. Sie passierte das Monastery of the Angels, betrachtete kurz die Statue der Jungfrau Maria auf dem Hügel, biss dann die Zähne zusammen und trat den ganzen Weg bis zum Franklin Boulevard das Gaspedal durch. Kurz darauf war sie auf dem Hollywood Boulevard und bog in die Ivar Avenue ein.

Sie sah den Transporter des Leichenbeschauers hinter einer Reihe schwarzweißer Streifenwagen mitten auf der Straße stehen. Jemand hatte gelbes Absperrband an der Ecke Hollywood Boulevard bis zur Ivar Avenue und zur Yucca Street quer über den Gehweg gespannt. Der Wagen der Kriminaltechnik war schon da, parkte rückwärts in der Seitengasse und versperrte den Zugang. Als Lena einen Blick über die Straße warf und den Kleinbus eines Nachrichtensenders mit dazugehöriger Videokamera bemerkte, verstand sie den Grund. Der Wagen sollte offenbar als Sichtschutz dienen.

Sie drehte sich zur Straße um. Offenbar war der Parkplatz gegenüber vom Knickerbocker Hotel von der Polizei mit Beschlag belegt worden. Nachdem sie sich bei einem mit einem Klemmbrett bewaffneten Polizisten eingetragen hatte, stellte sie ihren Wagen ab.

Das merkwürdige Gefühl in ihrer Brust meldete sich zurück, zusammen mit einem Anflug von Selbstzweifeln, die flackerten wie eine Glühbirne, die kurz davor war, den Geist aufzugeben. Als sie mit ihrem Aktenkoffer den Gehweg entlangmarschierte, sah sie kurz zu dem Hotel hinüber. Marilyn Monroe und Joe DiMaggio hatten ihre Flitterwochen im Knickerbocker verbracht. Elvis hatte während seiner Dreharbeiten zu Love Me Tender dort gewohnt. Allerdings war das schon lange her. Inzwischen war das Knickerbocker ein Seniorenheim für russische Einwanderer in einem Viertel, wo ansonsten Obdachlose und Junkies das Straßenbild prägten.

Jemand rief ihren Namen. Lena hob den Kopf und stellte fest, dass ein weiterer Kleinbus eines Nachrichtensenders eingetroffen war. Ein dritter wartete darauf, dass die rote Ampel an der Ecke umsprang. Sie hielt Ausschau nach einem vertrauten Gesicht, konnte jedoch niemanden entdecken. Als sie sich weiter umsah, erkannte sie Ed Gainer, den leitenden Ermittler aus dem Büro des Leichenbeschauers, der ihr aus seinem Wagen zuwinkte.

»Ich komme gleich«, sagte er. »Haben Sie schon was gehört?«

»Nur ein Wort: Beeilung.«

Er nickte in Richtung der Medienvertreter. »Das Büro des Polizeichefs hat die Meldung per Funk durchgegeben. Ich fasse es nicht, dass es nicht telefonisch passiert ist. Eigentlich müssten sie es besser wissen.«

Lena zuckte mit den Achseln. Natürlich wussten sie es besser. So wie jeder, der eine Dienstmarke trug: Am Polizeifunk hörten die Reporter mit.

Während sie sich am Transporter der Kriminaltechnik vorbeischlängelte, fragte sie sich, warum der Polizeichef und sein Assistent wohl die Presse hergelockt haben mochten. Wieder musste sie an das Wort Falle denken. Im nächsten Moment trat sie in die Seitengasse und fühlte sich fast, als hätte jemand das Licht Licht ausgeknipst. Die ganze Straße war in einen tief dunkelgrauen Nebel gehüllt, und der Geruch nach Küchendünsten aus dem Tiny’s lag in der Luft. Lena wedelte den Qualm weg und entdeckte ihren ehemaligen Partner Pete Sweeney, der mit Terry Banks mitten auf der Straße stand. Einige Spurensicherungsexperten warteten am Straßenrand, während ein gedrungener Mann, dessen Haut die Farbe von Kaffee mit Sahne hatte, den Tatort mit einer motorbetriebenen Nikon fotografierte. Der Fotograf hieß Lamar Newton und war ebenfalls ein Freund und Verbündeter, auf den Lena sich verlassen konnte.

Lena näherte sich und folgte der Richtung der Kameralinse, bis ein Müllcontainer ihr die Sicht versperrte. Sie ging schneller und warf dabei einen Blick zurück zu den beiden Mordermittlern aus Hollywood. Sweeney, eigentlich ein Bär von einem Mann und stets die Gelassenheit in Person, war kreidebleich im Gesicht und wirkte verstört. Terry Banks machte einen nicht minder beklommenen Eindruck. Seine ebenholzschwarze Haut und sein kahlrasierter Schädel waren trotz des kalten Windes schweißnass.

