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New York erfindet sich immer wieder neu: Nach dem Anschlag von 9/11 ist dies zuletzt geglückt und New York ist als glitzernde Sehnsuchtsmetropole wiederauferstanden. Die Krisen der Pandemie und der BLM-Bewegung zwingen die Stadt ein weiteres Mal, sich infrage zu stellen und sich für einen Weg zu entscheiden. Sebastian Moll, seit vielen Jahren Wahl-New-Yorker, erlebt die Stadt durch die Augen ihrer Bewohner: Er besucht einen Broadway-Star in Washington Heights, Straßenkünstler in Harlem, begibt sich nach Chinatown und Staten Island zu Nachkommen von irischen und italienischen Immigranten und zu den Schwimmern von Brighton Beach. Er beobachtet die florierende Technologie-Branche in der Stadt, besucht Ground Zero zum zwanzigjährigen Gedenktag und beschreibt den Kampf um eine grüne Verkehrswende.
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Seitenzahl: 144
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Sebastian Moll
Stories aus einer Stadt im Umbruch
Picus Verlag Wien
Copyright © 2022 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © cdrin/Shutterstock
ISBN 978-3-7117-1114-4
eISBN 978-3-7117-5477-6
Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at
Stadt am Scheideweg
Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft
Die Wiederkehr des Unterdrückten
Wie New York in der Pandemie seine Wildheit zurückgewann
Das nächste Mal ein Feuer
Harlem ist überall
Ihr Leben ist hier
Begegnung mit den letzten deutschen Juden von Washington Heights
Die Duldsamen
Die Asiaten von Chinatown wehren sich gegen wachsende Diskriminierung
Insel der Unbeirrbaren
Unterwegs auf Staten Island, dem vergessenen Stadtbezirk
Silicon Alley
Wie New York sich von einer Finanz- in eine Technologiestadt verwandelt hat
Im Flow
Fahrradkrieg und Fahrradkultur auf den Straßen von New York
On the Waterfront
Wie New York seine Ufer wiederentdeckt hat
In Grimaldos Reich
Die heilenden Wasser von Brighton Beach
Über den Autor
Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft
Bei einem jener wöchentlichen Spaziergänge durch Manhattan, die mir zur Gewohnheit geworden waren, seit das Coronavirus im Frühling 2020 New York in den Ausnahmezustand versetzte, fand ich mich ganz im Westen der Insel wieder, dort, wo der sechsspurige Westside Highway die Stadt vom Wasser abtrennt und wo in normalen Zeiten Kreuzfahrtschiffe an den letzten funktionierenden Piers im Hudson anlegen. Es muss Sommer gewesen sein, ich erinnere mich an jene drückende Schwüle, die zwischen Juli und September oft über der Stadt hängt und die einem manchmal das Atmen schwer macht.
Zwischen der 10th Avenue und dem Fluss ist hier in den vergangenen Jahren eine neue Stadt innerhalb der Stadt entstanden. Aus dem alten U-Bahn-Depot zwischen der 30th und der 34th Street ist ein Ensemble an funkelnden neuen Wolkenkratzern gewachsen, das vom Fluss her wirkt wie eine Art Fata Morgana. Herausgelöst aus der Midtown Skyline scheint der Distrikt, der frech den Blick auf das alte Empire State Building verstellt, irgendwo zwischen Land und Wasser zu schweben.
Dankbar für die Vollklimatisierung schlüpfte ich an der Ecke der 33rd Street und der 10th in die Nummer 20 Hudson Yards, die Shoppingmall, die den Passanten in den funkelnden neuen Wohn- und Geschäftsbezirk hineinziehen soll. Über eine Rolltreppe gelangte ich in das drei Stockwerke hohe Atrium der Geschäftspassage, wo ein livrierter Portier mich übertrieben herzlich begrüßte. Die Herzlichkeit des Personals setzte sich beim Flanieren durch die Shops fort. Gleich ob bei Dior, Chanel oder Sephora, ich wurde von den modisch gekleideten Verkäufern umgarnt, als wäre ich die Gattin eines russischen Ölmilliardärs. Der unterbeschäftigte Barista des Espresso-Standes wollte mir gar einen ausgeben. Dabei konnte man sich von mir in meinem verschwitzten T-Shirt nicht ernsthaft einen nennenswerten Verkaufserlös versprechen.
