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Jan Ullrich: Ein (un)gewöhnlicher Held Als erster und einziger Deutscher gewann er 1997 die Tour de France und fuhr sich mit dem Team Telekom in die Herzen der Radsport-Fans. Seine packenden Duelle mit Lance Armstrong und Marco Pantani fesselten Millionen an die TV-Bildschirme. Doch dann: Dopingskandal, Karriereende, Alkohol- und Drogenausfälle. Jan Ullrichs Absturz ist einer der tragischsten in der Sportgeschichte. Wie konnte es so weit kommen? 25 Jahre nach dem legendären Tour-de-France-Sieg versucht Sebastian Moll diese Frage zu beantworten. Als Radsportjournalist begleitete er Jan Ullrichs Karriere von Anfang an und blickt in diesem Buch auf den Aufstieg und Fall des Spitzensportlers zurück. Kritisch betrachtet er das gesamte System des Radrennsports und ordnet die Ära von Armstrong, Ullrich und ihren Zeitgenossen in einer Art und Weise ein, wie es bislang noch nicht geschehen ist. • Der gefallene Held: Die bewegende Geschichte des größten deutschen Radsport-Stars • Wie konnte es so weit kommen? Hätte der tiefe Fall des Fahrradprofis verhindert werden können? • Das System Radrennsport: Wie Medien, Politik, Fans und Sponsoren zur Krise beitrugen • Was bleibt nach dem Hochleistungssport: Die schwierige Suche nach der eigenen Identität »Quäl dich, du Sau« – ein neuer Blick auf Doping und Leistungsdruck Fast über Nacht wurde Jan Ullrich vom Liebling der Nation zum Prügelknaben. Dabei stand er nur stellvertretend für das, was im Radrennsport schon lange falsch lief. Sebastian Moll wirft einen anderen Blick auf die tragische Sportlerbiografie. Wohlwollend und wertschätzend analysiert er Ullrichs Werdegang und weckt damit Verständnis für die Höhen und Tiefen eines Spitzensportlers, dessen einzigartiges Talent Fluch und Segen zugleich war.
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Seitenzahl: 259
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SEBASTIAN MOLL
JAN ULLRICH
GESCHICHTE EINES TRAGISCHEN HELDEN
DELIUS KLASING VERLAG
Vorwort
I Der Preis des Ruhms
II Vor die Tür gesetzt
Floyd
III Public Enemy No. 1
Jörg
IV Vom Halbgott zum Menschenfeind
V Alleingelassen
Udo
VI Der Junge aus Papendorf
VII Held der Arbeiterklasse
VIII Geburt eines deutschen Idols
IX Die brennende Hitze des Rampenlichts
Marco
X Sein eigener Herr
XI Der letzte Tanz
Lance
XII Zaungast
Epilog
Danksagung
Quellen
Als im August 2018 die Nachricht in den späten Hochsommer platzte, dass Jan Ullrich nach seinen Drogeneskapaden und Tätlichkeiten sowohl in Mallorca als auch in Frankfurt verhaftet worden war, lag meine letzte Frankreichrundfahrt als Reporter bereits zehn Jahre zurück. Ich drehte zwar selbst noch am Wochenende mit dem Rennrad meine Runde und schaute auch immer mal wieder rein, wenn die Tour de France lief. Doch beruflich bewegte ich mich längst in einem vollkommen anderen Milieu.
So saß ich gerade in meiner New Yorker Wohnung an einer Reportage über das marode U-Bahn-Netz der Stadt und bereitete Interviews zum 50. Jahrestag der Stonewall-Riots vor – der Geburtsstunde des globalen Kampfes für die Rechte Homosexueller. Mittlerweile arbeitete ich von Big Apple aus als USA-Korrespondent, der Radsport war zur Privatangelegenheit geworden.
Die Nachrichten aus Deutschland rissen mich jedoch für ein paar Tage schockartig aus meinem New Yorker Leben heraus. Jan Ullrichs Schicksal versetzte mich wieder zurück in jene Zeit, in der Radsport mein Leben war. Rund zehn Jahre lang drehte sich für mich alles um diesen Sport, ich bin als Reporter von März bis Oktober mit dem Radsportzirkus mitgetingelt und kannte den Betrieb sowie die handelnden Personen in- und auswendig.
Diese Zeit fiel ziemlich genau mit der Profikarriere von Jan Ullrich und seiner Rivalität mit Lance Armstrong zusammen. Eine meiner ersten Reportagen als Radsportjournalist war ein Artikel für das Radsportmagazin TOUR über den Werdegang von Jan Ullrich und die Grundlagen für seinen Tour-de-France-Sieg im systematischen Trainingsaufbau in der DDR.
Zweifelsohne habe ich diesen Abschnitt meines Berufslebens vor allem Jan Ullrich zu verdanken. Wenn er nicht das Radsportinteresse in Deutschland entfacht hätte, dann hätten mich nicht die damals noch üppigen Budgets der Sportredaktionen so lange ernährt und mir das Vergnügen erlaubt, mit dem Profibetrieb durch Europa zu reisen.