Sweeney winkte Lena heran. Als sie endlich um den Müllcontainer herumspähen konnte, war auf dem Boden allerdings keine Leiche zu sehen. Nur fünf grüne Müllsäcke, der vorderste davon aufgerissen.

»Tut mir leid, dass du den Fall hier abgekriegt hast, Lena. Du bist nicht zu beneiden.«

Sweeneys Stimme war leise und konnte den Lärm der Stadt und das rhythmische Geräusch des Kameramotors kaum übertönen.

Lena drehte sich zu dem Müllsack um. Es gehörte nicht viel dazu, um zu erraten, was er enthielt. Etwas Grausiges. Etwas, das so schrecklich war, dass man den Fall an das Dezernat für Raub und Tötungsdelikte weiterverwiesen hatte.

Sweeney versetzte ihr einen Rippenstoß und wies auf den schwarzweißen Streifenwagen, der direkt hinter ihnen stand. Auf dem Rücksitz saß ein Jugendlicher. Die Tür war offen, und der Junge trug Handschellen. Sein Haar war lang und braun, und Lena erkannte an seinen schmutzigen Kleidern und den löchrigen Schuhen, dass sie einen Obdachlosen vor sich hatte. Als er sie ansah, traf sie ein Blick aus stumpfen Augen, der ihr sagte, dass er entweder ein religiöser Fanatiker oder ein Drogensüchtiger war. Doch schon im nächsten Moment verrieten ihr seine bis zum Zahnfleisch heruntergefaulten Zähne, dass er Crack, nicht etwa Jesus Christus verehrte.

»Der Kleine hat den Tag auf dem Planeten X verbracht und dabei mächtig Hunger gekriegt«, erklärte Sweeney. »Wir konnten nur aus ihm herausholen, dass er vor etwa einer Stunde zu diesem Müllcontainer gegangen ist. Er hat die Tüten herausgefischt und gedacht, seine nächsten Mahlzeiten seien gesichert.«

»Fröhliche Weihnachten«, fügte Banks hinzu. »Genug Proviant für eine Woche.«

»Wie heißt er?«, fragte Lena.

Sweeney spähte in den Streifenwagen. »Danny Bartlett, sechzehn Jahre alt, aus Little Rock, Arkansas. Letzten August ist er von zu Hause ausgerissen und hier gelandet. Als er die erste Tüte aufgemacht hat, war er noch voll drauf. Nichts Essbares und auch kein Nirwana.«

»Nur seine eigenen Dämonen«, ergänzte Banks. »Der kleine Stinker ist ausgerastet.«

Sweeney nickte. »Der Typ, der drüben im Tiny’s die Küche betreibt, hat den Kurzen rumschreien gehört und die Polizei gerufen. Mehr wissen wir auch noch nicht.«

Lena wandte sich wieder zum Müllcontainer um. Während Sweeney eine Wasserflasche aus der Tasche nahm und mit zitternder Hand einen Schluck trank, erschien endlich Ed Gainer vom Büro des Leichenbeschauers. Lena holte ein frisches Paar Gummihandschuhe aus ihrem Aktenkoffer.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte sie.

Alle traten gleichzeitig einen Schritt vor. Langsam, aber entschlossen. Als sie vor dem grünen Müllsack standen, zog Lena die Plastikfolie auseinander und versuchte, beim Anblick des langen blonden Haars nicht zusammenzuzucken.

Es dauerte einen Moment, bis ihr das Ausmaß des Grauens klar wurde. Und noch einen weiteren, bis sie wieder durchatmen konnte.

Es war ein Bild wie aus einem Alptraum. Die junge Frau war schätzungsweise Anfang zwanzig. Der Täter hatte ihre Leiche fein säuberlich zerstückelt. Obwohl auch ihr Gesicht nicht verschont geblieben war, standen ihre Augen weit offen. Sie waren goldbraun.

Sweeney und Banks wichen zurück. Lena hörte, wie ihr früherer Partner noch einen Schluck Mineralwasser hinunterstürzte, als wäre es starker Schnaps. Jemand zündete eine Zigarette an. Als Gainer ein Stoßgebet an seinen Schöpfer murmelte, drehte sich Lena wieder zu der Leiche um und ließ den Anblick auf sich wirken. Sie wusste, dass sie es wieder einmal mit einem Beweis dafür zu tun hatten, dass die Evolution auf dem Rückzug war. Von Menschlichkeit oder gar Zivilisation fehlte in diesem Fall jede Spur. Und noch dazu hatte sie keinen Partner. Sie war im Alleinflug unterwegs und ganz und gar auf sich allein gestellt.

