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Wie soll die Kindererziehung sein: autoritär oder eher antiautoritär? Das interessiert nicht nur die Eltern, sondern selbstverständlich auch die Kinder. Auch in der Parkschule ist dies ein großes Thema, das fast aufgeregt diskutiert wird. Olga, Katrin, Ruth und Silvy befassen sich intensiv damit und es macht sich dabei positiv bemerkbar, dass sie echte Freundinnen und damit ein tolles Team sind. Und so gelingt es ihnen, mit einer sehr guten Vorführung Lehrer wie Schüler von der Richtigkeit ihrer Behauptungen zu überzeugen. Man sieht, wie weit man kommen kann und wie viel Spaß man dabei haben kann, wenn man zusammenhält.-
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Seitenzahl: 135
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Leonore setzt sich durch
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1972 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719541
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Die Eßlinger Zeitung:
„Eine lehrreiche Geschichte, die zeigt, daß nicht alles zu erreichen ist mit Lidschatten und Wimperntusche und daß es viel wichtiger ist, eine gute Kameradin zu sein – auch den Jungen gegenüber.“
Von Marie Louise Fischer gibt es 22 Schneider-Bücher mit einer Gesamtauflage von 2 Millionen.
Die Sommerferien waren vorüber, und die Freundinnen aus der Parkschule waren in die nächste Klasse aufgestiegen. Sie begrüßten sich mit Hallo und suchten sich ihre Plätze im neuen Schulraum.
Auch Herr Alte wurde freudig willkommen geheißen. Alle waren froh darüber, daß er im neuen Schuljahr ihr Klassenlehrer blieb, denn inzwischen kamen sie prächtig mit ihm zurecht.
„Wir haben ihn uns erzogen“, pflegte Katrin mit der großen Klappe bei passender Gelegenheit zu behaupten.
Am ersten Morgen gab es noch keinen Unterricht, sondern es wurde nur der Stundenplan ausgegeben und von den Ferien erzählt.
Kaum war Herr Alte gegangen, schlug Katrin vor, gleich die Klassensprecherin zu wählen. „Alles herhören!“ rief sie. „Ich schlage Olga vor! Sie war ja nur knapp einen Monat an der Reihe, und ich finde, daß sie sich doch bewährt hat!“
„Wer die meisten Stimmen hat, siegt!“ Leonore schnipselte Rechenpapier in gleichmäßige Streifen und verteilte sie unter ihre Mitschülerinnen.
Jede kritzelte einen Namen auf das Papier, legte es zusammen und warf es dann in den Korb, den Katrin durch die Reihen gehen ließ.
Katrin öffnete die Wahlzettel am Lehrertisch, zählte sie aus – und siehe da, die rothaarige Olga war erneut zur Sprecherin gewählt worden, diesmal in geheimer und gesetzmäßiger Wahl.
„In Anerkennung deiner Verdienste!“ erklärte Katrin begeistert und klopfte ihr kräftig auf die Schulter.
Auch die anderen gratulierten herzlich.
Nur die spitznasige Silvy stichelte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Bilde dir bloß nichts drauf ein, Olga! Wer, außer dir, will schon dieses blöde Amt haben?“
Olga konnte nicht verhindern, daß sie einen roten Kopf bekam. Aber statt wie früher einzuschnappen, parierte sie tapfer: „Sei bloß still, du! Aus dir spricht ja nur der blasse Neid!“ Sogar ein Lächeln brachte sie dabei zustande.
„Bravo!“ rief die kleine Ruth und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. „Du machst dich!“
Olga strahlte, und Katrin riß ihren großen Mund auf und lachte so ansteckend, daß sogar Silvy mit einstimmte.
Keiner der Freundinnen fiel es auf, daß Leonore nur ein recht süßsaures Lächeln zustande brachte. Fast zwei Jahre war sie selber Klassensprecherin gewesen und hatte dieses Amt, davon war sie überzeugt, zur allgemeinen Zufriedenheit vertreten. Zwar hatte sie behauptet, es längst satt zu haben, und immer wieder vorgeschlagen, daß mal eine andere an die Reihe kommen sollte, aber im geheimen hatte sie eben doch gehofft, daß die Mitschülerinnen auf sie zurückkommen würden. Schließlich war sie die bravste und die vernünftigste in der Klasse. Wenn es einen Streit zu schlichten gab, war immer sie es, die auf den Plan trat und das Kunststück fertigbrachte.