Der Grund für die übertriebene Herzlichkeit war wohl eher Langeweile. Die Hudson Yards, wie der neue Bezirk in Anspielung auf die darunter liegenden railyards – also die dort zur Wartung geparkten U-Bahn-Waggons – genannt wird, sind eine Geisterstadt. Für Passanten wie mich sind die Edelboutiquen nicht eben einladend, sie sind abgelegen und der Zugang muss gesucht werden. Sie sind vielmehr für die Bewohner der Yards gedacht, die nach der Fertigstellung des Prestigeprojekts 2019 hier einziehen sollten. Doch sie blieben aus. Die Mietpreise von fünftausendzweihundert Dollar für eine Zweizimmerwohnung und die Kaufpreise von zweiunddreißig Millionen für ein Penthouse gingen schon 2019 am Markt vorbei. Mit dem Beginn der Pandemie wurden sie utopisch.
So fegt über die zumeist leere Plaza im Zentrum der Yards ein Wind, der sich selbst im Sommer eisig anfühlt. Papierverpackungen wehen quer über die Betonfläche, die allen Lippenbekenntnissen der Planer zum Trotz alles andere als wirtlich ist. Kaum ein New Yorker verirrt sich hierher, um die Wunderwerke der zeitgenössischen Architektur von Stars der Branche wie Frank Gehry, Herzog & de Meuron, Santiago Calatrava oder Robert A. M. Stern zu bewundern. Noch weniger Menschen sind geneigt, das Gebilde zu erklimmen, das in der Mitte der Plaza sechsundvierzig Meter hoch in den Himmel ragt. Die begehbare »Skulptur«, wechselweise das »Schwarma«, »Treppe ins Nichts« oder »Papierkorb« genannt, ist zum traurigen Symbol des Scheiterns der Anlage geworden. Alleine im Jahr 2020 stürzten sich drei Menschen von dem Kunstwerk aus in den Tod.
Ein paar Blocks weiter im Osten von Manhattan, am Times Square, jener Kreuzung, die als das Herz New Yorks bezeichnet wird, tobt zu Beginn des Jahres drei der Pandemie hingegen das Leben. Gruppen von schwarzen Jugendlichen stehen um hüfthohe Lautsprecher herum versammelt und zeigen sich gegenseitig ihre neuesten Breakdance Moves. In den Zonen, die die Stadt für Schausteller markiert hat, tummeln sich nicht mehr die Goofys, Elmos und Batmans, mit denen sich vor Covid die Touristen ablichten ließen, sondern ein exzentrischer Mix aus Charakteren. Da ist etwa Silk, eine wirklich angsteinflößende Erscheinung. Der schwarze Mann ist eins neunzig groß und zeigt auch im Winter seinen Oberkörper, der muskelbepackt ist wie der von Mike Tyson zu seinen besten Zeiten. Darüber trägt er eine Jokermaske sowie dicke Ketten um den Hals und um die Hüfte.
Oder die Naked Cowgirl, die ebenfalls seit Covid zum Inventar des Platzes geworden ist. Sie ist eine Art lebende Parodie auf die Times-Square-Institution Naked Cowboy, der seit vielen Jahren in der Unterhose hier Gitarre spielt und sich gegen Trinkgeld mit Touristinnen ablichten lässt, die dann auch gerne einmal ihre Hand über seine gestählte Brust oder seinen Hintern gleiten lassen. Die Cowgirl, die hier ebenfalls im Slip auftritt, geht hingegen auf die achtzig zu und stellt stolz ihren alternden Körper zur Schau.
Die Touristen, die bis zum Frühjahr des Jahres 2020 den Platz dominiert haben, sind derweil noch lange nicht wieder in voller Stärke zurück. Auch im Jahr 2021 kamen gerade weniger als ein Viertel so viele Besucher nach New York wie 2019. Und diejenigen, die an den Times Square kommen, schleichen etwas verängstigt und verstört um den Rand des Platzes, anstatt wie vorher wie selbstverständlich das Herz New Yorks für sich zu beanspruchen und die New Yorker, die sich hier täglich durch die Massen kämpfen mussten, in den Wahnsinn zu treiben.
Die Büroarbeiter von Midtown sind freilich auch nur zögerlich zurückgekehrt. Die großen Firmen machen wenige Anstalten, ihre Angestellten wieder in die teuren Büros in den Wolkenkratzern des zentralen Geschäftsbezirks von New York zu zwingen. Schließlich hat es während Covid auch ganz gut funktioniert und vielleicht kann man sich ja in Zukunft die teure Miete am begehrtesten Business-Standort der Welt sparen.
