Leonhardsviertel - Thilo Scheurer - E-Book

Leonhardsviertel E-Book

Thilo Scheurer

4,9

Beschreibung

Im Herbst 1995 wird der Bankierssohn Anselm Friedmann im Stuttgarter Rotlichtviertel erschossen. Viel zu schnell werden die Ermittlungen eingestellt. 20 Jahre später liegen die Akten beim neugegründeten LKADezernat T.O.M. Ehe sie sich's versehen, stecken Hauptkommissarin Marga Kronthaler und ihr neunmalkluger Assistent Sebastian Franck im Zentrum brisanter Ermittlungen und stoßen auf dubiose Machenschaften im Deutschland der 90er Jahre.

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Thilo Scheurer, Jahrgang 1964, lebt und schreibt in einer Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds. 2012 erschien sein Debütroman »Schwarzer Neckar«, ein Regionalkrimi, im Emons Verlag (Köln). 2013 und 2014 folgten der historische Abenteuerroman »Quadriga« im Bookspot Verlag (München) sowie mit »Letzte Ausfahrt Neckartal« und »Neckarteufel« zwei weitere Kriminalromane im Emons Verlag. Der Autor ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.   Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr.Michael Wenzel, Lille, Frankreich (www.editio-dialog.com).

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lothar Strüh eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-989-9 Cold Case Stuttgart Originalausgabe

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Die meisten unserer heutigen Wahrheiten haben so kurze Beine, dass sie gerade so gut Lügen sein könnten.

Egon Friedell, österreichischer Schriftsteller

Prolog

Schwer und feucht lag der Frühnebel über dem Morgen, der im Grunde noch zur Nacht gehörte. Kaum ein Geräusch durchbrach die Stille im Stuttgarter Leonhardsviertel, das meist nur aus einem Grund aufgesucht wurde: schnelles Vergnügen. Um diese Uhrzeit waren die Kneipen allerdings schon seit Stunden geschlossen, und die letzten Nachtlokale und Clubs entledigten sich in routinierter Art ihrer Gäste.

Eilige Schritte hallten durch das Halbdunkel. Selbst das wenige Licht reichte aus, um das jugendliche Antlitz eines Mannes zu erkennen, der durch die schmutzigen Gassen hetzte. Tatsächlich aber spiegelte sich in seinen Gesichtszügen ein anderer, ungleich stärkerer Eindruck wider: panische Angst. Man musste nicht wissen, vor was er davonlief. Doch ohne jeden Zweifel lief er um sein Leben.

Unvermittelt blieb der junge Mann stehen und drückte sich in den Schatten eines Hauseingangs. Er blickte zurück und suchte die Straße ab, während er mit weit geöffnetem Mund Luft einsog. Sein Brustkorb hob und senkte sich wie ein riesiger Blasebalg. Dennoch reichte keiner dieser Atemzüge aus, das unbändige Verlangen des Körpers nach Sauerstoff zu stillen. Dass er in die falsche Richtung schaute, konnte er nicht wissen. Hätte er seinen Kopf zur anderen Seite gewandt, wäre ihm gewiss die geduckte Gestalt aufgefallen, die eine Pistole mit überlangem Lauf in Händen hielt und auf ihn zuschlich.

Stattdessen drang lediglich ein Rascheln an seine Ohren. Als er den Kopf in die Richtung drehte, aus der das Geräusch kam, hörte er ein helles Pling. Im nächsten Moment existierte nur noch dieser metallische Geschmack in seinem Mund. Es fühlte sich zäher an als Wasser, war jedoch so dünnflüssig, dass es sich schnell im gesamten Mundraum verteilte. Auch in Hals und Rachen, selbst in die Nase drang es. Blitzartig kam die Erkenntnis. Genauso schmeckte Blut: fleischig, roh– metallisch. Und dieser allgegenwärtige Geschmack ließ keinen Zweifel daran, dass das Sterben soeben begonnen hatte.

1

Bis zu zehntausend Erreger pro Quadratzentimeter. Sebastian Franck stierte den Haltegriff an und beschloss, das speckig glänzende graue Plastikteil nur im äußersten Notfall anzufassen, obwohl ein halbes Dutzend blauer Klebeschilder ihn dazu aufforderte. Es gab kaum etwas, das er weniger ausstehen konnte als einen überfüllten Linienbus im morgendlichen Berufsverkehr. Überall schwitzende und schlecht riechende Menschen, die ihm auf die Pelle rückten, seinen Anzug zerknitterten und ihre Bakterien verbreiteten. Zu allem Übel stand seit der letzten Haltestelle eine füllige ältere Frau mit toupierten Haaren direkt vor ihm und quetschte ihre ballongroßen Brüste gegen seine Bauchdecke. Sie schnaufte und schwitzte wie ein Schwerarbeiter auf dem Bau. Die Frau hatte ihren Arm über den Kopf gestreckt und hielt sich an einem der Haltegriffe fest, wodurch sie aussah wie ein unförmiger Fisch am Haken. Dabei präsentierte sie einen handtellergroßen Schweißfleck unter dem Ärmel ihres knallroten Wollblazers. Wenigstens war die Frau so klein, dass ihr Atem nicht bis auf Höhe seiner Nase drang, sondern lediglich mit dem der anderen Passagiere an den Fenstern kondensierte.

Sebastian wandte den Blick von dem blonden Haarknäuel ab, das den chemischen Geruch eines Raumsprays verströmte. Rechts neben der Dicken lümmelten drei pubertierende Mädchen mit dem Rücken zum Fenster auf einer durchgesessenen Sitzbank. Unter den bunten Mützen traten die weißen Kabel von Ohrstöpseln hervor. Alle drei fixierten mit verschlafenen Augen das Display ihres jeweils eigenen Smartphones auf dem Schoß. Gleiche Körperhaltung, gleiches Handymodell. Hätten sie nicht derart unterschiedlich ausgesehen, hätte Sebastian auf eineiige Drillinge getippt. Aber vermutlich ähnelten sich in ihrem Alter alle Mädchen und hörten die gleiche dämliche Hip-Hop-Musik. Glücklicherweise musste er sich nicht mit solchen Blagen herumschlagen.

Abrupt bremste der Bus, und die Fliehkraft quetschte die Brüste der Blonden noch stärker in Sebastians Bauch. Eine äußerst unangenehme Situation. Er murmelte eine Entschuldigung und versuchte, sich wegzudrehen. Ölsardinen in der Dose verfügten garantiert über mehr Freiraum. Schließlich stand er mit dem Rücken zu der Frau und blickte in das gelangweilte Gesicht eines pummeligen, Kaugummi kauenden Teenagers mit Schildmütze, auf der noch das Schild mit der Größenangabe klebte. Seine riesige Nase schwebte direkt vor Sebastians Gesicht, und der Junge schniefte ununterbrochen. Sein Bartwuchs beschränkte sich auf ein flaumiges Etwas an seiner Oberlippe und eine Handvoll längerer Borsten am Kinn. In den Augenwinkeln klebten die letzten Schlafreste, und vermutlich hatte seine Morgentoilette nur aus einem Schwall Deospray bestanden. Zum Glück waren Pickel nicht ansteckend.

Der Bus beschleunigte so ruckartig, dass Sebastian hart auf die Schulter des Pickelgesichts prallte. Vielleicht hätte er doch den Ermahnungen auf den blauen Klebeschildern Folge leisten sollen. Gerade als er einen weniger versifften Haltegriff für seine Hand ausgesucht hatte, bremste der Bus ein weiteres Mal. Sebastian griff daneben und knallte mit dem Hinterkopf auf eine Haltestange. Der Bus fuhr mit einer scharfen Lenkbewegung in eine Haltebucht und kam dann ganz zum Stehen. Zischend öffneten sich die Drucklufttüren, und es kam Bewegung in das Menschenknäuel. Anscheinend wollten genau diejenigen Fahrgäste aussteigen, die sich am weitesten von der Tür entfernt befanden. Das Gedränge im Gang nahm weiter zu, und er war mittendrin.