Kapitel 4

Ihr erster Eindruck war der richtige gewesen.

Das hier war nicht der Tatort. Der Täter hatte die Leiche in der Gasse zwischen der Ivar und der Cahuenga Avenue unweit des Hollywood Boulevard lediglich entsorgt. Sie war günstig gelegen, denn zwei Auffahrten zum Hollywood Freeway befanden sich nur drei Häuserblocks entfernt. Also würden sie hier nichts finden, und wenn sie alles Zentimeter um Zentimeter absuchten. Weit und breit waren weder ein Portemonnaie noch eine Handtasche oder etwas, das die Mordwaffe hätte sein können, zu sehen.

Lena beobachtete, wie die Mitarbeiter der Spurensicherung seine Gerätschaften zusammenpackten, und überlegte.

Es gab keine Verbindung, denn kein vor Ort entdeckter Gegenstand würde ihnen Hinweise auf den Täter liefern. Der hatte sein Opfer nämlich nicht hier getötet, sondern es nur weggeworfen wie ein Stück Abfall.

Zorn durchdrang Lena bis ins Mark.

Allerdings war dem Mörder ein Fehler unterlaufen. Die Plastiksäcke, in die das Opfer verpackt war, unterschieden sich von sämtlichen Säcken in allen Müllcontainern in einem Umkreis von fünf Häuserblocks. Es waren Säcke von Profiqualität, um einiges dicker als gewöhnliche und mindestens dreißig Prozent größer. Lenas Vater war Schweißer gewesen. Die Silhouette von Denver hatte viel von ihrer Form und ihrer Schönheit seiner Arbeit zu verdanken. Aus Erfahrung wusste sie also, dass derartige Säcke häufig auf Baustellen zum Einsatz kamen. Die stabile Plastikfolie hielt mehr Belastung stand und platzte nicht so leicht auf, wenn man sie mit spitzen Gegenständen wie Glasscherben, Nägeln oder wie in diesem Fall den zersplitterten Knochen einer jungen Frau füllte.

Danny Bartlett, der Ausreißer aus Little Rock, hatte gerade seine Crackpfeife gestopft und befand sich irgendwo auf Wolke sieben, als er die fünf grünen Säcke aus dem Müllcontainer angelte. Lena hatte den Inhalt der vier anderen Säcke im Container zuerst mit einem Kriminaltechniker und dann mit dem Küchenchef des Tiny’s durchgesehen. Der Inhalt stammte aus dem Lokal und war letzte Nacht gegen zwei Uhr hinausgebracht worden. Laut Aussage des Mitarbeiters, der sie weggeworfen hatte, war am Vorabend die Müllabfuhr gekommen. Der Container war also völlig leer gewesen. Keiner der Anlieger der Gasse hatte, seit er heute Morgen zur Arbeit erschienen war, einen Wagen hier vorbeifahren sehen. Also konnte man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Täter sich zwischen zwei Uhr morgens und Sonnenaufgang seines Opfers entledigt hatte. Anschließend war er die wenigen Kilometer nach Norden gefahren und irgendwo im Freeway-Netz verschwunden.

Lena schüttelte sich und machte Platz, als sie hörte, wie der Transporter des Leichenbeschauers rückwärts an den Müllcontainer heranrangierte. Inzwischen hatten Gainers Mitarbeiter die Müllsäcke in einem blauen Leichensack verstaut und verschlossen ihn. Nachdem das Opfer im Transporter lag, quittierte Gainer Lena den Empfang der Frauenleiche. Unter der Rubrik »Name« wurde »Jane Doe Nr. 99« eingetragen. Gainer hatte Datum, Uhrzeit und Adresse vermerkt, allerdings nichts, was auf die Identität der Toten hinwies. Obwohl Lena die hohe Zahl überraschte, verkniff sie sich eine Bemerkung. Ebenso wie die Mordrate würde die Anzahl der unbekannten Opfer am Neujahrstag auf null zurückgestellt werden. Auch wenn sich dieser Zustand nicht lange halten würde.

»Sie haben Glück«, meinte Gainer. »Ich habe gerade mit Madina telefoniert. Er hat umdisponiert. Seine Maschine landet gegen Mittag in Burbank. Morgen Nachmittag nimmt er sich Ihren Fall vor. Trotz des Rückstaus.«

Lena hatte darauf gehofft, denn sie wollte, dass Art Madina die Autopsie durchführte, obwohl er sich bei einem Ärztekongress in New Haven aufhielt. Da das Opfer zerstückelt worden war, war sie auf die Fachkenntnisse des Pathologen angewiesen.