Kurzum, die Energie ist in Manhattan eine gänzlich andere geworden. Das hastende, hetzende Gewimmel von Midtown, angetrieben von der grenzenlosen Ambition der Stadt, ist etwas Wilderem, Anarchischerem gewichen. Der Blogger Jeremiah Moss, von dem später noch mehr die Rede sein wird und der sich als Flaneur in der von Covid zutiefst erschütterten Stadt einen Namen gemacht hat, hat das New York der 2020er Jahre als feral bezeichnet, als ungezähmt. Moss wollte die Rückkehr von etwas beobachtet haben, was seit mehr als vierzig Jahren aus dem Stadtbild verschwunden war, eine »aggressive sexuelle Energie«, die in New York unterdrückt war, seit man Ende der siebziger Jahre begonnen hatte, die Stadt aufzuräumen und stubenrein zu machen.
So fühlte sich Moss, der im Hauptberuf als Psychotherapeut arbeitet, in den Jahren 20/21 wie magisch zum Times Square hingezogen, einem Ort, den New Yorker mieden wie die Pest, als die Touristen ihn noch beherrschten. Die Wiederaneignung des Platzes durch schwarze Kids aus der Bronx und weirdos aller Art war Balsam auf seine Seele, die sich von der aufgeräumten, funkelnden Luxusstadt der vergangenen Jahre geschunden und ausgedürstet fühlte.
Ebenso fühlte er sich zu den wilden Partys hingezogen, die während der Pandemie im Washington Square Park begannen und die sich selbst unter dem Druck der Anwohner und der Polizei weigerten, wieder zu verschwinden. Junge Menschen aus der ganzen Stadt kommen hier Nacht für Nacht zusammen, seit die Clubs und Bars schlossen, um Musik zu hören und Spaß zu haben, auch zu trinken und Drogen zu nehmen, aber eben auch, um sich politisch zu organisieren. Die Proteste, die nach der Ermordung von George Floyd im Sommer 2020 die Stadt überzogen, gingen fast sämtlich von hier aus. Und an dem Tag, an dem Donald Trump aus dem Amt gewählt wurde, fand hier die größte, ekstatischste Party der gesamten usa statt.
Zu jener Zeit, am Ende des brutalen Jahres 2020, war die Stadt noch nicht in der Lage, über ihre Zukunft nachzudenken. Man stand noch immer unter dem Schock von einem traumatischen Ereignis nach dem anderen. Die New Yorker hatten noch immer die Sirenen in den Ohren, die im Mai jenes Jahres beinahe rund um die Uhr gespenstisch durch die leeren Straßen heulten, um Covid-Patienten auf die restlos überfüllten Intensivstationen zu bringen. Man erinnerte sich noch frisch an die Leichencontainer vor den Krankenhäusern, die herangeschafft werden mussten, weil die Bestatter nicht nachkamen.
Man erinnerte sich aber auch noch an die Wut, die sich in den Straßen entlud, nachdem in Minneapolis George Floyd von einem Polizisten vor laufenden Handykameras ermordet wurde. New York hat seine eigene Geschichte der exzessiven Polizeigewalt und George Floyd war für die afroamerikanische Minderheit nicht einen halben Kontinent entfernt, sondern ganz nahe.
Es war aber nicht nur die Wut über die Polizei, die sich hier in tagelangen Ausschreitungen Bahn brach, sondern auch darüber, dass Covid einmal mehr die extreme soziale Ungleichheit der Stadt zutage gefördert hatte. Die Infektions- und die Todeszahlen waren in den armen schwarzen und Latino-Quartieren wie Harlem, der Bronx und Teilen von Brooklyn um ein Vielfaches höher als überall anders. Medizinische Unterversorgung, dicht gedrängte Wohnquartiere und die Not, trotz Covid zur Arbeit gehen zu müssen, ließen die Epidemie durch diese Bevölkerungsschichten brennen wie ein Funke durch trockenes Nadelholz.
Am eindrücklichsten ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben, dass jede Nacht ein Mann durch meine Straße in Harlem kam und mit seinem tiefen Bariton Sam Cookes Ballade » A Change Is Gonna Come« anstimmte. Die Menschen kamen an ihre Fenster, um dem Lamento zu lauschen, manche stimmten ein, am Ende applaudierten alle. Es war ein kurzer Moment des gemeinsam empfundenen Schmerzes, der alles ein ganz klein wenig erträglicher machte.
