Todesqual, Leichengift & Todesakt - Robert Ellis - E-Book
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Todesqual, Leichengift & Todesakt E-Book

Robert Ellis

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Beschreibung

Los Angeles – Stadt der Engel, Stadt der Schatten … Der packende Sammelband »Todesqual, Leichengift & Todesakt« von Robert Ellis jetzt als eBook bei dotbooks. TODESQUAL: Eine schwangere Frau wird in Los Angeles brutal in ihrem Bett ermordet. Der Hauptverdächtige ist ihr Ehemann – doch Detective Lena Gamble von der L.A.P.D. erkennt verstörende Parallelen zu einem längst gelösten Mordfall. Hat sie damals den falschen Mann hinter Gitter gebracht, während der wahre Killer noch immer Jagd auf Opfer macht? LEICHENGIFT: Ermordet, misshandelt, in einen Container geworfen wie Müll. Noch bevor Detective Lena Gamble die brutal zugerichtete Frauenleiche am Tatort untersuchen kann, sind die sensationshungrigen Reporter zur Stelle – doch nicht nur sie behindert ihre Ermittlungen: Als eine Spur sie direkt ins L.A.P.D. zu führen scheint, stellen sich ihr die eigenen Leute in den Weg … TODESAKT: Im angesagtesten Nachtclub der Stadt wird eine Leiche gefunden: Jacob Gant, der wohl verhassteste Mann von L.A., wurde einst in einem Medienspektakel beschuldigt, eine junge Frau vergewaltigt und ermordet zu haben. Handelt es sich hier um einen reinen Racheakt? Detective Lena Gamble hat ihre Zweifel …? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das fesselnde Thriller-Bundle »Todesqual, Leichengift & Todesakt « von Robert Ellis wird alle Fans von Don Winslow und Michael Connelly begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

TODESQUAL: Eine schwangere Frau wird in Los Angeles brutal in ihrem Bett ermordet. Der Hauptverdächtige ist ihr Ehemann – doch Detective Lena Gamble von der L.A.P.D. erkennt verstörende Parallelen zu einem längst gelösten Mordfall. Hat sie damals den falschen Mann hinter Gitter gebracht, während der wahre Killer noch immer Jagd auf Opfer macht?

LEICHENGIFT: Ermordet, misshandelt, in einen Container geworfen wie Müll. Noch bevor Detective Lena Gamble die brutal zugerichtete Frauenleiche am Tatort untersuchen kann, sind die sensationshungrigen Reporter zur Stelle – doch nicht nur sie behindert ihre Ermittlungen: Als eine Spur sie direkt ins L.A.P.D. zu führen scheint, stellen sich ihr die eigenen Leute in den Weg …

TODESAKT: Im angesagtesten Nachtclub der Stadt wird eine Leiche gefunden: Jacob Gant, der wohl verhassteste Mann von L.A., wurde einst in einem Medienspektakel beschuldigt, eine junge Frau vergewaltigt und ermordet zu haben. Handelt es sich hier um einen reinen Racheakt? Detective Lena Gamble hat ihre Zweifel …?

Über den Autor:

Robert Ellis wurde in Philadelphia, USA, geboren. Ellis hat als Autor, Regisseur und Produzent sowohl in der Werbe- als auch Filmindustrie gearbeitet. Er ist der mehrfach preisgekrönte Autor zahlreicher Spannungsromane, die in 10 Sprachen übersetzt wurden.

***

Sammelband-Originalausgabe Januar 2024

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane, die im Sammelband enthalten sind, finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-014-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Ellis

Todesqual, Leichengift & Todesakt

Drei Thriller in einem eBook

Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner

dotbooks.

Todesqual

Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner

Los Angeles: Eine schwangere Frau wird brutal in ihrem Bett ermordet. Der Hauptverdächtige ist ihr Ehemann, die Beweislast scheint erdrückend. Doch Detective Lena Gamble von der L.A.P.D. hat ihre Zweifel – sie erkennt verstörende Parallelen zu einem längst gelösten Mordfall. Hat sie damals den falschen Mann hinter Gitter gebracht, während ein Serienkiller noch immer im nächtlichen L.A. ungestört auf Jagd geht? Als eine weitere junge Frau auf ähnlich bestialische Weise ermordet wird, beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit – und Lena Gamble muss sich fragen, ob sie ihren eigenen Instinkten als Ermittlerin noch vertrauen kann …

Für Charlotte

Kapitel 1

Sie wälzte sich im Bett herum, schmiegte die Wange in einen Zipfel ihres Kopfkissens und kuschelte sich noch tiefer hinein. Träumen. Schlafen. Beine und Füße tasteten nach den kühlen Stellen unter dem sauberen Laken und der zusätzlichen Decke.

Durch einen Nebel aus Trägheit hörte sie die Vorhänge rascheln. Feuchtkalte Meeresluft drang durch das offene Fenster herein. Laut Wetterbericht würde es der Sonne erst am morgigen Nachmittag gelingen, ein Loch in die Wolkendecke zu brennen.

Es war April in Los Angeles – Nikki Brants Lieblingsmonat. Das Leben war zur Zeit so schön. Schöner als je zuvor.

In der Dunkelheit griff sie nach dem zweiten Kopfkissen, kuschelte sich hinein und tat, als sei sie nicht allein im Bett. Sie träumte von ihrem Geheimnis. Ihrem ganz besonderen Geheimnis. Dem, das ihre Ärztin ihr erst heute kurz nach dem Mittagessen eröffnet hatte. Der Satz hatte mit einem einzigen Wort begonnen.

Glückwunsch.

Den Rest hatte Nikki gar nicht mehr richtig mitbekommen. Nach diesem Wort spielte nichts mehr eine Rolle, denn ihr Herz schlug so schnell, dass die Welt um sie herum vor Glück verschwamm. Angefangen hatte es in dem Moment, als die Ärztin das Untersuchungszimmer betreten hatte, ein Funkeln in den Augen, das nur das eine bedeuten konnte.

Allerdings hatte ihre Ärztin Nikki nur bestätigt, was sie in ihrem Innersten bereits gewusst hatte.

Sie drehte sich um und öffnete mühsam die Augen, da sie spürte, dass jemand ins Schlafzimmer gekommen war. James, der wieder einmal spätnachts aus dem Büro zurückkehrte. Nikki sah seine dunkle Gestalt. Die Leuchtanzeige des Radioweckers tauchte seinen Körper in einen neonblauen Schein. Er schien sie vom Fußende des Bettes aus anzustarren, während er das Sakko auszog und die Krawatte lockerte.

Irgendwo in der Nachbarschaft begann ein Hund zu bellen.

Nikki tippte auf den kleinen weißen Terrier drei Häuser weiter, war sich aber nicht sicher. Die Ärztin hatte ihr etwas gegen die Übelkeit verschrieben, das hundertprozentig nicht schädlich sei, sie aber schläfrig machen könne. Als der Hund verstummte, warf Nikki James noch einen kurzen Blick zu, ließ sich dann zurücksinken und nickte wieder ein. Eine wohlige Müdigkeit ließ ihren Körper schwer werden.

Vor drei Jahren hatten sie sich über einen gemeinsamen Freund an der University of Oregon kennengelernt. James war eher der nervöse Typ und wirkte auf sie zunächst schwer durchschaubar. Er studierte im letzten Jahr Wirtschaft am Lundquist College of Business, während Nikki gerade an ihrer Doktorarbeit in Kunstgeschichte saß. Für das kommende Jahr hatte sie bereits eine Stelle als Dozentin an einem kleinen College in Pasadena in Aussicht. Damals kam es ihr so vor, als ähnelten sie und James zwei einander fremden Planeten, die rasch auseinanderdriften würden. Doch er hatte nicht lockergelassen, bis sie sich irgendwann an ihn gewöhnte. Sein Lächeln hatte das gewisse Etwas. Ebenso anregend war das Gefühl, das er in ihr auslöste, wenn er ihr einen seiner geschmacklosen Witze erzählte und sie dabei aus großen braunen Augen ansah. Schon ein halbes Jahr später zogen sie zusammen. Und am ersten Jahrestag ihrer Begegnung wurde geheiratet. Keine Flitterwochen, denn sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Hausstand zusammenzupacken: Sie hatten ein Haus im Westen von Los Angeles ergattert. In Laufnähe zum Strand.

Wann sollte sie ihm ihr Geheimnis nur anvertrauen?

Wieder schlug Nikki die Augen auf. James stand immer noch am Fußende des Bettes. Sie fragte sich, wie lange sie wohl geschlafen hatte, konnte aber die Zeit nicht ablesen, weil er ihr die Sicht zum Radiowecker auf der Kommode versperrte. Nach einer Weile zog er das Hemd aus der Hose und fing an, es aufzuknöpfen.

Wann sollte sie es ihm sagen?

Das war die große Frage, denn sie wollte genau den richtigen Augenblick erwischen.

Seit zehn Tagen schon arbeitete James bis zum Morgengrauen und kam nur nach Hause, um ein paar Stunden zu schlafen, zu duschen und sich umzuziehen, bevor er wieder ins Büro fuhr. Er war Chefbuchhalter eines kleinen Unternehmens, das gerade im Begriff war, sich mit einem größeren zusammenzuschließen. Ein junger Mann in einer noch jüngeren Firma, mit deren Erfolg eh nie jemand gerechnet hatte. James beaufsichtigte die Buchprüfung, die nötig war, um den Vertrag in trockene Tücher zu bringen. Obwohl es sich – seinen Worten nach – um eine freundliche Übernahme handelte, machte er einen nervösen, ja, sogar gereizten Eindruck. Wie Nikki wusste, wollte er beweisen, wie tüchtig er war, in der Hoffnung, dass man ihn noch brauchen würde, wenn die beiden Unternehmen schließlich zu einem einzigen Konzern verschmolzen.

Langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück.

Als sie über den Rand der Bettdecke spähte, stellte sie fest, dass er seine Hose auf den Stuhl warf und die Boxershorts auszog. Da er zum Abstreifen der Socken den Kopf senkte, konnte sie endlich einen Blick auf die Uhr erhaschen. Es war noch früh. Erst halb zwei Uhr. Bei seinem Anruf um zehn hatte er gesagt, sie würden sich erst morgen sehen. In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, hatte aber den Eindruck, dass er lächelte. Vielleicht wollte er sich ja eine freie Nacht gönnen. Oder die Buchprüfung war endlich abgeschlossen, sodass ihr Leben und ihre Ehe wieder ihnen gehörten.

Nikki setzte zum Sprechen an, befürchtete aber, durch ihren Tonfall ihr Geheimnis zu verraten. Sie wollte damit weiterschlafen und es noch ein oder zwei Nächte oder sogar länger auskosten, bis genau der richtige Zeitpunkt da war. Sie ahnte, dass es nicht leicht werden würde. Denn sie wusste, dass James sich nicht so sehr darüber freuen würde wie sie. In der vergangenen Woche hatte sie, um schon einmal vorzufühlen, ein paarmal Andeutungen fallen gelassen, doch das Ergebnis war immer ein schrecklicher Streit gewesen. Eine ganz besonders hässliche und lange Auseinandersetzung endete mit dem unangenehmen Ergebnis, dass er sie einen Tag lang anschwieg. Warum begriff er einfach nicht, wie wichtig es ihr war?

Der dämliche Hund bellte schon wieder. Diesmal lauter und schriller.

Sie spürte, dass James in der Dunkelheit auf sie zukam. Er zog ihr das zweite Kopfkissen weg und schlüpfte auf ihrer Seite des Bettes unter die Decke. Dannn küsste er sie, ungewöhnlich leidenschaftlich und heftig, auf die Lippen. Als er sich an ihr rieb, wurde ihr klar, dass er mit ihr schlafen wollte. Lächelnd seufzte sie und erwiderte seinen Kuss, während ihr schon wieder die Augen zufielen. Sie wünschte, sie hätte die dumme Tablette nicht genommen.

Er streichelte ihr Kinn mit dem Finger. An seiner Haut roch sie die Seife, die sie in seiner Firma auf den Toiletten benutzten. Der Hauch von Kakaobutter erinnerte sie an Sonnencreme und die Tage, die sie, Seite an Seite, am Strand im heißen Sand gefaulenzt hatten. In einer kühlen Aprilnacht wirkte der Duft irgendwie unpassend.

Er wälzte sich über ihr Bein und fand die Mitte. Als er in sie eindrang, schlang sie die Arme um ihn und hielt sich fest, so gut sie konnte. Sie dämmerte wieder weg. Schlief ein. Bewahrte ihr Geheimnis in ihren Träumen. Sie war froh, dass er heute früher nach Hause gekommen war, froh über ihr Beisammensein. So sollte es sein.

James und Nikki Brant zusammen.

Komisch, aber sie hatte seinen Wagen gar nicht in der Auffahrt gehört. Auch nicht die Eingangstür, die beim Öffnen stets ein ohrenbetäubendes Quietschen von sich gab.

Kapitel 2

Lena Gamble legte das Kreuzworträtsel auf den Tisch und griff nach dem Kaffeebecher. Als sie einen Schluck von dem dampfenden Kaffee nahm, schmeckte das kochend heiße Getränk so kräftig und aromatisch, wie man es sich nur wünschen konnte. Starbucks’ Hausmischung, gekauft im Supermarkt in Beachwood, und zwar für den dreifachen Preis der anderen Marken. Doch Lena fand, dass der Kaffee das viele Geld wert war. Er war das einzige Geschenk, das sie sich selbst machte. Jeden Morgen brühte sie ihn sich Tasse für Tasse auf, und zwar mit Teekessel und Filtertüte wie ein Junkie, der sich mit rot glühendem Löffel den Stoff portioniert.

Lena saß am Pool, versuchte wach zu werden und wartete darauf, dass die Sonne über Los Angeles aufging. Ihr Haus stand auf der Kuppe eines Hügels oberhalb von Hollywood, östlich des Cahuenga-Passes und westlich vom Beachwood Canyon. Die Aussicht hier oben war ein Traum. Lena konnte die Wolken beobachten, die auf Augenhöhe vom gut zwanzig Kilometer entfernten Meer heranzogen. Die Westside war noch in trübes Grau gehüllt. Im Osten hatte die Sonne den Dunstschleier über dem Meer bereits weggebrannt. Der Library Tower, das höchste Gebäude westlich von Chicago, schimmerte feurig orangerot und schien vor dem klaren blauen Himmel zu vibrieren.

Eine Viertelstunde lang würde sich eine Postkartenstimmung über die Stadt senken, wie sie sich die Touristen während ihres Urlaubs im Paradies erträumten. Eine Viertelstunde lang würde alles so friedlich wirken.

Natürlich war das alles nur Illusion. Eine Sinnestäuschung. Schließlich wusste Lena, dass Los Angeles die amerikanische Stadt mit der höchsten Mordrate war. Im letzten Monat waren über dreißig Tötungsdelikte verübt worden – mehr als eines pro Wochentag. Doch bei Morgengrauen war die Luft fast sauber, die Straßen wirkten beinahe ungefährlich, und Lena hatte noch eine halbe Stunde, bevor sie zur Arbeit musste.

Als sie zurück zum Haus blickte, stellte sie fest, dass sie die Fliegengittertür an der Terrasse nicht geschlossen hatte. Doch anstatt aufzustehen, lehnte sie sich tief in den Liegestuhl zurück und ließ das Auge die Verandastufen hinauf, den Gartenpfad entlang und über die Fassade bis zu ihrem Schlafzimmerfenster im Erdgeschoss schweifen. Das Haus war nicht groß, aber es war ihr Anker in dieser Stadt und – bis auf ihren Beruf – das Einzige, was sie noch hier hielt. Vor fünf Jahren hatte sie es von ihrem Bruder David geerbt.

Es war 1954 erbaut und damals vermutlich als moderne Version des kalifornischen Landhausstils bezeichnet worden. Doch wenn Lena die verwitterte Verkleidung aus Zedernholz, die Fensterläden und die weißen Kanten betrachtete, fand sie jedes Mal, dass es besser an einen Strand auf Cape Cod gepasst hätte als in die Hügel Hollywoods. Allerdings hatte die bunt zusammengewürfelte Konstruktion aus Holz und Glas es aus unerklärlichen Gründen geschafft, fünf Jahrzehnte lang dem zu trotzen, was man hier als »Jahreszeit« bezeichnete. Die Erdbebenzeit dauerte mehr oder weniger ganzjährig an, doch es gab auch noch die Waldbrandzeit, die Zeit für die Santa-Ana-Winde und, wenn man Glück hatte, die Regenzeit, die die Stauseen füllte und der Hochwasserzeit voranging.

David hatte das Haus gekauft. Denn seine und Lenas Eltern waren schon lange tot – beziehungsweise verschwunden –, weshalb er fest entschlossen war, falls das Geld reichte, ein Eigenheim zu besitzen, das ihm und seiner großen Schwester ein Zuhause sein sollte. Allerdings war für David weder die heimelige Ausstrahlung des Hauses noch die Aussicht auf die Stadt und das Tal ausschlaggebend gewesen, sondern das Grundstück, die Abgeschiedenheit und nicht zuletzt die Garage, ein einstöckiges Gebäude, das etwa fündundsiebzig Meter entfernt vom Hauptgebäude auf der anderen Seite der Auffahrt stand. Die »David Gamble Band« brauchte nämlich ebenso ein Zuhause wie der Bandleader und seine Schwester, und die Garage bot sich da geradezu an. Sobald die Anzahlung geleistet und die Verträge unterzeichnet waren, steckte David sein restliches Geld in das Projekt, das Nebengebäude in ein hochmodernes Tonstudio zu verwandeln. Im Begleitheft der dritten CD seiner Band war das Studio, sein ganzer Stolz, sogar abgebildet.

Aber das war nun alles vorbei. Das Studio war still und dunkel, und zwar inzwischen schon seit fünf Jahren. Die dritte CD der Band war ihre letzte gewesen. Und David war gestorben, bevor er die Gelegenheit gehabt hatte, mit einer Tournee richtig Geld zu verdienen.

Lena trank noch einen Schluck Kaffee. Obwohl sie das heiße Koffein im Magen spürte, wurde ihr Kopf davon nicht klarer. Gestern war ihr erster freier Tag seit über zwei Wochen gewesen, und seitdem spürte sie die Erschöpfung erst richtig. Außerdem dachte sie nicht gern an ihren Bruder. Sie vermisste ihn, und die Erinnerung tat noch viel zu weh.