Er stand kurz davor, einfach auszusteigen und den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Zwei Stationen noch waren es bis zur Bernhardstraße, die im weiteren Verlauf zu der wenig bekannten Liegenschaft B5 des LKA führte: seiner neuen Dienststelle. Er schaute auf seine Armbanduhr. Ein teures Schweizer Modell mit automatischem Werk, wasserdichtem Gehäuse, Kalender und nur einer einzigen Feder für Werk und Wecksystem. Ein Geschenk seines Vaters zum Fünfzehn-Punkte-Abitur. Eine schlichte Schönheit ging von der Uhr auch nach all den Jahren noch immer aus.

Sebastian verzog trotzdem das Gesicht: Viertel vor neun, keine Zeit für den Gang zu Fuß. Immerhin leerte sich jetzt der Bus etwas. Er atmete durch, richtete Krawatte sowie Jackett und spürte, dass sich die Innentasche zu leer anfühlte. Die Brieftasche! Sebastian klopfte Hose und Jackett ab. Nichts. Die Brieftasche fehlte. Er wusste genau, dass er sie am Morgen eingesteckt hatte. Das Pickelgesicht? Er warf seinem Gegenüber einen kritischen Blick zu.

»Ist was?«, fragte der, ohne vom Kaugummikauen abzulassen.

»Jemand hat mich bestohlen.« Sebastian versuchte, im Gesicht des Jungen eine Reaktion zu erkennen.

»Das passiert.« Sein Gegenüber hob die Achseln und ließ das Kaugummi zwischen seinen Zähnen aufblitzen. »Aber vielleicht hat die Dicke da hinter Ihnen etwas damit zu tun. Sie hatte vorhin die Finger in Ihrem Jackett.«

Sebastian fuhr herum und sah, wie der knallrote Blazer nach vorne zum Ausgang strebte, was der Frau trotz ihrer Körperfülle erstaunlich leicht gelang.

Ein weiteres Mal sah er zu dem Jungen. Der nickte ihm auffordernd zu und deutete nach vorne. Sebastian zögerte nicht und drängelte der Alten hinterher, rempelte dabei versehentlich die anderen Fahrgäste an und erntete postwendend den einen oder anderen Fluch.

Die Blonde im roten Blazer kletterte inzwischen die Treppe zum Ausstieg hinunter, während ein älteres Ehepaar den Durchgang vor Sebastian besetzt hielt. In aller Seelenruhe versuchten die beiden, für sich und ihre EDEKA-Plastiktüten Platz in einer Bankreihe zu finden. Mit sanfter Gewalt schob Sebastian die Frau etwas beiseite, machte einen großen Schritt über die Einkäufe am Boden und blieb mit der Fußspitze in einer Schlaufe hängen. Eine Tüte fiel um, und ein gutes Dutzend Äpfel kullerte über den Boden.

»Passen Sie doch auf«, schimpfte der Mann und sah ihn vorwurfsvoll an.

Für gewöhnlich hätte Sebastian sich mehrmals entschuldigt und beim Einräumen geholfen. Doch der rote Blazer hatte inzwischen den Bus verlassen. So zuckte er nur mit den Schultern und wandte sich wieder nach vorne. Er verabscheute es, sich so zu benehmen.

»Elende Rowdys«, hörte er den älteren Mann in seinem Rücken fluchen.

Sebastian erreichte die erste Sitzreihe hinter dem Fahrer, als erneut das Zischen von Druckluft erklang und sich die Türen mit einem lauten Klappern schlossen.

»Stopp, ich muss hier raus!«, rief er schnell und trat auf die Treppe hinunter zum Ausstieg.

»Jetzt isches z’spät«, entgegnete der Fahrer in breitestem Schwäbisch. Der dickliche Mann im dunkelblauen Pullunder über einem blau-weiß karierten Kurzarmhemd machte ein wichtiges Gesicht.

»Nein, ist es nicht. Sie müssen nur nochmals auf den grünen Knopf da drücken.«

»Saget Se mir ned, was i dua soll.« Er musterte ihn von oben bis unten, schien jedoch noch unentschlossen, ob er dem Wunsch seines Fahrgastes nachgeben sollte.

»Bitte, es ist sehr dringend«, schob Sebastian nach und hielt den Kopf schief.

Der Fahrer ließ geräuschvoll den Atem entweichen, als müsste er für das Drücken des Knopfes extra Kraft sammeln. Eine gefühlte Ewigkeit später betätigte er endlich den Türöffner. »Aber bloß des eine Mol.«

Natürlich nur dieses eine Mal. Sebastian hatte nicht vor, nochmals ein- und auszusteigen. Er bedankte sich artig, stieg die Stufen hinunter und hielt nach der blonden Frau im roten Blazer Ausschau. Und er entdeckte sie tatsächlich noch an der Haltestelle. Sie schien auf den nächsten Bus zu warten. Wie abgebrüht musste jemand sein, der nach einem Taschendiebstahl einfach stehen blieb, als ob nichts gewesen wäre?

Sebastian trat vor die Blonde. Sie strahlte über das ganze Gesicht, und als sie ihn anlächelte, bildeten sich lustige Fältchen um Mund und Nase. Sie schien jünger, als er auf den ersten Blick angenommen hatte; er schätzte sie auf höchstens vierzig.

»Grüß Gott«, sagte sie und nickte freundlich.

Die Frau wich seinem Blick nicht aus und zeigte auch sonst keinerlei Nervosität. Im gleichen Augenblick kam Sebastian siedend heiß ein Verdacht. Der Verdacht, wie ein Anfänger reingelegt worden zu sein. Hinter sich hörte er den Bus anfahren und fuhr herum. An einem der Fenster entdeckte er den pickelgesichtigen Teenager. Mit der flachen Hand klopfte der sich ein paarmal auf seine imaginäre Brusttasche. Dann zuckte der Junge mit den Achseln und grinste.

Sebastian rannte los, und für einen Moment sah es so aus, als ob er den Bus einholen könnte. Doch nach wenigen hundert Metern lichtete sich der Verkehr, der Bus beschleunigte und bog an der nächsten Kreuzung rechts ab. Sebastian hatte keine Chance mehr, egal, wie er sich auch anstrengen würde. Mit rasselndem Atem blieb er stehen und stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab. Der Bus verschwand hinter der nächsten Häuserzeile. Er konnte es nicht glauben. Ein Kriminalpolizist, der sich von einem Teenager bestehlen und zu allem Übel gleich darauf noch reinlegen ließ. Er verfluchte seine Dämlichkeit.

Nach einer Weile beruhigten sich Atem und Herzschlag etwas, die Wut im Bauch blieb. Jetzt würde er doch zu Fuß gehen müssen. Sebastian blickte zum Himmel. Immerhin sah es nicht nach Regen aus. Neben überfüllten Bussen und noch einigen anderen Dingen, die allesamt mit zu vielen Menschen zu tun hatten, hasste er nichts mehr als Schmutzflecken auf seiner Anzughose und den polierten Schuhen.

Vorhin noch war er sich sicher gewesen, das Richtige getan zu haben, als er seinem Vater den MercedesSL Roadster ausgeliehen hatte. Arthur Franck hatte ihn um den Wagen gebeten. Für zwei Wellnesswochen mit seiner neuen Herzensdame ins Allgäu. Ein dummer Anflug von Sentimentalität, musste sich Sebastian jetzt eingestehen. Hätte er mit dem Wagen fahren können, wäre das mit dem Diebstahl nicht passiert. Wie sollte er die zwei Wochen mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchstehen? Aber was tat man nicht alles für den eigenen Vater, dessen dritter Frühling offensichtlich soeben begonnen hatte.

Er wusste, die neue Frau an Vaters Seite tat dem zweiundsechzigjährigen Mann gut. Auch wenn die dunkelhaarige Ines auf Sebastian etwas zu aufreizend wirkte und beinahe dreißig Jahre jünger war. Gut und gerne hätte sie auch die Tochter sein können. Aber vielleicht war da auch unterschwellig die Furcht, dass sie es nur auf Arthurs Geld abgesehen haben könnte. Und die blieb bestehen, obwohl er Ines ergebnislos in den Polizeiregistern überprüft hatte: keine Einträge, nicht einmal wegen unbezahlter Strafzettel.

Sebastian näherte sich einer Brücke, überquerte in gut zehn Metern Höhe eine lärmende Schnellstraße und wich einer Horde Radfahrer aus, die den breiten Gehweg in Beschlag nahm, als ob es sich um ihre Privatstraße handelte. Als Streifenpolizist hätte er nicht gezögert und die Bande zu einem nicht zu knappen Bußgeld verdonnert. Aber so beließ er es bei einem tadelnden Blick, für den sich freilich niemand interessierte.

