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Wie kann die Gedächtnisleistung gefördert werden, besonders bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen? Mit dieser Frage beschäftigt sich dieses Buch. Ausgehend von theoretischem Basiswissen über "Kognition", "Kognitive Beeinträchtigung" und "Gedächtnis" werden die Möglichkeiten der Aufnahme von Informationen (Wahrnehmung und Wahrnehmungssteuerung), der Enkodierung (Bearbeitung im Arbeitsgedächtnis) und der langfristigen Speicherung sowie hierfür nützliche Strategien dargelegt. Abschließend wird die (sonder-)pädagogische Relevanz von Gedächtnisfragen inklusive praktischer Anregungen für Pädagoginnen und Pädagogen erörtert.
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Seitenzahl: 426
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Hans-Jürgen Pitsch, Prof. Dr. phil., ist Diplom-Pädagoge, Volksschul- und Sonderschullehrer sowie Sonderschulrektor i. R. Er hat an der Volksschule, am Gymnasium, an Schulen für Lernbehinderte und für Geistigbehinderte unterrichtet, zuletzt als Schulleiter, und zwei Schulen neu gegründet. Außerdem war er in Südkorea als Berater tätig und hat an der Erziehungswissenschaftliche Hochschule Rheinland-Pfalz (EWH), an der Fachhochschule für Sozialwesen Fentange-Livange (Luxemburg), an der Universität Luxemburg und an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gelehrt. Er forscht zur Geistigbehindertenpädagogik mit dem Schwerpunkt auf didaktisch-methodischen Fragen.
Arthur Limbach-Reich, Prof. Dr., ist Diplom-Pädagoge und Diplom-Psychologe sowie pragmatischer Systemtherapeut für integrative Beratungs- und Behandlungsmodelle bei geistig behinderten Menschen. Nach mehrjähriger Erfahrung in einer Einrichtung für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen begann er seine Lehrtätigkeit am Weiterbildungsinsitut UFEP (L’Unité de Formation et d’Éducation Permanente), wechselte an die Fachhochschule für Sozialwesen Fentange-Livange (Luxemburg), was ihn schließlich an die Universität Luxemburg führte. Hier vertritt er in Forschung und Lehre den Themenbereich soziale und erzieherische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Seit 2017 ist er Leiter des Institutes for Research and Innovation in Social Work, Social Pedagogy, Social Welfare (IRISS) an der Universität Luxemburg.
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1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034709-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-034710-6
epub: ISBN 978-3-17-034711-3
mobi: ISBN 978-3-17-034712-0
Menschen mit einer geistigen Behinderung1 oder einer Lernbehinderung gelten als kognitiv beeinträchtigt. Lernen mit einer kognitiven Einschränkung verläuft langsamer, strukturierungs- und lehrerabhängiger als ohne eine solche. Bereits Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre hat Heinz Bach Aspekte des Lernverhaltens von Schülern2 der damaligen Schule für Geistigbehinderte (SfG3) und der Schule für Lernbehinderte (SfL) untersucht und mit dem Lernverhalten von Kindergartenkindern und von Grundschülern verglichen. Seine Ergebnisse wurden erstmals in einem Gutachten des Deutschen Bildungsrats (1974) veröffentlicht und durchziehen seitdem praktisch die gesamte deutschsprachige Fachliteratur bis hin zu Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1994, 1998 bzw. 1999 und zu Lehrplänen und Hinweisen einzelner Bundesländer.
So berichtet Bach (1974, 50) von einer Verlangsamung des Lerntempos jeweils 10-jähriger Schüler der SfG gegenüber Schülern der SfL und Grundschülern im Verhältnis von 9 zu 2 zu 1 bzw. von 6 zu 2 zu 1. Daraus entstand die Pauschalierung, Schüler mit Lernbehinderung benötigten die doppelte Lernzeit wie Nichtbehinderte und Schüler mit geistiger Behinderung ein Vielfaches an Lernzeit. Auch die neuere Literatur kennzeichnet das Lernverhalten vieler Schüler mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (FSPgE) ohne Angabe von Verhältniszahlen durch verlangsamte Geschwindigkeit des Lernens (KMK 1998; Sachsen 2004, 5) und leichte Ermüdbarkeit (Theunissen 2011, 49). Nichtbehinderte konnten sich nach Bach (1974) das Untersuchungsmaterial wesentlich schneller, mit weniger Wiederholungen, einprägen als Schüler mit Förderschwerpunkt Lernen (FSPL), die wiederum weniger Übungen als Schüler mit FSPgE benötigten. Schüler mit FSPgE vermochten ihr Material nur sehr wenig oder gar nicht zu strukturieren, d. h. gedanklich zu organisieren, da ihnen entsprechende Techniken fehlten. »Langsam-Lerner« (slow learner) haben Schwierigkeiten, die im Arbeitsgedächtnis (AG) vorhandenen Informationen so zu strukturieren, dass sie dauerhafter, organisierter gespeichert werden können.
Damit hat Bach sehr früh bereits Fragen des Gedächtnisses angesprochen und als besonders wichtig das häufige Üben betont. Auch neuere Veröffentlichungen folgen diesem Hinweis: Handlungssequenzen müssen u. U. viele Male wiederholt werden, bis auch Schüler mit schwerwiegenden kognitiven Beeinträchtigungen sie selbstständig ausführen können. Betont werden die »Ritualisierung von Handlungsabläufen« und »wiederholtes, bewusstes und zielgerichtetes Anwenden von Verfahren, Schrittfolgen oder Techniken« (Berlin 2011, 12) bzw. die »intensive Übung und Wiederholung« (Sandfuchs 2011, 144). Gedächtnisleistungen können wohl durch häufiges Wiederholen verbessert werden.
Ob Üben aber allein Erfolge bringt, muss offenbleiben. Nicht intensiv eingegangen wurde bisher auf die Frage, ob und wie Prozesse der Informationsaufnahme, der Speicherung oder des Abrufs beeinflussbar sind. Lediglich Andeutungen finden sich in den Empfehlungen der KMK von 1998, die das Gedächtnis vieler Schüler im FSPgE kennzeichnen durch erschwerte Gedächtnisbildung und zusätzlich erschwerten Abruf aus dem Gedächtnis, und Sachsen (1998, 5) verweist in sehr zurückhaltender Formulierung auf deren »individuelle Gedächtnisleistung, Aufnahme-, Verarbeitungs- und Darstellungsfähigkeit«. Spezifischer sind die Hinweise von Schuppener (2008, 92) mit dem Verweis auf »konkrete Defizite im Gebrauch von Lern- und Speicherstrategien bei Personen mit geistiger Behinderung« und auf häufige »Schwierigkeiten bei der Informationseinprägung sowie der Organisation und Strukturierung des Lern-/Aufgabenmaterials«.
Antworten auf die in der behindertenpädagogischen Literatur meist nur angedeuteten Probleme erwarten wir von der Kognitions- und der Gedächtnispsychologie, die in diesem Buch zusammengetragen werden als Anregungen für Lehrer, Lern- und Gedächtnisprozesse kognitiv beeinträchtigter Schüler positiv zu beeinflussen.
Unsere Überlegungen bauen wir so auf:
In Kapitel 1 fassen wir die Schüler mit einer geistigen Behinderung und diejenigen mit einer Lernbehinderung zur Gruppe der kognitiv Beeinträchtigten zusammen. Kapitel 2 dient der Klärung des Verständnisses von Kognition, kognitiver Komplexität, Metakognition und skizziert kognitive Entwicklung. Kapitel 3 vermittelt eine Übersicht über das Phänomen Gedächtnis, wobei wir uns pragmatisch auf das Drei-Speicher-Modell stützen.
Der erste Speicher, das sensorische Gedächtnis (Ultrakurzzeitgedächtnis, UKZG), wird in Kapitel 4 besprochen und in Kapitel 5 mit Hinweisen zur Förderung des In-Kontakt-Kommens mit Reizen, der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit angereichert.
In Kapitel 6 wird das für Lernprozesse so entscheidende AG vorgestellt, dem die Erörterung von Strategien zum Behalten in Kapitel 7 und von Organisations- und Elaborationsstrategien in Kapitel 8 folgt.
Kapitel 9 beschreibt das Langzeitgedächtnis (LZG) und Fragen des Erinnerns, Vergessens und externer Gedächtnisse. In Kapitel 10 finden sich Hinweise zur Förderung der Erinnerung entlang des Verlaufs von Lernprozessen, zu hilfreichen didaktischen Arrangements und methodische Empfehlungen. Das abschließende Kapitel 11 befasst sich dann mit Möglichkeiten der Vermittlung nützlicher Strategien an Schüler.
Viele der hier vorgestellten Überlegungen sind nicht neu, sondern reichen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Zwischenzeitlich aus dem (sonder-)pädagogischen Diskurs verschwunden, tauchen sie neuerdings, oft in leicht veränderter Form und mit neuen Bezeichnungen, wieder auf und verweisen auf eine (sonder-)pädagogische Erbmasse, die nicht verschenkt werden darf. Neuere Überlegungen finden sich hinsichtlich bestimmter methodischer Arrangements. Hier verzeichnen wir Fortschritte wie auch in den Bemühungen der Gedächtnispsychologie und ganz besonders der Hirnforschung, die den pädagogischen Entwicklungen inzwischen weit vorauseilt.
