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Die Liebe findet dich, wo du auch steckst
Seit ihre Eltern geschieden sind, verbringt Whitley die Sommerferien bei ihrem Dad. Doch was für sie sonst die beste Zeit des Jahres war, entpuppt sich diesmal als reinster Albtraum. Denn ihr Dad – Überraschung! – hat eine neue Verlobte. Und die hat einen Sohn. Der sich ausgerechnet als Whitleys One-Night-Stand entpuppt. Weil Gefühle aber so gar nicht ihr Ding sind, lenkt Whitley sich ab: Party bis zum Umfallen. Dabei übersieht sie fast die guten Dinge direkt vor ihrer Nase. Wie den Jungen, dem wirklich etwas an ihr liegt ...
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Seitenzahl: 353
DIE AUTORIN
Foto: ©Henry Stampfel
Kody Keplinger ist in Kentucky geboren und aufgewachsen. Ihren Debütroman, den New-York-Times-Bestseller »Von wegen Liebe«, schrieb sie mit 17, als sie selbst noch auf die Highschool ging. Inzwischen hat sie bereits mehrere Romane in den USA veröffentlicht. Mit »Lemon Summer« erscheint jetzt ihr zweites Buch bei cbt.
Von der Autorin ist außerdem bei cbt erschienen:
Von wegen Liebe
Mehr zu cbj/cbt auch auf Instagram @hey_reader
Kody Keplinger
Aus dem Amerikanischen
von Anja Galić
Für meine Mom und meinen Dad.
Danke, dass ihr mir nie das Gefühl gegeben habt,
allein zu sein.
Ich liebe euch so sehr.
Ein Kater ist ein fieses Miststück.
Das wusste ich, seit ich mit vierzehn das erste Mal auf einer Party zu viel getrunken hatte. Aber die Kopfschmerzen, mit denen ich am Morgen nach der Abschlussfeier aufgewacht bin, waren die schlimmsten in meinem ganzen bisherigen Leben. Und das wollte etwas heißen. Mir dröhnte der Kopf, als hätte ich einen verdammten Baseballschläger übergezogen bekommen. Wer weiß, vielleicht war das ja auch wirklich passiert. Ich war so dermaßen betrunken gewesen in dieser Nacht, dass es mich wahrscheinlich noch nicht einmal gekümmert hätte. Vielleicht hätte ich es in dem Moment sogar witzig gefunden. Nach ein paar Tequila-Shots war alles ziemlich witzig.
Ich zog mir stöhnend die Decke über den Kopf, um meine Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen, das durch das Fenster über mir flutete. Warum musste es bloß so verflucht hell sein?
»Jetzt übertreib mal nicht. So hässlich bin ich dann auch wieder nicht«, murmelte eine tiefe, schlaftrunkene Stimme neben mir.
Shit.
Plötzlich war mir speiübel und das hatte nicht das Geringste mit der Menge an Alkohol in meinem Blutkreislauf zu tun.
Ich kniff die Augen zu und versuchte mich daran zu erinnern, was zur Hölle ich letzte Nacht getrieben hatte. Okay … ich hatte mit ein paar Leuten getanzt, eine Weile Quarters gespielt, ein paar Shots getrunken … mehr als nur ein paar Shots. Aber hey, wir sprechen hier von der Abschlussfeier. Da ist es praktisch Pflicht, sich zubetrinken. Ich zwang mich, am Alkoholnebel und an den wummernden Bässen vorbeizudenken und mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich gemacht hatte, bevor der Film endgültig riss.
Oh.
Als ich irgendwann komplett jenseits von Gut und Böse gewesen war, hatte ich mit einem Typen rumgeknutscht, den ich nicht kannte – was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man gemeinsam mit knapp tausend anderen Schülern den Highschool-Abschluss macht, weshalb ich an jenem Abend mit einer Menge fremder Leute gefeiert hatte –, und ihn dann in eines der Schlafzimmer in dem Haus gezerrt. Aber alles, was sich danach ereignet hatte, versank in schwarzem Nichts. Nur über eine Sache war ich mir absolut sicher. Ich hatte definitiv Sex mit ihm gehabt.
Shit, Shit, Shit. War ich wirklich so dicht gewesen?
Ich öffnete die Augen, nahm die Decke vom Gesicht und drehte mich auf die Seite. Mir blieb in diesem Moment nur noch die Hoffnung, dass er wenigstens süß war. Und tatsächlich war er sogar ziemlich süß … oder wäre es gewesen, wenn er nicht so mitgenommen ausgesehen hätte. Er hatte tiefe Ringe unter den braunen, mich aus wenigen Zentimetern Entfernung anstarrenden Augen und seine dunklen Haare standen in alle Richtungen ab. Vielleicht trug er sie aber auch einfach immer so. Aus irgendeinem Grund war dieser Look neuerdings extrem angesagt.
Andererseits war ich mir sicher, dass ich in dem Moment auch nicht wirklich zum Anbeißen aussah. Meine Haare, die ich für die Abschlussfeier mithilfe jeder Menge Haarspray kunstvoll hochgesteckt hatte, hatten sich mittlerweile garantiert in filzige Zotteln verwandelt, ganz zu schweigen davon, dass meine Augen bestimmt blutunterlaufen und meine Schminke übers ganze Gesicht verteilt war.
Wie schon gesagt. Ein Kater ist ein fieses Miststück.
»Hi«, murmelte der Typ und rieb sich die Augen. »Hast du okay geschlafen?«
»Ähm … sicher.«
Jetzt redete er auch noch mit mir, als ob diese ganze Situation nicht schon peinlich genug gewesen wäre. Ich wünschte, er hätte so getan, als würde er noch schlafen, dann hätte ich mich einfach davonschleichen können.
Seufzend schlug ich die Decke zurück und hievte mich aus dem Bett. Das grelle Sonnenlicht war die reinste Folter für meine Augen. Ich stolperte blinzelnd durch das Zimmer, klaubte meine Klamotten vom Boden und legte mich beinahe zweimal der Länge nach hin, bis ich endlich vollständig angezogen war. Gemessen daran, wie alles quer im Raum verteilt herumlag, mussten wir eine ziemlich wilde Nacht verbracht haben.
Scheint, als wäre ich voll auf meine Kosten gekommen.