Jetzt, nach dem psychosozialen Kollaps von Jan Ullrich, war hingegen das Verhältnis des einstigen »Messias des Radsports«, zu dem die BILD-Zeitung Ullrich nach seinem Tour-Sieg gekürt hatte, mit der deutschen Öffentlichkeit am absoluten Tiefpunkt angelangt. In einer Dokumentation des NDR zur Tour 2020 brachte Andreas Burkert, einstiger Radsportexperte der Süddeutschen Zeitung, den Stand der Dinge zwischen Ullrich und Deutschland auf den Punkt, als er sagte: »Ein Geständnis von Ullrich braucht heute kein Mensch mehr.«
Der Zeitpunkt, zu dem man Ullrich mit offenen Armen wieder in die Mitte der Gesellschaft aufgenommen hätte, wenn er nur reinen Tisch machen und seine hinlänglich dokumentierten Dopingvergehen gestehen würde, war längst verstrichen. Inzwischen hatte man Ullrich abgeschrieben. Die Isolation, in die er sich selbst über die Jahre manövriert hatte, brachte ihn immer näher an den Abgrund. Niemand, so schien es, konnte ihn dort mehr erreichen, und ob er sich je wieder daraus würde befreien können, schien zweifelhaft. Und irgendwie wollte man das Ende dieser traurigen Geschichte auch lieber nicht mehr mit anschauen.
Gut drei Jahre später scheint die Jan-Ullrich-Story eine wundersame Wandlung zum Besseren erfahren zu haben. Im November 2023 strahlt Amazon prime video eine vierteilige »Dokumentation« aus, in der Ullrich selbst als Protagonist auftritt und seine Geschichte erzählt. Der Launch der Reihe wird flankiert von einer ganzen Serie von Interviews und öffentlichen Auftritten, sorgsam choreografiert, um der Wiederkehr Ullrichs in die Öffentlichkeit und ins bürgerliche Leben maximale Wirkung sowie eine einheitliche Message zu verleihen.
Die Kampagne wurde vom ehemaligen Regierungssprecher Bela Anda gemanagt und kann getrost als Meisterleistung eines ausgebufften Medienprofis bezeichnet werden. Die Marke Jan Ullrich hatte inmitten seiner Drogenexzesse des Jahres 2018 einen Totalschaden erlitten. Weniger abgebrühte PR-Profis als Anda hätten zweifellos vom Versuch eines Relaunchs und einer Neupositionierung die Finger gelassen.
Voraussetzung für die Rückkehr Jan Ullrichs, das hatte Anda klar erkannt, war noch immer das Dopinggeständnis. Anders als Burkert es 2020 behauptet hatte, brauchte Deutschland, um sich wieder zu öffnen und ihm wieder einen Platz in der Gesellschaft einzuräumen, von Jan Ullrich durchaus zunächst einmal das Eingeständnis, dass er ihm etwas vorgegaukelt hatte. Und so wurden sowohl die Doku als auch die zahlreichen Interviews rund um die Premiere als »Lebensbeichte« vermarktet.
Tatsächlich erfuhr man dabei von Jan Ullrich nicht viel, was die interessierte Öffentlichkeit nicht schon längst gewusst hätte. Ullrich hat von Beginn seiner professionellen Radsportkarriere an unerlaubte leistungssteigernde Mittel genommen, für Insider waren allein die Details interessant. Etwa, dass Ullrich behauptet, erst zu Beginn der Saison 1996, seiner zweiten Saison als Radprofi, erstmals mit Doping in Berührung gekommen zu sein.
Es war das Jahr seines überraschenden Durchbruchs. Eigentlich sollte der erst 22 Jahre alte Ullrich sich in diesem Jahr lediglich im Peloton akklimatisieren und durch zuverlässige Helferdienste sein Gehalt rechtfertigen. Doch in den Profirennen des Frühjahrs und Frühsommers fuhr er derart überzeugend, dass der damalige Chef des Teams Telekom, Walter Godefroot, gar nicht umhinkonnte, ihn für die Grand Boucle zu nominieren. Dort wurde er hinter Teamkapitän Bjarne Riis Zweiter, und die meisten Beobachter glaubten, er hätte gewonnen, wenn er sich nicht der Stallorder hätte beugen müssen.
Das Dopingsystem im Team Telekom war damals bereits wohletabliert. Wie Ullrich in der Amazon-Doku und den flankierenden Interviews erklärt: »Ich habe das Doping nicht erfunden.« Sein damaliger Teamkapitän Bjarne Riis attestiert Ullrich zudem, dass er nie ein »Leader« gewesen sei, sondern stets einer, der brav tat, was man ihm sagte. Nicht mehr und nicht weniger. Doping aus Eigeninitiative wäre für einen Fahrer, der nicht einmal die Übersetzung an seinem Rad selbst wählt, geradezu charakterfremd gewesen.
So machte er auch beim Dopingprogramm des Teams Telekom einfach mit. Man hatte ihm glaubhaft versichert, dass das nun mal zum Profigeschäft auf höchstem Niveau dazugehöre und vollkommen sicher sei. Die Tatsache, dass ihm dieses System von den renommierten Sportmedizinern der Uniklinik Freiburg verkauft wurde, die damals das Team betreuten, bestärkte ihn in seinem Vertrauen. »Du bist jetzt in der Königsklasse angekommen«, erinnert sich Ullrich heute an seine Gedanken von damals. »Und wenn das dazugehört, dann will ich dabei sein.«
Den Kontakt zum notorischen Dopingarzt Eufemiano Fuentes, dessen Hilfe Ullrich in den späteren Jahren seiner Karriere suchte, hatte er indes ohnehin bereits in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus im Jahr 2015 zugegeben. Und von Fuentes selbst, der in der Amazon-Doku auftritt, war auch kaum etwas zu erfahren. Im Gegenteil – Fuentes offenbarte keine Details und verharmloste seine Aktivitäten.