Nach dem Tod der Mutter hatte es fast acht Jahre gedauert, bis sein Vater wieder eine andere Frau angeschaut hatte. Eine schwere Zeit. Besonders weil er immer großen Wert auf seine Selbstständigkeit gelegt hatte. Unterstützung von anderen Menschen, sogar von seinen eigenen Söhnen, hatte Arthur immer abgelehnt. Auch dann, als das Schicksal erneut zugeschlagen hatte. Damals, vor bald fünf Jahren, als Sebastians Bruder Daniel durch die Kugel eines Bankräubers zu Tode gekommen war.

Beinahe so schlimm wie der Verlust des Bruders wog die Tatsache, dass die Polizei es bis heute nicht geschafft hatte, Daniels Mörder zu fassen. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Es konnte kein Täter ermittelt werden wie bei mehr als zweitausend anderen vollendeten Straftaten gegen das Leben, wie die offizielle Bezeichnung lautete. Und jedes Jahr kamen Dutzende neue dazu. Doch Mord verjährt nie. So wurden die Deckel der zugehörigen Ermittlungsakten zwar irgendwann geschlossen, aber nie für immer. Und Sebastian hatte sich nach dem Abbruch seines Literaturstudiums fest vorgenommen, möglichst viele dieser Mörder zu überführen.

Das Hupen eines Autos riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf und bemerkte, dass er mitten auf der Fahrbahn stand und die Fußgängerampel auf der anderen Straßenseite Rot zeigte. Er hob seine Hand und deutete eine Entschuldigung in Richtung des Ford Fiesta an, der kaum zwei Meter vor ihm zum Stehen gekommen war. Die junge Frau hinter dem Steuer antwortete, indem sie sich ein paarmal mit dem Zeigefinger auf die Stirn tippte. Sebastian machte einige Schritte rückwärts, während sie in einem großen Bogen an ihm vorbeifuhr und dabei den Kopf schüttelte.

Die Gebäude in der Bernhardstraße standen weit auseinander. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie sich so perfekt in die Umgebung einfügten, die mehr nach einer vornehmen Villengegend aussah als nach einem städtischen Büroviertel. Die wellige Landschaft war in ein saftiges Grün getaucht, mächtige alte Laubbäume säumten die Straße. Die LKA-Liegenschaft B5 mit der Hausnummer22 erinnerte ihn auf den ersten Blick an Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt. Zwar hatte er sich die Adresse gestern noch in Google Maps per Street View angeschaut, doch mangels weiterer Bilder kannte er das dreistöckige Bauwerk lediglich aus der Vogelperspektive.

Sebastian trat durch das schmiedeeiserne Tor, das offenbar der einzige Durchgang zu dem vollständig eingezäunten Grundstück war. Schon von Weitem räumte ein weiß emailliertes Schild neben der mächtigen doppelflügeligen Eingangstür seine letzten Zweifel aus. Das baden-württembergische Landeswappen sowie die Bezeichnung »Landeskriminalamt Außenstelle B5«, getrennt durch ein schmales schwarz-gelbes Rechteck, verkündeten den offiziellen Zweck des Gebäudes.

Hinter der Tür im Halbdunkel befand sich ein weitläufiger Vorraum. Im Schachbrettmuster führten schwarze und weiße Marmorfliesen zu einer Steintreppe an der gegenüberliegenden Seite. Doch schon nach wenigen Metern sorgte ein mannshoher stählerner Gitterzaun dafür, dass kein Unbefugter diese Stufen je erreichen würde. Wer dorthin wollte, musste zuerst an dem älteren Mann in Uniform vorbei, der hinter einer schusssicheren Scheibe rechts des Eingangs saß und durch die Gläser einer dicken Hornbrille die Zeitung las. Das Datum der Zeitung zeigte den vergangenen Samstag.

Mit einem lauten Knall fiel die schwere Tür hinter ihm ins Schloss, und prompt hatte er die volle Aufmerksamkeit des Pförtners, der die Zeitung sinken ließ. Das silberfarbene Namensschild an seiner Brust wies ihn als »Queschke« aus. Er sah über den Rand der Brille und sagte mit einem leichten pfälzischen Dialekt: »Nicht so schnell, junger Mann. Zu wem wollen Sie?«

»Mein Name ist Sebastian Franck. Franck mit ck. Ich trete heute meinen Dienst beim Dezernat T.O.M. an. Ich bin doch hier richtig, oder?«

Queschke nickte ein paarmal und betrachtete dabei Sebastian abwechselnd durch und über seine Brillengläser. Seine wasserblauen Augen unter den buschigen Brauen wirkten wach und aufmerksam. »Können Sie sich ausweisen?«

»Ja.« Sebastian wollte nach seiner Brieftasche greifen, stockte aber mitten in der Bewegung. Natürlich konnte er sich nicht ausweisen.

»Was ist?« Zwei tiefe Falten traten senkrecht auf Queschkes Stirn. »Haben Sie Ihren Ausweis vergessen?«

»So ähnlich…« Sein erster Arbeitstag fing nicht gut an.

Queschke hob die Augenbrauen, griff zum Telefonhörer und wählte die Dreiundzwanzig.

Irgendwo bellte ein Hund.

»Queschke hier«, meldete er sich. »Morgen, Fräu… äh Frau Hegel. Hier ist jemand für euch. Aber er kann sich nicht ausweisen.«

Queschke schaute auf. »Sebastian Franck, sagt er.« Erneut nickte er ein paarmal. »Gut.«

»Und, was ist?«, erkundigte sich Sebastian, nachdem der Mann aufgelegt hatte.

»Jemand holt Sie gleich ab.« Queschke nahm die Zeitung wieder zur Hand und lehnte sich zurück. Für ihn war die Sache damit offenbar erledigt.

Sebastian wartete kaum eine Minute vor dem Durchgang des Stahlgitters, bis er schnelle Schritte auf der Treppe hörte. Sekunden später kam aus dem Halbdunkel eine junge Frau Anfang zwanzig mit bleichem Gesicht und halblangen pechschwarzen Haaren auf ihn zu. Auf ihrem dunklen Top über dem lilafarbenen Shirt prangte ein weißer Totenkopf. Dazu trug sie eine schwarze, weit geschnittene Cargohose, besetzt mit unzähligen Taschen und Riemen. Ihre Füße steckten in glänzenden Plateauschuhen mit bestimmt fünf Zentimetern Sohlenstärke. Um Hals und Handgelenke baumelte ein gutes Dutzend Ketten, Ringe und Riemen.

Sie lächelte und entblößte eine Art Zahnpiercing zwischen den oberen Schneidezähnen. Dann drückte sie einen Knopf. Ein Summer erklang, und die Tür sprang auf.

»Hallo, Herr Franck. Ich bin Franziska Hegel, Ihre neue Kollegin«, stellte sie sich vor und reichte ihm eine schmale Hand mit schwarz lackierten Fingernägeln. »Sie können mich Franzi nennen. Alle hier nennen mich Franzi.« Sie schaute kurz zu Queschke. »Alle außer Q.«

»Q?«, wiederholte Sebastian mit der gleichen englischen Aussprache wie Franziska und schielte zum Pförtner, der in seiner Zeitung blätterte und sie offenbar nicht gehört hatte.

»Unser Haus-und-Hof-Gremlin. Er nennt mich tatsächlich noch ›Fräulein‹. Obwohl ich’s ihm verboten habe. Das kriegt er irgendwann zurück«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand.

Sebastian musste grinsen. »Dann werde ich Sie sicherheitshalber Franzi nennen.«

Franziska erwiderte sein Lächeln, dabei blitzte erneut ihr Zahnpiercing auf. »Ich hab Sie gestern noch gegoogelt und Ihr Facebook-Profil mitsamt Foto gefunden.«

»Und was macht Sie so sicher, dass dieses Foto kein Fake ist? Oder das ganze Profil?«

Für einen kurzen Moment trat ein nachdenklicher Ausdruck auf ihr Gesicht, das durch die schwarz geschminkten Augen noch bleicher wirkte. »Intuition«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, und wandte sich der Treppe zu. »Ich bringe Sie hoch zur Chefin. Die hat bereits nach Ihnen gefragt.«

»Ich bin zu spät, ich weiß.« Trotz ihrer hochhackigen Stiefel hatte Sebastian einige Mühe, Franziska auf der Treppe zu folgen.