Unser Problem dabei war zu bewerten, welche neueren Forschungsergebnisse in der schulischen Praxis der Förderung des Lernens und des Gedächtnisses dienen können. Differenzierte Ergebnisse der Hirnphysiologie und der Hirnfunktionen haben wir dabei außer Acht lassen müssen, da sie Lehrern in ihrer täglichen Arbeit nicht unmittelbar weiterhelfen. Interessierte Lehrkräfte seien auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen. Was uns aber pädagogisch von Nutzen zu sein schien, haben wir aufgegriffen. Mit diesem Aufgreifen von Traditionellem wie Neuem verbinden wir die Hoffnung, Schulpraktikern für ihre tägliche Arbeit Anregungen geben zu können.
Wadgassen (Deutschland) und Esch-sur-Alzette (Luxemburg), im Januar 2019
Hans-Jürgen Pitsch und Arthur Limbach-Reich
1 ›Geistige Behinderung‹, ›geistig Behinderte‹, ›Lernbehinderung‹ und ›Lernbehinderte‹ wie die Adjektivformen ›geistig behindert‹ und ›lernbehindert‹ werden im Folgenden als Fachbegriffe beibehalten, da den im Zuge der durchaus anerkennenswerten Bemühungen um eine weniger diskriminierende Sprache vorgeschlagenen Bezeichnungen wie Intellektuelle Einschränkung, Lernschwierigkeit oder Lernbeeinträchtigung ein breiteres phänomenologisches Verständnis inne liegt, was die Fachdiskussion erschwert. Die Halbwertszeit der neuen Begrifflichkeiten ist im wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Kontext noch als offen zu betrachten. Siehe hierzu auch die Bezeichnungen »Intellectual Disability« und »Intellectual Developmental Disorder (IDD)« des DSM-5 in Rückgriff auf die Vorschläge der AAIDD sowie die Terminologie der in Endbearbeitung befindlichen ICD-11 »Disorder of intellectual development«. Die adjektivischen Formen ersetzen wir wo immer möglich – außer in Zitaten – durch ›mit FSPgE‹ für ›geistig behindert‹ und durch ›mit FSPL‹ statt ›lernbehindert‹.
2 Wir benutzen keine geschlechtsbezogenen Bezeichnungen, sondern die der soziologischen Funktion, der Rolle.
3 Die hier eingeführten Abkürzungen werden im folgenden Text ausschließlich benutzt.
Vorwort
1 Kognitiv beeinträchtigte Schüler
1.1 Schulsystem
1.2 Konzepte und Kriterien
1.3 Zuordnung zu Lehrplänen
1.4 Zur Abgrenzung kognitiver Beeinträchtigungen
2 Kognition: menschliche Erkenntnis
2.1 Kognition
2.2 Differenzierungen des Kognitionskonzepts
2.3 Metakognition
2.4 Kognitive Komplexität
2.5 Entwicklung und Förderung der Kognition und Metakognition
3 Gedächtnis
3.1 Begriff und Definitionen
3.2 Gedächtnis im weiteren Sinne
3.3 Gedächtnismodelle
3.4 Entwicklung des Gedächtnisses
3.5 Gedächtnis und Gedächtnisentwicklung bei kognitiven Beeinträchtigungen
4 Sensorisches Gedächtnis und Wahrnehmung
4.1 Gedächtnis 1: Sensorisches Gedächtnis
4.2 Wahrnehmung
4.3 Neugier
4.4 Aufmerksamkeit
5 Förderung der sensorischen Aufnahme
5.1 In Kontakt bringen
5.2 Neugier und Aufmerksamkeit wecken
5.3 Aufmerksamkeit aufrechterhalten
5.4 Allgemeine Interventionen zur Förderung der Aufmerksamkeit
6 Kurzzeitgedächtnis (KZG) – Arbeitsgedächtnis (AG)
6.1 Gedächtnis 2: Zu den Begriffen
6.2 Das Arbeitsgedächtnis (AG)
6.3 Memorieren und Vergessen
6.4 Konzentration
7 Strategien zum Behalten
7.1 Kognitive Strategien (Lernstrategien)
7.2 Wiederholungsstrategien
7.3 Gruppieren
7.4 Sprachliche Hilfen – verbale Mediatoren
7.5 Visualisierung
7.6 Auswendig lernen
7.7 Assoziationen
7.8 Zur Gestaltung von Mnemotechniken
7.9 Bewertung der Behaltensstrategien
8 Organisations- und Elaborationsstrategien
8.1 Organisationsstrategien
8.2 Elaborationsstrategien (generative Strategien)
8.3 Allgemeine und domänenspezifische Strategien
8.4 Grenzen komplexerer Strategien
9 Das Langzeitgedächtnis (LZG)
9.1 Gedächtnis 3: Übersicht
9.2 Explizites/deklaratives Gedächtnis
9.3 Implizites Gedächtnis
9.4 Gedächtnis- und Aneignungsformen
9.5 Vergessen
9.6 Gedächtnishilfen
10 Pädagogische Förderung der Erinnerung
10.1 Phasen im Lernverlauf
10.2 Didaktische Aspekte
10.3 Methodische Aspekte
11 Vermittlung von Strategien
11.1 Kognitive Strategien als Lernstrategien
11.2 Einführung kognitiver Lernstrategien
11.3 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis (LZG)
11.4 Metakognitive Strategien
11.5 Andere Strategiearten
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Register
Unterschiede im Lernen von Schülern hat das deutsche Schulsystem durch den Aufbau und Ausbau eines Systems von Maßnahmen der didaktisch-methodischen inneren Differenzierung wie der schulorganisatorisch-äußeren Differenzierung zu berücksichtigen versucht. Schulorganisatorische Differenzierung führte zum Aufbau besonderer Schulen (Schwerpunktschulen, Sonderschulen), die heute Förderschulen (FS) genannt werden. Die sog. schwachen Lerner gelten als kognitiv beeinträchtigt, als in ihrem Lernen behindert, als ›lernbehindert‹ oder als ›geistig behindert‹, und werden in die Förderschule Lernen (FSL) oder die Förderschule geistige Entwicklung (FSgE) aufgenommen oder an Allgemeinen Schulen nach den jeweiligen Sonder-Lehrplänen unterrichtet. Zu diesen beiden Schülergruppen liefert die KMK in ihren Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen vom 06.05.1994 zwei eindrucksvolle Zirkelschlüsse4:
• Die FSL nimmt Schüler auf, »die wegen ihrer Lern- und Leistungsbehinderungen in Grund- und Hauptschule nicht hinreichend gefördert werden können« (KMK 1994, 31).
• Die FSgE nimmt Schüler auf, »die wegen der Schwere ihrer geistigen Behinderung in der Schule für Lernbehinderte nicht hinreichend gefördert werden können, aber lebenspraktisch bildbar sind« (KMK 1994, 34).
»Nicht hinreichend gefördert werden können« heißt, dass diese Schüler den Anforderungen der jeweils anspruchsvolleren Schulform (und umgekehrt) nicht standhalten können, dass Schule und Schüler nicht zusammenpassen. Dabei werden Schüler mit einer Lernbehinderung an den Anforderungen der allgemeinen Schule gemessen, diejenigen mit einer geistigen Behinderung zudem an denen der FSL. Aussagen zum tatsächlichen oder zu erwartenden Schulerfolg wie Hinweise auf mögliche Gründe für das Ausbleiben eines erfolgreichen Lernens finden sich in KMK-Empfehlungen wie in der Fachliteratur. In folgender Tabelle sind diese Feststellungen zusammengefasst ( Tab. 1.1).
Tab. 1.1: Allgemeine Aussagen zum Schulerfolg im FSPL und FSPgE
BereichFSPLFSPgE
In die Diskussion geraten sind FSL und FSgE, denen Schüler wegen genereller Lernschwierigkeiten zugewiesen werden, welche auf Probleme und Schwierigkeiten ihres Denkens, ihrer Intelligenz zurückgeführt werden. Intelligenz, verdinglicht als IQ-Wert (Intelligenzquotient), ist so unter der Hand zum Leitkriterium der Zuweisung von Schülern zur FSL wie zur FSgE geworden. Ihr Scheitern in der Regelschule wird wesentlich an einer geringen Ausprägung ihrer Intelligenz festgemacht und als kognitive Beeinträchtigungen verstanden. Da kognitive Beeinträchtigungen beide Schülergruppen betreffen, betrachten wir diese gemeinsam, wo immer dies sinnvoll und möglich ist. Dabei sind Kategorisierungen nicht zu vermeiden: »Solange wir in einer Gesellschaft leben, die Unterschiede macht, sollte man diese Unterschiede auch benennen« (Einhellinger 2016, 86). Mit der Benennung einer Beeinträchtigung ist unmittelbar der Bedarf an individueller Unterstützung und Unterrichtung verbunden, der abseits der politisch-ideologischen Dekategorisierungsdiskussion auf die viel wichtigere Erörterung der pädagogischen Praxis verweist, auf die Förderung des Lernens.
Schulorganisatorisch getrennt werden »leichte« von »schwerer« kognitiver Beeinträchtigung durch die Etablierung einer besonderen FSgE (früher SfG) mit einem Unterricht »unter weitgehendem Verzicht auf das Lehrangebot einer Lernbehindertenschule« (VDS 1974, 45). Für die FSgE-Schüler bedeutet dies die Zurücknahme der kulturtechnischen Bereiche des Lesens, Schreibens und Rechnens wie des Sachunterrichts und die Zentrierung auf eine breit angelegte Entwicklungsförderung »unter besonderer Berücksichtigung der praktischen Bewältigung ihres Lebens« (KMK 1999, 1). Die Bereiche, in denen auf Grund der kognitiven Beeinträchtigung Einschränkungen zu erwarten sind, beschreiben die AAMR5, das DSM-IV und das DSM-56 und aktuell das ICD-117 ( Kap. 1.2.3; Tab. 1.4).