Leonore war nicht nur bei ihren Mitschülerinnen angesehen und beliebt, sondern, vielleicht sogar mehr noch, bei den Erwachsenen. Es wollte ihr nicht in den Kopf, daß es ausgerechnet Olga, der überempfindlichen und unsicheren Olga, gelungen war, sie auszustechen.
Aber sie dachte nicht daran, ihrem Ärger auf diese oder jene Weise Luft zu machen, sondern sie fraß ihn, wie es ihre Art war, still in sich hinein. Es wäre ihr schrecklich gewesen, wenn die anderen sie durchschaut hätten. Doch sie schämte sich auch vor sich selber. Wie konnte sie nur so kindisch sein!
Zu Hause beim Mittagessen berichtete sie so beiläufig wie möglich von dem Ereignis.
„Olga? Da kann ich mir vorstellen, wie stolz sie ist!“ sagte ihre Mutter. „Eigentlich hätte ich ja gedacht, du würdest wieder an die Reihe kommen.“
„Ich? Aber, Mutti!“ Leonore brachte sogar ein kleines Gelächter zustande. „Wie kommst du denn darauf? Ich habe doch gar nicht kandidiert.“
„Wohlweislich“, bemerkte Peter, einer der beiden älteren Brüder und duckte den Kopf, als wenn er einen Klaps erwartete.
„Was willst du damit sagen?“ fragte Leonore prompt.
„Daß bestimmt niemand so eine Tugendtante wie dich wählen würde“, behauptete Paul, der wie fast immer die Gedanken seines Zwillingsbruders erraten hatte.
Leonore schwieg betroffen.
„Ihr seid wieder mal recht häßlich, ihr beiden“, tadelte die Mutter.
„Wir sagen bloß, was wahr ist“, beharrte Paul.
„Sie ist nun mal ‘ne olle Spaßverderberin!“ stimmte Peter zu.
Jetzt hatte Leonore die Sprache wiedergewonnen. „Ist doch gar nicht wahr!“ rief sie.
„O doch!“
„Du merkst es bloß nicht mehr!“
Leonore war nahe daran, wütend zu werden, aber dann beherrschte sie sich und zuckte die Achseln. „Ich denke gar nicht daran, mich in einen Streit mit euch einzulassen“, erklärte sie hoheitsvoll, „ihr wollt mich ja bloß ärgern.“
„Sehr klug von dir, Leonore!“ lobte die Mutter und stand auf. „Würdest du so lieb sein und heute für mich die Küche machen? Ich muß dringend zum Friseur.“
Leonore war mit den Freundinnen verabredet. Es war einer der letzten schönen Tage, und sie hatten alle zusammen ins Freibad gehen wollen. Unwillkürlich zog sie ein Gesicht. Aber es kam ihr gar nicht in den Sinn, sich zu weigern. „Können mir die Jungens nicht dabei helfen?“ fragte sie nur.
Die beiden waren mit einer Entschuldigung schnell bei der Hand. „Ausgeschlossen!“ riefen sie. „Wir haben heute nachmittag Sport!“ – „Und dazu einen Riesenhaufen Schularbeiten!“ – „Wenn wir im Haushalt helfen sollen, werden wir nie fertig!“ – „Und außerdem ist das keine Sache für Männer!“
„Das sieht euch mal wieder ähnlich“, stellte Frau Müller kopfschüttelnd fest.
„Sei nicht traurig, Leonore“, tröstete der kleine Andy, „ich hilfe dir!“
„Erstens heißt es ‚ich helfe’“, verbesserte ihn die Schwester, „und zweitens kenne ich deine Hilfe. Du läufst mir doch nur zwischen den Füßen herum, und ich muß froh sein, wenn du mir nichts zertöpperst.“
Andy war nicht beleidigt. „Na, dann nicht, liebe Tante!“ sagte er nur.