Das erste Türschild im zweiten Stock trug die Aufschrift »2.11 Dezernatsbüro T.O.M.– KKCem Akay«.

»Das ist Cems und mein Büro, obwohl von mir nichts draufsteht«, erklärte Franziska, als sie Sebastians Blick bemerkte. »Ich bin noch im letzten Praxisjahr. Aber vielleicht wird’s ja bald was mit dem Namen.«

Auf der schräg gegenüberliegenden Tür konnte er lesen: »2.12 Dezernatsassistenz T.O.M.– KOK Sebastian Franck«. Franziska ging weiter und blieb vor der letzten Tür im Flur stehen. »2.13 Dezernatsleitung T.O.M.– KHK Marga Kronthaler«, stand auf dem Schild an der Wand.

»Warten Sie hier kurz. Ich gebe der Chefin Bescheid, dass Sie da sind.« Franziska machte kehrt und verschwand durch die Tür zu ihrem Büro.

Das hatte er sich ganz anders vorgestellt. Sollte er jetzt hier warten wie ein Arbeitsloser beim Arbeitsamt? Oder musste er zuerst eine Nummer ziehen?

Sebastian schlenderte den Flur entlang, blieb vor seinem zukünftigen Büro stehen und starrte auf das Namensschild. Im Glas spiegelte sich sein Gesicht. Er richtete den Krawattenknoten und zog sein Jackett glatt.

»Sind Sie der Neue?«, hörte er plötzlich hinter sich eine rauchige Stimme. »Sie sind spät.«

Sebastian fuhr herum und ging ein paar schnelle Schritte auf die Frau zu.

Das war sie also, seine neue Chefin. Auch sie hatte er sich anders vorgestellt: kurze Haare, dunkler Hosenanzug, weiße Bluse und cremefarbene Nylonstrümpfe. Stattdessen stand eine Frau in den Fünfzigern mit schulterlangen rotblonden Haaren auf dem Flur und musterte ihn aus einem Auge. Anstelle des Hosenanzugs trug sie Röhrenjeans, anstelle der Bluse ein enges dunkelgrünes Miss-Sixty-Batik-Shirt. Eigenartiger Kleidungsstil. Doch am meisten irritierte, nein störte ihn der Rauch der filterlosen Zigarette im Mundwinkel, der sie dazu zwang, das andere Auge zusammenzukneifen. Offenbar hielt sie nicht allzu viel vom Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden. Oder sie nahm sich ein Beispiel an Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der es sich nicht hatte vorschreiben lassen, wo er rauchen durfte.

»Hat’s Ihnen die Sprache verschlagen? Sie sind doch der Herr Franck, mein neuer Assi, oder?« Ihr Dialekt klang wie eine abgeschwächte Form des Busfahrer-Schwäbischen von vorhin: einigermaßen verständlich. Und ohne die Zigarette in ihrem Mund würde Sebastian sie gewiss noch besser verstehen.

Er schüttelte den Kopf, dann nickte er. Auf einem dieser Hippie-Festivals in den Siebzigern hätte die Frau in der knallengen Jeans sicherlich eine gute Figur gemacht. Aber in die Büroräume des LKA wollte sie beim besten Willen nicht passen.

Sie nahm tatsächlich die Zigarette aus dem Mund. »Was jetzt? Ja oder nein?«

»Nein, mir hat es nicht die Sprache verschlagen, und ja, mein Name ist Franck, Sebastian Franck mit ck.« Er versuchte sich an einem Lächeln.

»Gut, Herr Franck mit ck. Mein Name ist Marga Kronthaler ohne ck. Und ich bin Ihre Chefin.«

Jetzt keine Schwäche zeigen oder gar wegschauen. Für den ersten Eindruck gab es keine zweite Chance. Er nickte ruhig und wachsam.

Marga nahm einen tiefen Zug von der Zigarette, ließ den Rauch langsam entweichen und betrachtete ihn dabei von oben bis unten. »Was ist das?«

Stimmte etwas nicht mit seiner Kleidung? Saß das Jackett oder die Krawatte nicht richtig? Sebastian schaute an sich hinunter. Nein, alles war perfekt. »Was meinen Sie?«

»Na, das Zeugs hier.« Sie fuchtelte mit der brennenden Zigarette vor seiner Brust herum.

»Das ist meine Krawatte. Ich trage immer Anzug und Krawatte.«

»Haben Sie nichts Bequemeres zum Anziehen?«

»Doch, aber nicht im Dienst.«

»Das kann ja heiter werden.« Wieder musterte sie ihn. »Was ist? Warten Sie auf eine Führung?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Gut. Dann gehen Sie jetzt zu unserem Quotentürken und lassen sich alles zeigen.« Marga drehte sich um und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen.

Und jetzt? Wer war dieser »Quotentürke«, und wo konnte er ihn finden? Der Name auf dem ersten Türschild: Cem Akay?

Ohne anzuklopfen, betrat Sebastian das Zimmer mit der Nummer2.11, das größer war, als er erwartet hatte. Das Erste, was ihm auffiel, waren die immensen Aktenmengen, die der Raum aufnehmen konnte. Rechts vom Eingang und an der angrenzenden Wand breiteten sich bestimmt zehn Regalmeter mit Ordnern aus. Doch auch diese Fläche schien nicht auszureichen. In Dutzenden Umzugskisten am Boden, auf einem größeren Tisch und den zugehörigen Stühlen lagerten nochmals so viele Ordner und Aktenmappen in allen Farben und Größen. Sie reichten von dünnen Heftchen über armdicke Exemplare bis hin zu Ordnern, aus denen die Seiten herausquollen. Sebastian entdeckte das Wappen des LKA sowie einiger Polizeidienststellen im Land.

Im linken Teil des Raumes standen zwei Schreibtische vor einem Fenster einander gegenüber. Leiser Rock’n’ Roll dudelte aus einem Lautsprecher auf der Fensterbank. Er tippte auf Elvis Presley. Auf der rechten Seite saß Franziska und winkte ihm einzutreten. Der Mann ihr gegenüber hatte einen südländischen Einschlag und schien nicht viel älter als sie. Er trug ein rot-schwarz kariertes Flanellhemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte. Sebastian kam sogleich ein Teddybär in den Sinn: klein, rund, haarig, mit schwarzen Knopfaugen.

Der Mann hievte sich mit einem leisen Ächzen aus dem Stuhl und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Hallo, Herr Franck«, begann er und hielt Sebastian seine mächtige Rechte hin. »Mein Name ist Cem Akay. Seit heute sind wir wohl Kollegen.«

Sebastian ergriff die Hand, die kaum weniger behaart war als das Gesicht des Mannes mitsamt Hals bis hinunter zum Kragen des weißen Knopfleistenshirts. »Hallo, Herr Akay.«

»Nennen Sie mich doch Cem.« Er lächelte unverbindlich.

»Gerne.« Sebastian ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Die Akten hier drinnen reichen bestimmt für zwei Ermittlerleben.«

»Da könnten Sie recht haben.« Cem kratzte sich am Kopf. »Aber wir sind schon dabei, sie zu priorisieren.«

»Nach welchen Kriterien?«

»Zuerst nach Tatzeit, dann nach Anzahl und Güte der damals sichergestellten Humanspuren.« Er sprach langsam und betonte jedes einzelne Wort, als wäre es so wichtig wie ein ganzer Satz.

»Erneute forensische DNA-Analyse?«

Cem nickte bedächtig, seine pechschwarzen Locken schaukelten dazu im Takt. »Im Labor können die heute Spurenarten untersuchen, die vor einigen Jahren noch als nicht auswertbar galten.«

Sebastian nickte. Kaum ein Feld der Kriminalistik hatte in den letzten Jahren so viele Fortschritte gemacht wie die forensische DNA-Analyse.