»Haben Sie ihm alles erklärt?«

Gainer nickte. »Ich habe ihm gesagt, dass wir alles so gelassen haben wie vorgefunden. Was von ihr noch übrig ist, steckt in den Tüten.«

Gainers Stimme erstarb. Inzwischen war er seit mindestens zehn Jahren als Ermittler im Büro des Leichenbeschauers tätig, und Lena nahm an, dass er in dieser Zeit schon so manches gesehen hatte. Dennoch merkte sie seinem Tonfall und auch seinem Blick an, dass ihn der Tod von Jane Doe Nr. 99 nicht unberührt ließ. Es war der Grund, warum sie diesen Mann achtete und bewunderte.

»Offenbar müssen wir bei null anfangen«, verkündete sie.

»Madina weiß, dass wir es mit einer Jane Doe zu tun haben. Sie sind in guten Händen. Es ist alles arrangiert.«

»Danke, Ed. Auch dafür, dass Sie so lange geblieben sind.«

»Keine Ursache, Lena. Was ist denn aus Sweeney und Banks geworden?«

»Die sind mit dem Jungen weg. Wir geben die Straße frei und packen hier zusammen.«

Nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten, blickte sie ihm nach, während er in den Wagen stieg und mit der Leiche davonfuhr. Als sie sich erneut zu der Gasse umdrehte, erschauderte sie in der kalten Abendluft. Sie kramte den Terminplan des Polizeichefs aus der Jackentasche. Zum ersten Mal seit sechs Stunden fielen ihr der Polizeichef und sein Handlanger wieder ein. Sechs Stunden lang hatte sie im Sinne des Opfers ermittelt, ohne sich von behördeninternen Intrigen ablenken zu lassen. Sie entfaltete das Papier und trat unter eine Straßenlaterne. Laut Plan hielt sich Polizeichef Logan noch im Parker Center auf. Die Polizeikommission veranstaltete wieder einmal eine Krisensitzung zum Thema Bandenkriminalität. Lena erinnerte sich an das Flugblatt an der Tür zum Büro des Captains. Man schlug die Ernennung eines Bandensonderbeauftragten vor, der mit einem Budget von einer Million Dollar ausgestattet werden sollte, um eine Art Marshallplan, unter anderem Programme zur Ausstiegshilfe und der Schaffung von Arbeitsplätzen, umzusetzen. Da die Hälfte aller Tötungsdelikte in Los Angeles inzwischen auf das Konto von Banden gingen und die Gewalt allmählich in die teuren Wohnviertel überschwappte, handelte es sich um eine sehr wichtige Besprechung. Also würde der Polizeichef mindestens bis zehn oder elf Uhr beschäftigt sein. Wenn sie sofort losfuhr und die Straßen frei waren, würde sie ihn vielleicht noch vor Ende der Sitzung abfangen können.

Lena schulterte ihren Aktenkoffer und marschierte die Gasse entlang. Als sie den Wagen der Spurensicherung umrundete, hörte sie, wie die Reporter auf der anderen Straßenseite ihr Fragen zuriefen. Doch sie achtete nicht darauf. Die Luft war so schneidend, dass sie es kaum erwarten konnte, die Heizung einzuschalten. Endlich hatte sie ihr Auto erreicht und ließ den Motor an. Im selben Moment vibrierte ihr Mobiltelefon. Sie warf einen Blick auf die Anzeige.

Es war Denny Ramira, der einzige Reporter auf der ganzen Welt, der ihre Mobilfunknummer kannte. Ramira war Kriminalreporter bei der Times. Obwohl sie einiges zusammen erlebt hatten, zögerte Lena, das Gespräch anzunehmen. Aber nachdem sie das Telefon eine Weile angestarrt hatte, überlegte sie es sich anders und klappte es auf.

»Ich weiß, dass sich das nicht gehört«, begann er. »Aber ich friere mir hier draußen die Eier ab, und es hat ganz den Anschein, als würdet ihr für heute zusammenpacken. Du hast mir nichts zu sagen, richtig?«

»Kannst du Gedanken lesen?«

»Es ist doch dein Fall, oder, Lena?«

Etwas an dieser Frage kam ihr merkwürdig, ja, sogar unpassend, vor, weshalb sie sich zurücklehnte, um sie sich durch den Kopf gehen zu lassen.

»Es ist doch dein Fall, richtig?«, wiederholte er.