Lena war Einzelgängerin und hielt die Welt und ihre Mitmenschen auf Abstand. Gegen diese Gefühle war sie machtlos, und auch die Vergangenheit konnte sie nicht ungeschehen machen. Dennoch befürchtete sie, dass sie einen zu großen Anteil ihres Gehalts in das Haus steckte. Zu viel Zeit in seine Pflege investierte. Dass sie dem Haus zu viel Macht über sich gab und sich daran klammerte, weil sie sich mit dem Tod ihres Bruders nicht abfinden wollte. Wie schön war es gewesen, als er noch lebte.

Lena griff nach dem Unterhaltungsteil der Zeitung und beschloss, sich noch einmal an das Kreuzworträtsel zu wagen. Es war Freitag. Der Schwierigkeitsgrad der Rätsel steigerte sich im Laufe der Woche von Tag zu Tag. Lena hatte Spaß an der geistigen Herausforderung, weil sie dadurch abgelenkt wurde. Außerdem war sie eine geübte Rätsellöserin und benutzte, außer sonntags, stets einen Kugelschreiber, keinen Bleistift. Doch als sie die letzten drei Fragen las, wusste sie, dass es hoffnungslos war. Offenbar hakte es an 51 senkrecht, einer eigentlich lächerlich einfachen Frage über eine Frau, die in einer Reality-Serie im Fernsehen eine Million Dollar gewonnen hatte. Lena sah nur selten fern, wenn es sich nicht umgehen ließ. Es gefiel ihr nicht, was die Glotze in ihrem Kopf anrichtete.

Entnervt legte sie das Rätsel weg und blätterte die Zeitung durch, bis sie den Kalifornienteil gefunden hatte. Ein Lokalbericht auf Seite drei stach ihr ins Auge: Eine Neunundzwanzigjährige aus Santa Monica behauptete, schwanger zu sein, obwohl sie seit zwei Jahren keinen Geschlechtsverkehr gehabt habe. Lena fing an zu lesen, hörte aber auf, als ihr Blick auf das Wort Jesus fiel. Sie schüttelte den Kopf. Offenbar waren es Geschichten wie diese, die heutzutage als nachrichtenwürdig galten, als typisch für eine Stadt, die man überall im Land L. A. nannte. Auch Lena war neunundzwanzig und seit zwei Jahren mit keinem Mann mehr im Bett gewesen. Und da sich nirgendwo am Horizont ein Kandidat zeigte, fand sie diese Übereinstimmung gar nicht komisch.

Auf dem Tisch läutete ihr Mobiltelefon. Als sie die Nummer auf der LCD-Anzeige erkannte, klappte sie es auf. Ihr Partner Hank Novak rief sie um sechs Uhr morgens an. Da sie beide beim Dezernat für Raub und Tötungsdelikte arbeiteten, nahm Lena an, dass Novaks Anruf weder einer unbefleckten Empfängnis in Santa Monica noch Jesus als Bettgespielen galt.

»Ich hoffe, du hast dich gut erholt«, meinte Novak.

»Ja, spitze«, erwiderte sie. »Was gibt’s?«

Sie griff nach ihrem Kugelschreiber. Der heisere Klang der sonst so weichen Stimme ihres Partners verriet ihr, dass er noch nicht lange auf den Beinen war. Im Hintergrund waren Windgeräusche zu hören. Offenbar war er mit hoher Geschwindigkeit auf irgendeiner Schnellstraße unterwegs.

»Oak Tree Lane Nummer 938«, antwortete er. »West L. A. In meinem fünfzehn Jahre alten Thomas Guide ist das auf Seite 40. Nimm den Sunset Boulevard stadtauswärts bis zur Brooktree Road, und bieg links ab. Offenbar ist es eine Querstraße nach der Einfahrt zum Will Rogers State Park. Die Oak Tree Road geht nach etwa einem halben Kilometer rechts von der Brooktree Road ab.«

»So viele Bäume, ich glaub, ich bin im Wald«, sagte Lena.

»Mir ging es genauso. Das fragliche Haus müsste das dritte auf der linken Seite sein. Bis du kommst, ist da sicher schon jede Menge los.«

Lena machte sich Notizen über dem Impressum der Times. Allmählich war sie besorgt, denn Novak sprach im Stakkatorhythmus und wirkte ziemlich aufgekratzt. Bis jetzt hatte sie ihn noch nie so erlebt, aber sie mussten sich ja auch erst noch besser kennenlernen.

Bis vor zwei Monaten war Lena in Hollywood eingesetzt gewesen, dann aber im Rahmen eines neuen Förderprogramms in die Mordkommission, eine Eliteeinheit, versetzt worden. Sie war nicht nur der jüngste Detective, sondern auch eine von nur zwei Frauen im Dezernat für Raub und Tötungsdelikte. Dank des Reformeifers des neuen Polizeipräsidenten war sie rasch aufgestiegen. Obwohl man sie nicht wegen ihres Geschlechts ausgewählt hatte, wusste sie, dass es immer eine gewisse Rolle spielen würde, so lange sie bei der Polizei blieb. Auch ihr Alter war diesmal von Vorteil gewesen, da sie auf diese Weise in den Genuss einer Beförderungswelle gekommen war. Inzwischen war das Durchschnittsalter im Polizeidienst auf knapp fünfundzwanzig gesunken. Erfahrene Polizisten kehrten bekanntermaßen scharenweise der Stadt den Rücken, um sich aus dem Kriegsgebiet in grünere Gefilde zu flüchten. Die Zurückgebliebenen warteten nur ab, bis sie einen Pensionsanspruch hatten, um sich ebenfalls aus dem Staub zu machen. Dem neuen Polizeipräsidenten war bewusst, dass eine Menge Fachwissen verloren zu gehen drohte. Und er hatte mit dieser Einschätzung Recht. Obwohl Lena von ihrem Vorgesetzten belobigt worden war und in Hollywood schnell Karriere gemacht hatte, beschränkte sich ihre Berufserfahrung auf zwei Jahre in der Abteilung Drogendelikte und Einbruch, sechs Monate auf der Jagd nach Wirtschaftsverbrechern im Betrugsdezernat und weitere zweieinhalb Jahre als Mordermittlerin. Den Druck, den es bedeutete, einen Mordfall zu untersuchen, empfand sie noch immer als ungewohnt. Novak, der in einigen Jahren in den Ruhestand gehen würde, hatte die Aufgabe erhalten, Lena so schnell wie möglich einzuarbeiten.

»Welcher Name steht auf dem Briefkasten?«, fragte sie.

»Brant«, antwortete er. »Nikki Brant.«

Novak verstummte, und Lena konnte sein Schweigen nicht deuten. Im nächsten Moment ließ der Straßenlärm im Hintergrund nach. Vermutlich hatte er das Fenster geschlossen.

»Wir haben Unterstützung«, sagte er nach einer Weile. »Sánchez und Rhodes sind mit im Boot.«

Lena merkte Novak an, dass ihn etwas bedrückte. Tito Sánchez und Stan Rhodes waren ebenfalls ein Gespann aus einem altgedienten und einem neuen Kollegen, die einen Monat länger zusammenarbeiteten als Lena und Novak. Wegen der Unterbesetzung wurde Personal gespart, wo es nur ging. Wenn der Lieutenant also gleich zwei Teams auf einen Fall ansetzte, hieß das nichts Gutes.

»Wie viele Leichen haben wir?«, erkundigte sie sich.

»Barrera hat nur von einer gesprochen.«

»War sie prominent?«

»Noch nicht, aber vielleicht wird ihr Leben ja jetzt verfilmt.«

»Warum dann zwei Teams?«

»War nicht meine Idee«, erwiderte Novak. »Vielleicht hat es etwas mit dem teuren Stadtviertel zu tun.«

Lena hörte, wie das Telefon auf den Sitz fiel und wie Novak schimpfend danach tastete. Sie schlüpfte in ihre Stiefel, zog den Reißverschluss zu und krempelte die Jeans herunter. Dann stand sie auf und fing an, hin und her zu laufen.

»Da bin ich wieder«, sagte er. »Zwei Hände sind einfach zu wenig.«

»Der Grund ist nicht das Stadtviertel, oder, Hank? Daran liegt es nicht, dass wir mit der doppelten Mannschaft anrücken.«

Er räusperte sich. »Vielleicht zum Teil. Wenn wir da sind, werden wir sehen, was los ist.«

Lenas erster Fall beim Dezernat für Raub und Tötungsdelikte war der Mord an Teresa López gewesen. Und wer diesen Anblick verkraftet hatte, würde auch mit jedem anderen Fall zurechtkommen. Ein Bild blitzte vor Lenas geistigem Auge auf wie ein Warnlämpchen. Ihr Bruder David, zusammengesackt auf dem Vordersitz seines Autos in einer Seitenstraße des Hollywood Boulevard. In jener Nacht war es sehr dunkel gewesen, und der Anblick kam so unerwartet, dass Lena gedacht und gehofft hatte, er schliefe nur, als sie sich dem Wagen näherte.

Lena umrundete den Pool und betrachtete das Haus am Fuße des steilen Hügels. Dahinter befand sich ebenfalls ein Pool, und sie konnte einen Mann mit behaartem Rücken und Bierbauch sehen, der einige frühmorgendliche Bahnen schwamm. Trotz seines Körperbaus schien er mit kurzen, mühelosen Zügen dahinzugleiten. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Lena auf den Mann, bis das Bild von ihrem Bruder endlich verschwunden war.

»Du leitest die Ermittlungen«, hörte sie Novak sagen.