„Wenn ich fertig bin“, fragte Leonore, „darf ich dann fort, Mutti?“
„Ich werde so schnell wie möglich wieder zurück sein“, versprach die Mutter, „aber bis dahin … Jemand muß doch auf Ina aufpassen.“
Leonore seufzte. Die dreijährige Ina hatte vorgegessen und lag schon in ihrem Bettchen; man konnte nicht von ihr verlangen, daß sie alleine aufstand und sich anzog.
„Also gut, Mutti“, versprach Leonore, „ich mache es.“
Frau Müller lächelte ihr zu. „Meine Große! Ich wüßte nicht, was ich ohne dich anfangen sollte!“
Für dieses Lob der Mutter hätte Leonore noch ganz andere Opfer gebracht.
Sie räumte den Tisch ab, spülte, trocknete ab und räumte auf, und bei alledem war sie ganz zufrieden, denn ihr Tun gab ihr ein Gefühl von Wichtigkeit; sie fand sich so angenehm erwachsen.
Als es klingelte, lief sie mit umgebundener Küchenschürze, ein Tuch in der Hand, zur Haustüre. Katrin und Ruth standen draußen und wollten sie abholen. Katrin trug ihren Badeanzug in einem zusammengerollten Frottiertuch unter dem Arm, und Ruth schwenkte eine schicke orangerote Leinentasche.
„Tut mir leid, ich kann nicht mitkommen“, erklärte Leonore; sie hatte heiße Wangen vor lauter Arbeitseifer bekommen. „Meine Mutter ist beim Friseur, und ich muß die Küche machen.“
„Wir helfen dir!“ rief Katrin sofort. „Paß mal auf, zu dreien schaffen wir das im Nu!“
Leonore schüttelte ihre braunen Locken. „Lieb von euch, aber es nutzt nichts. Ich muß auch noch auf Ina aufpassen.“
„Konnte das nicht ausnahmsweise mal einer von deinen Brüdern tun?“ fragte Ruth mit ihrem hellen Stimmchen.
„Geht nicht. Die haben Sport.“
„Sport! Ha! So kann man es nennen.“ Katrin stützte die Fäuste in die Hüfte. „Weißt du, was die tun? Rollschuh laufen!“
„Wir haben sie gesehen!“ bestätigte Ruth.
„Das ist ein starkes Stück!“ entfuhr es Leonore.
„Kann man wohl sagen!“ rief Katrin. „Weißt du, was? Du machst die Küche fertig, und wir holen sie.“
„Die kommen nicht!“
„Das wollen wir doch mal Sehen! Los, Ruthchen! In die Startlöcher … eins, zwei …“
Leonore ließ sie nicht aussprechen. „Bitte nicht! Ich weiß, ihr meint es gut, aber es geht nicht. Ich könnte Ina den beiden nie anvertrauen, sie sind zu unzuverlässig.“
„Das redest du dir nur ein“, widersprach Katrin, „sie sind immerhin zwei Jahre älter als wir.“
„Das Alter allein macht es nicht“, erklärte Leonore weise.
„Nein, aber deine Blödheit!“ sagte Katrin unumwunden. „Die beiden sind schlau und stellen sich doof … Und du bist so dämlich und läßt dir jede Arbeit und jede Verantwortung aufs Auge drücken!“
„Du hast keine Geschwister!“ Leonore warf den Kopf zurück. „Was verstehst du schon davon!“
„’ne ganze Menge! Für so was braucht man keine Geschwister, sondern nur seinen gesunden Menschenverstand.“
„Den solltest du lieber in der Schule anwenden!“
„Tue ich das etwa nicht? Gib nicht so an, ich stehe mindestens so gut wie du … Wobei ich bemerken muß, daß dies überhaupt kein Grund ist, sich was darauf einzubilden.“
„Warum schmierst du es mir dann aufs Butterbrot?“ gab Leonore gereizt zurück.
Katrin legte Ruth die Hand in den Nacken. „Komm, Kleine, hier vertrödeln wir nur unsere Zeit. Überlassen wir das Hausmütterchen seinem Schicksal, und trollen wir uns. Anscheinend genießt sie es noch, sich aufzuopfern. Da kann man nichts machen. Geschmäcker und Ohrfeigen sind eben verschieden.“
Ruth lachte und ließ sich von der Freundin mitziehen.
