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Wir alle sind an unsere Bibel gewöhnt: Altes und Neues Testament. Die Frage scheint erstaunlich, ob das Alte Testament überhaupt in die christliche Bibel gehört oder nicht. Im frühen Christentum war sie äußerst umstritten. Die innerkirchlichen Widerstände gegen die Aufnahme des Alten Testaments waren nicht unerheblich. Heute wissen wir, wie die Entscheidung ausgefallen ist. Unproblematisch war sie indes nie. Man hatte schließlich nicht nur die Gegner in den eigenen Reihen zu überwinden, man begab sich mit diesem Schritt auch in einen ständigen Konfl ikt mit den Juden. Denn selbstverständlich konnten die jüdischen Schriften – die erst später von der Kirche den Namen 'Altes Testament' erhielten – nicht von einer anderen Religionsgemeinschaft übernommen werden, ohne sie entsprechend umzuinterpretieren. Diese christliche 'Eroberung' des Alten Testaments war eine entscheidende Weichenstellung auf dem Weg zu einer Jahrhunderte währenden Judenfeindlichkeit innerhalb der Kirche.
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Seitenzahl: 76
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von Sebastian Moll
Berlin University Press
Die christliche Eroberung des Alten Testaments
Sebastian Moll
Zweite Auflage im November 2010
© Berlin University Press 2010
Alle Rechte vorbehalten
Ausstattung und Umschlag
Groothuis, Lohfert, Consorten | glcons.de
Lektorat
Christian Döring
eISBN: 978-3-86280-038-4
Vorwort
Einleitung
Die Lage zu Beginn des zweiten Jahrhunderts
Was nicht passt, wird passend gemacht
Wer ist Gott, und wenn ja, wie viele?
Alles eine Frage der Zeit
Die Lage zum Ende des zweiten Jahrhunderts
Konzepte des 20. Jahrhunderts
Ausblick
Männer machen Geschichte. Der Historiker Heinrich von Treitschke ist oft für diese Aussage kritisiert worden – und zwar schon lange, bevor es eine Rolle spielte, ob in diesem Satz nun von ‚Männern‘ oder ‚Menschen‘ die Rede ist. Es geht bei dieser Kritik vielmehr darum, ob einzelne Persönlichkeiten überhaupt jemals einen so großen Einfluss auf die Geschichte ausüben können oder ob Geschichte nicht eher das Ergebnis vieler verschiedener Faktoren ist, die der einzelne nur in begrenztem Maße kontrollieren kann.
Sicherlich ist der Erfolg eines Menschen immer eine Mischung aus persönlicher Leistung und den äußeren Umständen. Lediglich das Verhältnis der beiden Faktoren variiert. Innerhalb einer bestimmten Gruppe beispielsweise ist der Einfluss des einzelnen antiproportional zur Größe der Gruppe, mit anderen Worten, es ist leichter für jemanden, eine kleine Gruppe zu dominieren als eine große. Und wenn derjenige dann auch noch das Glück hat, dass diese vormals kleine Gruppe anschließend zu einer großen wird, dann steigert sich sein Einfluss ins Unermessliche.
So ähnlich müssen wir uns die Machtfülle der Theologen in der Frühzeit der christlichen Kirche vorstellen. Christen gab es nur wenige und solche mit der entsprechenden Bildung, um theologische Schriften zu verfassen, noch weniger. Daher war der Einfluss dieser wenigen Männer auf die Kirche ihrer Zeit enorm. Aber erst dann, wenn man sich klarmacht, dass die Kirche, auch nachdem sie von einer kleinen Gemeinde zur Reichskirche aufgestiegen war, die Lehren und Gedanken dieser Männer in ihrer Tradition bewahrt hat, fängt man an zu begreifen, wie groß dieser Einfluss tatsächlich gewesen ist. Um diesem Umstand gerecht zu werden, orientiert sich die folgende Untersuchung an eben diesen einzelnen Persönlichkeiten und ihren Vorstellungen.
Schopenhauer hat einmal gesagt, der natürliche Stil der Geschichtsschreibung sei der ironische. Ich möchte dieser Aussage zustimmen, sofern man ironisch nicht negativ im Sinne von höhnisch versteht, sondern so, dass der Historiker einen gewissen Abstand zu seiner Thematik behalten sollte. Schließlich ist auch die Kirchengeschichte nichts anderes als Menschheitsgeschichte und somit von fehlerhaften Menschen geprägt, wie auch der Autor dieses Buches einer ist. Daher erhebt dieses kleine Werk keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit, geschweige denn Unfehlbarkeit. Es soll lediglich einen Pfad eröffnen durch die Gefilde der frühen Kirchengeschichte mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Ob man letztendlich aus dieser Geschichte etwas lernen kann oder nicht, bleibt dem Leser überlassen. Denn es ist die Historie, die lehrt, nicht der Historiker.
„Wie können Christen antisemitisch sein, wo doch Jesus (seiner Natur nach) Jude war?“
Hervorgerufen durch den Streit um die des Antisemitismus verdächtige Pius-Bruderschaft, hörte man diese Frage im vergangenen Jahr verstärkt in den deutschen Medien. In der Tat ist sie berechtigt, allerdings zeigt sich an ihr auch ein fundamentales Missverständnis, welches für diese gesamte Debatte von großer Bedeutung ist. Es handelt sich um die Vermischung der Begriffe ‚Antisemitismus‘ und ‚Antijudaismus‘. Eine Unterscheidung eben dieser Begriffe ist von entscheidender Wichtigkeit, um den Ursprung der oben genannten Frage verstehen zu können. Ersterer bezeichnet ein rassistisches Vorurteil gegenüber Juden, letzterer ihre religiöse Verwerfung. Zunächst könnte man meinen, dass es letztlich keinen großen Unterschied macht, aus welchem konkreten Grund man nun eine Abneigung gegenüber Juden empfindet, doch belehrt uns die Geschichte tragischerweise eines besseren. Einem Juden im Rom des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts mag von Seiten der Christen mit antijüdischen Ressentiments begegnet werden; lässt er sich aber taufen, wird kein Christ ihn mehr als Juden betrachten. Ein Jude im Dritten Reich hingegen entkommt seinem Schicksal nicht, da er seine ‚Rassenzugehörigkeit‘ nicht wechseln kann.
Nun war es natürlich so, dass die ersten Christen, inklusive Jesus von Nazareth und aller Apostel, im Sinne der Rassentheorie ohne Zweifel jüdisch waren. Insofern ist eine wirklich antisemitische Haltung für Christen tatsächlich undenkbar, da sie dadurch nahezu das gesamte Urchristentum verdammen würden. Auf abstruse Weise haben selbst einige Theologen des Dritten Reiches diesen Umstand erkannt und daher tatsächlich nachweisen wollen, Jesus sei Arier gewesen. Dem antiken Menschen allerdings sind rassistische Vorurteile nahezu völlig fremd. Sicherlich gibt es ein Überlegenheitsgefühl der griechischrömischen Zivilisation gegenüber den ‚Barbaren‘, und auch gewisse jüdische Bräuche wie die Beschneidung, die zuweilen sogar mit der Kastration gleichgesetzt wurde, erregten bei vielen Zeitgenossen Anstoß. Aber niemand hätte beispielsweise einem Juden das römische Bürgerrecht verweigert, nur weil er Jude ist. Natürlich soll das Imperium Romanum hier nicht als utopisches Gebilde ohne jede Form von Ressentiments oder Vorurteilen dargestellt werden. Schließlich ist das Reich kaum denkbar ohne seine zahllosen Sklaven, die jeder Rechtsfähigkeit entbehrten. Und doch zeigt sich gerade am Beispiel der Sklaverei wieder der entscheidende Unterschied zur Moderne. Kein antiker Mensch wäre auf die Idee gekommen, wie es beispielsweise in den USA der Fall war, nur eine bestimmte ethnische Gruppe wie Schwarze als Sklaven zu betrachten. In gewisser Weise ist das römische Sklaventum beinahe ‚egalitär‘: unter den Sklaven finden sich Männer und Frauen, Weiße und Schwarze, (ehemals) Reiche und Arme.
Auch bei den antiken Verfolgungen der Christen durch den römischen Staat gilt derselbe Grundsatz. Christen wurden als Staatsfeinde betrachtet, weil sie sich weigerten, den römischen Göttern und dem Kaiser Opfer darzubringen. Doch wurde ihnen bei einem Prozess stets die Möglichkeit gegeben, sich von ihrem Gott loszusagen und die römische Religion anzuerkennen. Hiermit soll keinesfalls gesagt sein, dass die Wahl zwischen dem Tod auf der einen und der Verleugnung seines Glaubens auf der anderen Seite einem fairen rechtsstaatlichen Vorgehen entspricht. Man möge sich jedoch klarmachen, dass, wie bereits oben angedeutet, die beschriebene Wahlmöglichkeit für einen Juden im Dritten Reich eben nicht bestanden hat. Er hätte sich noch so oft zum Führer des Deutschen Reiches bekennen können, es wäre vergeblich gewesen. Denn er ist bereits vorverurteilt durch seine Abstammung, seine Rasse, sein Blut – aber nicht aufgrund seiner politischen oder religiösen Überzeugung.
Wir müssen also mit dem Begriff des ‚Antisemitismus‘ vorsichtig umgehen und im Folgenden stattdessen von ‚Antijudaismus‘ sprechen. Trotz des erheblichen Unterschieds beider Geisteshaltungen ist der Antisemitismus ohne seinen ‚Vorläufer‘ Antijudaismus allerdings kaum denkbar. Das jahrhundertelange religiöse Vorurteil schuf einen perfekten Nährboden für die spätere rassistische Haltung, und der Übergang von einem zum anderen ist keinesfalls schematisch feststellbar. Die Erforschung des Antisemitismus beginnt in den meisten Darstellungen erst im 19. und 20. Jahrhundert, und diese zeitliche Eingrenzung ist vollkommen korrekt, wenn es sich um den Antisemitismus im eigentlichen Wortsinn handelt, welcher tatsächlich eine Erscheinung der Neuzeit ist. Der (christliche) Antijudaismus aber hat seinen Ursprung in jedem Fall in der frühen Kirche, und es ist genau dieser Ursprung, dem wir in diesem Buch nachgehen wollen.
Dass die frühen Christen Vorurteile gegenüber Andersgläubigen hegten, ist ein durchaus ‚normaler‘ menschlicher Charakterzug und bedarf daher keiner besonderen Erklärung. Dass sich diese Vorurteile aber gerade gegen die Juden und weniger gegen heidnische Religionen richteten, hat seinen Ursprung im Kampf um ein gemeinsames religiöses Erbe, oder, konkreter ausgedrückt, im Kampf um das Alte Testament. Ganz gleich, wie man das spätere Verhältnis der beiden Religionen beurteilen will, das Christentum hat seinen Ursprung in der jüdischen Religion, und die frühen Christen betrachteten, nicht zuletzt auch aus Ermangelung einer Alternative, das Alte Testament ganz selbstverständlich als ihre Heilige Schrift. Solange die Christen gewissermaßen noch eine ‚innerjüdische‘ Bewegung bildeten, war dies auch eher unproblematisch. Spätestens jedoch zu Anfang des zweiten Jahrhunderts ist der Bruch zwischen Christen und Juden vollständig vollzogen, und nun beginnt ein vorprogrammierter Dauerkonflikt. Was für die Juden Heilige Schrift war und ist, soll nun auch für Christen dieselbe Geltung haben.
Um jedoch die eigene Identität zu betonen und nicht völlig von den jüdischen Schriften abhängig zu sein, schufen die Christen ihre eigene Textsammlung, das Neue Testament. Nun hatte man aber auch ein neues Problem, denn man sah sich gezwungen, die jüdischen Schriften mit den eigenen in Einklang zu bringen. Durch diesen gefährlichen Drahtseilakt erwächst den Christen zusätzlicher Druck aus den eigenen Reihen, denn das Verhältnis der beiden Testamente zueinander war auch innerhalb der Kirche keineswegs unumstritten. Dieses Problem wurde insbesondere von denjenigen Theologen thematisiert, welche die Kirche später als Ketzer verurteilen sollte. Rechtgläubigkeit und Ketzerei sind in dieser Zeit allerdings schwierige Begriffe. Eine wirkliche Orthodoxie hat sich noch nicht herausgebildet, und die Frage, wer ein Ketzer ist und wer nicht, hing (wie bis heute so oft) im Grunde ausschließlich vom eigenen Standpunkt ab. Letztlich sind die frühchristlichen ‚Ketzer‘ nichts anderes als Theologen, die bestimmte ungelöste Probleme der Kirche (wie beispielsweise das Alte Testament) erkannten und, freilich oft auf ihre eigenwillige Art, zu lösen versuchten. Diese Lösungsversuche reichen von abenteuerlich bis brillant, aber auch wenn keine dieser Lösungen letztlich von der Kirche übernommen wurde, so bilden die Ketzer doch in gewisser Weise die Katalysatoren dieser Zeit, durch die bestimmte Probleme überhaupt erst in die Diskussion eingebracht werden.