»Hey, ähm …« Gott, ich konnte mich nicht mal mehr an den Namen von dem Kerl erinnern. Hatte er ihn mir überhaupt gesagt? Ich räusperte mich und versuchte es noch mal. »Meinst du, ich kann hier ganz normal durch die Eingangstür abhauen oder soll ich lieber aus dem Fenster klettern? Wie verschwindest du von hier?«
»Gar nicht. Ich wohne hier.«
Oh, okay. Ich hatte es also mit dem Gastgeber getrieben. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Jeder Zwölftklässler hatte die Adresse gestern auf der Hand stehen, und mir war kein einziges Mal der Gedanke gekommen, nachzufragen, wer hier wohnte. Eine Party war eine Party. Es spielte keine Rolle, wer sie schmiss.
»Zumindest wohne ich bis heute hier … Du kannst also gefahrlos die Eingangstür benutzen.« Er richtete sich ein Stück auf. »Meine Mom und meine Schwester mussten schon vor der Abschlussfeier fahren, damit sie vor Ort sind, wenn die Möbelpacker kommen. Deswegen hat es sich angeboten, die Party hier steigen zu lassen. Sozusagen als Abschluss- und Abschiedsparty in einem.«
»Verstehe …« Ein simples Ja oder Nein statt seiner ganzen Lebensgeschichte hätte mir gereicht. »Okay, dann bin ich mal weg«, sagte ich und nahm meine Tasche von der Kommode. »Und nichts für ungut.«
»Hey, warte.« Er setzte sich auf, sodass die Decke von seinem nackten Oberkörper rutschte.
Oha. Er war nicht nur süß, sondern ziemlich heiß. Hammer-Körper. Ich erinnerte mich vage daran, ihm das auch gesagt zu haben. Kurz durchzuckte mich ein Flashback – wie ich ihm kichernd den Finger in die Brust bohrte, nachdem ich ihm das Shirt über den Kopf gezogen hatte. »Nette Muskeln, Adonis.« Er hatte gelacht und mich geküsst. Er hatte gut geküsst.
Aber mehr war aus den Tiefen meiner tequilaverklebten Hirnwindungen nicht herauszubekommen.
»Kann ich deine Nummer haben?«, fragte er und fuhr sich durch seine zerzausten braunen Haare. »Damit ich dich, du weißt schon, irgendwann mal anrufen kann.«
Oh Gott, meinte er das etwa ernst?
Nicht dass ich so wahnsinnig viel Erfahrung mit One-Night-Stands gehabt hätte – ich konnte die Jungen, mit denen ich geschlafen hatte, an einer Hand abzählen. Aber ich hatte in betrunkenem Zustand schon mit einer Menge Typen rumgemacht, und die meisten von ihnen hatten genügend gesunden Menschenverstand besessen, mich danach nicht nach meiner Nummer zu fragen. Es war für beide Parteien besser, wenn einfach jeder sein Leben weiterlebte und so tat, als wäre nie etwas passiert.
Dieser Kerl – warum konnte ich mich nicht mehr an seinen Namen erinnern? – sah das anscheinend anders.
»Hör zu«, sagte ich und nahm den Blick von ihm, als ich die Kondomverpackung aus meinem Shirt zog, die sich irgendwie darin verfangen haben musste. »Wir haben gerade unseren Abschluss gemacht und werden im Herbst aufs College gehen. Wozu sollten wir also in Kontakt bleiben?« Gott. Der arme Junge. Dieser Kater war so grauenhaft, dass ich es noch nicht mal schaffte, ihm eine nette Abfuhr zu erteilen. Ich schaute ihn wieder an und wusste, dass ich die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen musste, damit ich endlich von hier verschwinden konnte. »Wir sollten einfach alles so lassen, wie es ist, und, na ja, du weißt schon, uns nie wiedersehen.«
»Dann … willst du mir deine Nummer also nicht geben?«
»Eigentlich nicht. Nein.«
Er atmete geräuschvoll aus. »Autsch. Das war hart.«
Vielleicht, aber es war besser so für ihn. Ein Mädchen wie ich würde sowieso keine besonders tolle feste Freundin abgeben. Ich war bloß ein Sexabenteuer im Vollrausch. Mehr war ich nie gewesen.
»Du ziehst doch in eine andere Stadt, oder? Ich bin mir sicher, dass die Mädchen dort total auf deinen süßen Nerd-Look abfahren. In einer Woche wirst du dich nicht einmal mehr an letzte Nacht erinnern können … Ich kann mich ja jetzt schon kaum noch daran erinnern.« Ich schwang mir achselzuckend meine Tasche über die Schulter und stützte mich dabei mit einer Hand an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Also dann – war eine coole Party. Hat echt Spaß gemacht. Man sieht sich … nicht.«
»Whitley?«, rief er mir hinterher.
Aber da war ich schon aus dem Zimmer und stolperte auf wackligen Beinen den Flur hinunter. Ich musste hier raus. Schnell. Nicht nur wegen Mr Klammeraffe, sondern weil Mom bestimmt schon auf mich wartete und ich noch drei Millionen Sachen packen musste, bevor mich Dad morgen mit seinem SUV abholen würde.
Ich erreichte das Ende des Flurs und warf einen Blick in das komplett verwüstete Wohnzimmer. Der Boden war mit Bierdosen und halb leeren Chipstüten übersät. Ein umgestürzter Fernsehsessel und ein Beistelltischchen waren die einzigen Möbelstücke (ich vermute, der Rest war schon in sein neues Zuhause transportiert worden). Dazwischen schliefen ein paar Schnapsleichen ihren Rausch auf dem Boden aus. Ich hatte ein bisschen Mitleid mit Keine-Ahnung-wie-er-heißt. Da stand ihm einiges an Aufräumarbeiten bevor. Und ich war so was von froh, nicht an seiner Stelle zu sein.
Aber das hatte er davon, freiwillig den Gastgeber für eine Abschlussparty zu spielen.
Ich stieg über den Müll, der den Weg zur Eingangstür pflasterte, und zuckte gequält zusammen, als das Sonnenlicht meine Augen traf. Die Kopfschmerzen waren wirklich mörderisch, aber wenigstens musste ich mich nicht übergeben. In den vier Jahren, die ich jetzt schon auf Highschool- und Studentenpartys ging, hatte ich ziemlich gut gelernt, wie man den ganzen Alkohol bei sich behielt. Jedenfalls besser als die meisten Mädchen in meinem Alter. Fast alle, denen ich auf Partys begegnet war, hatten nach ein paar Flaschen Smirnoff Ice die Kloschüssel geküsst und mussten danach von ihren Footballspieler-Freunden rausgetragen werden. Verdammte Mimosen.