Leonore sah ihnen nach. In ihrem Herzen wollte sich ein Gefühl des Bedauerns regen, aber sie unterdrückte es. Die beiden waren dumme Gänse ohne eine Spur von Verantwortungsbewußtsein. Von denen würde sie sich bestimmt nicht verschreiben lassen, wie sie sich zu verhalten hatte.
In der Diele lief ihr Andy entgegen. „Ich bin fertig mit Schula … Ich geh raus!“
Sie erwischte ihn am Kragen. „Zeig es mir erst mal!“
„Muß das sein?“ maulte er.
„Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?“
„Quatsch. Ich weiß bloß, wie pingelig du bist.“ Er versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden. „Vati kann es heute abend nachsehen.“
„Kommt gar nicht in Frage. Vati hat den ganzen Tag gearbeitet und braucht seine Ruhe. Außerdem spekulierst du nur darauf, daß keiner daran denkt, dich zu kontrollieren.“
„Na, und wenn? Was wäre schon dabei? Es genügt doch, wenn unser Fräulein mit mir zufrieden ist!“
„Bist du sicher, daß sie das sein wird? Dann ist es ja gut … Dann brauchst du auch keine Angst zu haben, es mir zu zeigen.“ Halb schob, halb zog sie den widerspenstigen Jungen in sein Zimmerchen hinauf und ließ ihn den Schulranzen noch einmal auspacken.
Als erstes fiel ihr das Heft mit den Rechenaufgaben in die Hand. Sie nahm sich die Mühe, jede einzelne Lösung nachzuprüfen, fand zwei Fehler und ließ sie verbessern.
„Na, das ging ja“, sagte sie gnädig, „wenn du auch ruhig ein bißchen ordentlicher schreiben dürftest. Ich wundere mich, daß du deine eigenen Zahlen überhaupt lesen kannst.“
Andy schwieg.
Leonore schlug sein Schreibheft auf. „Das ist ja grauenhaft!“ rief sie, kaum daß sie einen Blick auf seine Arbeit geworfen hatte.
„Nicht ein einziger Fehler!“ schrie der Junge. „Lies doch nach! Ich habe nichts falsch gemacht!“
„Aber wie das geschmiert ist … Nein, so kannst du das nicht in der Schule vorzeigen!“
„Doch, kann ich! Was geht dich das an?“ Andy wollte ihr das Heft aus der Hand reißen.
Sie gab ihm einen Klaps auf die Finger. „Willst du wohl!“
Andy heulte auf.
„So“, sagte Leonore und zog einen dicken Strich quer über die Seite, „und jetzt schreibst du das Ganze noch mal – aber gefälligst sauber und ordentlich!“
„Wie ich dich hasse!“ schrie Andy. „Du bist gemein … einfach gemein bist du!“
„Später einmal“, erklärte Leonore, „wirst du mir dankbar sein.“
Sie hörte ihn noch schluchzen, als sie ins Treppenhaus trat.
„Mutti! Mutti!“ rief Ina. „Bin schon wach!“
Leonore seufzte. „Ich komme.“
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, daß Ina noch eine gute halbe Stunde länger schlafen würde, so daß sie erst noch den Abendbrottisch hätte decken können. Aber heute lief anscheinend alles schief. Woher kam das bloß? An ihr, dachte sie, konnte es jedenfalls nicht liegen. Sie tat wie immer ihre Pflicht. Es war Andy gewesen, der Ina mit seinem Geschrei geweckt hatte. Aber der war schon genug gestraft.
Ina stand in ihrem Gitterbettchen. „Wo ist Mutti?“ fragte sie.
Leonore lächelte ihr zu. „Heute werde ich dich mal anziehen.“
Ina ließ sich mit einem Plumps auf die Matratze fallen. „Nein! Mutti soll kommen!“
Es gab Leonore einen Stich, aber sie ließ sich nichts anmerken. „Da kannst du lange warten“, sagte sie nur, „Mutti ist gar nicht da.“ Sie kniete sich neben das Bettchen. „Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?“
„Du hast Andy gehaut!“
„Ist gar nicht wahr!“
„Doch! Hab ich gehört!“
„Dann hast du dich verhört. Er heult bloß, weil er seine Schularbeiten noch mal machen muß.“
„Warum?“
„Weil er geschmiert hat.“
Ina runzelte die Stirn. „Muß ich auch meine Schularbeiten noch mal machen?“
Leonore lachte. „Nicht, wenn du ganz ordentlich und hübsch schreibst, und das wirst du doch bestimmt tun.“
Ina hatte ihre Brüder zu oft über irgendwelchen Schulärger jammern oder schimpfen hören, um sich so schnell beruhigen zu lassen. „Weiß nicht“, meinte sie skeptisch und legte das Köpfchen schief.