Kognition meint Denken »in einem umfassenden Sinne« (Wentura & Frings 2013, 9) von der sinnlichen Wahrnehmung über Steuerung der Aufmerksamkeit und Konzentration, Gedächtnis, Schlussfolgerungen, Urteils- und Entscheidungsprozesse bis zur Planung, Ausführung und Kontrolle von Handlungen. Kognition umfasst vieles, was Inhalt schulischen Lernens ist, was angeeignet und geübt werden kann. In diesem Lernen unterscheiden sich Schüler voneinander wie auch in ihren Lebensverhältnissen, ihrer Sprache, in der Art des Umgangs mit der Welt und mit sich selbst, in ihrer Kontaktfreude, ihrer Neugier, der Art und dem Tempo, in dem sie sich Neues aneignen und wie sie denken. Manchmal sind die Unterschiede ganz diskret, manchmal auffällig und häufig sind sie ein schwieriges Problem für die Schule. Manche Schüler lernen langsamer, unvollständig im Sinne des Erwünschten, bruchstückhaft, manchen fehlen auch für die jeweils anstehenden Lernaufgaben (noch) die notwendigen Voraussetzungen. Es geht also um das Lernen dieser Schüler, das erschwert oder massiv beeinträchtigt ist, wofür mehr oder weniger starke Beeinträchtigungen ihrer Kognition verantwortlich gemacht werden.
»Lernbehinderung«8 wird bei der KMK (1994) nicht definiert und sie ist mit Bleidick (1995, 106) auch »keine definitorisch umschreibbare Behinderung, für die präzise pädagogische, soziologische, psychologische und medizinische Bestimmungsmerkmale gelten«. Lernbehinderung ist ein spezifisch deutsches Konstrukt, das kaum einen internationalen Vergleich gestattet und eine sehr heterogene Schülerschaft bezeichnet (Bruns& Grosche 2017, 3). Die KMK (1994, 31) benennt als Merkmale geringere intellektuelle Begabung sowie »Schwächen in der Aufnahme, Konzentration, Verarbeitung und Gestaltung«.
Mit dem Hinweis auf »intellektuelle Begabung« wird auf Intelligenz und Intelligenzmessung durch Tests verwiesen, ein Bereich, der die Sonderpädagogik gegenüber anderen Pädagogiken geradezu als Alleinstellungsmerkmal kennzeichnet. Die weiteren Hinweise auf Schwächen beziehen sich auf Teilaspekte des Lernens und des Gedächtnisses, machen auf Fehlendes, auf Minderausgeprägtes aufmerksam und beruhen auf dem Vergleich Einzelner mit dem ›Normalen‹, dem statistischen Durchschnitt. Dies ist eine Orientierung am Defizit, die man aus ethischen Gründen ablehnen kann. Sie dient jedoch dazu, solche Schüler ausfindig zu machen, die mehr und andere Bemühungen benötigen als im Regelschulsystem üblich. Dem Lehrer selbst helfen solche Defizitbeschreibungen nicht weiter. Das Fehlende, das nicht vollständig Ausgeprägte kann ihn aber darauf aufmerksam machen, in welchen Bereichen nachholendes (remediales), kompensatorisches und/oder neues Lernen erforderlich und möglich ist. Um solches Lernen in Gang bringen zu können, benötigt er aber auch Hinweise darauf, was ein Schüler bereits kann, worauf aufzubauen ist, Hinweise auf seine Lernvoraussetzungen und seine Lernmöglichkeiten.
Differenziertere Hinweise zu den Schwierigkeiten Lernbehinderter finden sich in den KMK-Empfehlungen zum FSPL (KMK 1999, 3 f.), wo den »lernbehindert« genannten Schülern intellektuell-kognitive Schwächen ihrer Lern- und Leistungsfähigkeit zugeschrieben werden ( Tab. 1.1, Tab. 1.2). Die Auswirkungen dieser Schwierigkeiten sollen »gemindert und durch Förderung individueller Stärken kompensiert« (ebd.) werden.
In den KMK-Empfehlungen (1999) ist übergreifend von »Lernbeeinträchtigung« die Rede. Auf die Beeinträchtigung9 der Lernfähigkeit stützt auch Mühl (1994, 684) seine Definition geistiger Behinderung als »eine erhebliche Beeinträchtigung der Lernfähigkeit […] weit unterhalb der Alterserwartung«. Die Beeinträchtigung der Lernfähigkeit gilt demnach verschärft für »geistige Behinderung«. Die geistige Behinderung10, die zur Aufnahme in die SfG/FSgE führt, muss schwer sein (KMK 1994, 34), sonst könnten die gemeinten Schüler ja die FSL besuchen. Diese Schwere-Anforderung lässt sich so interpretieren: Alle Schüler der FSL und der FSgE sind in ihrem Lernen, also kognitiv, beeinträchtigt, die der FSL nur leicht, die der FSgE schwer. Die hier vorgeschlagene Trennung lässt sich in der Praxis jedoch kaum treffsicher realisieren.
Dass die KMK-Vorgabe, die FSgE habe Schüler wegen der Schwere ihrer geistigen Behinderung aufzunehmen, frommer Wunsch ist und nicht Realität, belegen nachgewiesene Fehlplatzierungen (Dworschak & Ratz 2012; Klauß 2012; Pitsch 2013a), oft zum Nutzen der Schüler (Pitsch 2013b). Die Vorgaben der KMK und die tatsächliche Schülerschaft stimmen in der Realität nicht perfekt überein; weder die FSgE noch die SfL sind trennscharf.
Bei der Frage möglicher Beeinträchtigungen der Kognition empfiehlt sich eine genauere Betrachtung der Lernprozesse, die als Individuums-interne Prozesse nicht beobachtbar sind. Beobachtbar ist jedoch das Verhalten des Einzelnen beim Lernen. Wird der Lernprozess aufgegliedert und das Verhalten des Lernenden während abgrenzbarer Phasen des Lernens beobachtet, können Hinweise auf Störungen wie auf Gelingensfaktoren gefunden werden. Kobi (1980, 23) schlägt hierzu die Orientierung am immer noch aktuellen Lernprozess-Modell von H. Roth (1963) vor. Nach H. Roth gehören zum Ablauf erfolgreichen Lernens in der nachstehenden Reihenfolge
1. »ein Antrieb (Stufe der Motivation),
2. ein widerstehendes Objekt als Aufgabe in einer Lernsituation (Stufe der Schwierigkeit),
3. eine Einsicht in einen geeigneten Arbeits- und Lösungsweg (Stufe der Lösung),
4. ein Tun, das diesen Weg als richtigen bestätigt findet (Stufe des Tuns/Ausführens),
5. ein Verfestigen des Gelernten (Stufe des Behaltens und Einübens) und
6. ein Bereitstellen des Gelernten für künftige ähnliche Aufgaben und Situationen durch neue Bestätigungen und Bewährungen (Stufe des Bereitstellens, der Übertragung und der Integration des Gelernten« (nach Kobi 1980, 23).
Anhand dieser Ablaufliste des idealen Lernprozesses können die möglichen Beeinträchtigungen im Lernprozess notiert werden wie auch diejenigen, die den Schülergruppen der ›Lernbehinderten‹ und der ›geistig Behinderten‹ zugeschrieben werden ( Tab. 1.2).
Tab. 1.2: Beschriebene Beeinträchtigungen im Lernprozess bei Schülern mit Förderbedarf Lernen und geistige Entwicklung
Stationen des LernprozessesFBLFBgE
Für beide Schülergruppen werden mit zuweilen abweichenden Umschreibungen in etwa die gleichen Merkmale in unterschiedlichen Ausprägungen benannt: Probleme der Motivation, der Anstrengungsbereitschaft, der Problembearbeitung und -lösung, der korrekten Ausführung äußerer, motorischer wie gedanklicher Handlungen, der Übung und des Übungserfolgs und der Übertragung des Gelernten auf andere, neue Situationen. Wohl treten bei beiden Schülergruppen die gleichen Lernprobleme auf, bei denen mit FSPgE jedoch deutlich stärker, massierter und dauerhafter.
Wie auch immer Kinder oder Schüler mit einer geistigen oder einer Lernbehinderung erfasst, überprüft, klassifiziert, etikettiert und unterschiedlichen Lehrplänen bzw. Schul- oder Unterrichtsformen zugeordnet werden, sie sind in ihrer kognitiven Entwicklung wie ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, was jedoch mittels Intelligenztests nur unzureichend erfasst wird. Die getestete Intelligenz bildet nur einen Ausschnitt ab; Kognition umfasst mehr. Kognition bedient sich der Gedächtnisinhalte, und Gedächtnisinhalte sind »Gegenstand früherer Lernprozesse« (Breitenbach & Lenhard 2005, 241). Damit steht Kognition mit Lernen in engem Zusammenhang. Im Rahmen dieses Buchs wird sich die Problemerörterung zunehmend auf Fragen der Gedächtnisbildung, der Aufnahme und Verarbeitung, der Speicherung und des Wiederaufrufens von Informationen zentrieren. In den Empfehlungen der KMK von 1994 und 1999 werden einige Merkmale, die zur Zuordnung von Schülern zur FSL oder FSgE führen, nur sehr pauschal angeführt.