»Ich habe gerade wieder so einen Fall. Er stammt aus dem Jahr 1995.« Cem deutete auf eine dünne rote Aktenmappe, die aufgeschlagen neben einer Reihe leerer Chai-Gläser auf seinem Schreibtisch lag. »Da war ich gerade mal fünf Jahre alt.« Er grinste kurz, wurde aber sofort wieder ernst. »Auf der Kleidung des Opfers wurden damals DNA-Spuren festgestellt, aber nicht weiterverfolgt. Vielleicht weil sie zu klein waren, oder man hat sie als nicht relevant eingestuft.«

»Wie viele Fälle mit solchen Spurenträgern gibt es?«

Statt zu antworten, deutete Cem auf die Regalreihen an der gegenüberliegenden Wand.

»Was, die alle?«, entfuhr es Sebastian.

»Nicht alle, nur die in den linken beiden Regalen. Das sind die Ordner mit den weißen Rückenschildern. Franzi hat sie alle beschriftet. Wie viele sind es bis jetzt, Franzi?«

Franziska zuckte mit den Schultern. »Gezählt hab ich sie nicht. Aber in der Packung mit den Rückschildern sind immer fünfzig. Und letzten Freitag hab ich die dritte Packung aufgemacht.«

»Und die Akten, die in den Kartons liegen, müssen noch priorisiert werden, richtig?«

»Genau.« Cem seufzte und machte ein bedauerndes Gesicht. »Soll ich Ihnen nicht besser zuerst Ihr Büro zeigen? Der Anblick dieser Aktenberge holt einen schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. So ging’s mir jedenfalls.«

Sebastian ließ seinen Blick ein weiteres Mal über die Kartons, Ordner und bunten Mappen gleiten.

»Hier muss irgendwo der Schlüssel sein.« Cem wandte sich seinem Schreibtisch zu und kramte in einer der Schubladen.

Sebastian hätte später nicht sagen können, warum er einen Blick in die offene Ermittlungsakte auf Cems Schreibtisch warf. Als er jedoch das Foto sah, zuckte er zusammen.

2

Mit verschränkten Armen stand Marga Kronthaler am Fenster und betrachtete die alten, knorrigen Laubbäume am Straßenrand. Genauso fühlte sie sich. Bäume haben viel gesehen. Manchmal zu viel. Bäume haben Geduld. Noch acht Jahre bis zur Pension. Bäume laufen nicht weg. Auch wenn das Disziplinarverfahren noch weit Schlimmeres mit sich bringen könnte als die Versetzung hierher. T.O.M., wie viel dämliches Pathos musste im Kopf jenes Heinis vom Innenministerium herumgeschwirrt sein, als er dieses Scheißdezernat auf die Abkürzung für »Tote ohne Mörder« getauft hatte? Mordfälle, die schon seit Jahren niemand aufklären konnte. Bäume wissen alles. Welch idiotische Idee, ausgerechnet eine zweiundfünfzigjährige Kriminalbeamtin mit zwei Frischlingen könnte daran etwas ändern. Und auch dieser neue Spargeltarzan, dieser Franck mitck, würde ihre Chancen wohl kaum erhöhen. Tanzt mit Schlips und Kragen hier an. Wer trägt denn so was heutzutage überhaupt noch? Politiker, Banker und die Zeugen Jehovas kamen ihr in den Sinn. Bäume sind stolz. Der Typ hatte ihr gerade noch gefehlt.

Wie aus der Ferne vernahm sie ein flüchtiges Klopfen, und die Tür ging auf. Im nächsten Moment stand der Spargeltarzan mit einer roten Aktenmappe unter dem Arm mitten im Raum und sah sich um, als ob er etwas suchen würde.

»Sie schauen so munter, Herr Franck. Was gibt’s denn?« Marga versuchte einigermaßen freundlich zu wirken, obwohl ihr nicht im Geringsten danach zumute war. Nicht nach den letzten beiden Wochen.

Sebastians Blick blieb für einen Moment an ihrem Schreibtisch hängen. »Eckstein No.5? Ich wusste gar nicht, dass man die noch kaufen kann.«

Marga schielte zur Zigarettenpackung auf der ledernen Unterlage und runzelte die Stirn. »Sie kennen die Marke? Dazu sind Sie doch viel zu jung.«

»Mein Großvater hat dieses Zeugs geraucht. Bestimmt drei Schachteln am Tag. Er ist an Lungenkrebs gestorben.«

Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel kurz zuckten. »Sind Sie gekommen, um mir diesen Scheiß zu erzählen?«

»Nein, natürlich nicht.« Sebastian zog die Aktenmappe unter seinem Arm hervor. Umständlich klappte er sie auf und hielt ihr das Foto eines weißen Sportwagens vor die Nase. »Deswegen.«

Marga kniff die Augen zusammen, schaute kurz auf das Bild und wieder zu ihm. Wie gerne wäre sie wieder alleine. Was musste sie sagen, damit er bald das Zimmer verließ?

»In der Akte liegt das Foto eines Porsche Carrera. Das hier ist ein RSR2.8.«

»RSR2.8, schön.« Marga gab sich keinerlei Mühe, nicht mürrisch zu klingen. »Aber was wollen Sie mir damit sagen, Herr Franck?«

»Der Wagen gehörte Anselm Friedmann, dem Mordopfer.«

Sie legte den Kopf schief. »Deswegen ist vermutlich auch das Bild in der Akte.«

»Genau. Aber das Interessante daran ist, dass der Wagen seit der Tatnacht als verschwunden galt.«

»Galt?«, echote sie.

»Ja, galt. Aber dazu komme ich gleich. Sie müssen wissen, auf dem Foto hier kann man gut die perlmuttweiße Lackierung und die zusätzlich montierten Cibié-Scheinwerfer erkennen.«

»Perlmuttweiß… und zusätzlich montierte was?« Von was faselte der Spargeltarzan denn da?

»Perlmuttweiß und zusätzlich montierte Cibié-Scheinwerfer.« Sebastian hob die Augenbrauen. Er schien nicht glauben zu können, dass sie ihm immer noch nicht folgen konnte. »Wissen Sie nicht, was das bedeutet?«

»Nee.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie erwarten jetzt aber nicht, dass ich es errate?« Warum kam der Mann nicht endlich auf den Punkt?

»Perlmuttweiß ist keine Serienlackierung. Auch die Cibié-Scheinwerfer sind nicht serienmäßig.«

Marga hob die Achseln. »Wenn das so ist, gibt’s wohl nicht allzu viele dieser Wagen.«

»Das ist es ja gerade. In dieser Kombination wahrscheinlich nur einen einzigen, um präzise zu sein. Und genau der hier ist erst vor ein paar Wochen im Internet bei einer Versteigerung aufgetaucht. Er ging für zweihundertfünfzigtausend Euro über den Tisch.«

»Eine Viertelmillion Euro?« Marga stieß einen leisen Pfiff aus. »Da gibt jemand sein Geld mit offenen Armen aus.«

»Geld… mit offenen Armen?« Sebastian hob die Augenbrauen. »Es heißt ›Geld mit vollen Händen ausgeben‹ oder ›mit offenen Armen empfangen‹. Aber nicht beides zusammen.«

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, fischte Marga eine Zigarette aus der Packung, klopfte auf ihrem Daumen den Tabak fest und zündete sie an. Musste sie ausgerechnet an so einen verdammten Klugscheißer geraten? Sie nahm einen tiefen Zug und ließ den Rauch langsam in seine Richtung entweichen. »Ich meine, wer zahlt denn so viel für ein Auto? Ist das Chassis mit Blattgold überzogen?«

»Für einen Porsche Carrera RSR2.8?« In Sebastians Stimme lag ein Hauch von Ehrfurcht. »Das sind Liebhaberstücke. Davon gibt’s höchstens ein paar hundert Stück. Und die meisten davon sind irgendwo im Ausland.«

»Porsche Carrera, soso. Ich kannte mal einen Typen, der hat seine Bulldogge Carrera genannt– ohne RSR. Obwohl das Vieh sich nur zum Fressnapf bewegt hat. Deswegen war er wohl so fett und wurde nicht alt. Der Hund, meine ich.«

»Frau Kronthaler, bitte. Über den Verkäufer des Wagens finden wir vielleicht eine neue Spur, die uns zum Täter führt.«

»Mein lieber Scholli. Das ist Ihr erster Tag. Sie verschwenden wohl keine Zeit. Aber lassen Sie sich nicht aufhalten.« Ihre Chancen stiegen, dass sie ihn gleich wieder loswurde.