Seufzend kramte ich mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Taxizentrale. Ich hoffte inständig, dass ich keinen geschwätzigen Fahrer erwischen würde. Wenn er versuchte, mehr als fünf Worte mit mir zu wechseln, konnte er sein Trinkgeld vergessen.
Mom saß im Bademantel in der Küche, aß Tiefkühlwaffeln aus dem Toaster und guckte Good Morning America, als ich nach Hause kam.
»Hey, Whitley«, sagte sie mit der Ahornsirupflasche in der Hand und wandte kurz den Blick vom Fernseher. »Wie war’s?«
»Gut«, murmelte ich und steuerte den Kühlschrank an. Ich hatte einen unfassbar trockenen Mund. »Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab.«
»Kein Problem. Ich dachte mir schon, dass du bei Nola übernachtest.«
Ich nahm einen Energydrink heraus und sparte es mir, sie darüber aufzuklären, dass Nola und ich seit der neunten Klasse nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Einen Moment lang fragte ich mich, ob sie es bemerken würde, wenn ich mir direkt vor ihr am Tisch eine Line Koks ziehen würde. Ich bezweifelte es.
»Du hast Post von Trace«, sagte sie, als ich mich neben sie setzte, mir eine Handvoll Cracker nahm und den Stuhl so hindrehte, dass ich den Fernseher auf der Arbeitstheke im Blick hatte. Sie ertränkte ihre Waffeln in Sirup und schob die Flasche beiseite. »Ein Brief. Ich hab ihn auf dein Bett gelegt.«
»Danke.«
Wir saßen eine ganze Weile schweigend da, bis Mom schließlich fragte: »Und, freust du dich, den Abschluss in der Tasche zu haben?«
Sie schaute weiter auf den Fernseher, wo der Wettermann gerade von unserem Teil des Landes zu Florida überging und uns darüber informierte, dass es dort sonnig war – sag bloß, Sherlock. Ich hatte das Gefühl, dass Mom sich einen Dreck für meine Antwort interessierte. Es war bloß eine dieser Fragen, die Eltern stellten, damit sie sich nicht vorwerfen lassen mussten, ihre Kinder wären ihnen egal.
»Der Abschluss ist keine große Sache.« Ich drehte den Deckel von der Flasche und nahm einen tiefen Schluck. »Aber bald aufs College zu gehen ist cool. Dad schwärmt heute noch von seiner Zeit auf der UK. Hoffentlich kann er mir dabei helfen, mich für ein verdammtes Hauptfach zu entscheiden.«
»Achte auf deine Ausdrucksweise, Whitley«, wies Mom mich zurecht. »Und was den Rat deines Vaters bei solchen Dingen angeht, wäre ich lieber vorsichtig, Schatz. Er schafft es ja noch nicht mal, für sein eigenes Leben die richtigen Entscheidungen zu treffen, ganz zu schweigen davon, dir bei deinen zu helfen.«
Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, bevor ich noch einen Schluck nahm. Die Scheidung war mittlerweile sechs Jahre her, und sie ließ immer noch keine Gelegenheit aus, Dad schlechtzumachen. Man sollte meinen, dass sie mittlerweile darüber hinweg war.
»Ich finde nichts falsch daran, wie Dad lebt«, sagte ich.
»Oh bitte.« Sie lachte abfällig. »In dieser erbärmlichen Wohnung? Mit seinen ständig wechselnden Freundinnen? Der Mann ist achtundvierzig und immer noch nicht erwachsen. Er kriegt es noch nicht mal hin, seine Tochter öfter als einmal im Jahr zu sehen.«
Woran du schuld bist, dachte ich, stand auf und warf die leere Flasche in den Mülleimer. »Ich leg mich ein bisschen hin«, murmelte ich. »Hab Kopfschmerzen.«
»Ist gut, Schatz.« Mom spießte ein Stück Waffel mit der Gabel auf. »Gute Besserung. Und vergiss nicht, dass du noch packen musst. Dein Vater holt dich morgen Mittag ab … Aber du weißt ja selbst, wie es um seine Pünktlichkeit bestellt ist, und …« Den Rest ihrer Tirade blendete ich aus.
Erst als ich die Tür zu meinem Zimmer aufdrückte, war sie endlich still. Wenn es um meinen Dad ging, wusste Mom nie, wann es genug war. Alles an ihm regte sie auf: die Art, wie er sich anzog, die Art, wie er Auto fuhr; einmal hatte sie sogar gesagt, dass der Klang seines Lachens sie innerlich zusammenzucken lassen würde. Sie schien sich überhaupt nicht darüber im Klaren zu sein, wie ähnlich mein Vater und ich uns waren und dass ich selbst einige der Charaktereigenschaften besaß, die sie an ihm hasste.
Aber das Schlimmste war, dass Dad nie ein schlechtes Wort über sie verlor. Sie wusste nichts davon oder war zu verbittert, um es zu sehen, aber Dad nahm immer noch Rücksicht auf ihre Gefühle. Aus dem Grund hatte er auch Nein gesagt, als ich ihn vor vier Jahren gefragt hatte, ob ich bei ihm leben könnte – er meinte, dass es Mom das Herz brechen würde, wenn ich bei ihr auszog.
Ich habe Mom nie davon erzählt. Aber in den darauffolgenden Jahren war es für mich immer offensichtlicher geworden, dass er sich irrte. Ihr würde es noch nicht einmal auffallen, wenn ich nicht mehr da wäre. Statt bei mir konnte sie genauso gut bei einer Topfpflanze über ihn herziehen.
Meine Kopfschmerzen waren mittlerweile noch übler geworden. Ich zerrte die Vorhänge zu, ließ mich aufs Bett fallen und vergrub stöhnend das Gesicht im Kissen.
Als ich eine Sekunde später spürte, dass irgendwas unter meinem Bauch knisterte, stöhnte ich erneut. Das Zimmer hatte endlich aufgehört, sich zu drehen, und es schien mir keine gute Idee zu sein, mich schon wieder aufzurichten. Also zog ich das störende Ding mit so minimalen Bewegungen wie möglich unter mir hervor und hielt es mir vors Gesicht. Es war der Brief von Trace, von dem Mom vorhin erzählt hatte. Ein blauer Umschlag, auf dem in hübscher pinkfarbener Schrift mein Name stand. Bestimmt Emilys Werk. Die Handschrift meines Bruders war eine Zumutung.