Lena kehrte zum Tisch zurück und setzte sich. »Was redest du da?«

»Wir arbeiten seit zwei Monaten zusammen, und ich denke, du bist jetzt so weit. Du hast das Zeug dazu, Lena. Es ist Zeit, dass wir die Ermittlungen abwechselnd leiten. Dieser Fall gehört dir. Hast du die Adresse notiert?«

Sie spürte, wie es ihr den Magen zusammenkrampfte. Inzwischen war sie hellwach.

»Hab ich«, erwiderte sie.

Novak wiederholte sie trotzdem, bat sie, sich zu beeilen, und legte auf.

Lena klappte ihr Telefon zu und prägte sich die Adresse ein, die sie auf die Zeitung gekritzelt hatte. Während sie rasch ihren Kaffee hinunterstürzte, blickte sie über die Kante des Pools hinweg, der über die Stadt und den Garten des dicken Mannes ragte, der in seinem Pool dreißig Meter unter ihr seine Bahnen schwamm. Die Sonne hatte den Dunst am Horizont vertrieben und war verblasst, sodass sie nun an eine weiß glühende Scheibe erinnerte. Als Lena sich umdrehte und zur Westside hinüberschaute, lag diese noch immer im trüben Dunst.

Sie leitete jetzt die Ermittlungen.

Lena hastete die Stufen hinab und über die Veranda ins Haus, wo sie die Zeitung auf die Theke zwischen Küche und Wohnzimmer warf. Dann eilte sie zum Herd und vertauschte die leere Keramiktasse mit einem zerbeulten Reisemodell aus Edelstahl, das bereits in Erwartung einer ereignislosen Fahrt in die Innenstadt mit Kaffee gefüllt war.

Sie leitete die Ermittlungen. Das hieß, dass sie dafür verantwortlich war, den Mord an einer Frau namens Nikki Brant aufzuklären. Man würde Lena für das Ergebnis zur Rechenschaft ziehen.

War es Furcht, die ihr durch das Haus folgte? Oder das flaue Gefühl, dass sie damit überfordert war, einen Mordfall von dieser – oder überhaupt irgendeiner – Größenordnung aufzuklären? Immerhin war die Mordkommission eine Eliteeinheit.

Sie bemerkte das leichte Zittern ihrer Hand, beschloss aber, nicht darauf zu achten, und ging vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, wo am Fenster ein Tisch stand. Ein Tatort war nur ein Tatort, sagte sie sich. Verbrechensermittlung war ein Mannschaftssport. Novak hatte als Detective die Stufe des Supervisors erreicht. Mehr konnte man mit diesem Dienstgrad nicht erreichen. Auch wenn Lenas Name neben dem des Opfers in den Ermittlungsakten stand, würde Novak die Fäden ziehen.

Sie klemmte ihre Dienstmarke links neben Mobiltelefon und Handschellen an ihren Gürtel. Dann griff sie nach Halfter und Pistole, einer Smith & Wesson Halbautomatik, Kaliber .45, die sie rechts am Gürtel befestigte. Nachdem sie in ihren Blazer geschlüpft war, nahm sie den Aktenkoffer vom Stuhl und ging zur Tür.

Ihr Honda Prelude sprang beim ersten Startversuch an. Während Lena aus der Auffahrt schoss und die kurvige Straße hinunterraste, kurbelte sie das Fenster herunter, um sich den Wind ins Gesicht wehen zu lassen. Nach einer Weile bemerkte sie, dass das Radio auf den Sender KROQ eingestellt war. Es lief ein Song von Nirvana.

»Come as you are.«

Lena stellte die Musik lauter und sah auf die Uhr: 6:16 Uhr morgens. Die Viertelstunde Idylle dauerte wirklich nur fünfzehn Minuten – daran bestand kein Zweifel. Man konnte die Uhr danach stellen. Und jetzt war sie vorbei.

Kapitel 3

Lena bog in die letzte Kurve der Gower Street ein und glitt die steile Straße hinunter, so schnell und mühelos wie eine 737, kurz bevor das Fahrwerk den Boden berührt. Als sie am Pink Castle – einem berühmten Gebäude, in dem niemand hatte leben wollen, bis es vor fünfzehn Jahren in Eigentumswohnungen aufgeteilt worden war – vorbeikam, wurde die Straße endlich gerader. Seit Lena denken konnte, wurde das Haus von den Einheimischen wegen seines grellrosa Anstrichs so genannt.

Am Stoppschild angekommen, hielt sie nicht an, warf stattdessen einen Blick auf das Monastery of the Angels zur Rechten und trat dann bis zur roten Ampel das Gaspedal durch.

Auf der Franklin Avenue schien noch kein Stau zu sein, genauso wenig wie auf dem Hollywood Freeway.

Beim Warten an der Ampel überlegte sie, wie sie am besten fahren sollte. Bis zur Oak Tree Road waren es höchstens zwanzig Kilometer. Doch zur Hauptverkehrszeit konnte aus dieser Strecke durchaus eine anderthalbstündige Tour werden. In Los Angeles begann die Stoßzeit um halb sieben und endete für gewöhnlich um halb neun Uhr abends. Selbst wenn sie nicht im Stau stecken blieb, strotzte der Sunset Boulevard, der sich wie eine verbogene Sprungfeder durch die Hügel schlängelte, nur so von Ampeln, sodass sie schon zur Westside eine Stunde brauchen würde.

Lena sah auf die Uhr am Armaturenbrett und schaute dann zurück zum Freeway 101. Wenn sie die Schnellstraße nahm, würde sie die ersten sieben der acht Kilometer in die falsche Richtung, also in die Innenstadt, fahren. Aber mit ein wenig Glück konnte sie, sofern die Straße einigermaßen frei war, von dort aus in den Santa Monica Freeway einbiegen und die Fahrtzeit somit halbieren.

Während sie noch über die Alternativen nachgrübelte, hatte sie plötzlich das Gefühl eines Déjà-vu. Schon einmal hatte sie genau hier vor derselben Frage gestanden. Aber wann? Als sie in ihrem Gedächtnis kramte, ließ die Beklemmung allmählich nach und war schließlich verschwunden. Ob es vielleicht doch nur Lampenfieber gewesen war?

Die Ampel wurde grün. Lena überquerte die Franklin Avenue, umfuhr die Schnellstraße und beschloss, das Risiko einzugehen. An der Auffahrt beschleunigte sie und schaltete ruckartig hoch. Nachdem sie sich in den Verkehr eingefädelt hatte, glitt sie auf der linken Spur mit angenehmen hundertzwanzig Sachen dahin und richtete sich auf eine lange Fahrt ein.

Wenigstens war sie nicht mit einem Dienstwagen unterwegs und konnte deshalb Gas geben. Die Autos beim Dezernat für Raub und Tötungsdelikte wirkten auf den ersten Blick zwar wie Zivilfahrzeuge, doch wenn man am Lack kratzte, entdeckte man darunter meist einen ausgemusterten schwarzweißen Streifenwagen. Lena hatte genug Kilometer in Uniform hinter sich, um zu wissen, dass diese Autos selbst zu ihren Glanzzeiten nur schwankend um die Kurven schlidderten. Wenn sie dann mit neuer Lackierung ihr Gnadenbrot erhielten, hüpften sie auf der Straße auf und nieder wie Spielzeugboote. Lenas Dienstwagen stand seit drei Tagen in der Werkstatt. Ihr eigenes Auto war zwar auch nicht mehr das neueste, fuhr sich aber um einiges angenehmer.

Sie schaltete herunter und fuhr auf den Freeway 110 ab.

In südlicher Richtung umrundete sie die in grelles Sonnenlicht getauchte Stadt. Anderthalb Kilometer später erreichte sie schließlich die Straße nach Westen und steuerte auf die dunklen Wolken zu. Da die Sonne nicht mehr in ihre Windschutzscheibe schien, konnte sie den Sonnenschutz hochklappen. Als sie auf die linke Spur wechselte, wusste sie, dass das Risiko sich gelohnt hatte. Die Straße schien bis hinunter zum Meer frei zu sein. Lena lehnte sich zurück und nahm ihre Kaffeetasse. Doch im nächsten Moment meldete sich das Déjàvu-Gefühl zurück. Diesmal heftiger – sie konnte es fast mit den Händen greifen.

Laut Novak ging die Oak Tree Lane von der Brooktree Road ab. Warum erschienen ihr diese Straßennamen so vertraut?

Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie diesen Teil der Stadt bereits kannte. Vor vier Jahren hatte Lena im Drogendezernat gearbeitet. Ein bereits zum zweiten Mal verurteilter Verlierer namens Rafi Miller wollte ein Pfund gestrecktes Heroin verkaufen. Rafi bot seinen Stoff mit fünfzig Prozent Rabatt an, weil er so miserabel war, dass seine Kunden starben wie die Fliegen. Die Mundpropaganda war seinem Ruf nicht gerade förderlich gewesen. Als Lena und ihr Partner Rafi als Quelle enttarnt und ihm ein gutes Angebot gemacht hatten, um seinen Bestand aufzukaufen, war er vor Freude ganz aus dem Häuschen geraten.

Lena trank einen Schluck Kaffee und erinnerte sich an die Festnahme.