Erstes Kriterium ist die Schulleistung bzw. deren Ausbleiben ( Tab. 1.1). Schulversagen hat Gründe; auch die Willkür der Schulen und Lehrer kann dazu führen. Lernversagen sollte aber unabhängig von Schule und Lehrern nachweisbar sein, etwa durch Schulleistungstests (Pitsch 2015a, 52). Diese können wohl das Nichterreichen erwünschter Ziele erweisen, über dessen Gründe und Bedingungen jedoch keine Auskunft geben. Um den Lehrer oder die Schule als Verursacher oder Mit-Bedingungsfaktor erfolglosen Lernens ausschließen zu können, müssen die schwachen Lernleistungen der Schüler vordringlich auf schülereigene Merkmale zurückzuführen sein wie z. B. deren mangelnde Lernfähigkeit, ihre nur schwach ausgeprägte Intelligenz.
Intelligenz sei »kreatives Problemlösen unter Zeitdruck«, meint G. Roth (2018) und spricht damit eine breite Palette allgemeiner kognitiver Fähigkeiten an, so Problemlösen mit Erfassen, Bewerten, Entscheiden, divergentem Denken, Zeitplanung und -management und Stressresistenz. »Intelligenz« wird von der WHO (World Health Organization, 1968) bis hin zu den aktuellen Klassifikationsinstrumenten der ICD-11, ICF-12 und DSM-Reihen als Trennkriterium benutzt und mit Intelligenztests gemessen. Aber auch als Trennkriterium gilt Intelligenz als wenig tauglich, zumal der Grenzwert zwischen »Lernbehinderung« und »geistiger Behinderung« je nach Quelle schwankt. Die häufig vorgeschlagene Abgrenzung geistiger Behinderung ›nach oben‹ bei IQ = 55 ± 5 ist dann die Untergrenze für Lernbehinderung, kann aber wie auch die Abgrenzung von Untergruppen nach Intelligenztestergebnissen nur zur groben Orientierung dienen.
Lernbehinderung: IQ 55/60 bis 85 (-3 s bis -1 s), Intelligenz oft nicht oder nur wenig gemindert, und mit weiteren Beeinträchtigungen wie in Tabellen 1.1 und 1.2 erfasst.
Geistige Behinderung: IQ unter 55/60 (unter -3 s), zusätzlich Defizite im adaptiven Verhalten ( Tab. 1.4) und Ausprägung während der Entwicklungsperiode. Mehrere Schädigungen schränken die möglichen Kompetenzen bzw. Aktivitäten erheblich ein, so dass umfassende Unterstützung von außen erforderlich wird, teilweise auch Pflege.
Abb. 1.1: Normalverteilung, eigene Darstellung
Abstufungen: Wohl treten bei beiden Schülergruppen die gleichen Lernprobleme auf, bei denen mit FSPgE jedoch deutlich stärker, massierter und dauerhafter. Deren Ausprägungen liegen auf einem Kontinuum, dessen Unterteilungen seit der WHO-Klassifikation ICD-8 (1968) mit »borderline – mild – moderate – severe – profound« grob benannt werden. Diese WHO-Klassifikation bedient sich zur Abgrenzung der Untergruppen der Standardabweichungen der IQ-Werte, und diese finden sich bis heute mit minimalen Abweichungen in den Definitionen geistiger Behinderung der AAMD, AAMR und AAIDD, der medizinischen Klassifikation ICD-10 (demnächst ICD-11) und den psychiatrischen Klassifikationsinstrumenten DSM-IV und DSM-5 wieder. Die Bereiche, in denen auf Grund der kognitiven Beeinträchtigung Einschränkungen zu erwarten sind, beschreiben die AAMR (1992), das DSM-IV und das DSM-5 ( Tab. 1.3).
Tab. 1.3: WHO-Klassifikation von 1968, Standardabweichung vom IQ-Mittelwert, Auffälligkeiten nach ICD-10 und Unterstützungsbedarf
KlassifikationIQ ≈Standard- abweichung vom IQ- Mittewert13Kommentar: zählen in Deutschland zu denAuffälligkeiten nach ICD-10 (IM = Intelligenzminderung)Kategorien des Unterstützungsbedarfs nach AAMR 1992englischdeutsch
Diese Untergruppen verweisen darauf, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung keineswegs eine homogene Gruppe sind, sondern dass es deutliche Unterschiede im Schweregrad gibt, bei deren Einteilung mit der Benutzung der Standardabweichung der IQ-Skala (s = 15 IQ-Punkte) sehr schablonenhaft vorgegangen wird. Die Gruppen »borderline« und »mild« zählen in Deutschland nicht bzw. nur zum Teil zu den Menschen mit geistiger Behinderung. Die beiden Förderbereiche (Behinderungsarten) – FBL und FBgE – fassen wir zu einem einzigen Bereich »kognitive Beeinträchtigung« zusammen. Auch die KMK spricht in ihren Empfehlungen zur inklusiven Bildung nur von einem einheitlichen Schwerpunkt »Lernentwicklung« (KMK 2011, 7) und differenziert erst an späterer Stelle bei der Benennung von spezifischen Entwicklungsbereichen zwischen den Fachrichtungen »Beeinträchtigung beim Lernen« und »geistige Entwicklung« bzw. von »einer geistigen Behinderung« (ebd., 20).
Ein beachtlicher Teil der Schüler der FSL erbringt bei schwachen Schulleistungen durchaus normale bis gute Intelligenztestergebnisse; in FSL finden sich IQ-Testergebnisse »von unter 60 bis über 100 IQ-Punkten« (Weiß 2016, 2) mit Schwerpunkt zwischen einer und drei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes [-3 s; -1 s]. In diesem Bereich müssten bei den IQ-Grenzen [55; 85] erstaunliche 15,73% aller Kinder als lernbehindert gelten (zu den Zahlen Abb. 1.1), finden sich jedoch auch in großer Anzahl in den regulären Schulformen, wo sie dennoch einigermaßen ausreichend lernen wie auch in FSgE, wo sie zu den leistungsstärksten Schülern gehören. Also sind auch diese IQ-Kriterien nicht eindeutig und IQ-Testergebnisse nicht alleine bestimmend. So wird an bayerischen FSgE 16 von 1.594 erfassten Schülern (1% der erfassten Stichprobe) keine geistige Behinderung zugeschrieben (Wagner&Kannewischer 2012, 92); damit stellen nicht-geistig Behinderte in der FSgE eine nicht zu vernachlässigende Größe dar.
Lernschwierigkeiten können also nicht nur an der messbaren Intelligenz liegen. Kognitive Leistungen entwickeln sich unter förderlichen Umweltbedingungen einschließlich der schulischen Lernbedingungen schneller und intensiver, unter unzulänglichen Bedingungen langsamer, weniger umfangreich und weniger differenziert. Immerhin haben standardisierte Intelligenztests die Beliebigkeit des Abschiebens von Schülern in die FS etwas begrenzen können.
Unterschiedliche Bereiche dieses Verhaltens wurden von der AAMR (1992) in der Kategorie des adaptiven Verhaltens zusammengefasst und mit dem Intelligenz-Kriterium ( Tab. 1.3) verbunden. Die AAMR wie auch die jetzige AAIDD (2017) sehen geistige Behinderung im umfassenderen anglo-amerikanischen Verständnis in unauflöslichem Zusammenhang mit Defiziten des Anpassungsverhaltens, des sozialen Verhaltens einschließlich des schulischen Lernens, und mit ihrer Entstehung während der Entwicklungsperiode des Kindes. In Tabelle 1.4 sind die gemeinten Bereiche zusammengestellt (AAMR 1992; DSM-IV; DSM-5, Tab. 1.4).
Tab. 1.4: Von kognitiver Beeinträchtigung betroffene Bereiche
AAMR 1992 (Luckasson et al. 1992) und DSM-IV (Saß et al. 1996)DSM- 5 (AAIDD 2017; APA 2014; Tassé 2014)
Die beiden Listen betroffener Lebensbereiche stimmen bei der AAMR (1992) und dem DSM-IV (1996) perfekt überein. Im DSM-5 (2014) findet sich eine Gruppierung nach kognitiven, sozialen und praktischen Kompetenzen.
Geistige Behinderung wird kennzeichnet durch »die Retardierung dieser Funktionen in ihrer Gesamtheit – jedoch in mehr oder minder starkem Ausmaß« (Mühl 1994, 684). Es fehlen aber Hinweise darauf, wo die Grenze zwischen »mehr« und »minder« der Beeinträchtigung zu ziehen ist, zumal die Unterscheidung zwischen Lernbehinderung und geistiger Behinderung ein rein deutsches Phänomen ist. International wird nur von »geistiger Behinderung« (Mental Retardation, Mental Disability, Intellectual Disability, IDD, Disorders of Intellectual Development16) in verschiedenen Abstufungen ( Tab. 1.3) gesprochen. Aber es gibt in Deutschland nun einmal die Unterscheidung zwischen Lernbehinderung und geistiger Behinderung und damit zwei verschiedene Schulformen, und das hat Konsequenzen für die Schulzuordnung und für die Unterrichtung.
Die in Tabelle 1.4 genannten Bereiche sind praxisrelevant. Daher soll für jede Person ein Kompetenzinventar erstellt werden, das sich noch in der Erarbeitung befindet (AAIDD 2017). Bis zu seiner Fertigstellung wird die Verwendung standardisierter Tests empfohlen, die jedoch auch nicht zu allen Bereichen zur Verfügung stehen.