»Was ist los, Denny?«

»Ich bin nicht ganz sicher. Man hat mich vorab über den Mord informiert. Mein Kontaktmann wollte sichergehen, dass ich im Bilde bin.«

»Wer ist dein Kontaktmann?«

Ramira zögerte. »Eben so ein Typ, den ich kenne. Allerdings haben alle hier den gleichen Anruf gekriegt. Und jetzt würde mich der Grund interessieren.«

Falls es sich um eine Multiple-Choice-Prüfung gehandelt hätte, wären ihr sämtliche möglichen Antworten falsch erschienen. Aber das war im Moment nicht ihre Hauptsorge.

»Ich muss los, Denny.«

»Schon gut. Ich fahre jetzt ins Parker Center. Vielleicht bekomme ich ja das Ende der Sitzung noch mit, damit ich mir den Abend nicht umsonst um die Ohren geschlagen habe.«

Lena zuckte zusammen. »Vielleicht könntest du mal ein Wörtchen mit deinem Bekannten reden.«

Sie klappte das Telefon zu, ehe er antworten konnte, und hoffte, dass sie ihm im Parker Center nicht in die Arme laufen würde. Dann parkte sie aus, bog links ab, um den Reportern aus dem Weg zu gehen, fuhr einmal um den Block und nahm dann die Gower Street zum Sunset Boulevard. Das Abendessen hatte sie ausfallen lassen, da sie die leblosen Augen des Opfers, die ihr aus dem Müllsack entgegen starrten, noch zu deutlich vor sich hatte. Aber jetzt knurrte ihr Magen. Als sie den Parkplatz am Gower Gulch erreichte, stellte sie fest, dass bei Starbucks keine Schlange stand, und hastete in den Laden. Fünf Minuten später war sie wieder unterwegs und klickte sich durch ihre Anrufliste, bis sie Howard Bensons Nummer fand. Benson war ein Mitstudent an der Polizeiakademie gewesen und nun in der Vermisstenabteilung beschäftigt. Nachdem feststand, dass sie das Opfer nicht identifizieren konnten, hatte ihr erster Anruf Benson gegolten. Doch das war nun schon über drei Stunden her, und er hatte sich noch nicht gemeldet. Nach dem sechsten Läuten nahm er endlich ab.

»Entschuldige, Lena, aber deine Informationen waren ziemlich dürftig.«

»Morgen kriegst du mehr«, erwiderte sie. »Ich habe nur gehofft, du könntest etwas Auffälliges in deiner Datenbank haben.«

»Eine weiße Frau, Mitte zwanzig, blond, verschwunden in Südkalifornien. Davon habe ich jede Menge zu bieten. Nichts Auffälliges dabei.«

Lena schwieg. Sie hatte Benson nicht mobil, sondern im Büro angerufen. Er klang müde und gereizt.

»Tut mir leid, Lena. Ich kann dir nur sagen, dass wir weitere Einzelheiten brauchen.«

»Was hältst du davon, die Suche auf die letzten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden zu begrenzen?«

»Hab ich bereits versucht. Noch immer eine ellenlange Liste. Viele junge Leute zieht es ins südliche Kalifornien. Und nicht wenige davon sind blonde Ausreißerinnen. Nur dass ihr Traum nicht in Erfüllung geht und sie stattdessen auf den Straßen einen Alptraum leben.«

Lena dachte über seine Worte nach, als sie an der Auffahrt zum Freeway beschleunigte und den 101 in Richtung Innenstadt nahm. Wenn Jane Doe gestern Nacht ermordet worden war, war es noch zu früh. Eine Vermisstenanzeige würde, wenn überhaupt, erst einen Tag später gestellt werden.

»Ich weiß, dass ich wieder einmal zu ungeduldig bin, Howard. Ich hatte nur auf ein bisschen Glück gehofft.«

»Wir reden nach der Autopsie weiter. Dann können wir es sicher einschränken. Größe, Gewicht, noch ein paar Daten eben.«

»Danke, Howard.«

Lena warf das Telefon auf den Beifahrersitz und trank einen Schluck Kaffee. Er war heiß und stark und genau das, was sie jetzt brauchte. Durch die Windschutzscheibe sah sie eine lange Reihe von Bremslichtern aufleuchten. Der Verkehr wurde erst zähflüssig und kam schließlich zum Stillstand. Benson hatte unwissentlich eine unschöne Erinnerung in ihr wachgerufen. Auch Lena war einmal, zusammen mit ihrem Bruder David, eine sechzehnjährige Ausreißerin gewesen. Nach dem Tod ihres Vaters waren sie aus Denver geflohen, um nicht in die Maschinerie des Jugendamtes zu geraten. Sechs Monate lang hatten sie im Auto ihres Vaters gelebt, bis Lena genug Geld verdiente, um eine kleine Wohnung zu mieten. Ihre Kindheit in Colorado hatten sie hinter sich gelassen und waren nie zurückgekehrt.