Ich machte umständlich das Kuvert auf und zog die Karte heraus, die darin steckte. Auf der Vorderseite stand: DU HAST ES WEIT GEBRACHT. Was für eine hohle Phrase. Aber als ich die Karte aufklappte, stellte ich fest, dass mein Bruder den vorgedruckten kitschigen Reim durchgestrichen und durch eine eigene Nachricht ersetzt hatte. Allerdings dauerte es wegen Trace’ schlampiger Schrift ein paar Minuten, bis ich sie entziffert hatte.
hey schwesterchen
bin so stolz auf dich genau wie emily. wir wären so gern dabei gewesen aber hier ist ein dicker scheck als wiedergutmachung. gib nur nicht wieder alles für tequila aus ich melde mich bald
alles liebe
der beste große bruder der welt
und emily und marie
Ich lächelte. Dass ich es süß fand, dass mein großer Bruder so gut wie keine Satzzeichen benutzte und die Großschreibung einfach komplett ignorierte, machte deutlich, wie sehr ich ihn liebte.
Emily und Trace waren seit zwei Jahren verheiratet. Sie hatten sich kennengelernt, als Trace in Los Angeles als Assistent in einer Künstleragentur angefangen hatte. Emily war Schauspielerin – sprich, sie war Kellnerin – und schlief damals mit Trace’ Boss, um an Rollen zu kommen. Aber dann war sie Trace begegnet, und er behauptet, dass es Liebe auf den ersten Blick war.
Hätte mir jemand anderes so eine Geschichte erzählt, hätte ich Brechreiz bekommen, aber Trace kaufte ich sie sofort ab. Kaum hatten sie sich kennengelernt, gab Emily dem Agenturchef den Laufpass (er hatte ihr sowieso nie irgendwelche Rollen verschafft) und war von da an mit meinem Bruder zusammen. Ich war mir eigentlich sicher gewesen, dass Trace dadurch Probleme auf der Arbeit bekommen würde, aber anscheinend passiert in Hollywood ständig so ein verrückter Scheiß, weil er immer noch für den Typen arbeitet. Er wurde kurz darauf sogar befördert. Und letzten Monat brachte Emily Marie zur Welt.
Deswegen hatte Trace es nicht zu meiner Abschlussfeier geschafft. Marie war noch zu klein fürs Fliegen und Trace hatte Emily nicht allein mit dem Baby lassen wollen.
Ich machte ihm deswegen keinen Vorwurf. Er hatte ziemlich viel um die Ohren. Und nur wegen einem einzigen Abend den ganzen Weg auf sich zu nehmen, wäre bescheuert gewesen. Ich meine, selbst Dad hatte wegen der Arbeit nicht kommen können. Es war keine große Sache. Die Feierlichkeiten waren sowieso stinklangweilig gewesen.
Obwohl es natürlich schön gewesen wäre, Trace zu sehen.
Nächstes Jahr, dachte ich und legte die Karte und den mitgeschickten Scheck auf den Nachttisch. Dann rollte ich mich auf der Seite zusammen und schloss die Augen, um gegen die Kopfschmerzen anzukämpfen. Dann fliegen Dad und ich zusammen nach Kalifornien, wenn er Urlaub hat. Keine Arbeit, keine Mom, die uns in den Wahnsinn treibt. Das wird so schön. Nächstes Jahr …
Und mit diesem Gedanken schlief ich ein.
Nach der Scheidung wollte meine Mutter so weit weg wie möglich von Dad ziehen. Ich glaube, ihr schwebte Kalifornien oder Hawaii oder so was vor, aber stattdessen landeten wir nur ein paar hundert Meilen von ihm entfernt. Gerade weit genug, um Channel 34 nicht mehr zu empfangen.
Mein Dad war ein erstklassiger Nachrichtenmoderator und einer der beliebtesten Fernsehjournalisten in den umliegenden drei Staaten. Channel 34 hatte die niedrigsten Einschaltquoten von allen lokalen Sendern, bevor Greg Johnson dort die Morgennachrichten übernahm. Und alle verliebten sich auf der Stelle in ihn. Die Frauen wollten ihn heiraten und die Männer mit ihm angeln gehen. Plötzlich war Channel 34 der populärste Sender der Region.
Also legte meine Mutter natürlich Wert darauf, irgendwohin zu ziehen, wo noch nie jemand etwas von meinem Dad gehört hatte. Auch wenn das bedeutete, dass ich ebenfalls weit weg von ihm wohnen würde.
Mit zwölf war ich bereits alt genug, um zu erkennen, wie selbstsüchtig meine Mutter war.
Wegen ihr zogen wir in eine Stadt, die viereinhalb Stunden von Dad entfernt lag – im verfluchten Indiana –, und trotzdem hatte sie die Frechheit, sich darüber zu beklagen, wie wenig Zeit er mit mir verbrachte. Es war verdammt noch mal nicht seine Schuld, dass sie nicht die Größe besaß, im selben Staat wie er zu leben, oder dass er einen Job hatte, der so viel Zeit in Anspruch nahm. Ihretwegen war es schlicht unmöglich, das geteilte Sorgerecht in die Tat umzusetzen. Also entwickelten Dad und ich ein praktikableres System.
Die letzten sechs Jahre hatte ich die Sommerferien immer komplett bei ihm verbracht. Er wohnte nicht weit vom Kentucky Lake entfernt, was bedeutete, dass ich mich die meisten Tage am Seeufer auf einem Handtuch ausgestreckt in der Sonne aalte. Abends warf Dad dann den Grill an, und letztes Jahr hatte er uns sogar ein paar Drinks gemixt und mir das Versprechen abgenommen, Mom nichts davon zu erzählen. Manchmal kam auch seine Freundin vorbei – mit wem auch immer er zu dem jeweiligen Zeitpunkt zusammen war –, aber er achtete darauf, dass sie nie lange blieb. Der Sommer gehörte uns. Das war unsere Zeit, um all die Monate aufzuholen, in denen wir uns nicht gesehen hatten.
Und das hier war der letzte Sommer, bevor es aufs College ging. Ich stellte mir vor, wie ich mit Dad am See saß und wir uns über seine verrückte Studentenzeit an der University of Kentucky unterhielten (wo ich im September mein Studium anfangen würde), während wir uns ein paar Drinks genehmigten. Außerdem wollte ich mit ihm darüber sprechen, welches Hauptfach ich an der UK belegen sollte. Mom war dafür, dass ich Wirtschaftswissenschaften studierte, aber Dad kannte mich besser als sie. Das könnte unser Sommerprojekt werden – zu entscheiden, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen sollte.