Im Verlauf des Jahres 2021 wurde jedoch immer deutlicher, dass es für New York kein schnelles Zurück zum Zustand vor Covid geben würde. Mehr noch, es wurde deutlich, dass es ein Zurück zum Zustand von 2019 wahrscheinlich überhaupt nie geben würde. Und viele in der Stadt glauben bis heute, dass das auch gar nicht so schlimm ist.
So ist in New York die Schadenfreude darüber weit verbreitet, dass die Hudson Yards zur Geisterstadt verkommen. Für viele New Yorker sind die Yards das krasseste Symbol dafür, was mit jener Ära, die mit Covid zu Ende gegangen ist, nicht gestimmt hat.
Der Architekturkritiker der New York Times, Michael Kimmelman, hat die Yards als » Gated Community« für die Superreichen bezeichnet und genau so kommen sie daher. Sie sind ein Stadtbezirk, in dem Betuchte unbehelligt vom Schmutz und Lärm der restlichen Stadt ein Leben in Annehmlichkeit und Luxus führen können.
Die Yards sind eine vollkommen in sich abgeschlossene Welt, gestaltet von den renommiertesten Architekten unserer Zeit, die mit ihren Namen Prestige und somit satte Mietpreise garantieren. Der Bewohner kann von seinem Penthouse mit distanziertem Blick über die Skyline in eines der vielen Edelrestaurants des Komplexes gehen, ohne auch nur einen Mantel anzuziehen. Für Unterhaltung und Kultur sorgt der futuristische Event-Space » The Shed«, in dem von Kunst über Kino, Musik und Avantgarde-Theater alles geboten wird, was das Herz des » Urban Sophisticate« begehrt. Fitnessstudios, Schwimmbad und Edelboutiquen sind ebenso unter demselben Dach wie der Bio-Supermarkt Whole Foods.
Das ganze Gebilde ist die Vision des Bürgermeisters Michael Bloomberg, der 2002, unmittelbar nach 9/11, die Geschäfte der Stadt übernahm. Bloomberg und sein Vize, der Immobilienentwickler und Financier Dan Doctoroff, hatten von Anfang an ihre Augen auf das industriell brachliegende Areal an der Westseite geworfen.
Alleine um dessen Entwicklung voranzutreiben, bewarb New York sich gleich 2002 für die Olympischen Spiele 2012. Die Bewerbung erlaubte das rezoning der Yards, die Aufhebung der Nutzungsbeschränkungen und Bauauflagen. Vorwand war der Bau eines Olympiastadions, und New York feierte das damals als Beleg für den berühmten New Yorker Geist der Resilienz nach den Anschlägen des 11. September. In Wirklichkeit waren Doctoroff und Bloomberg die Spiele selbst jedoch gar nicht so wichtig. Es ging eher darum, nicht nur an den Hudson Yards, sondern an verschiedenen Stellen von New York große Flächen zur Neubebauung freizugeben.
Mit der Methode rezoning hat Bloomberg das Gesicht von New York verändert. In den zwölf Jahren seiner Amtszeit hat der Medienmilliardär vierzig Prozent der Stadtfläche umgewidmet. Die Stadt hat eine Bautätigkeit im großen Stil erlebt, wie seit der Ära des großen Städteplaners Robert Moses nicht mehr, der zwischen den dreißiger und den sechziger Jahren das moderne New York mit breiten Highways, Sozialsiedlungen, aber auch geliebten Kultureinrichtungen wie dem Lincoln Center geschaffen hat.
Dabei war das Prinzip der Neuentwicklung stets das gleiche. Bloomberg gab ein Viertel frei und schaffte massive Anreize für Investoren. So wie in den Hudson Yards, wo Bauherren und kommerzielle Mieter nach einer Untersuchung der New School for Social Research den Gegenwert von sechs Milliarden Dollar geschenkt bekamen. Die Investmentfirma BlackRock etwa, die jährlich sechs Milliarden umsetzt, bekam fünfundzwanzig Millionen an Steuererleichterungen für das Versprechen, in die Yards zu ziehen.
Der Öffentlichkeit wurde das jeweils dadurch schmackhaft gemacht, dass man die Firmen dazu verpflichtete, zumindest symbolisch etwas für das Wohl der Allgemeinheit zu tun. Öffentliche Nutzflächen etwa oder einen bestimmten Prozentsatz an angeblich bezahlbarem Wohnraum. Für die Menschen, die bereits in den rezoned Vierteln wohnen, waren diese Einheiten jedoch selten tatsächlich bezahlbar.