Sie trank noch einen Schluck Kaffee. Als die anderen Autos sich wieder in Bewegung setzten, legte sich zwar die Erinnerung, aber nicht die Einsamkeit, die so erdrückend, endgültig und beharrlich war. Lena versuchte, nicht darauf zu achten und sich auf den Verkehr zu konzentrieren.

Eigentlich hätte die vierzehn Kilometer weite Fahrt in die Innenstadt nur zehn Minuten in Anspruch nehmen sollen, entpuppte sich allerdings als an den Nerven zerrende fünfundvierzigminütige Weltreise in einem Tempo von fünfzehn Stundenkilometern.

Als Lena eine Lücke im Polizeiparkhaus gefunden hatte und im Laufschritt über die Straße zum Parker Center eilte, war es kurz vor elf. Die ersten Teilnehmer an der Sitzung, die im Erdgeschoss stattgefunden hatte, kamen bereits aus dem Gebäude.

Lena drängte sich durch die Menschenmenge. Beim Betreten des Raums stellte sie fest, dass sich der Polizeichef und sein Assistent bereits von ihren Plätzen erhoben. Lena zählte vier der fünf zivilen Angehörigen der Kommission, die geblieben waren, um die Fragen der Reporter und der weiteren dreißig bis vierzig Interessenten zu beantworten. Allerdings schien der Großteil der Aufmerksamkeit einem energischen Mann mit grau meliertem Haar zu gelten. Als er sich umdrehte, erkannte Lena, dass es sich um Senator Alan West handelte. West war nach seiner einstimmigen Wahl durch den Stadtrat vom Bürgermeister in die Kommission eingesetzt worden, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei zu stärken. Inzwischen hatte er drei Jahre seiner ersten fünfjährigen Amtszeit hinter sich. Es hieß zwar, dass er beabsichtigte, in der Politik zu bleiben, aber Lena hatte in der Zeitung gelesen, er hielte seine Zusammenarbeit mit der Polizei für nicht minder wichtig. Während der Polizeichef für das Alltagsgeschäft zuständig war, zeichneten ein Bürgerrechtsanwalt, ein ehemaliger Bürgermeister, zwei Strafverteidiger und Senator Alan West für den Kontakt zwischen Polizei und Bürgern verantwortlich.

Lena wandte sich zum Polizeichef um, der sie zu sich winkte. Als sie Klinger ansah, wies er auf die Nische vorne im Raum. Obwohl Lena sich noch immer fragte, warum der Polizeichef Klinger zu seinem Assistenten bestimmt hatte, ähnelten sich die beiden Männer heute Abend wie zwei Buchstützen. Offenbar ergänzten sie sich mit ihrer durchtrainierten Figur und ihrer militärisch strammen Haltung großartig. Hinzu kamen ihr elegantes Äußeres, das einen beinahe schon geckenhaften Eindruck machte, und ihr kurzes graues Haar. Der einzige Unterschied lag in ihren Augen. Die von Klinger waren von einem fast seelenvollen Braun und unergründlich. Die des Polizeichefs betonten seine markanten und intelligenten Züge, waren jedoch schwarz wie die Nacht und konnten ihr Gegenüber zuweilen bohrend mustern.

Lena umrundete den Tisch, trat in die Nische und wünschte, sie hätte bessere Nachrichten gehabt. Als Klinger das Wort ergreifen wollte, unterbrach der Polizeichef ihn mit einer barschen Handbewegung.

»Raus mit der Sprache, Gamble. Wer ist Ihr Verdächtiger?«

»Bis dahin ist es noch ein langer Weg«, erwiderte sie. »Mir ist klar, dass Sie lieber etwas anderes hören wollten, Chef, aber so ist es nun einmal. Wir müssen ganz bei null anfangen.«

»Was ist mit Zeugen?«

»Wir haben jeden Ladenbesitzer und Mitarbeiter in der Straße vernommen. Es gibt keine Zeugen.«

Sie konnte seinen Blick nicht deuten und bemerkte nur, dass der Polizeichef völlig anders reagierte als erwartet. Es war fast, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen, der ihm den Atem raubte. Doch sein Verstand arbeitete fieberhaft, und sie merkte ihm an, dass er angestrengt nachdachte. Wäre er ein Verdächtiger in einem Vernehmungszimmer gewesen, sie hätte vermutet, dass er schuldig war und ihr etwas verschwieg.