Der Intelligenzwert und die Auswirkungen in den verschiedenen Lebensbereichen erklären jedoch alleine nicht die Lernschwächen, so dass auch weitere Bedingungsfaktoren zu suchen sind, welche die kognitive Entwicklung und das reguläre Lernen übermäßig erschweren. Solche Faktoren werden in neurologischen Dysfunktionen oder konstitutionellen Schwächen gefunden, in psychoreaktiven Prozessen und in soziokultureller Benachteiligung.
Die Feststellung eines Testergebnisses beantwortet noch nicht die Frage, was es verursacht haben könnte. Die Medizin hat auf Krankheiten, körperliche und genetische Schäden, auf Syndrome aufmerksam gemacht, die Entwicklung und Lernen beeinträchtigen können, und medizinisch-therapeutische Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die die Voraussetzungen zum schulischen Lernen zumindest verbessern können. Die KMK (1980, 4) benennt als eine mögliche Ursache geistiger Behinderung die »Schädigung des Zentralen Nervensystems (ZNS) vor, während oder nach der Geburt«. Schädigungen des ZNS mit den unterschiedlichsten Ursachen haben Beeinträchtigungen der Entwicklung psychischer Funktionen wie auch Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung zur Folge (Neuhäuser 2013). Solche biologisch-konstitutionellen Schädigungen stellen Faktoren einer individuell wirkenden Isolation von der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes dar (Störmer 2013, 195). Weitere Hinweise finden sich in Tabelle 1.5 ( Tab. 1.5).
Tab. 1.5: Medizinisch fassbare Ursachen von Lern- und geistigen Behinderungen
BereichFSPLFSPgE
Medizinisches Denken nach der Keimtheorie17 (Deaton 2017) folgt dem Modell [Krankheit → Behandlung → Gesundheit] und geht von einer eindeutigen Verursachung der Krankheit aus. Lernschwierigkeiten haben jedoch die unterschiedlichsten und häufig komplexe Ursachen, so dass dieses medizinische Denkmodell die Pädagogik nicht weiterführt. Auch wenn Pädagogen die medizinisch fassbare Ursache einer fehlgelaufenen kognitiven Entwicklung kennen, verfügen sie doch nicht über die Mittel, diese Ursache zu beseitigen.
Benachteiligungen durch ihr häusliches und familiäres Milieu, ihre Lebenswelt, werden vor allem bei Schülern mit einer Lernbehinderung beschrieben, von denen ein großer Teil zu den soziokulturell Benachteiligten gehört. Die Ursachen soziokultureller Benachteiligung sind ganz unterschiedlich: Armut mit all ihren Folgen für Wohnen, Ernährung und Kleidung, Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Flucht und Migration, sonstige Risikofamilien, Krankheit, Randgruppen, Traumatisierungen, Bildungs- und Kulturferne, Schulablehnung und vieles mehr.
Insbesondere für Kinder der sozialen Unterschicht drängen ihre Lebensumstände einen engen Zusammenhang mit dem Besuch einer FSL auf. Damit ist die FSL auch eine Schule für soziokulturell benachteiligte Kinder, und Lernbehinderte können durch »die Trias geringe Schulleistungen, herabgesetzte Intelligenz und gravierende soziale Benachteiligung« (Wocken; nach Elbert & Ellinger 2005, 321) gekennzeichnet werden. Die vorliegenden Informationen zu den sozialen und soziokulturellen Lebensbedingungen der beiden Schülergruppen sind in Tabelle 1.6 zusammengefasst ( Tab. 1.6).
Tab. 1.6: Soziale und soziokulturelle Behinderungen bei Schülern im FSPL und FSPgE
BereichFSPLFSPgE
Besonders schwierig werden Aufwachsen und Entwicklung dann, wenn bei einem Kind zu möglichen medizinisch fassbaren Schädigungen während der Entwicklung noch Wechselwirkungen mit ungünstigen oder hinderlichen Umständen im Milieu hinzu kommen, so dass kognitive Beeinträchtigung vielfach komplexe Ursachen hat und bei leichteren Formen wie einer Lernbehinderung »die multifaktoriell bedingten Ursachen überwiegen, während bei schweren vor allem pränatale Ursachen bedeutsam sind« (Neuhäuser 2013, 392). Bei einem Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung kann nicht nach der einen ausschließlichen Ursache gesucht werden. Es ist von Multikausalität auszugehen, der entsprechend sich kognitive Beeinträchtigung auch nicht in der Störung einer einzigen Funktion äußert, sondern in einer Vielfalt von Auffälligkeiten in vielen Bereichen. Auch wenn die KMK (1980, 4) das Ausmaß der jeweiligen Auswirkungen nicht benennt, finden sich dort Hinweise auf einzelne Probleme und auf die Notwendigkeiten pädagogischer Förderung kognitiv Beeinträchtigter in den Bereichen des Lernverhaltens, des Sozialverhaltens, der Emotionalität, des Sprachverhaltens, des kommunikativen und des motorischen Verhaltens. Keine dezidierten Hinweise finden sich zur Förderung der Gedächtnisleistungen.
Schwierige Bedingungen, unzulängliche Aufwuchs- und Erziehungsbedingungen im Elternhaus, im Heim oder in der Schule führen zu Problemen, die das Lernen belasten können. Insbesondere in Großstädten und industriellen Ballungsräumen führen ungünstige Umweltbedingungen zu kognitiven Beeinträchtigungen. Mögliche psychische Folgen sind in Tabelle 1.7 zusammengestellt ( Tab. 1.7).
Tab. 1.7: Mögliche soziale und psychische Folgen unzureichender Lebensbedingungen bei Schülern in den FSPL und FSPgE
BereichFSPLFSPgE
Die Kritik an der schlichten Ursachen-Wirkungs-Verkettung des medizinischen Keimtheorie-Modells führte zur Entwicklung der heute vielfältig beigezogenen ICF (WHO 2002; WHO-ICF 2005, 23; Abb. 1.2). Deren Ankerbegriff ist der »Zustand körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Wohlbefindens« (E. Fischer 2003b, 303), der komplexer verstanden wird und auch Gesundheitsstörungen, Verletzungen sowie besondere Situationen umfasst, die Betreuung, Hilfe, Behandlung, Versorgung erfordern. Allseitiges umfassendes Wohlbefinden erfordert
1. intakte körperliche Funktionen und Strukturen,
2. die Fähigkeit zu allen einem gesunden Menschen möglichen Aktivitäten und
3. die Möglichkeit, Dasein in allen individuell wichtigen Lebensbereichen entfalten zu können.
Abb. 1.2: Bio-psycho-soziales Modell/ICF, eigene Darstellung
Kernpunkt der ICF ist Funktionsfähigkeit, funktionale Gesundheit, die sich in drei Dimensionen äußern kann:
1. Körperfunktionen und Körperstrukturen,
2. Aktivitäten (statt der »Funktionsverluste«),
3. Teilhabe bzw. Partizipation (an Stelle des »handicap«; E. Fischer 2003b, 304–307).
Diese drei Dimensionen werden in ›Kontextfaktoren‹ eingebettet, in
1. Umweltfaktoren, förderliche wie hinderliche, das gesamte Milieu;
2. persönliche Faktoren wie Alter, Geschlecht, Biografie, Eigenschaften, Lebensstil, Erziehung, Beruf usw.
Die gegenüber der WHO-ICF erweiterte Abbildung 1.2 soll verdeutlichen, dass das Gesundheitsproblem oder die Krankheit nicht als ontologische Kategorie losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden kann: Je mehr Anforderungen von ›gesunden‹, ›nicht gestörten‹ Schülern zu erfüllen sind und als erfüllbar betrachtet werden, umso eher wird eine geschädigte Körperfunktion/-struktur gefunden, umso eher wird eine Aktivitätseinschränkung diagnostiziert und Teilhabe reglementiert. So werden aktuell Verhaltensweisen als ADHS pathologisiert, die ansonsten als Äußerung eines normalen, entwicklungstypischen Bewegungsdrangs betrachtet werden können. Die im ICD-11 nun aufgenommene Störung Computerspielsucht (Gaming Disorder 6C51) kann sich nur in einer Gesellschaft manifestieren, die solche on- oder offline Spiele bereitstellt.
Kern der ICF ist das Konzept der Partizipation, bei welchem »die erschwertePartizipationam Leben der Gesellschaft die ›eigentliche Behinderung‹ darstellt« (Lindmeier 2013, 176; kursiv i. O.). »Behinderung« resultiert danach »aus der Interaktion zwischen Menschen und ihrer materiellen und sozialen Umwelt«, meint also nicht ein Merkmal oder eine Eigenschaft, »sondern das Resultat einer Beziehung« und steht »immer relational zu ›etwas‹ oder ›jemand‹ anders« (E. Fischer 2003b, 311). Hier haben die Unterstützungen anzusetzen.
Hinweise zu solcher Unterstützung, eine pädagogisch verwertbare Aufschlüsselung von Funktionen und Aktivitäten bzw. deren Einengungen bietet die ICF nur teilweise, förderungsorientierte Diagnostik erleichtert sie nicht, und auch »besondere erzieherische Erfordernisse werden in der ICF nicht aufgezeigt« (E. Fischer 2003b, 321). Nach wie vor bleibt es Aufgabe der Schule, des Lehrers bzw. des Teams, dies zu eruieren. Auch anamnestisch, zu den biografisch erfassbaren Entstehungsbedingungen von Störungen, gibt die ICF keine Auskunft. Sie erlaubt lediglich Schlüsse auf Einflussfaktoren in der Gegenwart, kann damit jedoch ein Bewusstsein für umfassende und übergreifende Zusammenhänge auch individueller Probleme schaffen.