Sebastian hob den Kopf. »Sollen wir Vorermittlungen einleiten?«

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Im Display erschien die Handynummer ihres Ex-Mannes. Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. Bestimmt nichts Erfreuliches.

Marga sah zu Sebastian, dann wieder auf das Telefon. »Das ist privat. Aber Sie wollten sowieso den Verkäufer dieses Wagens ermitteln. Dann machen Sie mal.«

Sebastian schickte sich an, den Raum zu verlassen.

Marga wartete, bis die Tür im Schloss lag, und nahm das Gespräch entgegen. »Was gibt’s«, knurrte sie in den Hörer.

»Mal wieder gute Laune, Marga?«, kam es zurück. Rolfs Stimme hörte sich verzerrt an. Vermutlich lag er um diese Zeit noch mit seiner Neuen im Bett. Auf ihrem Scheißbauernhof, irgendwo in der Pampa zwischen Leipzig und Magdeburg, wo es nicht einmal genügend Sendemasten gab.

»Verdammt, was willst du?«, fragte sie lauter als nötig und ahnte schon den Grund.

»Wenn du mich gleich so direkt fragst: Die Bank hat vorhin angerufen.« Auch Rolf hatte seine Stimme angehoben.

Das war nur eine Frage der Zeit gewesen. Trotzdem spielte sie weiter die Unwissende. »So? Wegen was denn?«

»Du hast die letzten vier Raten für das Haus nicht bezahlt«, drang es vorsichtig aus dem Hörer.

»Tatsächlich?« Sie wusste, dass er ihr die Ahnungslosigkeit nicht abnehmen würde.

»Ja, tatsächlich.«

Statt etwas darauf zu erwidern, lauschte sie seinen Atemgeräuschen. Wie in den achtundzwanzig Ehejahren, wenn sie nicht wusste, was sie als Nächstes sagen sollte.

»Marga, ich habe dir bestimmt schon tausendmal gesagt, dass ich das Haus übernehmen kann.«

Das war der falsche Ratschlag. Sie spürte, wie ihr die Galle hochkam, und stieß voller Wut die nur halb gerauchte Zigarette so lange in den Aschenbecher, bis sie erlosch. »Damit du mich rausschmeißen kannst und mit deiner kleinen Schlampe einziehen? In mein Haus? In mein Bett? Vergiss es!«

Sie dachte an Lea, Rolfs Neue. An das honigsüße Lächeln, das immerzu auf ihren vollen Lippen lag. Vermutlich waren die so wenig echt wie ihre überdimensionierten Brüste. Marga betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster, straffte den Rücken und drückte mit der freien Hand ihren Busen hoch. Eigentlich konnte sie ganz zufrieden sein mit ihrer Figur. Nur die Falten um die Augen und die Orangenhaut an den Beinen störten etwas. Deswegen ging sie so ungern ins städtische Schwimmbad. Wenn sie tatsächlich auf etwas neidisch sein wollte, dann auf Leas straffe Haut. Vermutlich hatte die noch keine Cellulite. Irgendwie auch kein Wunder mit Anfang dreißig.

»Ich schmeiß dich nicht raus, Marga«, hörte sie Rolfs Stimme, der sich Mühe gab, sie zu beschwichtigen. »Du kannst bleiben. Ich habe hier in Kömmering alles, was ich zum Malen brauche. Da stimmt das Atelier, das Licht, die Umgebung.«

Und dein verfluchtes Sexleben, ergänzte Marga in Gedanken. Rolf war immer noch so berechenbar. Früher das ewige Talent, das mit nur einer einzigen Vernissage zum erfolgreichen Künstler wurde. Schon damals musste nur eine mit dem Arsch wackeln, und er konnte seinen Blick nicht losreißen. Sie wollte gar nicht wissen, wie viel Mal er sie mit irgendwelchen Mädchen betrogen hatte, die für ihn Modell standen.

»Was hältst du davon?«, holte Rolf sie aus ihren Gedanken.

»Gar nichts.«

»Denk doch mal nach, Marga. Es ist die beste Lösung– für uns beide. Ich möchte doch nicht, dass sie uns… dass sie dir das Haus wegnehmen.«

»Ich kläre das«, gab Marga mit einer großen Portion Trotz in ihrer Stimme zurück und knallte den Hörer auf die Gabel. Sie sah zum Laubbaum vor dem Haus. Ein älterer Mann mit Trenchcoat und hellgrauem Tirolerhut wartete geduldig, bis sein Dackel den Baum als geeignete Pinkelstation akzeptierte und das Hinterbein anhob. Bäume werden angepisst.

Warum zum Teufel musste sie immer so impulsiv sein? Marga hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie das Problem mit den Raten klären konnte. Sollte sie auf der Bank anrufen und erneut um Stundung bitten? Nur für ein paar Monate, bis dieses verdammte Disziplinarverfahren abgeschlossen war. Vielleicht würde die Bank einem Beamten die Bitte auch beim zweiten Mal nicht sofort abschlagen. Schließlich hatte sie bis an ihr Lebensende ein gesichertes Einkommen. Falls, ja falls sich diese dumme Angelegenheit mit dem Marihuana aus der Welt schaffen ließ. Ansonsten, so hatte ihr Vorgesetzter nicht nur einmal angemerkt, wäre neben der Versetzung auch eine Kürzung der Dienstbezüge, sogar eine Aberkennung des Ruhegehalts in Betracht zu ziehen. Und das alles nur wegen Rolf, ihrer Orangenhaut und einem Scheißjoint.

Marga sah zum Schreibtisch. Sie würde anrufen. Bald. Ihr Blick blieb am goldgerahmten Porträt ihrer Söhne hängen. Die beiden waren so verschieden. Alex, der ältere mit dem strengen Gesichtsausdruck, kam ganz nach ihr. Er studierte Maschinenbau in Offenburg und wohnte mit seiner Freundin zusammen. Sie sah ihn nur noch selten. Daneben der siebzehnjährige Lukas, der bisher nicht wusste, was er mit seinem Leben anfangen sollte, und wohl in zehn Jahren noch zu Hause wohnte. Nicht einmal der Führerschein interessierte ihn. Vor einem halben Jahr hatte sie ihn dann quasi genötigt, irgendetwas zu tun. Immerhin fuhr er jetzt mit dem Motorroller Pizza aus.

Das Telefon starrte sie an wie eine Schlange. Es half nichts. Sie musste anrufen. Gleich. Mindestens genauso unwillig wie bei Rolfs Anruf nahm Marga schließlich den Hörer in die Hand und wählte die Nummer dieses Bank-Fritzen, die sie inzwischen auswendig kannte. Sie füllte die Anrufliste ihres Mobiltelefons. Schmid-Irgendwas. Schon aus Prinzip wollte sie sich den Namen nicht merken.

Während es klingelte, sah sie den spaßfreien Jungspund im dunklen Anzug und der immer gleichen lachsfarbenen Krawatte vor sich. Vermutlich war er nicht viel älter als Alex, fühlte sich aber offenbar bereits als Nachfolger des Filialleiters. Er trug sogar die gleiche Frisur in Form eines überlangen Haarwischs, der wirr über seiner Halbglatze lag. Bei ihm sah es aus wie ein angetackertes Pelztier. Das letzte Mal, als sie diesen Schmid-Dingens in der Bank aufgesucht hatte, war sich Marga vorgekommen wie ein Schulmädchen, das ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat.

Danach hatte sie beschlossen, alle Geschäfte mit ihm nur noch per Telefon zu erledigen. Und sich so bald wie möglich eine neue Bank zu suchen. Falls sie mit dem Kredit an der Backe überhaupt eine finden würde.

»Stuttgarter Bank. Sie sprechen mit Bernd-Friedrich Schmidberger«, kam es zuckersüß aus dem Hörer. »Was kann ich für Sie tun?«

Mich kreuzweise am Arsch lecken, hätte Marga am liebsten geantwortet. Doch stattdessen meldete sie sich mit einem knappen und eisigen »Kronthaler«.

»Ah, Sie sind’s«, kam es nach kurzem Zögern zurück. Marga konnte förmlich die Kälte spüren, die mit seiner Stimme durch den Hörer kroch. Offenbar kannte er ihre dienstliche Telefonnummer nicht und hatte mit jemand anderem gerechnet.