Wieder bedachte er sie mit einem durchdringenden Blick. »Dann wissen Sie also nicht einmal, wer das Opfer ist?«

»Wir haben keine Ausweispapiere gefunden.«

»Was ist mit ihrer Kleidung?«

Wortlos schüttelte Lena den Kopf. Das Opfer war unbekleidet gewesen.

»Ich will Ihnen sagen, was mir zu schaffen macht, Detective, nämlich, dass sich die Sache zu einem komplizierten Fall mit langwierigen Ermittlungen auswachsen könnte. Wenn Sie innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden nichts in Erfahrung bringen, stehen die Chancen hoch, dass das auch so bleiben wird. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Ihre Aussichten auf einen Ermittlungserfolg sinken um gottverdammte fünfzig Prozent.«

Diese Wahrscheinlichkeitsrechnung hätte der Polizeichef sich in Lenas Augen sparen können. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Denny Ramira den Sitzungssaal betrat und auf Senator West zuging. Aus ihrem Händeschütteln schloss sie, dass die beiden einander kannten.

Offenbar war der Reporter auch dem Polizeichef aufgefallen. »Ich möchte über diesen Fall nichts in der Zeitung lesen, Detective. Und auch nichts im Fernsehen darüber sehen. Falls Sie also irgendwelche Absichten in dieser Richtung verfolgen, sind Sie raus aus der Sache, kapiert? Dann fliegen Sie hochkant und werden nie wieder einen Fuß in ein Polizeirevier setzen. Haben Sie mich verstanden?«

Sie sah ihn abfällig an.

»Entweder schwimmen Sie mit dem Strom«, fuhr er fort, »oder Sie können sich einen neuen Job suchen. Ist Ihnen das klar, Detective? Begreifen Sie, wie ernst die Lage ist und wo ich die Grenzen setzte?«

»Schon verstanden, Chef.«

»Wir haben es hier nicht mit Schusswaffengebrauch unter Beteiligung eines Polizeibeamten zu tun, sondern mit einem Mord. Und ich verlange einen Verdächtigen und eine Festnahme.«

Während der Polizeichef eine Pause einlegte, um Luft zu holen, sprang Klinger wie auf ein Stichwort für ihn in die Bresche. Plötzlich wurde Lena klar, wer die Pressevertreter verständigt hatte. Gewiss war es Klinger gewesen, der alles in seiner Macht Stehende tat, um ihr Steine in den Weg zu legen.

»Wir wollen Berichte«, verkündete er. »Der Polizeichef möchte über alles auf dem Laufenden gehalten werden. Es interessiert niemanden, ob sich die Sache dadurch doppelt so lange hinzieht. Machen Sie einfach Ihre Arbeit, und zwar streng nach Vorschrift, Gamble. Wir sind jetzt Ihre Partner und werden uns nicht als stille Teilhaber abspeisen lassen. Wenn Sie rechts abbiegen wollen, fragen Sie vorher um Erlaubnis. Vor dem Lingsabbiegen besorgen Sie sich eine richterliche Anordnung. Wir behalten Sie im Auge, nur damit Ihnen das klar ist. Ich bitte um Bestätigung, dass wir soeben dieses Gespräch geführt haben und dass Sie …«

Klinger verstummte schlagartig. Alle drehten sich um. Senator West stand an der Tür und betrachtete sie mit einem fragenden Ausdruck auf seinem breiten Gesicht.

»Das hört sich ja nach einer ernsten Auseinandersetzung an, Herr Polizeipräsident. Hoffentlich störe ich nicht.«

Lena bemerkte auf Anhieb, dass es West herzlich gleichgültig war, ob er störte. Aus dem Blick, mit dem er den Polizeichef und seinen Assistenten bedachte, schloss sie, dass sich die Männer offenbar nicht gut verstanden. Sie erinnerte sich an die Gerüchte, es habe bei der Wahl des Polizeichefs durch die Polizeikommission Gegenstimmen gegeben. Es seien Zweifel geäußert worden, und eines der fünf Mitglieder habe gegen seine Ernennung protestiert. Sie fragte sich, ob West wohl der Abweichler gewesen war. Nach Logans und Klingers Mienen zu urteilen kannten sie die Gerüchte auch und waren zu demselben Ergebnis gekommen.

»Wir sind hier fertig«, erwiderte der Polizeichef. »Sie stören überhaupt nicht, Senator.«

»Ausgezeichnet. Ich bin nämlich ein Fan von Detective Gamble.«

West wandte sich vom Polizeichef ab und sah Lena an. Seine Augen waren klar und offen, und ein weiser Blick malte sich darin.