Als Dad am nächsten Nachmittag in unsere Einfahrt bog, wartete ich gar nicht erst, dass er aus dem Wagen stieg, sondern rannte sofort die Verandastufen zu ihm hinunter. Ich warf meinen Reiserucksack auf die Rückbank seines SUV und konnte es kaum erwarten, loszufahren und die Sommerferien zu beginnen. Er saß am Steuer und telefonierte, tat so, als hätte er nicht bemerkt, dass Mom ihn vom Fenster aus beobachtete.
Sie kam nie raus, wenn Dad mich abholte, weil sie angeblich nichts mit ihm zu tun haben wollte. Aber jedes Mal sah ich sie am Fenster stehen und zu ihm rausstarren.
»Bereit für die große Fahrt, Winzling?«, fragte Dad, nachdem er das Gespräch beendet hatte, und schloss das Handy ans Autoladegerät.
»Jep.« Ich schlug die hintere Wagentür zu.
»Hast du dich auch ordentlich von deiner Mom verabschiedet?«
»Mhm«, murmelte ich und kletterte auf den Beifahrersitz. »Und jetzt nichts wie weg hier.«
»Zuerst anschnallen.«
»Ja, ja«, seufzte ich und legte den Gurt um.
»Du solltest das nicht so abtun.« Er startete den Motor. »Wir haben erst vor Kurzem einen Beitrag über schwere Autounfälle gebracht, und es ist wirklich unglaublich, wie oft dieser kleine Gurt dabei über Leben und Tod entschieden hat.«
»Von mir aus.«
Dad schüttelte lächelnd den Kopf. »Was soll ich bloß mit dir anstellen, Winzling«, sagte er, während er aus der Einfahrt fuhr.
Ich drehte mich um. Vielleicht sollte ich Mom zum Abschied wenigstens zuwinken. Aber sie stand nicht mehr am Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen. Ich fragte mich, ob sie sich hingelegt hatte. Ob sie die nächsten Tage im Bett verbringen würde, so wie sie es in den ersten Jahren nach der Scheidung getan hatte.
Das Kranke daran ist, dass sie diejenige war, die Dad verlassen hatte. Ich glaube, ein Teil von ihr dachte, dass er ihr nachlaufen oder sie anflehen würde, nicht zu gehen. Aber das tat er nicht. Nachdem sie zwei Monate getrennt gewesen waren, ließ er ihr die unterschriebenen Scheidungspapiere zukommen. Ich machte ihm deswegen keinen Vorwurf. Sie hatten sich dauernd wegen irgendwelcher Kleinigkeiten gestritten. Ich bin mir sicher, dass das der Grund dafür war, warum Trace nach seinem Highschool-Abschluss ans andere Ende des Landes gezogen ist – weil er von ihren ständigen Dramen die Nase voll hatte. Ich war wahrscheinlich die erste Zwölfjährige in der Geschichte, die erleichtert gewesen war, dass ihre Eltern sich scheiden ließen.
Als mir allerdings klar wurde, dass ich von da an die ganze Zeit bei meiner Mutter leben musste, war ich weniger erleichtert. Die ersten beiden Jahre waren die schlimmsten. Wenn sie nicht depressiv war, war sie wütend. Sie war immer noch wütend.
»Es tut mir so leid, dass ich es nicht zu deiner Abschlussfeier geschafft habe«, sagte Dad, während wir uns durch den Nachmittagsverkehr schoben. »Ich wäre so gern da gewesen, aber bei meinen Arbeitszeiten ist es einfach nicht drin gewesen.«
»Kein Problem«, sagte ich und schaute zu, wie die hohen Gebäude der Stadt an uns vorbeizogen. »So ein Abschluss ist sowieso nichts Besonderes. Außerdem war die Feier total langweilig. Aber Mom hat alles mit meiner Digitalkamera aufgenommen, damit ich es Trace schicken kann. Wenn du willst, lade ich das Video bei dir zu Hause auf den Rechner, und wir schauen es uns zusammen an.«
»Wo du gerade ›bei mir zu Hause‹ sagst, Winzling … Ich hab Neuigkeiten.«
»Was für Neuigkeiten?« Ich drehte mich ihm zu und wurde ein bisschen nervös, als ich an seine heiß geliebte Eigentumswohnung mit den psychedelischen Kunstdrucken und knarzenden Holzdielen dachte.
»Ach, eigentlich ist es keine wirklich große Sache«, sagte er. »Nichts, worüber man sich aufregen müsste.«
»Oh Gott. Du hast doch nicht etwa schon wieder Ameisen? Warum lässt du nicht endlich einen Kammerjäger kommen, anstatt es immer wieder selbst zu versuchen?«
»Nein, keine Ameisen«, sagte er. »Und ich glaube auch nicht, dass wir uns über diese kleinen Quälgeister noch mal Sorgen machen müssen, weil ich … umgezogen bin.«
»Umgezogen?«, wiederholte ich fassungslos. »In eine andere Wohnung?«
»Es ist eher ein Haus.«
Ich sah ihn geschockt an. »Aber … du hast diese Wohnung geliebt. Ich versteh das nicht. Wolltest du näher am See wohnen?«
»Nein, darum ging es nicht.«
»Wieso hast du sie dann aufgegeben?«, fragte ich. »Ich meine, wenn du nicht näher am See wohnst, gibt es eigentlich keinen Grund, in Millerton zu bleiben.«
»Stimmt. Aber ich bin auch nicht in Millerton geblieben.«
»Was? Aber du hast immer in Millerton gelebt. Du bist dort aufgewachsen – ich bin dort aufgewachsen. Warum solltest du dort wegwollen?«
»Das wirst du sehen, wenn wir in Hamilton ankommen. Du wirst es lieben, Winzling«, versicherte er mir. »Es ist ein hübscher kleiner Ort. Wunderbare Umgebung. Tolle Leute. Du wirst dort einen herrlichen Sommer verbringen, das verspreche ich. Ich bin mir sicher, dass es dir dort sogar noch besser gefällt als in Millerton.«
Hamilton war ein verdammtes Dreckskaff.
Zu dieser Erkenntnis kam ich dreieinhalb Stunden später, nachdem ich jeden Song auf meinem iPod doppelt und dreifach gehört hatte. Stocksauer darüber, dass Dad mich nicht vorgewarnt hatte, hatte ich ihn während der gesamten Fahrt mit Schweigen bestraft. Es war nicht das erste Mal, dass er mich einfach vor vollendete Tatsachen stellte – mir eine neue Freundin vor die Nase setzte (wobei bisher keine von ihnen je lange genug geblieben war, um eine Rolle zu spielen) oder die Wohnung komplett umgestaltet hatte. Aber nie war es um so eine einschneidende Veränderung wie den Umzug an einen völlig anderen Ort gegangen.
Einen total beschissenen anderen Ort.
Ich dachte gerade darüber nach, dass ich mir dringend neue Musik bei iTunes runterladen musste, als wir an dem »WILLKOMMEN IN HAMILTON!«-Schild vorbeikamen. Sobald ich das Ausrufezeichen sah, wusste ich, dass ich verloren war. Und je weiter wir in das Kaff hineinfuhren, desto schlimmer wurde es.
Spießige Vorgärten.
Eine einzige Ampel.
Weniger als tausend Einwohner.
Und weit und breit kein See in Sicht. Tatsächlich befand sich Dads neues Zuhause auf der entgegengesetzten Seite des Sendegebiets von Channel 34, womit wir über hundert Meilen vom Kentucky Lake entfernt waren.
»Großartig«, murmelte ich finster, während ich aus dem Fenster schaute, wo ein weißer Gartenzaun nach dem nächsten vorbeizog. »So viel dazu, den Sommer im Bikini zu verbringen.«
»Hey, fang nicht jetzt schon an, alles zu verteufeln, Winzling.« Er tätschelte mein Knie.
Millerton war doppelt so groß wie Hamilton. Also auch keine echte Stadt, aber dort gab es wenigstens eine Mall und einen Skatepark und einen Minigolfplatz und eine Gokart-Bahn, zu der mich Dad manchmal mitgenommen hatte, und die Häuser sahen nicht alle identisch aus.
Ich war mir sicher, dass Hamilton nichts von alldem zu bieten hatte, es sei denn, es versteckte sich in einem der Maisfelder, die die mickrigen Wohnviertel voneinander trennten.
Auf der Fahrt durch den Ort sah ich eine Bibliothek, ein Lebensmittelgeschäft, eine Bank und absolut nichts, was man mit Spaß in Verbindung bringen würde.
»Oh Mann, ich werde käseweiß sein, wenn ich mit dem College anfange«, jammerte ich.
»Du wirst trotzdem knackebraun werden. Wir haben nämlich einen Pool.«
»Wir?«, echote ich. »Wer ist wir? Meinst du dich und mich?«
»Also …« Dad räusperte sich. »Das ist der zweite Teil der Überraschung.«
»Der zweite Teil?«
Wir bogen in eine Einfahrt, die zu einem ziemlich großen Haus mit strahlend weißen Fensterläden und einem gepflegten Garten führte. Aber das fiel mir nur am Rande auf, weil mein Hauptaugenmerk auf die Frau gerichtet war, die auf der Veranda stand. Sie war groß, blond und trug hochhackige Sandalen.
»Dad«, sagte ich. »Wer ist das?«
Er stellte den Motor ab und konnte gar nicht schnell genug aus dem Wagen steigen. »Sylvia!«, rief er mit seiner tiefen, vollen Stimme. »Ich bin wieder da, Honey!«
»Honey?«, wiederholte ich fassungslos und stieg ebenfalls aus.
Die Frau rannte uns entgegen, was, wie ich zugeben musste, mit diesen mörderisch hohen Absätzen eine ziemlich beeindruckende Leistung war. Statt auf meinen Vater zuzulaufen, steuerte sie direkt in meine Richtung, streckte die Arme aus, und bevor ich sie daran hindern konnte, zog sie mich in eine innige Umarmung. Die zum Glück nicht lange dauerte. Nachdem sie sich von mir gelöst hatte, trat sie einen Schritt zurück und strahlte mich wie irre an.
»Oh, Whitley«, sagte sie seufzend und strich sich die blonden Haare aus dem herzförmigen Gesicht. »Ich freue mich so, dich endlich kennenzulernen. Gott, und wie wunderschön du bist. Dein Dad hat mir Bilder von dir gezeigt, aber die werden dir nicht einmal ansatzweise gerecht.«
»Ähm, danke …« Ich spähte zu Dad rüber, der um den SUV herumging und auf uns zukam. Dann schaute ich wieder diese durchgeknallte Frau an. »Entschuldigung, aber wer zur Hölle sind Sie?«
Sie warf meinem Vater einen bestürzten Blick zu, der sich genau in dem Moment lächelnd neben sie stellte und einen Arm um ihre Schultern legte.
»Whitley – das ist Sylvia. Meine Verlobte.«
Als wir im Haus waren, bekam ich die ganze Geschichte zu hören.
Sylvia Caulfield war Anwältin und aus Indiana. Sie und Dad hatten sich letztes Jahr im September kennengelernt, als er eine Doku über das Naherholungsgebiet Land Between the Lakes drehte, wo Sylvia gerade mit einer Freundin ein paar Tage Urlaub machte. Dad fragte sie, ob er sie zu ihren Eindrücken interviewen dürfte, und sie fragte ihn nach seiner Telefonnummer. Kurze Zeit später hatten sie sich unsterblich ineinander verliebt.
Mir wurde vom bloßen Zuhören schlecht.
»Ein paar Monate lang haben wir uns täglich Mails geschrieben und telefoniert«, erzählte Sylvia, während sie sich in der fröhlich gestrichenen Küche Kaffee einschenkte. Die hellen Blau- und Grüntöne standen in krassem Gegensatz zu meiner Laune – meine Ferien hatten gerade mal vor vier Stunden begonnen, und schon war alles ruiniert, und ich hatte das dringende Bedürfnis, meinen Vater und seine »Verlobte« zu erwürgen.
»Sicher, dass du keinen Kaffee willst, Whitley?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte mir bereits eine Tasse angeboten, aber ich hatte abgelehnt. Ich hasste Kaffee aus tiefstem Herzen. Allein der Geruch war widerlich.
»Jedenfalls hat keiner von uns beiden wirklich daran geglaubt, dass eine Fernbeziehung funktionieren würde. Besonders ich nicht. Seit mein Mann vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist, bin ich allein gewesen. Das war alles so neu für mich. Ich war mir sicher, dass wir noch vor Weihnachten wieder getrennt sein würden.«
»Hast du tatsächlich geglaubt, ich würde dich so einfach gehen lassen?«, fragte Dad und küsste sie auf die Wange. »So dämlich bin ich nun auch wieder nicht.«
Sie wurde rot und kicherte.
Ich war fassungslos. Das hier war schlimmer als jede TV-Liebesschmonzette. Arme kleine Witwe begegnet erfolgreichem Lokalpromi und sie leben glücklich in ihrer schönen, heilen Vorstadtwelt bis ans Ende ihrer Tage. Kotz.
Dabei sah Dad so ein Leben überhaupt nicht ähnlich. Nachdem er und Mom sich getrennt hatten, hatte er praktisch nichts anbrennen lassen, was meiner Meinung nach für einen Single mit einem gewissen Berühmtheitsgrad ziemlich normal war. Wenn ich ihn in den Sommerferien besuchte, hatte er jedes Mal ein neues heißes Bunny um die fünfundzwanzig, das ihm wie ein verlorenes Hündchen folgte. Sie hatten immer Namen wie Heather oder Nikki und verbrachten den Großteil ihrer Zeit in viel zu knappen Bikinis am See und lasen Vogue.
Aber Sylvia war keines von diesen Mädchen. Das Einzige, was sie mit ihnen gemeinsam hatte, war ihre Haarfarbe, aber mein Vater hatte schon immer eine Schwäche für Blondinen gehabt. Davon abgesehen war sie das komplette Gegenteil von den üblichen kleinen Dummchen. Zum einen hatte sie eine richtige Arbeit, statt als Kellnerin oder Kassiererin zu jobben, außerdem war sie nicht viel jünger als Dad. Also eigentlich überhaupt nicht sein Typ.
Mit was für einem Bannspruch hatte diese verdammte Frau ihn belegt?
Und warum zur Hölle hatte er mir nichts von ihr erzählt?
»Aber dann hat unsere Beziehung Weihnachten doch überlebt«, fuhr sie mir am Küchentisch gegenübersitzend fort. Ich rümpfte die Nase, als der Duft aus ihrer Kaffeetasse zu mir herüberwehte. »Und schließlich wurde uns klar, dass wir es nicht länger ertragen konnten, voneinander getrennt zu sein. Denn dein Dad schaffte es wegen seiner Arbeit so gut wie nie, zu mir runterzufahren, und ich hatte nur selten Fälle außerhalb von Indiana.«
»Also habe ich sie gefragt, ob sie zu mir ziehen will«, sagte Dad.
»Und ich habe Nein gesagt.« Sylvia lachte. »Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, in dieser Wohnung zu leben.«
Ich machte ein finsteres Gesicht. Es gefiel mir ganz und gar nicht, wie sie diese Wohnung sagte. Als wäre es ein schrecklicher Ort. War ihr denn nicht klar, dass dieseWohnung mein Zuhause gewesen war? Dass ich mich dort mehr zu Hause gefühlt hatte als jemals bei Mom in Indiana?
»Also haben wir überlegt, wie wir das Problem lösen könnten«, fuhr Dad fort, der die düsteren Blicke, die ich ihnen zuwarf, entweder nicht wahrnahm oder geflissentlich ignorierte. »Ich hatte mittlerweile erkannt, dass ich Sylvia heiraten wollte, aber ihr war es wichtig, als Familie zusammenzuleben. Sie hatte zu lange in der Stadt gewohnt, und sie hatte recht – diese Wohnung passte einfach nicht mehr zu mir. Es war eine Junggesellenbude und ich wollte ein richtiges Zuhause. Außerdem war ich es allmählich leid, jeden Morgen über eine Stunde zum Sender zu fahren und abends denselben Weg wieder zurück, was absurd viel Zeit und Benzinkosten fraß.«
»Und meine Schwester lebt hier in Hamilton.« Sylvia nahm einen Schluck Kaffee und strahlte mich über den Rand ihrer Tasse an.
»Wir wussten beide, dass das hier der perfekte Ort für uns ist. Letzten Monat haben wir uns verlobt und gestern Abend sind wir endlich mit dem Umzug hierher fertig geworden.«
Ich schaute Dad an und bat ihn stumm, mir eine bessere Erklärung für all das zu liefern. Warum? Warum hatte er sich von dieser Frau überreden lassen, seine Wohnung aufzugeben und hierherzuziehen? Wer war sie, dass sie ihn dazu brachte, sich so zu verändern? Ich wartete immer noch darauf, dass er zu lachen anfing und Hab dich drangekriegt! Du bist voll drauf reingefallen, Winzling! rief. Aber das tat er nicht.
»Ich habe mir eine Lizenz für Illinois besorgt, um hier als Anwältin arbeiten zu können, habe bei meiner alten Kanzlei gekündigt und mir hier in der Nähe eine Stelle gesucht«, sagte Sylvia. »Dein Dad wohnt jetzt auch viel näher am Sender und braucht nur noch eine halbe Stunde zur Arbeit. Und wir beide lieben diese kleine Stadt einfach. Es ist herrlich hier, findest du nicht?«
»Klar«, murmelte ich.
Ich war gerade mal zwanzig Minuten hier und hasste Hamilton schon jetzt aus tiefstem Herzen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber in dem Moment wäre ich lieber bei Mom in Indiana gewesen. Mit ihr wäre ich besser klargekommen als mit den »Überraschungen« hier.
Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass Sylvia Dad dazu gebracht hatte, hierherzuziehen. Hamilton passte so gar nicht zu ihm. Dad mochte bizarre pinke Flamingoskulpturen und seinen riesigen Grill auf der Veranda. Keine makellos weißen Lattenzäune und gepflegten Gärten mit Blumenbeeten. In seiner Wohnung hatten alte Kunstdrucke und Poster in psychedelischen Farben an den Wänden gehangen. Ich glaube, in seinem Schlafzimmer hatte er sogar ein auf schwarzem Samt gedrucktes Elvis-Porträt gehabt. Aber davon war in diesem Haus nichts zu sehen. Blumentapeten. Pastellbilder. Nichts mit Charakter. Alles austauschbar und langweilig.
Ich wollte zurück in die Wohnung. Nach Hause.
Plötzlich hörte ich, wie die Eingangstür aufging.
»Das müssen die Kids sein«, rief Sylvia, sprang auf und lief aus der Küche.
Ich drehte mich entgeistert zu Dad um. »Die Kids?«
»Ach so, ja«, sagte Dad und setzte sich neben mich. »Sylvia hat zwei Kinder.«
Ich brachte keinen Ton mehr hervor. Alles in mir bebte vor Wut, Verwirrung und Überforderung. Aber vor allem vor Wut. Wie konnte diese Frau es wagen, in unser Leben einzudringen und alles auf den Kopf zu stellen? Wie konnte Dad das bloß zulassen? Wie konnte er zulassen, dass diese Frau ihn hierher verschleppte, ohne vorher mit mir darüber zu reden?
»Alles okay, Winzling?« Er strich mir eine Strähne meiner langen kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht.
»Ganz schön viel, was du mir da an Neuigkeiten zumutest, Dad«, sagte ich gepresst.
»Ich weiß«, sagte er. »Tut mir leid. Aber ich bin davon überzeugt, dass ihr bestens miteinander klarkommt. Die Kinder sind wirklich toll und ungefähr im selben Alter wie du. Und Sylvia ist einfach wunderbar, oder?«
Ich schwieg.
»Komm schon.« Er zog mich an sich. »Die beiden waren einkaufen, und ich weiß, dass sie es kaum erwarten können, dich kennenzulernen.«
Sie wussten also von mir? Mich hatte man mit keinem Wort vorgewarnt, aber Sylvias kleine Mistkröten wussten über alles Bescheid? Dad hatte noch nie gern telefoniert, aber es machte mich echt fertig, dass er sich noch nicht mal ein paar Minuten Zeit genommen hatte, um mir zu sagen: »Hey, ich werde heiraten und nach Illinois ziehen!«
Außerdem hatte ich mich nicht von der alten Wohnung verabschieden können. Von dem kühlen Holzboden, auf dem ich an heißen Tagen so gern lag. Von dem Duschvorhang mit den bunten Fischen und der Meerjungfrau. Von dem gottverdammten pinken Flamingo. Es war, als hätte ich keinen Anteil daran gehabt. Als hätte ich nie dorthin gehört.
Tja, in dieses Haus hier gehörte ich genauso wenig. Vielleicht war es das Zuhause von Sylvia und ihren Bälgern und sogar das von Dad – aber es würde nie mein Zuhause sein.
Als Dad und ich gerade aufstehen wollten, ertönte Sylvias Stimme aus dem Esszimmer, und ihre Absätze klackerten über die Fliesen, als sie zurückkam.
»Vielen Dank fürs Einkaufen«, sagte sie. »Greg und Whitley sind vor ein paar Minuten angekommen. Ich kann es kaum erwarten, euch vorzustellen.« Sie trat mit einer Plastiktüte in der Hand in die Küche und sah mich lächelnd an. »Nathan und Bailey freuen sich so, dich kennenzulernen!«
Eine Sekunde später tauchte ein nicht besonders großes blondes Mädchen in der Tür auf, gefolgt von ihrem dunkelhaarigen älteren Bruder. Als sie hereinkamen, fielen die Strahlen der durchs Küchenfenster scheinenden Sonne auf ihre Gesichter.
Ich erstarrte.
Heilige. Scheiße.
Das konnte nicht wahr sein.
Ich kannte den Jungen, der vor mir stand. Aber das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, war er halb nackt, verkatert und völlig übernächtigt gewesen. Es war der Typ, der die Abschlussparty geschmissen hatte. Der Typ, dem ich eine Abfuhr erteilt hatte, nachdem ich sturzbetrunken bis zum Äußersten mit ihm gegangen war.
Kurz spürte ich seine Lippen auf meinem Hals und hörte ihn mit rauer Stimme »Ist das okay?« fragen. Meine Wangen brannten.
»Du«, sagte er, und seine braunen Augen weiteten sich.
»Ihr kennt euch?«, fragte Dad.
»Nein«, sagte ich schnell.
»Wir sind auf dieselbe Highschool gegangen«, sagte er.
Sylvia schien darüber völlig aus dem Häuschen zu sein. »Oh, du bist auch auf der Fairmont gewesen?«, rief sie und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sie war mir definitiv zu touchy. »Greg, davon hast du mir nie etwas erzählt.«
Dad, der neben mir stand, zog ein zerknirschtes Gesicht. »Ich dachte, die Schule würde Fairview heißen … Ein weiterer Beweis für mein außergewöhnlich schlechtes Gedächtnis.«
»Oh Whitley, wenn ich gewusst hätte, dass ihr so nah beieinanderwohnt, hätte ich deinen Vater gebeten, euch beide abzuholen, statt Nathan allein mit dem Bus fahren zu lassen.«
Nathan. So hieß er also.
»Ich kann nicht fassen, dass ihr zwei auf dieselbe Schule gegangen seid.« Sylvia lachte. »Ich meine, was für ein Zufall!«
»Die Welt ist klein«, murmelte ich finster.
»Sehr klein«, sagte Nathan. Er lächelte, aber es wirkte gezwungen. Wenigstens war ich nicht die Einzige hier, die sich unbehaglich fühlte. Er streckte mir steif die Hand hin. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen, Whit.«
»Whitley«, korrigierte ich ihn und schüttelte kurz widerstrebend seine Hand.
»Und das hier ist Bailey.« Sylvia deutete auf das blonde Mädchen – das ich zum Glück nicht kannte. »Sie ist dreizehn und wechselt nach den Sommerferien auf die Highschool. Bailey freut sich unglaublich, dass sie jetzt nicht mehr das einzige Mädchen im Haus ist, und malt sich schon die ganze Zeit aus, was für tolle Dinge ihr zusammen unternehmen könnt.«
»Mom!« Bailey wurde rot.
»Was?«, fragte Sylvia. »Es stimmt doch, oder?«
Sichtlich verlegen wandte Bailey sich mir zu und sagte: »Hi, Whitley. Schön, dich kennenzulernen.«
»Ja, ähm … gleichfalls.«
»Ist das nicht toll, Winzling?« Dad trat neben Sylvia und legte den Arm um sie. »Ihr drei werdet diesen Sommer bestimmt viel Spaß miteinander haben!«
Spaß? Das Wort Spaß wäre mir in diesem Zusammenhang noch nicht mal im Traum eingefallen. Unerträglich, verheerend, qualvoll … Aber nicht Spaß.
Das war ein Albtraum.