Bloomberg, ein in sozialen und kulturellen Fragen durchaus liberaler New Yorker, operierte auf der Grundlage der konservativen ökonomischen » Trickle Down«-Philosophie. Wenn es den Firmen, der Stadt und den Wohlhabenden gut geht, so die Theorie, dann geht es allen gut. Der Wohlstand wird sich schon magisch nach unten verteilen.
So war es Bloombergs oberstes Bestreben, die Stadt für die internationalen Konzerne, ihre Angestellten sowie für die mächtige Tourismusbranche attraktiv zu machen. Der globale Unternehmer schielte ständig nach London, Shanghai oder Singapur, mit denen er New York in einem Wettstreit um den Top-Spot in der Metropolen-Weltrangliste sah.
Dass die Trickle-Down-Philosophie für New York nicht funktioniert, war für die Stadt offenkundig, als sie nach zwölf Jahren Bloomberg Bilanz zog. Rund ein Viertel der Stadtbevölkerung lebte unter der Armutsgrenze, mehr als siebzigtausend Menschen waren obdachlos, während die Upper East Side die größte Dichte an Milliardären irgendeiner Wohngegend der Welt aufwies.
Die Hudson Yards stehen heute als Relikt jener Ära und als Symbol dafür, dass sie wohl endgültig zu Ende ist. Einer Ära des Exzesses und der Hybris in New York, die mit Covid ihren natürlichen Endpunkt gefunden hat.
Dass es mit New York so nicht weitergeht, wussten die Bürger bereits im Jahr 2012, als Bloomberg, auch wenn er es gerne gewollt hätte, von Gesetzes wegen nicht ein viertes Mal antreten durfte. Die Stadt wählte Bill de Blasio, einen ehemaligen Studentenbewegten mit einer charmanten afroamerikanischen Frau und einem Poster von Che Guevara in seinem Büro. De Blasios deutlichste und letztlich einzige Wahlkampfbotschaft war, dass die »Geschichte zweier Städte« in New York aufhören muss und dass es dringend Zeit wird, die Gräben zwischen Arm und Reich zu überbrücken.
Doch de Blasio blieb ein schwacher, uneffektiver Bürgermeister. Er setzte sich weder gegen die Macht der Firmen und Immobilienentwickler durch, noch gegen die Polizei, die spätestens nach 2014, als ein Zigarettenverkäufer namens Eric Garner in Staten Island unter dem Knie eines Polizisten starb, unter Beschuss geraten war. Als es im Sommer 2020, dem Sommer von Black Lives Matter, zwei Nächte lang zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten kam, saß de Blasio zaudernd an der Seitenlinie.
Sein Nachfolger Eric Adams hat nun die Regler zu einer Stadt an die Hand bekommen, deren Zukunft vollkommen offen ist. Das Vergangene kommt nicht wieder, das Neue ist noch nicht da. Es ist eine Zeit in New York, die mit Angst und Unsicherheiten behaftet ist, aber auch mit vielen Chancen. Es ist eine spannende Zeit, um in New York zu sein, spannender noch als meist ohnehin.
Wie immer in solchen Zeiten, sprüht die Fantasie. Es werden Szenarien gezeichnet, die von der Apokalypse bis hin zu einem neuen goldenen Zeitalter reichen. Manche befürchten die Rückkehr der sechziger und siebziger Jahre, als die Stadt pleite war, der Verfall herrschte, Drogen- und Gewaltkriminalität allgegenwärtig waren und die weiße Mittelschicht aus der Stadt floh. Andere glauben, dass eine Zeit anbricht, die fairer und menschlicher ist, in der die Menschen sich mehr umeinander sorgen, mehr Bevölkerungsgruppen mitreden und das, was die Stadt zu bieten hat, allen zur Verfügung steht.
Der Stadthistoriker Thomas Dyja, der ein beeindruckendes Vierhundert-Seiten-Werk über die letzten vierzig Jahre der New Yorker Geschichte geschrieben hat, gehört jedenfalls zu den Optimisten. Auch wenn die Stadt über die nächsten Jahre hoffnungslos verschuldet ist und unklar ist, ob und wann die großen Firmen und die Touristen wieder große Summen in die Stadtkassen pumpen, ist er unbesorgt. Viel wichtiger, sagt er, als der pekuniäre Reichtum, sei das »intellektuelle, kreative und spirituelle Kapital einer Stadt«. Und in dieser Hinsicht werde New York wohl immer eine der reichsten Städte der Welt bleiben.
Wie New York in der Pandemie seine Wildheit zurückgewann