»Hören Sie, Herr Schmid… das mit den Raten…«, begann sie und versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen. Um jeden Preis wollte sie den Eindruck vermeiden, sie hätte die Situation nicht im Griff.

»Schmidberger«, unterbrach er. »Inzwischen müssten Sie meinen Namen kennen, so viel, wie wir beide miteinander zu tun haben.« Er ließ ein falsches Lachen folgen.

»Herr Schmidberger, ja.« Marga setzte sich hin. Vielleicht wurde sie im Sitzen ruhiger. »Sie haben mich angerufen. Es geht vermutlich um die Raten für das Haus.«

»Genau. Die letzten vier Raten wurden mangels Deckung zurückgebucht. Frau Kronthaler«, er ließ seinen Atem geräuschvoll entweichen, »das geht so nicht. Wir hatten eine Vereinbarung.«

Mit dem Zeigefinger ihrer freien Hand spielte sie am Spiralkabel des Telefonhörers. Schnell hatte sich ein regelrechtes Knäuel um ihre Finger gebildet. »…das ist natürlich richtig, Herr…«

Marga versuchte, das Kabel wieder zu entwirren. »Aber ich befinde mich derzeit in einem kleinen finanziellen Engpass.« Hoffentlich nahm er ihr die Ausrede ab. Etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein.

»In einem kleinen finanziellen Engpass… derzeit?« In der Frage schwang unverkennbar Skepsis mit. »Hatten Sie das beim letzten Mal nicht auch schon gesagt? Lassen Sie mich nachschauen. Das war, ja, hier steht es, das war…«

Vor drei Monaten, vervollständige Marga in Gedanken und hatte ihre Finger endlich aus dem Kabel befreit. Sie tastete nach der Zigarettenpackung, konnte sich aber gerade noch dazu durchringen, keine herauszunehmen.

»…im Januar dieses Jahres«, kam es nach einigem Rascheln aus dem Hörer.

»Das könnte hinkommen.« Sie räusperte sich. »Aber dieser Engpass besteht immer noch.«

»Und wie lange wird dieser Engpass noch andauern, wenn ich fragen darf?« Schmidberger betonte das Wort »Engpass« auf eine ungehörige Art und Weise.

Hörbar blies Marga Luft zwischen ihren Lippen hindurch. »Vielleicht ein Vierteljahr.«

»Ein Vierteljahr?«

»Höchstens«, schob Marga schnell nach und sprang von ihrem Stuhl auf. War sie zu weit gegangen?

»Frau Kronthaler, ich denke nicht, dass ich das alleine entscheiden kann. Da muss ich meinen Filialleiter mit ins Boot holen, den Herrn Broski.«

»Dann machen Sie das doch einfach. Und sobald Sie und der Herr Broski Näheres wissen, rufen Sie mich wieder an. Meine Nummer haben Sie ja.« Hatte sie tatsächlich so schnell ein paar Tage Zeit gewonnen?

Schmidberger schnaufte in den Hörer. »Nein, auch das geht nicht einfach so. Sie müssen schon vorbeikommen und etwas unterschreiben.«

Verdammt. Genau das hatte sie eigentlich vermeiden wollen: eine neue Unterschrift, einen neuen Vertrag.

»Ich schlage vor, dass Sie heute Nachmittag um vierzehn Uhr zu mir ins Büro kommen. Bis dahin habe ich alles mit Herrn Broski geregelt. Ich hoffe, das passt Ihnen.« Seine Stimme hatte wieder jenen zuckersüßen Tonfall angenommen.

Sie trat ans Fenster. In der Zwischenzeit war der pissende Dackel mitsamt seinem Herrchen verschwunden. So schnell, wie sie Zeit gewonnen hatte, zerrann sie ihr nun wieder zwischen den Fingern. Aber wenn sie nicht zusagte, würde bald jeder Geldautomat in Stuttgart ihre EC-Karte einbehalten. »Das kann ich einrichten.«

»Gut. Dann erwarten wir Ihren Zahlungsplan. Heute Mittag um zwei Uhr. Wiederhören, Frau Kronthaler.«

»Genau.« Marga legte auf. Vollidiot. Sie hasste Banker. Und zwar alle.

3

Auf der dunkelbraunen Schreibtischplatte hatte sich eine Staubschicht gebildet. Sebastian pustete einen Platz für die rote Aktenmappe frei, erst dann legte er sie ab. Auch sein Büro hatte er sich anders vorgestellt. Neben dem Schreibtisch samt Telefon, paketgroßem Bildschirm, Maus und Tastatur gab es in dem muffig riechenden Raum lediglich einen Drehstuhl sowie einen vollkommen leeren Rollladenschrank. Immerhin entdeckte er auf den ersten Blick keine Spinnweben in den Ecken. Dafür einige tote Fliegen auf dem Boden und den Stiel einer pinkfarbenen Fliegenklatsche, der unter der Tastatur hervorragte.

Sebastian suchte den Computer zum Bildschirm und fand unter dem Schreibtisch eine grau-beige, klobige Kiste, zu der die Kabel führten. Er drückte den Einschaltknopf, doch nichts geschah. Schon wollte er nachschauen, ob der Netzstecker überhaupt eingesteckt war, da erklang ein kümmerliches Piepsen, und quälend langsam begann der Bootvorgang. Diese alte Kiste sollte sein Arbeitsgerät sein? Das musste er schleunigst ändern. Schon morgen würde er sein Notebook mitbringen. Zumindest für den Zugriff auf das Internet. Niemals würden sie ihm erlauben, seinen privaten Computer an das Netzwerk des LKA anzuschließen.

Missmutig schob er die Gardinen des rückwärtigen Fensters beiseite, das mit einer akzeptablen Größe und einem französischen Balkon überraschte. Helles Sonnenlicht flutete den Raum und ließ Staub über seinem Schreibtisch tanzen.

Vor ihm breitete sich ein unerwartet großer, gepflegter Garten aus. Kiesbestreute Wege führten über einen akkurat gemähten Rasen, vorbei an immergrünen Büschen und Blumenbeeten zu einem Tümpel. Wenigstens lag das Büro nicht an der Straße, zudem hatte es einen schönen Ausblick mit frischer Luft. Sebastian versuchte, die Fensterflügel zu öffnen. Es knarrte und quietschte, und Farbreste rieselten zu Boden. Ruckartig ging der linke Flügel auf, während der rechte wie zementiert festsaß. Sofort drang das Quaken Dutzender Frösche und das Zwitschern der Vögel an sein Ohr. Irgendwo heulte eine Motorsäge.

Zu der angenehm kühlen Luft, die in den Raum strömte, gesellte sich schnell ein modriger, fauliger Geruch. Er schaute über das Geländer und musste sich die Nase zuhalten. Direkt unter dem Fenster lag ein Berg Grasschnitt vermischt mit gehäckselten Zweigen und Blättern. Es roch nach Kompost, und ein Mückenschwarm hatte den Luftraum über dem stinkenden Haufen in Besitz genommen.

Als ob sie nur auf das Öffnen des Fensters gewartet hätte, schwirrte mit einem Mal eine Schmeißfliege von der Größe einer Haselnuss durch Sebastians Büro. Während das Insekt in wilden Pirouetten den Raum auskundschaftete, verursachte es einen Lärm wie ein Doppeldecker. Vermutlich lag deswegen auch die pinkfarbene Fliegenklatsche in Schlagdistanz. Schnell schloss er das Fenster wieder, und das Brummen über seinem Kopf schwoll weiter an.

Inzwischen zeigte der Computer die LKA-Anmeldeseite mit dem Benutzernamen »TOM« und forderte ihn zur Eingabe eines Passwortes auf. Sebastian zog den Bürostuhl unter seinem Schreibtisch hervor und klopfte mit der Hand den Staub aus der Sitzfläche. Er setzte sich, nahm die Tastatur von der Fliegenklatsche und starrte auf das Eingabefeld. Sollte er nach dem Passwort fragen? Später vielleicht. Nach dem unangenehmen Beginn dieses ersten Arbeitstages musste er seinen Ehrgeiz befriedigen. Und einen frisch eingerichteten Computer zu benutzen dürfte kein allzu großes Hindernis darstellen. Besonders wenn man wie er die Liste der zehn unsichersten Passwörter kannte. Damit war es ein Kinderspiel, auf gut und gerne die Hälfte aller Computer dieser Welt zuzugreifen.