Die Zusammenfassung von Gruppen mit unterschiedlichen IM, Lernschwierigkeiten und sozialen Belastungen ergibt dann einen Sinn, wenn daraus Konsequenzen abgeleitet werden. Solche Konsequenzen sind von der AAMR (Luckasson et al. 1992) mit der Beschreibung unterschiedlicher Unterstützungsbedarfe gezogen worden ( Tab. 1.3). Die vier Niveaus der Unterstützungen intermittend, limited, extensive und pervasive entsprechen den Ausprägungsgraden der Behinderung (levels of retardation) leicht, mittelgradig, schwer und sehr schwer und finden sich identisch im DSM-IV wieder, abgewandelt auch im DSM-5. Unterschiedliche Unterstützungsbedarfe erlauben auch eine erste vorsichtige Einschätzung der Notwendigkeiten unterschiedlicher pädagogischer Interventionen.
Bekannte Auswirkungen beeinträchtigender Lebens-, Aufwuchs- und Entwicklungsbedingungen führen zu der Frage, wie Schule mit solchen Auswirkungen angemessen umgehen könne. Hier ist endlich die Pädagogik gefragt: Die bekannten Klassifikationssysteme geben hinsichtlich notwendiger und angemessener pädagogischer Maßnahmen keine Auskunft. Pädagogen suchen, wenn sie Abweichungen und Störungen bemerken, weniger nach Ursachen als nach Möglichkeiten der Korrektur, Kompensation oder Behebung. Die Suche in den medizinisch-psychiatrischen Klassifikationsinstrumenten führt jedoch zu enttäuschenden Erträgen. Geistige Behinderung wird zumindest in der ICF nicht ausdrücklich thematisiert, die typisch deutsche Lernbehinderung in keinem dieser Instrumente, lediglich »Intelligenzmängel«, die nach Schweregrad klassifiziert und mit Codenummern versehen werden. Dies hilft jedoch nicht, so Limbach-Reich & Pitsch (2015, 100), »beim Auffinden pädagogischer Interventionsmöglichkeiten«. Diese Instrumente können aber dabei helfen, »bei Lernproblemen die Sicht von kognitiven Schwierigkeiten auszuweiten auf mögliche körperliche Erschwernisse (beim Individuum) und auf mögliche familiäre, schulische und gesellschaftliche Bedingungen. Auch die Hinweise auf abgestuften Hilfebedarf können pädagogisch nützlich sein.« Diese Instrumente können jedoch ein Bewusstsein für umfassende und übergreifende Zusammenhänge schaffen und den pädagogischen Blick ausweiten. Für die praktische Planung von Unterricht und Fördermaßnahmen müssen sich Schule und Lehrer anderer Instrumentarien bedienen, z. B. der Richtlinien, Lehr- und Förderpläne.
All die vielen möglichen Ausprägungen wie Bedingungsfaktoren machen es problematisch, die Gruppe der Lernbehinderten wie der geistig Behinderten eindeutig zu beschreiben oder zu definieren. Dennoch ist zu entscheiden, wer nach welchem Lehrplan (FSL oder FSgE) unterrichtet werden soll, wer welche Art von unterrichtlicher Förderung (zielgleich für alle oder zieldifferent) und mit welcher Form der Differenzierung, Methodisierung und Medialisierung und an welchem Ort (FS oder integrativ/inklusiv in der Regelschule) erhalten soll. Für die schulpraktische Arbeit können nur die durch Gesetze und Verordnungen festgelegten Aufträge und Ziele der FSL und FSgE und die für diese Schulformen gültigen Lehrpläne befragt werden.
Schüler mit einerLernbehinderung werden umfangreich in den Kulturtechniken und in Sachfächern unterrichtet, Schüler mit einer geistigenBehinderung im Schwerpunkt lebenspraktisch und manuell-arbeitsbezogen mit traditionell geringeren kulturtechnischen Unterrichtsanteilen.
Der besondere Stellenwert der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen in der FSL sowie die besondere Betonung einer qualitativ hochwertigen Berufsvorbereitung, um damit einen erfolgreichen Übergang in die Arbeitswelt zu gewährleisten (Elbert & Ellinger 2005, 338; Köhler 2014; Reinhard 2014), weisen darauf hin, dass die FSL ihre Schüler zu den das allgemeine Schulsystem kennzeichnenden Erwartungen der Mittelschicht und zur Sicherung ihres Lebensunterhalts durch eigene Erwerbsarbeit hinführen soll. Hierin liegt wohl auch der markanteste Unterschied zur FS geistige Entwicklung.
Schulen mit kleineren Klassen, mehr und heterogen ausgebildeten Lehrern, andersartiger und umfangreicherer Raum- und Materialausstattung, stärker auf die Lebenspraxis ausgelegten Lehrplänen, mit verlängerter Schulbesuchszeit (FSgE: zwölf statt der üblichen neun Jahre), aber auch behinderungsspezifische Differenzierungsmaßnahmen in Regelschulen kosten Geld, und dieses steht in einem verwaltungsmäßig organisierten Land nur bei einem Anspruch, bei anerkanntem Bedarf zur Verfügung. Das gilt auch für die schulische Förderung nach den Lehrplänen der FSL und FSgE. So muss ein individueller Förderbedarf im FBL und FBgE nachgewiesen werden. Dessen Feststellung und die Erarbeitung eines individuellen Förderplans kann sowohl zu einer integrativen/inklusiven Förderung in einer Regelschule führen wie zur Unterrichtung in einer FS. Dieser variantenreicheren Zuordnungsmöglichkeit liegen Änderungen der Blickwinkel, Sichtweisen, Einstellungen, Menschenbilder zugrunde. Alle bisher üblichen Beschreibungen, Definitionen, Abgrenzungen waren und sind unscharf, zeitlich nicht stabil, uneinheitlich, eine Zeitlang gültige Sprachregelungen, die irgendwann durch andere ersetzt wurden und werden.
Die frühe Einteilung der WHO (1968) in Gruppen unterschiedlich schwer kognitiv Beeinträchtigter fällt bis in die Gegenwart immer wieder auf, an IQ-Testwerte gebunden, mittels Einschränkungen der Teilhabe am Leben und mit Bedarf an Unterstützung umschrieben. Ebenso auffällig ist, dass immer wieder versucht wurde, den Bezug auf das Intelligenz-Konzept durch Hinweise auf beeinträchtigte Bereiche zu erläutern und zu ergänzen ( Tab. 1.4), ohne dass es gelungen wäre, eine Grenzlinie zwischen den im deutschen Sinne Lernbehinderten und den geistig Behinderten zu ziehen.
Aus schulorganisatorischer Perspektive bleibt: Als geistig behindert bzw. als lernbehindert soll gelten, wer am ehesten nach den Lehrplänen der FSgE bzw. der FSL und den diesen Schulen eigenen Methoden erfolgreich lernen kann. Damit wird wieder die FSgE bzw. die FSL zur Definitionsinstanz des Förderbedarfs in den FSPgE und FSPL. Mit der Festlegung des Förderbedarfs wird der Lehrplan benannt, nach dem der Schüler unterrichtet werden kann, in welchem schulischen Setting auch immer. Wir nehmen bei diesen Überlegungen in Kauf, dass auch die Verfasser von Schulgesetzen und Lehrplänen Kriterien benötigen, nach denen sie ihre Arbeit gestalten. Gesetzesformulierungen und Lehrplanunterschiede in den einzelnen Bundesländern deuten darauf hin, dass das Dilemma der Kulturhoheit der Bundesländer auch hier nicht aufzulösen ist.
Die Schulform selbst stellt fest, wer nach ihrem Lehrplan zu unterrichten ist. DerLehrplandefiniert die Anforderungen der Schulform und wirkt so als Attraktor wie als Selektor für die zu ihm passenden Schüler. Und der Fortschritt besteht darin, dass diese Schulformen jetzt nicht mehr ›Sonderschulen‹, sondern ›FS‹ heißen. Das Definitions- und Abgrenzungsdilemma können wir nicht auflösen.
Damit machen wir Lernen und Lernfähigkeit und die Passung der entsprechenden Lehrpläne und Unterrichtsorganisationen zum Kriterium sowohl einer schwächeren wie einer stärkeren kognitiven Beeinträchtigung und trennen diese beiden Gruppen durch die individuell angemessene Passung zwischen Lehrplänen, Lernvoraussetzungen und Lernvermögen. Was mit dem Kernbegriff ›Kognition‹ gemeint ist, wird im nächsten Kapitel erörtert.
4 Von einem Zirkelschluss wird gesprochen, wenn das zu Definierende in seiner Erklärung bereits dasjenige enthält, was erst zu definieren ist. Lernbehinderungwird mit dem Besuch der Lernbehindertenschule definiert, denn dort gehen ja Lernbehinderte hin.
5 AAMR steht für die »American Association on Mental Retardation«, die frühere »American Association on Mental Deficiency« (AAMD), die sich 2007 in »American Association on Intellectual and Developmental Disabilities« (AAIDD) umbenannt hat.