Sie wusste noch, dass Rafi einen abgelegenen Treffpunkt vereinbart und darauf bestanden hatte, dass Lena allein kam. Der Rustic Canyon Park lag in einer ruhigen Gegend am Meer und hatte nicht viel mehr vorzuweisen als eine Badeanstalt und ein paar Tennisplätze. Sie sah Rafis Gesicht noch vor sich, während er aus seinem gelben Mercedes stieg und ihr in der Dunkelheit zuzwinkerte. Als er den Kofferraum öffnete, ihr eine Probe überreichte und ihr versicherte, der Stoff sei erste Sahne, stieg scharfer Essiggeruch aus der Ware auf.

Das südliche Ende der Brooktree Road befand sich einen halben Häuserblock entfernt vom Eingang zum Park. In jener Nacht hatte man dort eine Straßensperre aufgebaut, nur für den Fall, dass es Rafi gelingen sollte, zum Ufer zu fliehen.

Also kannte Lena die Gegend tatsächlich.

Als sie von der 10 abfuhr und in den Pacific Coast Highway einbog, blickte sie aus dem Fenster zum Meer. Inzwischen war die Sonne verschwunden, verschluckt von einem dicken, wabernden Nebel, der gegen die Windschutzscheibe schwappte. Kurz darauf konnte sie im Dämmerlicht den Rustic Canyon Park sehen und bog links in die Brooktree Road ab. Auf der Fahrt den Hügel hinunter bemerkte sie die Signallichter auf der Straße und den Polizisten an der kleinen Holzbrücke. Sie kurbelte das Fenster herunter und betrachtete den Bach, während sie dem Kollegen die Dienstmarke hinhielt. Nachdem er sie durchgewinkt hatte, rollte sie langsam über die Brücke und die Straße entlang, als habe sie gerade das Sicherheitstor einer verschlafenen kleinen Siedlung im Wald passiert.

Novak hatte Recht gehabt. Das Haus der Ermordeten in der Oak Tree Lane hätte sie auch ohne Angabe der Adresse gefunden. Während sie gemächlich an einer Reihe schwarzweißer Streifenwagen vorbeifuhr, glitt ihr Blick über das gelbe Absperrband, das bereits um das Grundstück gespannt worden war. Die Lücke am Randstein war vermutlich für den Transporter der Spurensicherung reserviert. Der Wagen des Leichenbeschauers war bereits da. Eingewiesen von Novak, setzte er in die Einfahrt zurück, wobei er noch genug Platz ließ, um unter dem Vordach eine provisorische Kommandozentrale einzurichten. Als Novak Lena bemerkte, winkte er ihr zu. Sie nickte und parkte ihr Auto drei Häuser weiter.

Uniformierte Kollegen klapperten bereits die umliegenden Häuser ab, um die Nachbarn zu befragen. Lena leerte ihre Kaffeetasse und spürte, wie ihr das Koffein zu Kopf stieg. Als sie den Wagen verließ, stand sie im dichten Nebel. Sie vertrat sich die Beine und atmete tief durch. Die Luft hier war tatsächlich sauber und schien außerdem frei von Kerosindämpfen und Busabgasen zu sein. Ein erdiger Geruch mit einem Hauch von Eukalyptus lag in der leichten Brise. Doch noch erstaunlicher war die Stille. Der Verkehrslärm vom Pacific Coast Highway war hier nicht zu hören. Bis auf den Vogelgesang war das Plätschern des Wassers über die abgeschliffenen Kiesel im Bachbett das einzige Geräusch. Lena öffnete den Kofferraum, holte ihren Aktenkoffer heraus und ließ den Blick die Straße entlangschweifen. Die Häuser waren doppelt oder dreimal so groß wie ihres, einige sogar noch imposanter, standen jedoch dicht an der Straße. Wie in Kalifornien üblich, spielte sich das Privatleben im Garten hinter dem Haus ab. Die schmalen Durchgänge zwischen den Häusern waren durch Zäune oder Steinmauern mit Eisentoren abgesperrt.

Alles sah danach aus, als ob sich das Postkartenidyll hier länger hielt als eine Viertelstunde. Außer man hatte das Pech, die Bewohnerin des Hauses drei Türen weiter zu sein.

Als Lena den Kofferraumdeckel zuknallte, begann in dem Haus, vor dem sie stand, ein Hund zu bellen. Sie wandte sich ab. Doch als hinter ihr eine Tür aufging, drehte sie sich wieder um. Ein kleiner weißer angeleinter Terrier stürmte, einen Mann mittleren Alters im Schlepptau, auf das Tor zu. Der Mann trug einen Morgenmantel.

»Verzeihung«, rief der Mann, »könnten Sie mir vielleicht sagen, was da passiert ist?«

Lena schulterte ihren Aktenkoffer. »Waren meine Kollegen schon bei Ihnen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. Er machte einen verängstigten Eindruck. »Mein Nachbar rief an und meinte, jemand sei ermordet worden. Es könnte Nikki sein.«

»Dann wissen Sie so viel wie ich.«

Der Satz hing zwischen ihnen in der Luft. Der Mann war sichtlich erschüttert. Unter gewöhnlichen Umständen hätte Lena ihn abgewimmelt, doch als sie das Thermometer an der Hauswand bemerkte, sah sie auf die Uhr und näherte sich dem Zaun. Inzwischen war es fünf vor sieben, und immer noch herrschten nur zehn Grad. Sie trat noch einen Schritt vorwärts. Der Hund fing wieder zu bellen an, wedelte mit dem Schwanz und wollte sich durchs Tor zwängen. Der Mann zog an der Leine – sanft, wie Lena feststellte.

»Wie haben Sie letzte Nacht geschlafen?«, fragte sie.

»Nicht sehr gut. Er hat uns geweckt.«

»Wann war das?«

Der Mann überlegte. Inzwischen wirkte er ein wenig lockerer. »So gegen halb zwei. Etwa um zwei hat er noch einmal zu bellen angefangen.«

»Und was hat er danach getan?«

»Geschlafen wie ein Baby. Aber meine Frau und ich haben uns nur noch herumgewälzt.«

Lächelnd sah der Mann sie an. Offenbar liebte er seinen Hund.

»Bellt er nachts häufig?«, erkundigte sich Lena.

»Nur wenn jemand das Tor offen lässt und Kojoten im Garten herumstreunen. Doch ich habe heute Morgen nachgeschaut. Das Tor war zu.«

Lena sah den Wagen der Spurensicherung um die Ecke biegen.

»Wie heißt Ihr Hund denn?«

»Louie«, erwiderte der Mann stolz.

»Wenn meine Kollegen kommen, müssen Sie ihnen von Louie erzählen.«

Der Mann nickte. Lena zog eine Blanko-Visitenkarte ihrer Dienststelle heraus und trug ihren Namen und ihre Telefonnummer in die freien Zeilen ein. Letzte Woche hatte sie Visitenkarten mit ihrem Namen darauf angefordert. Ebenso wie die Kosten für das Mobiltelefon würde sie die Rechnung selbst bezahlen müssen. Nachdem sie dem Mann die Karte überreicht hatte, fragte sie ihn nach seinem Namen und seiner Nummer. Beim Aufschreiben musste sie ihr Notizbuch mit der Hand vor dem Nieselregen schützen. Sie notierte auch die Zeit, um die der Hund gebellt hatte, und kreiste die Zahl ein. Es war nur so ein Gefühl. Aber es bestand die Möglichkeit, dass der vom Leichenbeschauer und vom Gerichtsmediziner festgestellte Todeszeitpunkt damit übereinstimmte.

Lena steckte das Notizbuch in die Tasche ihres Blazers, bedankte sich bei dem Mann und ging weiter. Als sie an der Hecke vorbei war, hatte sie freie Sicht, und sie blieb stehen, um das Mordhaus durch den Nebel zu betrachten. Es war ein älteres Haus, vermutlich in den zwanziger Jahren erbaut, und wirkte auf sie wie ein Pförtnerhäuschen, hinter dem man, verborgen vom dichten Laub, ein größeres Anwesen erwartete. Die Fassade bestand aus glattem Flussgestein und dunkelbraun gebeiztem Zedernholz. Die Kanten des Schieferdaches wurden von smaragdgrünem Moos verunziert. Hinter dem Haus erkannte sie einige Platanen und zwei riesige Eichen. Das Blätterdach machte einen ungewöhnlich dichten Eindruck. Vermutlich bekam das Haus sogar an einem klaren Tag nicht viel Sonne ab.

Lena zog das Absperrband hoch und duckte sich darunter durch. Als ein Kollege ihr ein Klemmbrett reichte, trug sie ihren Namen und ihre Dienstnummer in das Formular ein. Auf dem Weg durch den Vorgarten spürte sie die Spannung, die in der Luft lag. Kriminaltechniker bereiteten, vertieft in ihre Arbeit, ihre Gerätschaften vor und wechselten, wenn überhaupt, nur hin und wieder leise ein Wort. Lena hielt Ausschau nach einem bekannten Gesicht, konnte aber niemanden entdecken. Das hieß, niemanden, bis auf einen gedrungenen Mann, dessen Hautfarbe an Kaffee mit Sahne erinnerte. Er sprang hinten aus dem Transporter der Spurensicherung. Lamar Newton lächelte ihr verlegen zu, kratzte sich am Kopf und setzte sich dann ins offene Heck, um seine Kameratasche zu öffnen. Lena kannte ihn seit der Verhaftung im Rustic Canyon Park. Damals waren zwei Kameras mit Nachtsichtobjektiven oben in den Bäumen platziert gewesen. Während Lena sich mit Rafi Miller traf, saß Lamar im Bürgerzentrum und zeichnete die Begegnung auf Video auf. Seit jener Nacht verstanden Lena und Lamar sich gut und arbeiteten gerne zusammen.

Als Lena den Transporter des Leichenbeschauers umrundete, sah sie Novak auf einer zwei Meter hohen Leiter stehen. Er war damit beschäftigt, eine blaue Plane an der Regenrinne zu befestigen. Offenbar störte es ihn, dass das Haus von der Brooktree Road so gut einzusehen war. Nach einem Schluck Cola Light zupfte er die Plane noch einmal zurecht. Wenn die Presse hier eintraf, dann sicher mit Kameras, Weitwinkelobjektiven und vielleicht sogar Fachleuten, die Gesprochenes von den Lippen ablesen konnten. Anscheinend wollte Novak das Team vor neugierigen Blicken schützen.

»Du warst aber schnell hier«, meinte er und stieg von der Leiter.

Sein Lächeln wirkte gezwungen, und sie bemerkte den erschöpften Ausdruck in seinen blauen Augen, das Grau in seinem blonden Haar und seine fahle Gesichtsfarbe. Seit sie sich einen freien Tag gegönnt hatte, schien er um zehn Jahre gealtert zu sein. Sie spürte, wie sich ihr wieder der Magen zusammenkrampfte.

»Du hast die Leiche schon gesehen«, stellte sie fest.

Er nickte. Als erster Detective am Tatort hatte Novak keine andere Wahl gehabt.

»Wie schlimm ist es?«

Anstelle einer Antwort drehte er sich zu seinem Dienstwagen um, der, mit dem Heck zur Hauswand, auf der anderen Straßenseite in einer Auffahrt stand. Lena folgte seinem Blick. Daneben parkte ein identischer Wagen, und sie erkannte Tito Sánchez auf dem Fahrersitz. Der Mann neben ihm war ihr fremd. Er schien um die dreißig zu sein und machte einen verstörten Eindruck. Nikki Brants Ehemann, wie Lena annahm.

»Erinnerst du dich an Teresa López?«, fragte Novak leise.

Damit war alles klar. Ihr Partner brauchte nichts mehr hinzuzufügen.

Obwohl sie sich noch aneinander gewöhnen mussten, war Hank Novak bei weitem der beste Partner, mit dem Lena je zusammengearbeitet hatte. Mit seinen eins zweiundachtzig überragte er sie zwar um acht Zentimeter, schien aber immer auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Ihre Freundschaft hatte an dem Tag begonnen, als Lieutenant Barrera sie einander vorgestellt und Novak gebeten hatte, Lena ihren Schreibtisch zu zeigen. Für Novak war die neue Kollegin offenbar keine Last, sondern eine Bereicherung, und er tat alles, um die Stimmung aufzulockern, während er sie herumführte. Novak war zwar geschieden, hatte jedoch drei Töchter, und Lena merkte ihm an, dass er ein gutes Verhältnis zu Frauen hatte. Etwas, das ihr sehr wichtig war. Obwohl der Ruhestand sein Lieblingsthema zu sein schien und sich auf dem Beifahrersitz seines Wagens die Reisebroschüren und Fischereizeitschriften türmten, redete er gerne über seine siebenundzwanzig Jahre im Dienst der Polizei, seine Schnitzer und das, was er daraus gelernt hatte. Oft fragte sich Lena, wie es Novak gelungen war, in diesem Beruf zu überleben und trotzdem ein Mensch zu bleiben. Sie hoffte, dass sie auch so viel Glück haben würde.

Nun nahm sie ein frisches Paar Gummihandschuhe aus der Schachtel, die sie in ihrer Aktentasche aufbewahrte, und zog sie an.

»Wo ist Rhodes?«

»Der spannt drinnen das Absperrband«, erwiderte Novak. »Die Leiche liegt im Schlafzimmer. Der Mann bei Tito im Auto ist James Brant. Er sagt, er habe die Nacht durchgearbeitet und sei erst gegen halb sechs aus dem Büro nach Hause gekommen. Als er seine Frau fand, hat er sofort die Polizei verständigt.«

Lena warf noch einen Blick auf James Brant und fragte sich, ob er wohl am Tatort etwas verändert hatte.

»Wie lange war er allein im Haus?«

»Etwa eine halbe Stunde. Als ich kam, saß er bei den Kollegen aus West L. A. im Wagen. Brant beteuert, er habe nichts angefasst und sei nicht weiter als bis zur Schlafzimmertür gekommen. Ein Blick habe genügt, um die Polizei anzurufen.«

»Und die Kollegen aus West L. A.?«

»Sie haben das Zimmer nicht betreten, sondern sich gleich verdrückt und die Sanitäter weggeschickt. Der Fall wurde wegen des Anblicks von der Schlafzimmertür aus sofort an uns verwiesen.«

Der Anblick von der Schlafzimmertür aus.

Lena versuchte, nicht daran zu denken. Allerdings wusste sie, dass auch Novak dieses Bild nicht mehr loswerden würde. Das erkannte sie daran, dass er die Coladose leerte, als wäre es Bier – und als dürfe er noch Bier trinken. Als sie sich umdrehte, kam Stan Rhodes, eine leere Rolle Absperrband in der Hand, gerade aus dem Haus. Er warf Lena einen Blick aus dunklen Augen zu, etwas, das er seit ihrer Beförderung nicht mehr getan hatte. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, doch damit wollte Lena sich momentan nicht beschäftigen. Sein Augenausdruck war genauso ruhig und fest wie immer. Vermutlich betrachtete Rhodes das Ganze ähnlich wie sie.

»Der Weg zur Leiche ist gesichert«, meldete er. »Ist die Kriminaltechnik bereit?«

»In einer Minute«, antwortete Novak an Lenas Stelle.

»Wir treffen uns in der Vorhalle«, meinte sie.

»Gute Idee«, erwiderte Rhodes leise, »aber weiter würde ich nicht gehen.«

Kapitel 4

Lena trat über die Schwelle des Mordhauses. Trotz ihres bangen Gefühls wollte sie sich vor Beginn der Ermittlungen ein Bild davon machen, wie Nikki und James Brant gelebt hatten. So ging sie immer vor, seit sie keine Uniform mehr trug, insbesondere dann, wenn sie in ein Haus kam, in dem ein Toter lag. Sie brauchte freie Sicht, einen vorurteilsfreien ersten Eindruck, so vage er auch sein mochte, bevor der Anblick der Leiche und das Wissen um die Todesursache ihr Denken unwiederbringlich beeinflussten.

Das Haus war kleiner, als sie zunächst angenommen hatte. Etwa dreihundert Quadratmeter Wohnfläche. Außerdem war der Grundriss offener als bei anderen Häusern aus dieser Zeit. Von der Vorhalle aus konnte sie links von sich einen Teil der Küche und des Wohnzimmers sehen, das sich hinter einem Türbogen befand. Rechts befanden sich ein kleines Arbeitszimmer und ein Flur, der in den hinteren Teil des Hauses führte.

Alles schien an seinem Platz zu stehen. Nichts wies auf einen Kampf hin. Das Absperrband, das Rhodes über die Zimmertüren und entlang der Wände gespannt hatte, steckte eine Sicherheitszone ab, die den Flur hinunter bis zum Schlafzimmer reichte.

Das Mordzimmer.

Lena wandte sich ab. Sie spürte einen kühlen Luftzug. Drinnen im Haus schien es fast genauso kalt zu sein wie draußen. Sie betrachtete den Tisch und den Spiegel gegenüber der Eingangstür, entdeckte einen Thermostat an der Wand und fragte sich, warum die Heizung nicht eingeschaltet war. Nachdem sie das Notizbuch aus der Tasche gekramt und sich die Temperatur notiert hatte, warf sie einen Blick auf den Tisch. Die Lampe brannte noch, und sie bemerkte das Fehlen einer Staubschicht und einen leichten Geruch nach Möbelpolitur. Hier war vor kurzem saubergemacht worden. Nicht gestern oder gar in der vergangenen Nacht, um Spuren zu verwischen, sondern irgendwann im Laufe der letzten Woche. Staub und die Geschichten, die er erzählte, waren die besten Freunde eines Kriminaltechnikers. Die Kollegen von der Spurensicherung würden nicht erfreut sein.

Lena schlug eine leere Seite in ihrem Notizbuch auf und fertigte eine grobe Skizze des Grundrisses an. Als sie einen Blick in die Küche warf, sah sie einen Stapel Zeitungen neben dem Tisch und das Geschirr vom Abendessen in der Spüle. Es waren nicht viele Teile. Offenbar hatte es Dinner for One gegeben.

Als sie sich dem Türbogen näherte, fiel ihr auf, dass im Wohnzimmer keine Möbel standen. Sie beugte sich über das Absperrband, um besser sehen zu können. Der Raum hatte eine Gewölbedecke. Die rückwärtige Wand bestand aus einer Glasfront. Die Terrassentür bot Blick auf eine gepflasterte Terrasse und einen ziemlich großen, von einem Zaun umgebenen Garten. Auf der Suche nach persönlichen Gegenständen ließ sie die Augen durch den leeren Raum schweifen. Nichts. Nur ein Fernseher, ein tragbarer CD-Spieler und ein Stapel CDs auf dem Boden.

Lena drehte sich zur Eingangstür um und beobachtete, wie Lamar Newton draußen in der Einfahrt Novak eine Frage stellte. Rasch durchquerte sie die Vorhalle, um ins Arbeitszimmer zu schauen. Die fest eingebauten Bücherregale an den Wänden waren gut gefüllt. Die einzigen losen Möbelstücke im Raum waren ein altes Ledersofa, ein kleiner Schreibtisch aus Holz und ein Stuhl, der eher Kindergröße hatte. Auf dem Boden stand eine Tischlampe. Anstelle eines Couchtischs waren fünfzehn dicke Bücher auf dem weißen Teppich gestapelt, so als hätte jemand, auf dem Boden sitzend, gelesen. Zwischen Lenas Standort im Flur und dem Computer auf dem Schreibtisch war ein Weg abgesteckt worden.

Lena überlegte und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Trotz der teuren Adresse war Geld für Nikki und James Brant offenbar ein Thema gewesen. Ihr Haus war nahezu leer. Ihre Habe hätte mühelos in einen Transporter oder einen kleinen Anhänger gepasst. Und dennoch war da etwas. Ein Gefühl, das Lena nicht zu fassen bekam.

Ihr Blick wanderte zu den Büchern auf dem Teppich. Es handelte sich um Kunstbände. Malerei. Bildhauerei. Aber auch Architektur von der Renaissance bis zum neunzehnten Jahrhundert. Einen der Architekturbände kannte Lena, weil sie ihn als Studentin an der University of California in Los Angeles gelesen hatte. Damals, als sie noch nicht im Traum daran gedacht hatte, zur Polizei zu gehen.

Sie betrachtete die Bücherregale und stellte überrascht fest, dass Romane und Kurzgeschichten gänzlich fehlten. Auf Augenhöhe standen ausschließlich wirtschaftliche Sachbücher. Die Bücher ab Kniehöhe behandelten Kunstthemen.

»Wir sind so weit, Lena«, sagte Novak leise.

Sie drehte sich zur Tür um, wo er gerade mit Rhodes hereinkam. Lamar folgte ihnen mit Ed Gainer, einem Ermittler aus dem Büro des Leichenbeschauers, dem Lena schon einige Male begegnet war. Die erste Begehung würde kein großer Bahnhof werden.

»Also los«, sagte Rhodes.

Langsam und wortlos schritten sie den Flur entlang. Das Knarzen des Dielenbodens unter ihren Füßen war das einzige Geräusch. Links befanden sich einige Wandschränke und die Tür zum Wäscheraum. Auf halbem Wege rechts lag das Badezimmer. Ohne stehen zu bleiben, setzten sie ihren Weg zu der Tür am Ende des Flurs fort. Hier wartete der Grund, warum der Fall an sie verwiesen worden war.

Rhodes sah Lena an. Sie stellte fest, dass Ed Gainer zusammenzuckte. »Oh, Scheiße«, glaubte sie Lamar flüstern zu hören. Lena biss die Zähne zusammen und spähte in den Raum.

Die Vorhänge waren zugezogen, die Fenstergriffe klapperten im Wind. Es dauerte eine Weile, bis Lena begriff, dass die Wände einmal weiß gestrichen gewesen waren. Dass sie nicht in einem Schlachthaus am Rande der Zivilisation stand, sondern in einem Eigenheim in einer gutbürgerlichen Straße. So viel Blut hatte sie noch nie gesehen. Die Fontäne hatte mitten im Raum begonnen und sich über die Wände, die Gewölbedecke und den Boden verteilt. Und dennoch herrschte an dieser Stelle, so wie im Auge eines Sturms, eine gewisse Ruhe. Ein zierlicher Körper, scheinbar schlafend, war sorgfältig unter einer sauberen weißen Überdecke drapiert.

Das ist kein Mordzimmer, dachte sie, sondern eine Hinrichtungszelle.

In der Dunkelheit versuchte Lena, das Gesicht des Opfers zu erkennen. Als sie es nicht entdecken konnte, wurde ihr klar, dass man der jungen Frau eine Einkaufstüte aus Plastik über den Kopf gestülpt hatte.

»Vorsicht Stufe«, flüsterte Rhodes.

Lena blickte nach unten. Wie das Wohnzimmer lag auch das Schlafzimmer drei Stufen tiefer als das restliche Haus. Während sie dem Absperrband folgte, fragte sie sich, wie Rhodes es bloß geschafft hatte, einen nicht blutverschmierten Weg zur Leiche zu finden. Eine schier unlösbare Aufgabe, aber es war ihm gelungen.

Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Als eine Reihe weißer Blitze durch den im blauen Dämmerlicht liegenden Raum zuckte, machte sie Lamar Platz und stellte sich zu Novak und Rhodes ans Fußende des Bettes. Neben dem Radiowecker auf der Kommode bemerkte sie ein Foto, das sie betrachtete, ohne den silbernen Rahmen zu berühren. Nikki und James Brant saßen eng umschlungen auf einer Wiese. Sie sahen so unschuldig und glücklich aus. Versunken in ihre Träume und bereit für eine gemeinsame Zukunft, in der ein Ereignis wie dieses keinen Platz hatte.

Lena versuchte, diesen Gedanken zu vertreiben, trat ans offene Fenster, zog die Vorhänge zurück und untersuchte Fußboden und Fensterbrett auf Blutspuren. Abgesehen von der Leiche war die Umgebung des Fensters, wie sie wusste, die Stelle, wo mit der größten Wahrscheinlichkeit mit Hinweisen zu rechnen war. Da nichts zu sehen war, fragte sie sich, ob das offene Fenster vielleicht eine Rolle in dem Drama spielte, beugte sich hinaus, atmete in tiefen Zügen die frische Luft ein und ließ den Blick über den Garten schweifen. Der Nebel war dichter geworden, hielt sich unterhalb der Dachkante und waberte über den Boden. Dennoch konnte sie jenseits des Zauns die undeutlichen Umrisse eines Tennisplatzes erkennen und wusste, dass sie den Rustic Canyon Park vor sich hatte.

Sie drehte sich wieder zu Lamar um und beobachtete, wie er die Leiche aus unterschiedlichen Perspektiven fotografierte. Nachdem er die erste Filmrolle vollgeknipst hatte, nahm er die Kamera vom Auge und sah Lena an. Obwohl die Dienststelle sich vor einigen Jahren Digitalkameras geleistet hatte, wurden Tatortfotos noch immer mit Rollfilm geschossen.

»Wir wollen die Decke wegnehmen«, sagte Novak leise.

Lena trat aus der Sicherheitszone und tastete sich um die Blutspritzer herum zum Bett vor.

»Zuerst entferne ich die Überdecke«, verkündete sie. »Es könnte etwas darunter versteckt sein.«

Novak war einverstanden. »Aber ganz langsam«, meinte er.

Lena packte die Überdecke mit beiden Händen und zog sie weg. Darunter kam eine weiße Decke zum Vorschein. Zwei Blutflecke stiegen von der Leiche auf und sickerten durch den Stoff wie Lampenöl, das sich über den Docht zur Flamme vorarbeitet. Während Lamar einen neuen Film einlegte und die Blutflecke fotografierte, zeigte Lena auf Nikki Brants Hals, den man nun besser sehen konnte. Die Plastiktüte war der Frau nicht über den Kopf gelegt, sondern ihr übergestülpt und am Hals zu einer ordentlichen Schleife geschnürt worden.

Lamar knipste den Knoten von der anderen Seite des Bettes aus. Lena musterte die Tüte und versuchte, in der Hoffnung, den Namen des Supermarkts zu ermitteln, trotz der Blutspritzer den Aufdruck zu entziffern. Als sie sich deswegen vorbeugte, zuckte sie zusammen, denn durch das milchige Plastik war das Gesicht der jungen Frau zu erkennen. Im Schein von Lamars zuckendem Blitzlicht wurde der Anblick deutlicher und dadurch noch unheimlicher. Nikki Brants Augen waren geöffnet, und Lena hatte das Gefühl, als starre die Frau sie durch die Plastiktüte an. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke.

Ein eiskalter Schauder lief Lena den Rücken hinunter. Sie holte tief Luft.

Lamar ließ die Kamera sinken. »Ich bin fertig, Lena.«

Sie nickte. Mühsam versuchte sie, das Grauen zurückzudrängen. Bloß nicht daran denken. Sie griff nach der Decke, zog sie weg und faltete sie vorsichtig, ohne damit die Überdecke zu berühren. Inzwischen war der zierliche Körper unter den Laken besser zu erkennen. Die beiden Blutflecke waren klarer zu sehen. Als Lena eine weitere Decke zusammengeknüllt am Fußende des Bettes bemerkte, wies sie Lamar darauf hin. Nachdem die Fotos gemacht waren, packte sie mit beiden Händen das Laken und zog die letzte Schicht weg, die Nikki Brants Leiche bedeckte.

Schlagartig wurde es still im Raum. Eine Weile rührte sich niemand, und keiner sprach ein Wort, als alle Anwesenden sich des Ausmaßes des Grauens bewusst wurden.

Das Bett war so riesig, dass Nikki Brant darin wie ein Kind wirkte.