Sebastian tippte »123456« und drückte die Entertaste. Der Computer quittierte seine Eingabe mit der Meldung »Falsches Passwort«. Gut, dann eben »qwertz«. Doch auch dieses funktionierte nicht. Genauso wenig wie »dragon«, »abc123« und »password«. Aber vielleicht hatte der Administrator in einem Anflug von Sicherheitsdenken ja ein achtstelliges Passwort vorausgesetzt. Mit »12345678« landete Sebastian tatsächlich einen Augenblick später auf der Startoberfläche für die Programme.

Nicht weit über seinem Kopf zog die Schmeißfliege noch immer laut brummend ihre Bahnen. Er griff nach der Fliegenklatsche. Darum würde er sich gleich kümmern. Sobald diese Schrottkiste so lief, wie er wollte. Sebastian suchte das Icon des Internetbrowsers und startete das Programm. Während er die Fliege mit nur einem Auge verfolgte, sah er, dass statt des Anwendungsfensters eine Sanduhr auf dem Bildschirm erschien. Hatte er tatsächlich etwas anderes erwartet?

Die Fliege kam näher und umkreiste den Monitor. Sebastians Hand schloss sich fester um den Stiel der Fliegenklatsche. Langsam hievte er sich aus dem Stuhl, ohne den dicken Brummer aus den Augen zu lassen. Das Vieh drehte noch zwei Kurven und ließ sich ausgerechnet auf dem Deckel der roten Aktenmappe nieder.

»Mordsache Anselm Friedmann« und »Vorläufig geschlossen«, stand da in Schreibmaschinenschrift neben dem baden-württembergischen Polizeistern. Unterhalb hatte jemand handschriftlich ergänzt: »Weitergabe TOM.«

Nerviges Vieh. Mit der Akte wollte er in den nächsten Stunden arbeiten. Und den Dreck würde er nie mehr vom Karton abkriegen. Er scheuchte die Fliege mit der Hand auf, die sogleich wieder ihre Runden über dem Bildschirm zog. Sekunden später lag ihr nächster Landeplatz auf der Schreibtischplatte, kaum eine Handbreit neben der Mappe. Sebastian zögerte einen winzigen Moment und schlug dann zu. Staub wirbelte auf, und irgendwo im Raum brummte die dicke Fliege. Es war, als ob sie ihn auslachte. Er setzte sich wieder hin.

Inzwischen war der Browser bereit. Sebastian legte die Fliegenklatsche beiseite und gab die Adresse des Online-Auktionshauses für Sportwagen ein. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sich die Website aufgebaut, und er konnte nach dem Porsche Carrera RSR2.8 suchen. Schon mit dem ersten Treffer hatte er den Wagen gefunden. »Verkäufer Rasputin57«, stand dort und weiter unten: »Diese Auktion ist beendet. Das letzte Gebot lag bei 249.000€.«

Er schlug die Aktenmappe auf, suchte das Bild und hielt es neben die Bildschirmfotos. Kein Zweifel. Es handelte sich eindeutig um denselben Wagen. Sogar der kleine dunkle Fleck im Glas des linken Cibié-Scheinwerfers war auf beiden Fotos zu erkennen.

Sebastian nahm den Telefonhörer zur Hand und wählte die Dreiundzwanzig. Es klingelte, und statt ihren Namen zu sagen, meldete sich Franziska mit: »Woher kennen Sie meine Durchwahl?«

»Ich hab einfach mal die gleiche Nummer gewählt wie vorhin Queschke.«

Aus dem Hörer drang ein erstauntes »Oh«.

»Gut, Franzi, können Sie kurz in mein Büro kommen? Ich hätte da einen kleinen Job für Sie.«

»Wirklich? Ich bin gleich bei Ihnen«, kam es zurück. »Die Rückenschilder können bestimmt noch ein Weilchen warten.«

Sebastian legte auf und klickte sich durch die Liste der Gebote zur Auktion. Er machte acht verschiedene Bieter aus, wobei ab hundertsechsundzwanzigtausend Euro nur noch zwei davon mitgeboten hatten. Oder einer, wenn man davon ausging, dass der zweite Bieter der Verkäufer des Wagens gewesen sein könnte, der nur den Preis nach oben treiben wollte.

Nach einem leisen Klopfen stand Franziska in der Tür.

Sebastian winkte sie zu sich, wartete, bis sie neben dem Schreibtisch stand, und deutete auf den Bildschirm. »Das ist die Versteigerung des Fahrzeuges aus der Mordsache Anselm Friedmann. Das war vor ein paar Wochen.«

Franziskas Blick pendelte zwischen dem Bildschirm und dem Foto in der Akte hin und her. »Sie haben recht, das ist eindeutig derselbe Wagen.«

»Genau. Und ich will wissen, wer ihn verkauft hat. Das Konto trägt den Namen ›Rasputin57‹. Sie rufen jetzt bei der Auktionsplattform an und versuchen, Namen und Anschrift in Erfahrung zu bringen. Und wenn Sie schon dabei sind, auch gleich von den anderen Bietern und dem Käufer. Lassen Sie sich nicht abwimmeln. Zur Not drohen Sie gleich mit einem richterlichen Beschluss und einer Hausdurchsuchung.«

Franziska nickte.

»Kriegen Sie das hin?«

»Klaro. Wenn Sie mir den Link der Website schicken.« Sie klimperte mit ihren schwarz geschminkten Augen.

Sebastian schaute auf. »[email protected]

»Ja. Aber woher wissen Sie…?«

»Ich weiß, wo Sie arbeiten, und kenne Ihren Vor- und Nachnamen.« Sebastian konnte sich einen amüsierten Unterton nicht verkneifen. »Bis wann sind Sie so weit?«

»Ich fange gleich damit an«, sagte Franziska, machte jedoch keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Stattdessen blickte sie sich um. »Nervt Sie die Fliege nicht?«

Sebastian folgte ihrem Blick und fand das Vieh weit über ihren Köpfen, wo es seine Runden zog. »Doch.«

»Das Brummen würde mich auch nerven.« Franziska wandte sich der Tür zu, drehte sich aber im nächsten Moment wieder um. »Was hören Sie eigentlich so, Herr Franck?«

»Ich glaube, ich verstehe nicht richtig.«

»Na, welche Art von Musik Sie hören. Jeder Mensch hört doch irgendwelche Musik…«

»Ach, Sie meinen klassische oder leichte Musik.«

Franziska verzog das Gesicht. »Nein, das meinte ich nicht. Ich dachte da eher Black oder Heavy Metal.«

»Metal?« Sebastian hatte Mühe, seine Verwunderung zu verbergen. »Ich denke nicht, dass ich das mag.«

»Kennen Sie Black Metal?« Franziska sprach plötzlich schneller und lauter. »Die meisten Menschen haben nämlich Vorurteile, wenn sie das Wort nur hören.«

»So? Glauben Sie?« Natürlich hatte er Vorurteile. Die Bilder vom letzten Wacken Open Air blitzten in seinem Kopf auf. Tausende Menschen, die sich bei Wind und Wetter im Schlamm suhlten. Nie würde er freiwillig dorthin gehen. Er würde sich diesem norddeutschen Kaff während der Festivalzeit nicht einmal nähern.

»Was hören Sie dann?« Franziska zog die Augenbrauen zusammen. »Doch nicht Elvis oder so was?«

»Ich höre mir eher ernsthafte Musik an. Beethoven, Schubert und so weiter.«

»Als ich hier anfing«, Franziska redete, als ob sie seine Antwort entweder nicht gehört hätte oder geflissentlich ignorierte, »musste ich mir wegen Cem den ganzen Tag dieses Rock-’n’-Roll-Zeugs anhören. Jetzt haben wir uns darauf geeinigt, morgens Elvis, nachmittags Metal.«

»Das ist schön für Sie«, gab Sebastian zurück, obwohl er heilfroh war, nicht in Cems Haut zu stecken. Dann doch lieber den ganzen Tag Elvis.

Franziska stemmte die Fäuste in die Hüften. »Sie sollten wirklich mal mitgehen.«

»Mitgehen? Wohin?«