6 Das Klassifikationssystem »Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen« (DSM) wird vom Verband amerikanischer Psychiater, der »American Psychiatric Association« (APA) herausgegeben, in der bekannteren vierten Ausgabe als DSM-IV (dt.: Saß, Wittchen & Zaudig 1996), in der Nachfolgeausgabe als DSM-5 (APA 2014; dt.: Falkai & Wittchen 2015). In der Behindertenpädagogik ist insbesondere die DSM-IV-Definition von geistiger Behinderung anhand von drei Kriterien aufgegriffen worden.
7 Die zur Jahresmitte 2018 publizierte englischsprachige Version des ICD-11 der WHO differenziert hier nun unter »Mental, behavioural or neurodevelopmental disorders« mit der Kodierung 6A00 »Disorders of intellectual development«; -.0 »mild disorder of intellectual development«; -.1 »moderate disorder of intellectual development«; -.2 »severe disorder of intellectual development«, -.3 »profound disorder of intellectual development« sowie die beiden Zusatzkategorien -.4 »Disorder of intellectual development, provisional« und -.Z »Disorders of intellectual development, unspecified«. (ICD-11 MMS 2018). Eine deutschsprachige Übertragung liegt noch nicht vor. Da sich die Begrifflichkeiten hier gegenüber der Vorläuferversion nicht geändert haben, ist auf der Ebene der Schweregrade auch ein Beibehalten der eingeführten deutschsprachigen Bezeichnungen zu erwarten.
8 Die sog. Lernbehinderten stellten im deutschen Schulsystem bisher die größte Gruppe der im pädagogischen Sinne Beeinträchtigten dar. 2014 wurden in Deutschland 191.546 Schüler mit FSPL (früher »Lernbehinderte« genannt) unterrichtet, das sind 37,7% aller Schüler mit sonderpädagogischer Förderung. Im Jahr 2016 wurden aus dieser Gruppe 44% zusammen mit Schülern ohne attestierten Förderbedarf in allgemeinen Schulen unterrichtet (KMK 2016, 3; Rehadat Statistik 2017). An FSL erreichten 2011 19,6% und 2012 beachtliche 22% der Schüler »einen herkömmlichen Hauptschulabschluss« (Malecki 2014, 600), an einem Saarbrücker Förderzentrum Lernen ca. 60% die Klasse 10 und den Hauptschulabschluss (Schreiner 2017, A2). Sie waren also in der Lage, mit verlängerter Schulzeit in kleineren Klassen und mit spezifischer didaktisch-methodisch-medialer Unterrichtsorganisation ein reguläres Schulziel zu erreichen. Die für sie speziell geschaffene Schulform, derzeit »Förderschule für den Förderbereich Lernen« oder kurz »Förderschule Lernen (FSL) «, ist wohl mit Abstand die bekannteste Form der Sonderbeschulung außerhalb des Regelschulsystems.
9 »Beeinträchtigung« wurde traditionell als Oberbegriff für (soziale) Problemlagen, Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen benutzt. Ellinger spricht lieber von »Schwierigkeiten« statt von »Beeinträchtigungen« als Oberbegriff und vom »sonderpädagogischen Förderbedarf« statt von »Behinderung« (Ellinger 2013, 21).
10 74.713 Schüler mit einer geistigen Behinderung wurden 2014 in Deutschland in FS unterrichtet, 7.192 in allgemeinen Schulen, zusammen 81.905 Schüler mit FSPgE. 91,2% aller Schüler mit FSPgE besuchten demnach FS, 8,8% allgemeine Schulen (KMK 2016, 5). Die FSgE wird eindeutig stärker bevorzugt, auch wenn 2014 kein Absolvent dieser Schulform einen Hauptschulabschluss erreicht hat (Malecki 2014, 600).
11 Die ICD-Reihe – »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme – ICD) dient der Medizin zur Verschlüsselung von Diagnosen und zur Abrechnung von Leistungen. Die ICD liegt aktuell als ICD-10 (Version 2012) vor, in Deutschland als »German Modification« ICD-10-GM (Version 2014). Eine Nachfolgefassung ICD-11 wurde aktuell am 18.06.2018 von der WHO verabschiedet. Über den Zeitpunkt einer möglichen Einführung der ICD-11 in Deutschland sind noch keine Aussagen möglich (DIMDI 2018).
12 ICF steht für »Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (WHO 2002).
13 IQ-Tests werden in der Regel so konstruiert und normiert, dass der Populationsmittelwert bei 100 liegt und eine Standardabweichung 15 IQ-Punkte beträgt. Unter der Normalverteilungsannahme ergibt sich somit eine Glockenkurve wie in Abbildung 1.1, bei der sich aus den Abweichungen vom Mittelwert jeweils erkennen lässt, wie welcher Prozentanteil von Personen innerhalb eines IQ-Bereichs vorzufinden ist.
14 Wobei der Begriff »borderline« hier nicht mit dem gleichnamigen klinischen Diagnoseterm bei mangelnder Impulssteuerung verwechselt werden darf.
15 Im ICD-11 ist keine auf IQ-Werten mehr basierte Trennung zwischen profound und severe vorgesehen, da hier keine geeigneten Testverfahren mit ausreichender Messgenauigkeit zur Verfügung stehen.
16 ICD-11 (2018).
17 Keimtheorie: Die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts sich durchsetzende Lehre von der eindeutigen Verursachung bestimmter Krankheiten durch Keime, z. B. Bakterien, mit Heilungschancen durch passende Medikamente und Prophylaxe durch Impfungen (Deaton 2017, 21, 121).
Im ersten Kapitel sind die Gruppen der Lernbehinderten und der geistig Behinderten zur Gruppe der in ihrer Kognition Beeinträchtigten zusammengefasst worden. Kognition18 ist ein weit umfassender Begriff, »ein allgemeiner Begriff für alle Formen des Wissens und Denkens« und umfasst »sowohl Inhalte als auch Prozesse« (Gerrig 2016, 286), ist mit vielen Aspekten assoziiert und vielfältig zu definieren versucht worden. Schneider & Lindenberger (2012) definieren Kognition so:
Kognition ist ein »Sammelbegriff für alle Prozesse und Ergebnisse des Erkennens und der Informationsverarbeitung wie Wahrnehmung, Repräsentation, Denken, Gedächtnis, Wissen, Welt- und Selbsterkenntnis« (ebd., 772).
Mit seiner Auffassung von »Kognition« als der »Fähigkeit sensorische Unterschiede wahrzunehmen und weiterzuverarbeiten« verweist Ciompi (2001, 22) gleichzeitig auf den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Kognition, Wahrnehmung und Denken. Kognition und Intelligenz werden vielfach synonym verwendet (Sarimski 2003, 151). Dieses weite Verständnis fasst Kobi (2004) zusammen, der gleichzeitig auf für Schule und Lernen wichtige Momente hinweist.
»Mit Kognition bezeichnen wir die Fähigkeit, Beziehungen, Bedeutungen, Ordnungen und Sinnzusammenhänge zu erfassen und herzustellen (Vergleichen, Abstrahieren, Kombinieren […] von Bewusstseinsinhalten), sachgemässe Urteile zu fällen und Schlüsse zu ziehen« (Kobi 2004, 183).
Einen Eindruck von dem sehr weiten Verständnis von Kognition finden wir bezogen auf deren Förderung in der FSgE bei den Stichworten bzw. Indizien von Pohl, die er dem »Bereich des Kognitiven« (1979, 247–260) zuordnet. Zu den Inhalten der kognitiven Förderung geistig Behinderter zählt Pohl die Gewinnung von Gegenstandsverständnis, den Erwerb spontanen Handelns und von Begriffen des Raumes und der Zeit, das Unterscheiden von Formen, Farben, Gegenständen, das Ordnen und Benennen, das Vergleichen, Unterscheiden und Zuordnen, das Erfassen von Regeln und Regelmäßigkeiten, das Herstellen von Beziehungen, und schließlich die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese ältere Auflistung wie auch aktuellere Beispiele bei Eggen & Schellenberg (2010) erwecken den Eindruck, dass letztendliche Aufgabe des kognitiven Lernens der Erwerb der sog. Kulturtechniken sei.
Innerhalb des Begriffs der Kognition wird zwischen kognitiven Inhalten, kognitiven Funktionen und kognitiven Prozessen unterschieden.
Kognitive Inhalte sind das, was man weiß: »Begriffe, Fakten, Aussagen, Regeln« (Gerrig 2016, 286), auch »Einstellungen, Überzeugungen, Erwartungen« (Psychomeda-Lexikon der Psychologie 2017). Sie existieren als Repräsentationen, nach Kossakowski & Lompscher (1977, 123) als »innere Abbilder der Gegenstände, Beziehungen, Vorgänge und Zustände der äußeren Umwelt, […] des eigenen Organismus sowie der Beziehungen des Individuums zur Umwelt in Form von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffen, Urteilen, Meinungen, Emotionen u. a.«. Im Kontext von Lehr-/Lernzielen werden kognitive Lerninhalte als »das Wissen über Fakten, Konzepte, Regeln, Prozeduren oder Prinzipien« (Döring 2010, 3) beschrieben. Solche Inhalte sind nach Bruner (1974, 16–18) im Menschen repräsentiert
• als operative Vollzüge mit kinästhetischen Rückmeldungen (»enaktiver« Modus); Beispiel: Fahrrad fahren als Bestandteil des prozeduralen Gedächtnisses ( Kap. 3.4), das Teil des impliziten Gedächtnisses ( Kap. 3.5.2) und damit des LZG ist,
• als visuelle, anschauliche Bilder (»ikonischer« Modus) als Inhalt des ikonischen Gedächtnisses ( Kap. 4.1) und als Teil des deklarativen/expliziten Gedächtnisses auch Teil des LZG ( Kap. 3.3.1),
• als sprachliche Symbole (»symbolischer« Modus) als Teil des semantischen Gedächtnisses ( Kap. 3.3) und damit Teil des expliziten/deklarativen Gedächtnisses, das ebenfalls Teil des LZG ist.