Aber für den Relaunch von Jan Ullrich waren neue Enthüllungen auch gar nicht entscheidend. Wichtig war allein, dass man aus Jan Ullrichs Mund die Worte zu hören bekam, dass er gedopt hat.
Beinahe noch wichtiger war allerdings, dass Ullrich jenes Mantra relativierte, das man ihm in der deutschen Öffentlichkeit am meisten übel genommen hatte, seit im Jahr 2006 seine Dopingvergehen aufflogen und er über Nacht zur Persona non grata wurde – nicht nur im Radsport. Immer wieder hatte Ullrich betont, er habe niemanden betrogen und damit impliziert, er habe nur Chancengleichheit hergestellt. Daran hält Ullrich auch bis heute fest. Doch er räumt auch ein, dass er jetzt sehr wohl einsehe, dass er die Fans betrogen habe.
Genau das war das Mea Culpa von ihm, auf das die deutsche Öffentlichkeit seit 2006 gewartet hatte. Doch um ihn tatsächlich wieder ins Herz zu schließen, das wusste Bela Anda, reichte das nicht aus. Die Beichte allein, das hatte wohl auch Burkert gemeint, war nur die Minimalanforderung und würde nicht genügen, damit man sich wieder für Jan Ullrich interessiert.
Die deutsche Öffentlichkeit brauchte mehr von Jan Ullrich, und sie bekam mehr. In der Amazon-Doku sowie in den begleitenden Interviews, am meisten vielleicht in dem zwei Stunden dauernden Gespräch mit dem Podcaster Matze Hielscher, öffnete sich Jan Ullrich mehr, als er das jemals getan hatte. Statt eines oft hölzernen Interviewpartners, an den man sich über die Jahre gewöhnt hatte und dem der Medienkontakt sichtbares Unbehagen bereitete, erlebte man im Winter 2023 einen befreit auftretenden Jan Ullrich, der alle Ecken und Kanten einer komplexen, aber letztlich überaus liebenswürdigen Persönlichkeit durchscheinen ließ.
Ullrichs Rolle in der Öffentlichkeit hatte bis dahin stets geschwankt zwischen Lichtgestalt, schlampigem Jahrhunderttalent, das noch mit der halbherzigsten Vorbereitung um den Tour-de-France-Sieg mitradelt, und sinistrem Betrüger. Die Rollen hatten ihm nie wirklich behagt, doch Ullrich hatte es nie geschafft, sich davon zu befreien. Nun, nach vielen Jahren der Vereinsamung, war er reif dafür, eine nuancierte Geschichte von sich zu erzählen und für das Publikum als Mensch anstatt als Übermensch greifbar zu werden.
Ullrich sprach glaubhaft und nachvollziehbar davon, wie er als junger Radprofi nicht nur in das Dopingsystem des Sports hineingeschlittert war, sondern auch in eine Hype- und Medienmaschine, die ihn vollkommen überforderte. Er sprach davon, wie der Betrieb ihm die Liebe zu seinem Sport beinahe verdorben hatte. Und er sprach davon, wie ihn der jähe und brutale Ausschluss aus dem Radsport, der doch sein Ein und Alles war, ihn in eine Krise gestürzt hatte, an der er noch jetzt, 16 Jahre später, zu knabbern hat.
Ullrich öffnete sich auch zu seiner schwierigen Kindheit unter einem Vater, der entweder abwesend war oder betrunken und gewalttätig. Und er ließ in der Dokumentation auch durchblicken, wie sehr ihn dieser Ballast bis heute quält. Als er von der Gewalt durch seinen Vater spricht, muss er loskichern, obwohl es angesichts des erlittenen Leids nichts zu lachen gibt. Und als dann die Rede darauf kommt, dass er vor dessen Tod nie mehr Kontakt zu seinem Vater aufnehmen konnte, muss Ullrich aus dem Bild laufen, weil ihn seine Gefühle übermannen.
Am Nächsten kam man Jan Ullrich während der Medientage im November 2023 vielleicht bei seinem Versuch, darüber zu sprechen, warum er so lange geschwiegen hat. Er beschreibt das Dilemma, in dem sich viele der überführten Kollegen aus seiner Radsportära wiedergefunden hatten, entweder das ganze Dopingsystem des Radsports auffliegen zu lassen und Kollegen und Freunde mit hineinzuziehen oder zu schweigen und als Märtyrer für einen Sport unterzugehen, der ihn fallen gelassen hat.
Am Ende wählte Ullrich den letzteren Weg und zerbrach daran. Er beschreibt, wie er über 15 Jahre versuchte, das Thema zu verdrängen, wie sich aber das Verdrängte immer wieder zu Wort meldete, zu wiederkehrenden Krisen führte und schließlich in den vollkommenen psychosozialen Kollaps im Jahr 2018. Am anrührendsten an diesen Schilderungen war indes die hart errungene Selbsterkenntnis, dass er aufgrund seiner Sozialisierung lange nicht dazu in der Lage war, sich Hilfe zu suchen. »Ich dachte, ich bin schließlich Tour-de-France-Sieger, ich bin stark, ich bin hart, ich kann das alles mit mir selbst ausmachen.« Eine Beschreibung, die seine Ex-Frau Sara bestätigt, als sie schildert, wie schwer es über lange Phasen selbst für sie war, überhaupt an ihn heranzukommen. Doch wie sich herausstellte, ist das Leben kein Radrennen und manche Dinge sind nicht mit Härte zu bewältigen.
So wurde Jan Ullrich unfreiwillig auch zum Fürsprecher für einsame Wölfe, die dank ihrer männlichen Prägung versuchen, ihre emotionalen Nöte mit sich allein auszumachen. »Ich habe viele wertvolle Jahre meines Lebens dadurch verloren«, sagt Ullrich und empfiehlt damit jedem in einer ähnlichen Situation, bloß nicht diesen Weg zu wählen.
Der Relaunch von Jan Ullrich des Jahres 2023 war geglückt. Anda hatte es geschafft, Ullrich als facettenreiche, interessante Figur in der Öffentlichkeit zu positionieren, eine zudem, die Mitgefühl und Sympathie bei den Menschen hervorruft. Der Dualismus zwischen Superstar mit der Aura eines Halbgottes und Kriminellem, zwischen Hosianna und Kruzifix, war gebrochen. Ullrich hat nun auch öffentlich jene Mitte gefunden, von der er behauptet, sie habe in den vergangenen Jahren endlich in seinem Privatleben Einzug gehalten. Er hat sich einen Raum zwischen Tour-Sieg und Drogenexzessen erobert.
Jan Ullrich kann nun nach vorn schauen, ihm stehen wieder Möglichkeiten offen. Dabei hat er das, was ihm während seiner Karriere lange gefehlt hat: Kompetente Berater und vertrauenswürdige Freunde, denen es tatsächlich um sein Wohl geht und die nicht von Eigeninteresse getrieben sind. Auch wenn man sich durchaus noch Sorgen um seine seelische Stabilität machen muss, hat Jan Ullrich die Chance auf eine Zukunft.
Der Boden für dieses Comeback von Ullrich war allerdings schon im Herbst 2023 bereitet. Ullrichs neue Berater hatten ihn zwar sorgsam abgeschirmt, um rund um die Kampagne die volle Kontrolle zu behalten. Doch das Thema war schon im Jahr zuvor anlässlich des 25. Jubiläums seines Tour-Sieges an die Öffentlichkeit gelangt – ob nun mit oder ohne das Placet von Ullrichs Produzenten.
Zum Tour-de-France-Start 2022 lief in der ARD eine vierteilige Dokumentation mit dem Titel Being Jan Ullrich. Kurz zuvor war auf Englisch die erschöpfend recherchierte Biografie Jan Ullrich – The Best There Never Was von Daniel Friebe herausgekommen. Gleichzeitig erschien die erste Auflage dieses Buches. Alle drei Werke mussten ohne die Mitwirkung des Protagonisten auskommen. Ich hatte mich um einen Kontakt zu Ullrich bemüht, seit im Herbst 2018 die Pläne zu diesem Buch zu reifen begannen. Der damalige und mittlerweile verstorbene Berater von Ullrich, Wolfgang Strohband, hatte sich ursprünglich aufgeschlossen gezeigt. Auszüge und Exposés wurden an Ullrich weitergeleitet. Je länger sich der Prozess hinzog, desto klarer wurde jedoch, dass Ullrich nicht kollaborieren würde.
Den Mitstreitern erging es ähnlich. Ullrich sprach gegenüber Friebe und der ARD sein Bedauern aus. Wie er nun zugab, war er zwar schon seit einiger Zeit dazu bereit, über sein Leben und auch über seine Dopingvergangenheit zu sprechen, doch die Exklusivverträge mit Amazon waren da schon unterschrieben. Die Relaunch-Kampagne sollte kompakt aus einer Hand geführt werden.
Wie die ARD und Friebe entschlossen der Verlag und ich uns dennoch, das Projekt zu verfolgen. Es war keine leichte Entscheidung, schließlich rückte man der Person Jan Ullrich, die sich in einem seelisch fragilen Zustand befand, massiv auf den Leib. Vor dem Hintergrund, dass eine von ihm als ungerecht empfundene Behandlung durch die Medien zu seinen psychischen Problemen beigetragen hatten, ein heikles Unterfangen.
Gleichzeitig waren wir jedoch davon überzeugt, dass dieses Projekt, ebenso wie die beiden anderen, nicht zum Problem beitragen würde, sondern zu dessen Lösung. 25 Jahre nach Ullrichs Tour-Sieg war der Zeitpunkt gekommen, die Geschichte einer der schillerndsten Figuren des deutschen Sports in den vergangen 50 Jahren anders oder besser neu zu erzählen. Es war an der Zeit, aus moralischen Kategorien auszubrechen und eine Betrachtung der Biografie Ullrichs vorzunehmen, die ein Licht auf die gesamte Maschinerie des Profi- und Spektakelsports wirft, eine Maschinerie, die Ullrich in unfassbare Höhen katapultiert und in ebenso unfassbare Tiefen gestürzt hatte.
Vieles, was von Ullrich bei seinem »Coming-out« zu hören war, gab uns recht. In den aktuellen Interviews bezeichnet er die Berichterstattung rund um das Jubiläum seines Tour-Sieges als »fair«. Er erkannte sich in den Abbildungen wieder und nicht etwa ein Zerrbild oder eine Karikatur, wie etwa in den Schlagzeilen vom »Giganten der Landstraße«, die seinen Tour-Sieg begleiteten, oder in den Berichten um seine Machenschaften mit Eufemiano Fuentes, die ihn als finsteren Kriminellen zeichneten. »Ich war doch bloß ein Radfahrer«, sagt er.
Zudem redet Ullrich heute überzeugend und nachvollziehbar davon, was es bedeutet hat, über Nacht nicht nur aus dem Radsport herausgerissen, sondern von ihm geächtet zu werden. Der Sport war sein lebenslanges Biotop, er brauchte ihn wie die Luft zum Atmen. Von der Familie abgesehen, hatte er keine Alternativen. »Ich war ja ein Kind der Branche, das war meine Familie«, sagt er gegenüber Matze Hielscher. Es war ein zutiefst traumatisches Erlebnis, das für ihn besonders hart war, weil es so jäh und brutal über ihn hereinbrach.
Dieser Abschied aus dem Umfeld, das einen ein Leben lang getragen hat, ist ein Vorgang, mit dem auf die eine oder andere Art jeder Hochleistungssportler konfrontiert wird. Ich war selbst in meiner Jugend Leistungssportler, nicht annähernd so mit Begabung gesegnet wie Jan Ullrich, aber auch nicht völlig untalentiert, gut genug, um von Olympia träumen zu dürfen, aber nicht ganz gut genug, um es dorthin zu schaffen. Entscheidend daran ist jedoch, dass es während prägender Jahre meine Identität war. Ich habe mich in allererster Linie als Sportler verstanden.
Von diesem Selbstverständnis Abschied zu nehmen, war schwer. Wenn ich ehrlich bin, ist es ein Prozess, der bis heute nicht ganz abgeschlossen ist. Die Suche nach irgendetwas, das einem die gleiche Erlebnisintensität, die gleiche Befriedigung und, man muss es so nennen, das gleiche Ausmaß an Glück bietet, hört niemals auf. Meine Entscheidung, nach dem Studium Sportreporter zu werden, hatte ganz sicher auch damit zu tun.
Ich habe damit nie derart extreme Höhen und Tiefen durchgemacht wie Jan Ullrich. Und doch hatte ich das Gefühl, dass ich verstehen konnte, was er durchmachte, nachdem man ihm den Sport, der für ihn die Welt bedeutete, weggenommen hat.
Darüber zu sprechen, war eine der Motivationen für dieses Buch.
Jan Ullrich ist nun an einem Punkt angelangt, an dem er für sich diesen Vorgang reflektieren und verstehen kann und ihn artikuliert. Ihm selbst scheint das überaus gutzutun, »mein Rucksack ist leichter geworden«, sagt er. Zugleich trägt er damit dazu bei, die Nebenwirkungen eines Systems zu thematisieren und zu skandalisieren, über die bislang viel zu wenig gesprochen wurde.
New York, im Januar 2024
Zu Beginn des Jahres 2024 hat Deutschland Jan Ullrich wieder ins Herz geschlossen. Wo immer Ullrich öffentlich auftritt, erntet er tosenden Applaus. Jeder Interviewer, mit dem er redet, dankt ihm gerührt für die Offenheit, mit welcher er seine Geschichte erzählt, und sein Auftritt in der Amazon-Doku wird von den Kritikern durchweg mit Begeisterung und Mitgefühl aufgenommen.
Es ist eine dramatische Wende weg von dem, was ihm, insbesondere in Deutschland, entgegengebracht wurde, seit er 1997 die Tour de France gewonnen hatte. Da war zuerst der ekstatische Jubel über den ersten Tour-Sieg eines Deutschen, der in seiner extremen Euphorie nicht nur auf den damals erst 23-Jährigen befremdlich hatte wirken müssen. Dann kamen die vielen Jahre, in denen Ullrich die Erwartungen seiner Fans ein ums andere Mal enttäuschte und die fanatische Anhängerschaft immer mehr in Resignation und in ein beinahe persönliches Beleidigtsein umschlug.
Und dann kamen der Dopingskandal des Jahres 2006, die Enthüllungen über Ullrichs Zusammenarbeit mit dem berüchtigten Gynäkologen Fuentes und das Karriereende, die Ullrich in seinem Heimatland zur Persona non grata machten. »Es war der größte Fehler meines Lebens, mich mit Fuentes zu treffen«, sagte er rückblickend in einem Interview mit der französischen Sportzeitung L’Equipe. Die Schlagzeilen selbst in den seriösen Medien rückten ihn in die Nähe eines Schwerverbrechers, es war, als müsse er ganz allein für die Dysfunktionalität des Berufssports insgesamt und für die kriminelle Subkultur des Radsports geradestehen.
Eine so plötzliche Ächtung ist schwer zu verkraften, manchen gelingt es nie. In einem Interview mit der Zeitschrift Rouleur gab seine damalige Frau Sara noch 2016 zu Protokoll, wie schwer das alles auf ihm und auf der Familie gelastet habe. Zwischenzeitlich berappelte Ullrich sich immer wieder und trainierte gemeinsam mit seinem Freund, dem Ex-Skirennläufer Frank Wörndl, regelmäßig im vertrauten Rhythmus von täglichen Fahrradausfahrten und nahm an Hobbyrennen teil. Doch es wurde auch immer wieder über Abstürze berichtet, bis hin zum endgültigen Zusammenbruch 2018, von dem Ullrich heute sagt, es sei der absolute Tiefpunkt seines Lebens gewesen. »Ich bin nur um ein Haar am Exitus vorbeigeschrammt.«
Ironischerweise war es erst der Zusammenbruch, der Jan Ullrich das bescherte, was er vielleicht gebraucht hätte, damit es gar nicht erst so weit kommt. Im Januar 2024 kann die deutsche Öffentlichkeit Jan Ullrich mit Mitgefühl betrachten, als Menschen, der Schweres durch- und schwere Fehler gemacht hat, der wie wir alle unvollkommen ist, aber dennoch Sympathie verdient. Ullrich war nicht mehr der Radsportgott, dem die Nation Siege am laufenden Band abforderte, er war aber auch nicht mehr der betrügerische Dunkelmann, der einem willig naiven Publikum die Illusion von einem sauberen Sport nahm. Er kann, er darf, endlich, einfach nur Jan Ullrich sein.
Doch es war nicht allein das Mitgefühl mit dem gefallenen Helden, das für Ullrich die Tür in die Herzen der Menschen wieder aufstieß. Es war auch noch etwas anderes geschehen. Spätestens seit den Olympischen Sommerspielen von Tokyo war ein Begriff in das Bewusstsein der Sportöffentlichkeit gedrungen, der vorher nur selten in den Zusammenhang mit Hochleistungssport gebracht wurde: »Mentale Gesundheit.«
Endgültig auf die Tagesordnung hatte Simone Biles den Terminus gesetzt, die größte Kunstturnerin aller Zeiten. Am Vorabend des Finales im Mehrkampf von Tokyo, den die Amerikanerin acht Jahre lang bei keinem internationalen Wettbewerb mehr verloren hatte, gab der Superstar der Spiele von Rio bekannt, dass sie sich aus dem Wettkampf zurückziehe. »Mein Kopf ist nicht da, wo er sein sollte.«
In den folgenden Tagen und Wochen sprach Biles von dem ungeheuren Druck, der auf Athleten wie ihr laste. Davon, wie schwer es sei, ständig und immer den Erwartungen der ganzen Welt gerecht werden zu müssen. Sie sprach von der Gnadenlosigkeit eines Systems, das zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt eine Höchstleistung abfordert, von der die gesamte Karriere, ja, das gesamte weitere Leben abhänge.
Biles erntete für den mutigen Schritt und für ihre Offenheit beinahe einstimmigen Zuspruch. Ihr Verband und ihre Sponsoren standen hinter ihr. Die Fans fühlten mit ihr und bejubelten ihren Mut, als sie dann doch noch in zwei Disziplinen antrat und eine Silber- sowie eine Bronzemedaille gewann. Die größte Furcht aller Athleten, dass Medien und Anhänger sie fallen lassen, wenn sie hinter den Erwartungen zurückbleiben, erfüllte sich nicht. Biles machte es für Spitzenathleten möglich, sich verletzlich zu zeigen.
Simone Biles’ Entscheidung, auf der größten Bühne, die der Sport zu bieten hat, das Thema der seelischen Gesundheit zur Sprache zu bringen, war ganz gewiss der Durchbruch für einen menschlicheren Diskurs über Hochleistungssport und mehr Verständnis für die Athleten. Er machte es für Sportler möglich, sich von dem Zwang zu befreien, immer und ständig roboterhaft Leistung abrufen zu müssen. Doch das Feld für Biles war im September 2021 schon bereitet.
So hatte sich Naomi Osaka während der Saison 2020 geweigert, sich den Pressekonferenzen bei großen Tennisturnieren zu stellen. Auch Osaka berief sich darauf, dass sie in dem angespannten Zustand einer Turniersituation die oft invasiven Fragen der Reporter psychisch nicht ertragen könne. Wie Biles setzte sie ihre Karriere aufs Spiel und zog sich lieber von den Paris Open zurück, als weiter ein Ritual zu ertragen, das ihr schlicht nicht guttat. Und im Jahr 2022 reiste Schwimm-Olympiasieger Caeleb Dressel nach der Hälfte der Weltmeisterschaften ab und gönnte sich eine mehrmonatige Auszeit, um sich um seine psychische Verfassung zu kümmern.
Zwei Jahre zuvor, kurz vor dem eigentlich geplanten Start der Spiele von Tokyo, lief im US-Fernsehen eine von Rekord-Schwimmer Michael Phelps produzierte Dokumentation mit dem Titel The Weight of Gold. Thema: der psychische Preis olympischen Ruhms.
Phelps war zeit seiner Laufbahn selbst zutiefst unglücklich, bis hin zum Tiefpunkt im Jahr 2014, in dem er am Rand des Selbstmords stand. Seine 23 Olympiamedaillen kann er heute folglich nur mit zwiespältigen Gefühlen betrachten. Sie haben ihn zu dem gemacht, der er ist. Aber das Leben, das er führen musste, um sie zu gewinnen, hat ihn beinahe zerstört.
Phelps berichtet mit beklemmender Offenheit, wie es alle vier Jahre nach den Olympischen Spielen war, nachdem die Paraden und die Talkshows vorbei waren und er allein in seiner Wohnung saß. Er berichtet von der unheimlichen Leere, die ihn dann beschlich, und den Fragen, die ihn quälten. Soll ich mich wirklich noch einmal vier Jahre lang dieser Knochenmühle unterziehen? Ist es das wert? Und vor allem – was soll ich tun, wenn ich das nicht mache? Wer bin ich denn außerhalb des Schwimmbades?
Seinen Tiefpunkt erreichte Phelps im Jahr 2014, nachdem er wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet wurde. »Ich lag tagelang bewegungslos in meiner Wohnung und wollte alles beenden.« Phelps hatte das Glück, dass er über großzügige Mittel und ein gutes Umfeld verfügte. Er konnte die Krise durch einen langen Reha-Aufenthalt und durch eine langfristige Therapie überwinden, die noch heute sein Leben begleitet. Er ist 2016 noch einmal zu Olympia gefahren, um bewusst Abschied zu nehmen und um den schwierigen Übergang in das Leben danach vorzubereiten und zu gestalten. Und er versucht seither, psychische Probleme unter Spitzensportlern zu entstigmatisieren und das öffentliche Bewusstsein dafür zu schärfen.
Die Dokumentation, die 2020 pünktlich zum geplanten Start der Spiele von Tokyo lief, geht jedoch noch weiter, als »nur« von den inneren Kämpfen von Phelps zu berichten. Das Werk ist eine bittere Anklage an ein grausames Sportsystem, das seine Protagonisten krank macht. Phelps lässt in dem einstündigen Film ein halbes Dutzend amerikanischer Olympioniken zu Wort kommen, die alle, wie er, mit schweren seelischen Problemen zu ringen hatten. Ihre Geschichten sind unterschiedlich und doch im Kern immer gleich: Es ist die Geschichte eines erbarmungslosen Betriebs, der die Athleten aussaugt und dann fallen lässt, wenn sie keine Medaillen und Rekorde mehr produzieren.
»Du begreifst irgendwann«, sagt etwa der Skifahrer Bode Miller, »dass das Ganze ein Fließband von immer neuen Athleten ist.« Man werde aufgebaut und verhätschelt, so Miller, wenn man jung und talentiert ist, weil man dem Verband und den Sponsoren Medaillen liefert. Man sei auf den Titelseiten und komme sich unersetzlich vor. Doch sobald man seinen Zenit erreicht habe, warte schon der Nächste, der deinen Platz einnimmt.
Eine der bittersten Geschichten in Phelps’ Film ist wohl die von Katie Uhlaender. Unter Tränen erzählt die Skeleton-Fahrerin, wie ihr Trainer sie nicht von einer Wettkampf-Tournee freistellen wollte, als ihr Vater im Sterben lag. Von ihren Medaillen hing zu viel ab – die Förderung des Verbandes, die Anstellung der Trainer, das gesamte olympische Skeleton-Programm. Ihre Entlohnung dafür? Ein monatliches Stipendium in der Höhe von 1.700 Dollar.
Und dann sind da die Geschichten derer, die es nicht geschafft haben. Der Freestyle-Skifahrer »Speedy« Peterson etwa, der eines Abends im Jahr 2011 zu einem Parkplatz an einem Skilift in Utah fuhr und sich erschoss, nachdem er zuvor bei der Polizei angerufen hatte, damit seine Leiche abtransportiert wird. Oder die des Bobfahrers Steven Holcomb, der in dem Film über seine Depression spricht und der im Winter 2017 im olympischen Trainingszentrum in Colorado an einer Überdosis Tabletten und Alkohol starb. Oder die des Schwimmers Tom Shields, eines Mannschaftskameraden von Phelps, der einen Selbstmordversich nur überlebte, weil seine Frau ihn rechtzeitig fand.
Phelps bezeichnet das Problem der schweren Depression unter Hochleistungssportlern ganz unmissverständlich als systematisch. »Ich denke, dass rund 80 Prozent von uns zu irgendeinem Zeitpunkt unseres Lebens mit Depression zu kämpfen haben.« Die menschlichen Kosten olympischer Medaillen, über die nur selten gesprochen werde, seien immens.
Das dergestalt geschärfte Bewusstsein für den seelischen Preis von Gold und Ruhm hat ganz sicher dazu beigetragen, dass Jan Ullrich nun das erfährt, was ihm so lange verwehrt geblieben ist: Empathie und die Wahrnehmung seiner ganzen Persönlichkeit in allen Facetten. Es ist Raum entstanden für etwas anderes als die Lust an übermenschlichen Leistungen einerseits und die nicht minder vorherrschende voyeuristische Lust an Skandalen andererseits. Ullrich hat nun die Chance, einen Platz im Leben und in der Gemeinschaft zu finden, in der er weder als Halbgott noch als Krimineller abgestempelt wird.
Doch in vielerlei Hinsicht kommt dieser Sinneswandel der Öffentlichkeit für Jan Ullrich viel zu spät.
Rückblende ins Jahr 2018: Jan Ullrich filmt sich selbst mit dem Handy, und es ist eindeutig, dass er »voll drauf ist«: Seine von Kokain und Alkohol befeuerten Gedanken schießen in alle Himmelsrichtungen. Es gibt keine kontrollierende Ich-Instanz mehr, die die Bewusstseinsfetzen zusammenhält.
Dabei schwemmt die Selbstauflösung neben allerlei Gedankentreibgut bisweilen auch Profundes zutage. Da kommt etwa eine Verachtung gegenüber wohlmeinenden Freunden zum Vorschein, die »Helfer-Friends«, ein Hinweis auf die Bemühungen von Freunden, Ullrichs Abwärtsspirale zu stoppen. Aber Ullrich will das nicht. »Die können mich alle mal am Arsch lecken«, murmelt er vor sich hin. Und fügt an: »Bin ich schon tot? Nein, ich bin noch nicht tot.«
So wollte niemand Jan Ullrich je erleben. Niemals wollte man, dass sich zu den Bildern seiner sportlichen Großtaten, die man auch nach den vielen Tiefen seiner Laufbahn noch abgespeichert hat, solche Bilder eines Manns gesellen, der sich selbst jeglicher Würde beraubt hat – nur Jan Ullrich in seinem Rausch sah es anders und verschickte das Video an Dutzende seiner Kontakte. Nachdem Ullrich Wochen später in Frankfurt wegen Körperverletzung an einer Sexarbeiterin verhaftet wurde, machte es in allen sozialen Medien die Runde.
Warum Jan Ullrich wollte, dass man ihn so sieht, ist nur schwer zu erklären. War es vielleicht doch eine Art Hilferuf, obwohl er in dem Video mehrmals seine »Helfer« abkanzelte? Oder war es im Gegenteil eine Art ritueller Mord an seiner öffentlichen Person? Eine Hinrichtung jenes »Giganten« Jan Ullrich, der nach seinem Tour-Sieg 1997 in den Medien aufgebaut wurde, mit dem er über die Jahre immer wieder zu hadern hatte und den er schließlich zu hassen gelernt hat?
Wenn Bernd Thränhardt jenes Selfie-Video von Jan Ullrich anschaut, dann sieht er darin sich selbst. Vor ziemlich genau 20 Jahren war der Bruder des Weltklasse-Hochspringers Carlo genau da, wo Jan Ullrich war, als er in Mallorca jenes Video von sich drehte.
Thränhardt war nach und nach in die multiple Sucht hineingerutscht. Zuerst, erinnert er sich, war es nur Alkohol. Dann kamen Kokain und Ecstasy hinzu. Bis zu dem Punkt, an dem es außer Sucht in seinem Leben nichts mehr gab.
»Dein Körper ist etwas Fremdes«, sagt Thränhardt, »die Haut fühlt sich taub an, als hätte sie keine Verbindung zum Fleisch, den Nerven, den Knochen. Du weißt nicht, wie viele Tage vergangen sind. Realität und Wahn, Tag und Nacht, Schlafen und Wachen sind unentwirrbar verflochten.«
Auch Thränhardt hat damals eine Art öffentlichen Selbstmord begangen, wie er heute sagt. Für ihn waren es Fernsehinterviews, die er im Suff gegeben hat. »Wenn ich das heute sehe, das war ein anderer Mensch.« Ähnlich sieht sich Ullrich heute selbst, wenn er an diese Tage zurückdenkt. »Das war nicht ich.«
Den Impetus zur öffentlichen Selbstdemontage beschreibt Thränhardt so: »Du denkst dir, ich mache jetzt alles kaputt, weil ja eh alles scheißegal ist.« Es ist eine geheime Sehnsucht nach dem totalen Zusammenbruch, jenem Punkt, den Suchttherapeuten als »Rock Bottom« bezeichnen, ab dem es nur noch die Wahl zwischen dem realen Tod und der Umkehr zurück ins Leben gibt.
Doch wie konnte es so weit kommen?
Jan Ullrich zieht im Sommer 2016 von der Schweiz nach Mallorca. Er will einen Neustart für sich und seine Familie, will sich selbst entkommen, den Depressionen und regelmäßig auftauchenden Krisen, die ihn seit seinem abrupten Karriereende im Jahr 2006 plagen, aber auch den deutschen Medien, die ihm in der Schweiz immer noch zu nahe sind.
Guido Eickelbeck, der Ullrich schon kennt, seit beide Amateurrennfahrer waren und der auf Mallorca VIP-Radcamps betreibt, hilft Ullrich dabei, auf Mallorca Fuß zu fassen. Er vermittelt ihm eine Villa außerhalb von Palma. Fünf Hektar umfasst das Grundstück, es ist alles da, auch Pool und Hüpfburg für die Kinder. Direkt hinter dem Haus fängt das beliebteste Trainingsrevier für Radsportler in Europa an. Zehntausende von Amateuren und Profis kommen jedes Jahr hierher, nutzen das ganzjährig milde Klima und die malerische Landschaft, um sich in Form zu strampeln.
Anfangs, so erinnert sich Eickelbeck, hielt die Trauminsel Mallorca für Ullrich, was sie versprach. Ullrich radelte beinahe täglich über die Insel. Er fühlte sich gut, bei sich selbst, war ausgeglichen. Zusammen mit Eickelbeck begann er, ein Geschäft aufzubauen – Radsporturlaube für VIPs. Es machte ihm nichts aus, betuchte Hobbyradler über die Insel zu kutschieren, im Gegenteil. Es gefiel ihm, in einer Gruppe seinen Sport zu treiben, zusammen mit Menschen, die ihn schätzten.