Sie lag mit gespreizten Beinen auf dem Rücken. Ihre Hände befanden sich seitlich der Hüften und waren wie der Kopf in an den Handgelenken zusammengeschnürtes Plastik gewickelt. Ihr Körper war weich und kurvig. Ihre kleinen, runden Brüste waren mit Blutergüssen bedeckt. Spermaspuren, feucht, aber verschmiert, bedeckten das Laken zwischen ihren Beinen. Aber es waren die beiden Stichwunden, die Lena am meisten zu schaffen machten. Die erste befand sich dicht unterhalb des Schlüsselbeins. Ein Durchstich, der glatt, aber ungewöhnlich breit wirkte, fast als hätte man das Opfer aufgespießt. Die zweite Wunde wies schartige Ränder auf. Offenbar war das Messer von unten nach oben durch Nikki Brants Bauch gezogen worden. Nach dem schweren Blutverlust und dem Zustand des Zimmers zu urteilen, zweifelte Lena nicht daran, dass die junge Frau den Großteil des Martyriums bei vollem Bewusstsein miterlebt hatte.

»Was sagt uns das, was wir hier vor uns haben?«, begann Rhodes mit kaum hörbarer Stimme. »Sehen wir die Dinge, wie sie wirklich sind, oder nur das, was jemand uns weismachen möchte?«

»Darüber sprechen wir später«, erwiderte Novak.

Lena trat einen Schritt näher heran, um die Wunden unter die Lupe zu nehmen. Ähnliche Verletzungen waren ihr zwar schon untergekommen, allerdings nicht in diesem Zusammenhang.

»Aufgeschlitzt«, stellte sie fest. »So etwas habe ich mal in einem Drogenfall in South L. A. gesehen.«

»Gangs tun so etwas, um ihre Gegner zu schockieren«, ergänzte Novak. »Und um mit ihrer Brutalität ihre Freunde zu beeindrucken.«

Lena wich vom Bett zurück, als Lamar die Kamera zückte. Dabei ging sie im Geiste die möglichen Motive durch. Bis jetzt wies nichts auf einen Einbruch hin. Im Haus gab es nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Bis auf Nikki Brant.

Wieder teilte sie die Vorhänge, spähte in den Park jenseits des Zauns hinüber und fragte sich, wie die Aussicht wohl an einem sonnigen Tag sein mochte. Oder nachts von einem Auto auf dem Parkplatz aus. Hier war Wut im Spiel, dachte sie. Eine Mordswut. Und eine gewaltige Überdosis Hass.

Als Lena sich wieder zum Zimmer umwandte, hatte Gainer sich dem Bett genähert, um die Leiche zu untersuchen. Das Laken bedeckte noch einen Teil des linken Fußes der jungen Frau. Gainer zog es weg und fuhr zurück. Wortlos starrten alle auf den Fuß und zählten. Nikki Brants zweiter Zeh fehlte. Also war doch etwas aus dem Haus entfernt worden.

Gainer gab sich Mühe, sein Entsetzen zu verbergen. Er war kreideweiß im Gesicht, als er den Blick über die Leiche bis zur Plastiktüte über dem Kopf des Opfers gleiten ließ.

»Ich glaube, die sollten wir nicht abnehmen«, meinte er. »Zumindest nicht hier. Es könnte etwas darunter sein, das sichergestellt werden muss. Was denken Sie?«

»Wir brauchen ein Foto von ihrem Gesicht«, widersprach Rhodes. »Ein Polaroid, um es ihrem Mann zu zeigen. Außerdem muss sie auf Vergewaltigung untersucht werden.«

»Ich verstehe«, entgegnete Gainer. »Aber wenn wir die Tüte erst bei der Autopsie entfernen, können wir mehr entdecken.«

Novak sah Gainer nachdenklich an. »Wie lange wird das dauern?«

»Wir sind drei Tage im Rückstand, Hank. Allerdings wette ich, dass wir sie unter den gegebenen Umständen ganz oben auf die Liste setzen können. Wenn Sie möchten, sorge ich dafür, dass sie noch heute am späten Nachmittag obduziert wird.«

Rhodes trat in die Sicherheitszone auf der anderen Seite des Bettes. »Was halten Sie davon, die Tüte für das Foto ein Stück aufzuschneiden?«

Gainer nickte. »Klingt nach einem guten Vorschlag.«

»Dann machen wir es so«, verkündete Novak.

Gainer förderte ein rasiermesserscharfes Skalpell zutage und ließ die Klinge über die Tüte gleiten. Als er die Plastikfolie zurückschlug und Nikki Brants Gesicht freilegte, beugten sich alle vor.

»Feuchtigkeit«, flüsterte er. »Als ihr die Tüte über den Kopf gestülpt wurde, hat sie noch geatmet. Wir müssen das fotografieren, bevor es trocknet.«

Gainer machte Lamar Platz. Nach dem Polaroid griff Lamar wieder zur Nikon und verknipste einen weiteren Film. Als das Blitzlicht erneut zu zucken begann, betrachtete Lena Nikki Brants Gesicht und ihr zerzaustes schwarzes Haar. Selbst mit offenen Augen, leerem Blick und in die Ferne starrend war noch zu erkennen, dass das Opfer eine schöne Frau gewesen war. Zumindest bis letzte Nacht. Sie hatte etwas Unschuldiges an sich, das Lena nicht in Worte fassen konnte.

»Hat jemand mit dem Ehemann abgesprochen, wer die Angehörigen benachrichtigt?«, fragte sie.

Novak konnte ihr nicht in die Augen sehen. Kurz herrschte beklommenes Schweigen.

»Sie ist Waise«, erwiderte er schließlich. »Außer uns hat sie nur ihn.«

Es wurde still im Raum. Bis auf das metallische Surren des Kameramotors war nichts zu hören. Wie Lena wusste, hatte Novak mit der Antwort gezögert, weil sie selbst auch Waise war. Und etwa im gleichen Alter wie Nikki Brant. Als sie sich wieder zu der Leiche umwandte, stieg ein Gefühl der Einsamkeit in ihr hoch, begleitet von einer tief empfundenen Anteilnahme.

Im nächsten Moment schien das Zimmer zu wackeln.

Für einen Sekundenbruchteil dachte Lena an ein Erdbeben. Sie spürte, wie ihr die Brust eng wurde, und sah Rhodes zusammenzucken. Novak hielt sich an der Wand fest. Gainer ließ sein Skalpell fallen.

Allerdings war es kein Erdbeben – sondern Musik, die aus dem Radiowecker dröhnte. Alle drehten sich zur Kommode um und sahen das dämliche Ding finster an.

Lena griff danach und fummelte an den Schaltern herum, bis sie den richtigen gefunden hatte. Während die Musik von den blutigen Wänden widerhallte und schließlich im trüben Dämmerlicht verstummte, drehten sich die Anwesenden erneut zu der Leiche mit dem abgetrennten Zeh um und sahen auf die Uhr. Der Schreck saß ihnen noch in den Gliedern.

Der Wecker war auf halb acht gestellt. Zeit zum Aufstehen für Nikki Brant.

Kapitel 5

Die Tatsache, dass es zu ihren Aufgaben gehörte, machte die Sache nicht leichter. Das Opfer am Tatort musste identifiziert werden. Und dazu brauchten sie James Brants Aussage, dass das Foto der Leiche, das Lena in der Jackentasche hatte, tatsächlich seine Frau darstellte.

Das Gesicht in den Armen vergraben, lehnte Brant an der offenen Autotür. Lena stand mit Novak auf der anderen Seite des Wagens, Brant gegenüber.

»Wo geht Tito hin?«, erkundigte sich Brant mit zitternder Stimme.

»Das Rote Kreuz ist hier«, erwiderte Lena. »Er holt Ihnen einen Kaffee.«

Brant hob den Kopf. Regentropfen fingen sich in seinen braunen Locken. Lena folgte seinem Blick zu Sánchez. Er ging über den Rasen zu einem Pick-up, der vor dem Nachbarhaus parkte. Das Rote Kreuz würde die Anwohner mit Lebensmitteln und Getränken versorgen, bis die Straßensperre aufgehoben wurde. Sánchez würde sich mit dem Kaffeeholen Zeit lassen. Das hatten sie gemeinsam beschlossen, weil Brant sich nicht von zu vielen Menschen bedrängt fühlen sollte. Lena und Novak würden die Identifizierung allein mit ihm vornehmen. Wegen ihrer lockeren Art kam Lena die Führungsrolle zu, Novak mit seinem geschulten Blick und seiner Erfahrung die des Beobachters.

»Ich will ins Haus«, sagte Brant. »Ich will Nikki sehen und sie in den Armen halten.«

»Unser tief empfundenes Beileid, Mr. Brant. Aber Ihr Haus ist nun ein Tatort. Unsere Kollegen müssen arbeiten, damit wir herausfinden können, was geschehen ist.«

»Ich will sie sehen.« Brants Stimme schien aus seinem Bauch aufzusteigen, während er wieder den Kopf sinken ließ und zu Boden starrte. Dann ballte er die Faust, schlug damit gegen die Innenseite der Tür und richtete sich auf. Plötzlich war Lena klar, warum die Wirtschaftsbücher auf Augenhöhe standen, während die Kunstbände in den tieferen Regalen untergebracht waren. James Brant war weit über eins achtzig groß, seine Frau mindestens dreißig Zentimeter kleiner und sehr zierlich gebaut. Die Anordnung der Bücher war offenbar aus praktischen Gründen erfolgt.

»Sie ist ganz allein. Ich sollte bei ihr sein. Sie hat das nicht verdient.«

»Nein, das hat sie nicht«, antwortete Lena. »Und ich stimme Ihnen zu, dass diese Situation der absolute Mist ist.«