»Als Denny Ramira mich auf Sie hingewiesen hat«, begann er, »konnte ich kaum glauben, dass Sie wirklich hier sind. Wie alle anderen habe ich die Romeo-Morde verfolgt und wollte Sie schon lange kennenlernen.«

Lächelnd griff er nach ihrer Hand. Sie spürte die Spannung im Raum. Im nächsten Moment kehrte Klinger dem Senator den Rücken zu und verließ die Nische. Der Polizeichef folgte seinem Assistenten, allerdings nicht, ohne noch einmal an der Tür stehen zu bleiben und Lena finster zu mustern.

»Es gibt eine Änderung im Terminplan, Detective. Die Autopsie ist für morgen Früh um Punkt acht angesetzt, nicht erst für den Nachmittag.«

»Was ist mit dem Pathologen?«

»Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Ich habe Medina gesagt, er soll im Flugzeug schlafen, wenn es denn unbedingt nötig ist.«

Der Polizeichef wartete Lenas Antwort nicht ab, sondern marschierte hinter Klinger her auf den Flur hinaus. West blickte ihnen nach. Dann drehte er sich zu Lena um und senkte die Stimme.

»Wir sind hier in Los Angeles, Detective. Polizeipräsidenten kommen und gehen. Wir brauchen heutzutage mehr denn je Leute wie Sie, die die Arbeit erledigen und Verantwortung übernehmen.«

Obwohl Lena sich nicht übermäßig für Politik interessierte, hatte sie genug gelesen, um zu wissen, dass West zu den Guten gehörte. Offenbar hatte der Senator belauscht, wie der Polizeichef und sein Handlanger ihr die Hölle heißgemacht hatten, und sie unterbrochen, um ihr zu helfen. Sie war ihm für diese Geste zwar dankbar, doch leider hatte er damit ihre Vorgesetzten gegen sie aufgebracht. So sehr sie sich von seinem Kompliment auch geschmeichelt fühlte, hätte es sich nicht gehört, etwas darauf zu erwidern. Stattdessen dachte sie an die verschobene Autopsie. Nur der Polizeichef besaß die Macht, Medina zu zwingen, seinen Aufenthalt in New Haven abzukürzen. Er war der Einzige, der so schnell alle Hebel in Bewegung setzen konnte. Also ärgerte sie sich nicht über die Einmischung. Sie war eher froh darüber.

Lena riss sich aus ihren Grübeleien. Als sie ein Funkeln bemerkte, fiel ihr Blick auf das Sakko des Senators. Er trug eine Anstecknadel am Revers. Es war nicht die übliche amerikanische Flagge, sondern ein individuell gestaltetes Schmuckstück.

»Möchten Sie es sich anschauen?«, fragte West.

Sie nickte. »Die Feuerwehr. Sie haben es nach den Anschlägen vom 11. September von den Feuerwehrleuten bekommen.«

Er lächelte ihr freundlich zu – seine blauen Augen leuchteten –, nahm dann die Nadel ab und reichte sie ihr.

»Sie war ein Geschenk«, erklärte er. »Ich trage sie jeden Tag. Es ist ein Ereignis, das ich nie vergessen werde.«

Lena ließ die Nadel über ihre Handfläche rollen, sodass sich das Licht im Gold fing. Es handelte sich um die dreidimensionale Darstellung eines Löschzugs der Feuerwehr von Los Angeles am Ground Zero in New York. Neun Feuerwehrleute standen auf dem Wagen und reckten eine Leiter zur Sonne empor. Lena erinnerte sich noch gut an die Zeremonie, in der West von der Feuerwehr von Los Angeles geehrt worden war, da ihre gesamte Abteilung daran teilgenommen hatte. Allerdings hatte sie die Anstecknadel noch nie mit eigenen Augen gesehen und kannte das leuchtend rote und goldene Kunstwerk nur von den Abbildungen in der Zeitung. Die Nadel war von einem Goldschmied in South Pasadena angefertigt worden, ein Zeichen der Anerkennung für einen Mann, der sich nicht nur bei den Rettungsmaßnahmen nach dem Anschlag mächtig ins Zeug gelegt hatte. Er hatte sich auch noch Jahre später engagiert dafür eingesetzt, dass die an Folgeerkrankungen leidenden Rettungskräfte die ihnen zustehende medizinische und finanzielle Unterstützung erhielten. Die Anstecknadel war ein Geschenk für jemanden, der nicht wie der Reporter eines Kabelsenders von einem sensationellen Ereignis zum nächsten hastete, um möglichst viel Geld zu verdienen und seine Einschaltquoten zu erhöhen. Es gebührte nur einem Menschen, der niemals vergessen würde, was geschehen war.

Lena gab dem Senator die Nadel zurück und sah zu, wie er sie sorgfältig an seinem Revers befestigte.