„Aber ich!“ behauptete Leonore. „Nun komm!“
Die Kleine hielt sich am Gitter fest und zog sich hoch. „Ist Schulegehen schlimm?“
„Bis es bei dir soweit ist, hast du noch Jahre Zeit! Mach dir darüber doch jetzt noch keine Sorgen!“ Leonore lachte.
„Mach ich aber doch“, erklärte Ina ernsthaft.
„Wozu hast du deine große Schwester? Wenn alle Stricke reißen, helfe ich dir einfach“, versprach Leonore.
„Au ja!“ Dankbar schlang Ina die Ärmchen um Leonores Hals.
Leonore hob das warme kleine Bündel aus dem Bettchen und drückte es fest an sich. „Mein Schatz!“ Sie fühlte sich wohl in ihrer Lieblingsrolle; aller Ärger und alle Enttäuschungen waren vergessen.
Wenig später, nachdem sie Ina aufs Töpfchen gesetzt und angezogen hatte und mit ihr die Treppe hinunter wollte, hörte sie ersticktes Schluchzen und wütendes Gemurmel aus Andys Zimmer. Sie trat, Ina an der Hand, bei ihm ein.
Andy warf sofort seinen Oberkörper schützend über das Schulheft.
Aber Leonores Stimmung hatte sich geändert; sie war nicht mehr die strenge Schwester, sondern sie empfand Mitleid mit dem kleinen Jungen. „Na, geht es denn gar nicht?“ fragte sie milde.
Andy merkte sofort den Umschwung. „Ich kann nicht“, heulte er verzweifelt, „ich gebe mir solche Mühe – aber ich kann einfach nicht!“
Leonore zog das Heft unter ihm fort. Was Andy sich da geleistet hatte, war wirklich grauenhaft. Er hatte noch viel schlechter geschrieben als beim ersten Mal und zudem noch Tintenkleckse und Schmierspuren in die kurze Arbeit hineinfabriziert.
Sogar Ina, die sich auf die Zehenspitzen gereckt und zwischen Leonore und das Heft geschoben hatte, runzelte das Näschen und sagte: „Pfui bah!“
„Du hast es gerade nötig!“ schrie der Junge.
„Eine Meisterleistung ist das wirklich nicht“, erklärte Leonore in überlegenem Lehrerinnenton.
„Aber wenn ich es doch nicht besser kann!“ Andy drückte die Lider ganz fest zusammen, um die versiegenden Tränendrüsen zu erneuter Produktion anzuregen.
„Laß mich mal!“ Leonore schob ihn beiseite und setzte sich selber an das Pult; wieder zog sie einen Diagonalstrich durch die mißglückte Arbeit.
Aber Andy nahm es gelassen, wenn auch schluchzend hin; er kannte seine Schwester viel zu gut, um nicht zu wissen, was jetzt kam.
„Ich mach’s dir“, sagte sie und begann, indem sie seine kindlich runden Buchstaben sauber und genau nachahmte, den Text abzuschreiben.
Für sie war das eine Spielerei, und in knapp fünf Minuten hatte sie es geschafft.
Andy nahm strahlend sein Heft entgegen.
„Wie du das kannst! Jetzt kriege ich bestimmt eine Eins!“ Glücklich bestaunte er die Buchstaben.
„Lauser!“ Leonore gab ihm eine zarte Kopfnuß.
Er nahm es nicht übel. „Darf ich jetzt raus?“
„Aber dalli, sonst ist die Sonne weg!“
Sie zog auch Ina, nachdem sie ihr zu trinken gegeben hatte, für einen Spaziergang an, hinterließ einen Zettel für die Mutter und brachte die Schwester zum Spielplatz im Stadtpark.