Kognitionen sind aktiv konstruierte »Schemata«, die sich in der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt über die Integration von neuen Erfahrungen in bestehende Schemata (Assimilation) und die Anpassung, die Veränderung der mentalen Strukturen (Akkomodation) in möglichst großer Übereinstimmung mit den Wahrnehmungen der Umwelt entwickeln (Piaget 1969). Der Verweis auf die Integration neuer Erfahrungen in bereits bestehende Schemata macht deutlich, wie eng kognitive Inhalte mit dem Gedächtnis verbunden sind. Alle kognitiven Inhalte werden im sog. LZG aufbewahrt, dem »Speicher für alles, was wir bisher erlebt haben und alles, was wir im bisherigen Leben gelernt haben« (NTC-RUB 2017, 6). Mit der Organisation und Funktion des Gedächtnisses befassen sich die Kapitel 3, 4, 6 und 9.
Kognitive Funktionen dienen dazu, Informationen aufzunehmen, zu interpretieren und zu verarbeiten, z. B. »Beziehungen wahrnehmen, vergleichen, klassifizieren, Unterschiede und Ähnlichkeiten feststellen usw.« (Dias & Studer 1994, 413). Dabei können solche Informationen von außen wie von innen auf das Individuum einwirken (ebd., 412). Sarimski (2003, 151) versteht unter kognitiven Funktionen alle Prozesse, »durch die ein Individuum Wissen über die Umwelt erwirbt«, und die Begriffe Kognition und Intelligenz sieht er vielfach synonym gebraucht. Als kognitive Funktionen werden auch benannt: Fühlen, Urteilen, Wollen, Handeln, Lernen, Vorstellungsvermögen, Kreativität, Orientierung, Argumentation, Selbstbeobachtung, sogar Glauben. Als Funktionen dienen sie einem Zweck; in ihrem Funktionieren werden sie jedoch durch Prozesse, Vorgänge, Abläufe geprägt, so dass es sich empfiehlt, sie unter den kognitiven Prozessen weiter zu betrachten.
Die APA kennzeichnet kognitive Prozesse als »höhere geistige Prozesse wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Problemlösen und abstraktes Denken«19 (APA 2017). Kognitive Prozesse beschreiben, wie man die »kognitiven Inhalte manipuliert – sodass man die Welt um sich herum interpretieren kann und kreative Lösungen findet, um die Anforderungen des Lebens zu bewältigen« (Gerrig 2016, 286). Sarimski (2003, 151) listet zusätzlich zu den APA-Kategorien folgende Prozesse auf: Aufmerksamkeit, schlussfolgerndes Denken und die sog. exekutiven Funktionen wie Planen, Auswählen und Bewertung von Lösungsstrategien sowie deren Ausführungskontrolle, und Benesch (1994, 199) rechnet zudem die kreative Veränderung von Wissen wie die Rückbesinnung auf die Erkenntnis zur Kognition. Kognitive Prozesse sind Vorgänge, die über die Zeit hinweg ablaufen, an Inhalte gebunden sind und Regeln benötigen, nach denen die Inhalte miteinander verbunden werden.
Damit ein Fußballspiel ablaufen kann, sind nicht nur mehrere Spieler erforderlich (Akteure) oder ein Ball (Inhalt) oder Spielregeln (Regeln), sondern es werden Spieler und ein Ball und Spielregeln benötigt. Solche Regeln verweisen darauf, dass mehrere – u. U. viele – Faktoren ineinandergreifen und dass kognitive Prozesse organisiert ablaufen und hierarchisch geordnet sind.
Als kognitive Prozesse benennen Eggen & Schellenberg (2010, 93), eng an Prozessen des Gedächtnisses orientiert, die Aufmerksamkeit (attention), die Wahrnehmung (perception), die Enkodierung (encoding) und das Zurückrufen (retrieval), also Prozesse, die Informationen innerhalb des Gedächtnisses bewegen und damit Gedächtnisfunktionen beschreiben und verarbeitungsbezogen sind (Petravić & Horvatić Čajko 2014, 112). Leffert & Siperstein (1996) beobachteten kognitive Prozesse in sozialen Situationen bei Kindern mit einer »mild mental retardation« (IQ: 55 ≤ 75) und unterscheiden handlungsorientiert zwischen (1) der Wahrnehmung und (2) der Interpretation (einer sozialen Situation), (3) der Entwicklung einer Verhaltensstrategie und (4) der Überprüfung der Konsequenzen dieser Strategie. Sie beziehen also individuelle Reaktionen und deren Erfolgsbewertung mit ein. Alle vier Phasen bedürfen der Mitarbeit des Gedächtnisses. Konsequent zählen Dias & Studer (1994) und Hayes (1995, 11–40) auch das Gedächtnis und die Sprache zu den kognitiven Prozessen. Dies alles sind Vorgänge, die in ihrem prozesshaften Charakter von der Schule gefördert werden müssen.
Wahrnehmung (Perzeption) bezieht sich auf den Prozess, wie mit den Sinnesorganen aufgenommene Informationen verstanden und interpretiert werden, mit Kobi:
»Perzeption umfasst nicht nur die physiologische und periphere Sinnestätigkeit, sondern auch die cerebrale und psychische Verarbeitung (Decodierung, Einordnung, Speicherung, Deutung …) von Sinnesdaten« (Kobi 2004, 173).
Damit Informationen gespeichert und passende Handlungsstrategien entwickelt werden können, werden die eintreffenden Informationen dekodiert, ihnen entsprechende Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge zugeschrieben und encodiert, gespeichert. Hayes (1995, 14) spricht bei dieser Abfolge unmittelbar Fragen der Gedächtnisbildung an:
• Aufgenommen werden Informationen durch die sensorische Reizaufnahme und das sensorische Gedächtnis oder UKZG ( Kap. 4, Kap. 5).
• Aus den einzelnen Informationsitems werden bestimmte Informationscluster gebildet, um das herauszuarbeiten, was die einzelnen Items repräsentieren. Hier wird das AG angesprochen, in dem solche Verarbeitungsprozesse stattfinden ( Kap. 6, Kap. 7).
• Die Ergebnisse werden mit dem Vorwissen verbunden, um den Informationen einen bestimmten Sinn zu verleihen. Das Vorwissen seinerseits wird vom LZG zur Verfügung gestellt, das so bereits bei der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle spielt ( Kap. 9, Kap. 10).
Mit dieser Abfolge weist Hayes gleichzeitig darauf hin, wie eine Beschäftigung mit dem Gedächtnis erfolgen kann.
Eng verbunden mit dem Prozess der Wahrnehmung ist das Konzept der Aufmerksamkeit.
»Aufmerksamkeit meint den Prozess, der ein Individuum in die Lage versetzt, die relevanten Informationen in einem Reizangebot zu fokussieren und die Beachtung nicht-relevanter Informationen zu hemmen« (Sarimski 2003, 151).
Wentura & Frings (2013, 84) bezeichnen diese Funktion als »Selegieren« und benennen als weitere Funktionen das »Planen/Kontrollieren« und das »Überwachen«. Weitere Unterscheidungen betreffen die zeitlich überdauernde (Konzentration) und die geteilte und die selektive Aufmerksamkeit (Hayes 1995; Rosenberg, Westling & McLeskey 2013). Zusätzlich wird noch von der Aufmerksamkeitsdiffusion gesprochen (ausführlicher in Kap. 4 und 5).
Denken »wird operational definiert als das Herstellen von Ordnungen der angetroffenen Welt. Dieses Ordnen vollzieht sich an Gegenständen ebenso wie an den Repräsentationen der Gegenstandwelt. D[enken] ist auch das Ordnen von Beziehungen zwischen Gegenständen ebenso wie das Ordnen von Beziehungen zwischen Repräsentationen von Gegenständen« (Jorswiek 1996, Sp. 346).
Denken dient demnach dem Schaffen von Ordnung, dem Aufräumen der Welt, der realen Welt (Realität) wie der gedanklichen Repräsentationen der äußeren Realität in der subjektiven Wirklichkeit, die im Gedächtnis aufbewahrt sind. Zu den Einzelaspekten des Denkens gehören außerdem auch das logische und schlussfolgernde Denken sowie das Problemlösen.
Sog. Repräsentationen sind die Inhalte, die gespeichert werden können. Um z. B. die Person des Nachbarn zu speichern, wird ein bestimmtes Bild mit dieser Person verbunden, das wieder abgerufen werden kann. Mit zunehmendem Alter scheinen sich die Repräsentationen mit der zunehmenden Komplexität der zu verarbeitenden Informationen weiter auszudifferenzieren. Ein wichtiger Bereich des Denkens betrifft die Manipulation, Kombination und Neustrukturierung der Repräsentationen zum Zwecke neuer Einsichten und Erkenntnisse (Hayes 1995, 27).
Eine Heuristik oder Faustregel ist eine bewusste oder unbewusste Strategie, die Teile der Information ausklammert, um bessere Urteile zu fällen (Rekognitionsheuristik, Hiatus-Heuristik, Begründungssequenz, Orientierung am sozialen Modell; Gigerenzer 2013, 380).
Logisches und schlussfolgerndes Denken: