Let´s play love: Deckx - Hanna Nolden - E-Book

Let´s play love: Deckx E-Book

Hanna Nolden

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Beschreibung

Für Vany bricht eine Welt zusammen, als ein Kreuzbandriss ihre Fußballkarriere ruiniert. Ohne ihren geliebten Sport wächst in ihr eine unbändige Wut, die sich immer wieder unkontrolliert entlädt. Um sich abzulenken, flüchtet sie sich in die Welt der Computerspiele und verliebt sich Hals über Kopf in den Let´s Player Deckx. Sie versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen und anfangs scheint sich Deckx über Vanys Aufmerksamkeit zu freuen - doch als sie ihn in einer Nachricht um ein Date bittet, wird sie zurückgewiesen. Das kann Vany nicht auf sich sitzen lassen. Und auch Schulfreund Leon, in den sie irgendwie verliebt ist oder irgendwie auch nicht, ist keine große Hilfe. Jedes Date mit ihm endet in einer Katastrophe und führt Vany zurück zu Deckx. Doch damit stößt sie Ereignisse an, über die sie mehr und mehr die Kontrolle verliert. Band 1 der zweiteiligen, abgeschlossenen Geschichte rund um Vany.

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let´s play love:

Deckx

© 2019 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: Christian Günther, Atelier Tag Eins | www.tag-eins.de

Lektorat: Michaela Harich

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN TB – 978-3-95869-401-9

 

Besuchen Sie unsere Webseite:amrun-verlag.de

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

v1 19

 

 

 

Prolog: Die Diagnose

 

 

 

 

 

 

Drrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Stille.

Und wieder Drrrrrrrrrrrrrrr.

 

Vanys Hände waren schweißnass und krampften sich um den Notfallknopf, einen kleinen Ball, den sie im schlimmsten Fall drücken sollte. Im Rhythmus der Geräusche betete sie. Zum Fußballgott oder zu wem auch immer.

 

Bitte kein Kreuzbandriss. Nicht der Meniskus. Bitte kein Kreuzbandriss. Nicht der Meniskus.

 

»Okay, Vanessa«, ertönte die Stimme aus der Gegensprechanlage. »Wir machen jetzt noch eine Aufnahme von deiner Schulter. Du hast es gleich geschafft.«

 

Stille. Und dann Rattarattarattaratta.

 

Eine Träne lief über Vanys Schläfe. Die Schulter war ihr egal. Das verdammte Knie! Das brauchte sie zum Fußballspielen! Schmerzen in der Schulter? Was soll’s! Aber nicht laufen können? Eine Katastrophe!

Die Zeit in der Röhre kam ihr endlos vor. Immer wieder sah sie vor sich, wie es passiert war. Sie war am Ball. Musste ihrer Gegnerin ausweichen. Ein schneller Richtungswechsel und —Bäm! Ein Knall, als wäre etwas explodiert. Ihr gesamter Körper schien zerschmettert zu werden und auf einmal hatte sie das Gefühl, alles würde in Zeitlupe geschehen. Ein stechender Schmerz jagte durch ihr Knie, das unter ihr nachgab. Sie spürte, wie ihr Gesicht in den nassen Rasen gedrückt wurde. Dann rannte die blöde Kuh von Abwehrspielerin in sie hinein. Ein Tritt in die Kniekehle, ein Schlag auf die Schulter. Dunkelheit. Sekunden später sah Vany den Trainer und die Sanitäter über sich. Sie sprachen mit ihr, aber in ihren Ohren war nur Rauschen.

 

Und jetzt war sie hier: im MRT. Und eigentlich kannte sie die Diagnose, wollte sie bloß nicht hören, denn dann würde sie real werden.

 

»Gut, Vanessa. Das war’s. Die Bilder sind sehr schön geworden. Toll, dass du so gut still gehalten hast. Wir fahren dich jetzt wieder raus.«

Der Tisch, auf dem sie lag, setzte sich in Bewegung und Vany entspannte sich ein wenig. Sie ließ den Ball los, setzte sich umständlich auf und zog sich die Lärmschutzstöpsel aus den Ohren. Die blonde Radiologieassistentin nahm sie ihr ab und warf sie in einen Mülleimer. Vany trug immer noch ihr Trikot. Sie kam sich unglaublich verschwitzt und schmutzig vor. Vermutlich konnte man die hellen Spuren der Tränen in ihrem dreckigen Gesicht sehen. Wie sehr sie sich dafür hasste! Dumme Heulsuse. Dummes Mädchen. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und erntete einen mitleidigen Blick. Vany biss sich auf die Lippe.

»Tut es sehr weh?«, erkundigte sich die Blondine. »Ich kann den Arzt fragen, ob er dir etwas gibt. Er wertet jetzt deine Bilder aus.«

Vany schüttelte den Kopf. »Es tut nicht weh«, presste sie hervor.

Die Blondine nickte ihr aufmunternd zu, dann verließ sie das Zimmer. Vany saß nur da und wartete. Ihre Eltern hatte sie rausgeschickt. Sie war ja kein kleines Kind mehr. Und sie kannte die Konsequenzen.

Zehn Wochen Trainingspause. Wenn sie Glück hatte.

Karriereende, wenn sie Pech hatte.

 

Doktor Braun war groß, grauhaarig und hager. Vany hatte ihn nur kurz gesehen, als der Trainer sie im Rollstuhl in die Praxisräume geschoben hatte. Jetzt saß er ihr gegenüber, thronte auf seinem Schreibtisch und hatte eine tiefe, spitze Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen. Ob er sich die wohl extra für schlechte Nachrichten antrainiert hatte? Er legte die Fingerspitzen aneinander und fing an zu sprechen: »Also, Vanessa. Zuerst die gute Nachricht: die Schulter ist nur geprellt. Das wird noch eine Weile wehtun und dann von selbst abheilen. Aber mit Prellungen kennst du dich bei deinem Sport ja sicher aus, oder?«

Vany nickte. Sie hatte auf einmal einen trockenen Mund und konnte dem Doktor nicht in die Augen sehen. Schon wieder stiegen ihr die verfluchten Tränen in die Augen. Wenn es eine gute Nachricht gab, gab es meistens auch eine schlechte. Doktor Braun atmete tief ein, bevor er fortfuhr: »Dein Knie hat es härter erwischt. Das vordere Kreuzband ist gerissen und auch die Menisken sehen nicht gut aus. Ich fürchte, damit fällst du erst einmal aus.«

»Erst mal?«, krächzte Vany verschnupft und heiser vom Kampf gegen die Tränen.

»Naja, deine Muskeln sind gut trainiert. Ich kenne Patienten, die schon nach zwei Wochen wieder mit Sport beginnen. Aber wir müssen abwarten, wie es aussieht, wenn die Schwellung zurückgegangen ist.«

»Zwei Wochen«, murmelte sie, unsicher, ob sie sich erleichtert fühlen sollte oder nicht. Sie senkte den Blick, starrte auf den Boden. Konnte und wollte nicht so recht daran glauben, dass in zwei Wochen alles wieder in Ordnung wäre. Nein. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Sie hob das Kinn und sah Doktor Braun in die blassgrauen Augen. »Und wenn es länger dauert?«

Der Doktor stützte sich hinter seinem Rücken auf und seufzte schwer.

»Ich will dir nichts vormachen, Vanessa. Dein Knie wird nie wieder so, wie es einmal war. Du bist jung und sportlich. Da bietet sich eine Rekonstruktion der Sehnen an. Deine Muskulatur ist kräftig genug, um die Instabilität des geschädigten Gelenkes auszugleichen. Aber versprechen kann ich dir nichts. Wenn du deinen Sport weiter ausüben möchtest, rate ich dir zu einer Operation. Vor der Operation sind jedoch einige Monate Krankengymnastik notwendig. Und auch danach wird ein gutes Jahr vergehen, bis du wieder voll einsatzfähig bist. Es tut mir leid.«

Vany hatte inzwischen die Hände zu Fäusten geballt. Am liebsten hätte sie etwas kaputt geschlagen. Oder geschrien. Aber sie riss sich zusammen und nickte tapfer.

»Okay«, sagte sie schließlich. »Okay. Dann weiß ich bescheid. U19 – das kann ich noch schaffen, oder?«

Sie merkte das Zögern. Kurz erschien die markante Falte, verschwand aber rasch hinter einem Lächeln, so falsch wie Analogkäse.

»Wir werden sehen«, schloss der Arzt diplomatisch. »Soll ich deine Eltern holen?«

Vanessa schüttelte den Kopf.

»Nein. Holen Sie meinen Trainer.«

 

1: Ein billiges Stück Plastik

 

 

 

 

 

 

Im Fernsehen lief eine Arztserie. Nicht das, was Vany sich normalerweise ansah, aber heute genau das Richtige. Ein Haufen Leute, denen es noch dreckiger ging als ihr. Krebsdiagnosen und Schusswunden. Leid, Schmerz, Verzweiflung – wie gut sie das nachvollziehen konnte. Das war so viel besser zu ertragen, als herumspringende junge Mädchen, die Model oder Popstar werden wollten. Oder Fußballprofi. Vany grub die Schneidezähne in ihre Unterlippe. Sie konnte nicht aufhören, daran zu denken. Sie wollte niemanden sehen und mit niemandem sprechen. Das Kabel vom Telefon neben ihrem Bett hatte sie aus der Wand gerissen, weil es in einer Tour geklingelt hatte. All ihre Teamkollegen wollten wissen, was los war und ob sie am Samstag wieder spielen könne. Sie führte immerhin die Torschützenliste an. Ohne sie war das Team aufgeschmissen. Vany griff nach ihrem Kissen, drückte es sich aufs Gesicht und biss kräftig hinein, um nicht zu schreien, obwohl sich Schreien bestimmt besser angefühlt hätte. Da klopfte es an der Tür. Mit einem Knurren nahm sie das Kissen von ihrem Gesicht.

»Ich bin nicht da!«, rief sie Richtung Tür, die sich trotzdem zögerlich öffnete. Ihr älterer Bruder Tim schob sein Gesicht durch den Spalt zwischen Türblatt und –rahmen. Sein schiefes Grinsen hatte etwas Entschuldigendes.

»Was willst du?«, stöhnte sie und hätte am liebsten das Kissen nach ihm geworfen. »Wenn du dich über mich lustig machen oder mich aufziehen willst – spar’s dir einfach!«

»Wo denkst du hin?«, fragte er und drückte die Tür ganz auf. »Ich bin doch kein Kind mehr. Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Vany setzte sich auf. Tim hatte einen großen Pappkarton in seinen Händen.

»Was ist das?«, wollte sie wissen. Gegen ihren Willen war ihre Neugier geweckt und für einen kurzen Moment vergaß sie ihren Kummer. Tim nahm auf dem Rand ihres Bettes Platz und zog den Karton auf seinen Schoß.

»Meine XBox. Ich leih’ sie dir. Und ich hab’ dir sogar ein Spiel dafür gekauft. Damit dir vormittags nicht die Decke auf den Kopf fällt, wenn wir alle ausgeflogen sind.«

Er drückte ihr eine Plastikbox in die Hand. Vany betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Fußballgott 2016 stand in bunten Buchstaben auf dem Cover. Vany kniff die Lippen zusammen und legte den Kopf schief.

»Ich weiß nicht, Tim. Ich hab’s nicht so mit Computerspielen. Und außerdem will ich jetzt wirklich nicht an Fußball denken.«

»Erzähl’ keinen Scheiß, Schwesterchen. Du und nicht an Fußball denken? Du hast doch nichts anderes im Kopf. Du wirst dich von so ›nem gerissenen Kreuzband doch nicht aufhalten lassen, oder?«

Er sah sie herausfordernd an und irgendwann musste Vany grinsen.

»Okay, hast gewonnen. Ich schau’s mir mal an.«

»Klasse. Ich schließ’ sie dir an. Du wirst sehen. Es ist ganz easy.«

Tim nahm die XBox und einige Kabel aus dem Karton und schloss die Konsole an den Fernseher an. Dann wählte er die richtige Quelle am TV aus, legte das Spiel ein und drückte Vany einen Controller in die Hand. Er selbst nahm auch einen und ließ sich neben ihr aufs Bett fallen.

»Rutsch mal«, sagte er enthusiastisch. Vany konnte seine Begeisterung nicht so recht teilen. Sie hatte so etwas noch nie gemacht. Tim war der klassische Stubenhocker, der den lieben langen Tag im abgedunkelten Zimmer vor seiner Kiste hängen konnte. Vany hingegen zog es bei jedem Wetter nach draußen.

»Als erstes musst du ein Spielerprofil anlegen.«

Vany klickte sich durch die verschiedenen Gesichter. Der Controller fühlte sich merkwürdig und ungewohnt in ihren Händen an, aber eigentlich war die Bedienung ganz einfach. In der Menüführung zumindest.

»Gibt es keine Frauen?«, maulte sie.

»Nee. Für Frauenfußball gibt es keine Spiele. Nimmst du halt ›nen Schwulen.«

»Haha«, machte sie ironisch und entschied sich für einen dunkelhaarigen, durchtrainierten Typen, während Tim versuchte, seine Spielfigur so zu gestalten, dass sie ihm möglichst ähnlich sah. Hätte es weibliche Figuren gegeben, hätte Vany es genauso gemacht.

»Wir können miteinander oder gegeneinander spielen. Jetzt spielen wir nur zum Spaß, aber wenn du allein spielst, wählst du am besten den Karrieremodus. Passt ja auch irgendwie zu dir, oder?«

Sie verkniff sich den bissigen Kommentar, dass ihre Karriere jetzt wohl im Eimer war, und versuchte, sich einzuprägen, wann sie A, B, X oder Y drücken musste. Die Finger von ihrem Bruder schienen blind zu wissen, was sie wann tun mussten, während sich ihre anfühlten, als wären sie verknotet. Sie verlor jedes Spiel und nach drei Partien hatte sie es gerade mal geschafft, richtig geradeaus zu laufen. Tim blickte auf die Uhr.

»Morgen wirst du schon besser sein«, versprach er ihr. »Du wirst sehen. Das lernt man ganz schnell. Ich muss jetzt ins Bett. Ich schreib’ morgen früh Englisch.«

Vany nickte ihm zu und kurz bevor er das Zimmer verließ, sagte sie noch: »Danke, Tim.«

 

Ihre Mutter weckte sie am nächsten Morgen, bevor sie zur Arbeit ging. Warum, konnte Vany nicht nachvollziehen. Eine Woche lang musste sie zuhause bleiben, bevor sie sich auf Krücken in die Schule wagen sollte und die Physiotherapie begann. Es gab also absolut keinen Grund, so früh geweckt zu werden. Aufstehen konnte sie eh nicht. Aber ihre Mutter bestand darauf, dass sie einen gewissen Rhythmus einhielt. Sie stellte ihr ein Tablett mit Frühstück ans Bett und stöpselte das Telefon wieder ein. Dann drückte sie Vany einen Zettel in die Hand.

»Das ist meine Büronummer, Schatz. Wenn irgendwas ist, scheu dich nicht, mich anzurufen.«

Vany verdrehte die Augen. Sie hasste es, ihre Mutter im Amt anzurufen. Die wollte ihr jetzt einen Kuss auf die Stirn drücken, aber Vany zog schnell die Decke übers Gesicht.

»Hau bloß ab, Ma!«

Sie konnte das gedämpfte Seufzen ihrer Mutter durch die Decke hören.

»Also gut. Tim ist gegen 14 Uhr wieder hier. Ich komme um 16 Uhr und mache euch dann etwas zu essen. Sieh nicht den ganzen Tag fern und wirf auch mal einen Blick in deine Bücher!«

»Jaja.«

»Ich weiß sehr wohl, was das heißt, junge Dame.« Wieder das Seufzen. »Ich bin weg.«

»Fein.«

Vany blieb unter der Decke, bis sie die Haustür zufallen hörte. Dann angelte sie nach der Fernbedienung und zappte sich missmutig durch die Kanäle. In der ersten halben Stunde fielen ihr noch ab und an die Augen zu. Allerdings war Vany keine Nachteule und der Schulrhythmus steckte noch in ihr. An einem gewöhnlichen Schultag hätte sie jetzt schon eine ordentliche Runde mit dem Rad gedreht. Der Schulweg war nicht lang, aber für ihr Training war es ganz gut, eine Extrarunde zu fahren. Vor der Schule zu joggen, schaffte sie meistens nicht, weil sie dann noch hätte duschen müssen. Radfahren jedoch brachte sie kaum ins Schwitzen. Also fuhr sie eine halbe Stunde vor und meistens auch eine Stunde nach der Schule. Vany musste sich wieder auf die Lippen beißen. Radfahren war die nächsten Wochen auch nicht drin. Nicht einmal das. Sie zog sich das Tablett mit dem Frühstück heran und begann lustlos zu essen, während im Fernsehen ein junges Paar dabei war, die erste eigene Wohnung einzurichten. Das Mädchen setzte sich durch und ließ den Jungen die Wände fliederfarben streichen. Vany verabscheute die Rosamädchenfraktion und verzog angewidert das Gesicht. Wenn die Sport machte, war es bestimmt Yoga. Oder Pilates. Oder Zumba!

Sie wollte schon wieder nach der Fernbedienung greifen, hatte aber alle Programme schon dreimal angewählt und nirgendwo etwas Besseres gefunden. Teenager in Not, gebärende Mütter in Kreißsälen, Kochshows ... das Vormittagsprogramm bot nichts, das Vany hinter dem Ofen hätte hervorlocken können. Als sie das Tablett zurückstellte, fiel ihr Blick auf den XBox-Controller ihres Bruders.

»Es ist ganz easy«, hatte er gesagt und obwohl Vany in ihrem ganzen Leben noch nie eine Spielkonsole bedient hatte, war es ihr tatsächlich nicht so schwer vorgekommen. Geradezu selbsterklärend. Sie wählte den richtigen Kanal am Fernseher aus und schaltete die Konsole ein. Schon startete die Videosequenz und Vany entspannte sich. Es war nicht real, aber hey! Immerhin ging es um Fußball. Sie sah sich noch einmal ihr Spielerprofil an, doch es gefiel ihr nicht mehr und sie beschloss, sich heute ein bisschen mehr Mühe zu geben. Wenn sie schon keine Frau sein konnte, wollte sie wenigstens einen gutaussehenden Spieler haben. Denn Rosamädchenfraktion hin oder her - nur weil sie selbst Fußball spielte, hieß das natürlich nicht, dass sie einem gutaussehenden Kerl gegenüber abgeneigt gewesen wäre. Da mochten die Jungs aus ihrer Klasse noch so oft behaupten, sie wäre lesbisch. Die hatten ja keine Ahnung. Idioten. Alle miteinander.

 

Vany brauchte eine halbe Stunde, bis sie mit ihrem Spieler zufrieden war. Dunkelbraunes, glattes Haar – bloß keine Locken! –, nussbraune Augen, schön definierte Muskeln, ein freundliches Lächeln. Ja, der Typ sah sie an, als wäre er nur dafür da, ihr eine Freude zu bereiten. Vany hatte ihre schlechte Laune vergessen. Jetzt brauchte der gutaussehende Typ nur noch einen Namen.

»Marten«, dachte Vany. »Ich werde dich Marten nennen. Marten Olafson.«

Sie grinste, während Marten sich über seinen Namen ehrlich zu freuen schien. Fehlte noch der Verein. Aus einer Reihe erfundener Oberligavereine konnte Vany sich einen aussuchen. Ihr Ziel würde es dann sein, so gut zu werden, dass sie entweder mit ihrem Verein aufstieg oder während der laufenden Saison von einem höheren Verein abgeworben wurde. Vany verdrängte den Gedanken, dass sie gestern noch wie eine Versagerin gespielt hatte. Es würde schon schief gehen. Sie war in den meisten Sachen besser, wenn sie nicht dabei beobachtet wurde. Ihr Verein hieß »Vorwärts Heimbüttel« und hatte die Farben blau und weiß. Ihre Mannschaftskollegen trugen alle eigentümliche Namen, die klangen, als hätte man ein Telefonbuch zerschnipselt und wahllos ein paar Silben gezogen. Teilweise waren auch die Namen berühmter Fußballspieler vergangener Tage verwurstet worden. Da gab es einen Diego Beckenmann oder einen Stefan Klinsmüller. Vany schüttelte den Kopf. Nein. Dann würde schon eher Marten Olafson Fußballgott 2016 werden. Im Trainingslager, dem Tutorial, konnte Vany ganz wie in echt ein Training durchlaufen. Slalom um Pylone laufen, Ecken und Elfmeter schießen, anderen Spielern den Ball abnehmen – nur Stretching, Warmmachen und Ausdauertraining wurden hier ausgespart. Vany war sich nicht sicher, ob sie wirklich besser wurde, aber allmählich gewöhnten sich ihre Finger an den klobigen Controller in ihrer Hand und sie traf immer häufiger auf Anhieb die richtige Taste. Marten Olafson bewegte sich auf dem Platz wie ein Stück Holz, aber das taten die Klinsbauers aus ihrem Team auch. Die Saison fing an und das erste Spiel wurde im Heimbüttler Käseblatt angekündigt. Es gab eine kurze Videosequenz und schon konnte es losgehen. Vany stand im Sturm. Rechts außen. Wie im wahren Leben. Die geprellte Schulter schmerzte ein wenig, als sie sich gegen die Wand lehnte, aber Vanys Ehrgeiz war geweckt, so dass sie den Schmerz kaum wahrnahm. Der Gegner »Wacker Hammerstedt« legte gleich los. Anders als im Trainingslager schien Vany das Spiel irrsinnig schnell zu gehen. Jede Halbzeit dauerte fünf Minuten. Es war ein einziges Gewusel und Vany hatte große Schwierigkeiten, ihre Mitspieler und die des Gegners auseinander zu halten. Sie kam kaum an den Ball und wenn sie ihn mal hatte, war sie ihn sofort wieder los. Nach der ersten Halbzeit führte »Wacker Hammerstedt« bereits drei zu null. Vany begann zu schwitzen. In ihrer Schulter pochte auf einmal der Schmerz, so angespannt war sie. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, aber ihr Team stolperte sich durch das Spiel wie ein Haufen Bewegungslegastheniker. Am Ende stand es sieben zu drei und Vany zitterte vor Wut am ganzen Leib.

»Verdammte Scheiße!«, stieß sie aus. »So ein blödes ... so ein dummes ... so ein verfluchtes Spiel!«

Sie warf den Controller neben sich und schnaufte wütend. Auf der Zunge schmeckte sie ihr eigenes Blut, so fest hatte sie auf ihre Unterlippe gebissen. Sie schaltete den Fernseher aus, um die Schmach nicht länger ertragen zu müssen. Sieben zu drei! Unglaublich. Vany rollte sich über die Seite aus dem Bett, griff sich die Krücken und humpelte in Richtung Badezimmer. Ihr Herz wummerte wie verrückt. Zum einen, weil sie so zornig war, und zum anderen, weil es verdammt anstrengend war, sich mit dem verletzten und schmerzenden Knie fortzubewegen. Als sie endlich auf dem Klo saß, überlegte sie kurz, ob sie nicht einfach sitzen bleiben sollte. Im Badezimmer hatte sie Wasser, konnte aus dem Dachfenster in den Himmel schauen und einfach laufen lassen, wenn sie musste.

»Vany, du bist bescheuert«, sagte sie zu sich selbst und erhob sich mühselig. Wacker Hammerstedt kam ihr wieder in den Sinn. Sollte sie etwa einfach aufgeben? Hatte sie jemals in ihrem Leben daran gedacht, ihre Karriere aufzugeben wegen eines einzigen verlorenen Spiels? Nein. Aufgeben – dieses Wort gab es in ihrem Wortschatz nicht. Sie humpelte zurück in ihr Zimmer und schaltete den Fernseher wieder ein, fest entschlossen, ihre Anstrengungen zu verdoppeln.

 

Einige Niederlagen und Wutanfälle später hatte Vany den Dreh so halbwegs raus. Es gab immer noch ein paar Feinheiten, die sie nicht ganz beherrschte, aber immerhin schoss sie das ein oder andere Tor und verlor nicht mehr jedes Spiel. Gut, es hatte ein paar Verluste gegeben – genauer gesagt einen, aber woher sollte sie schließlich wissen, wie viel so ein dummer Controller aushielt? Doch das kümmerte Vany jetzt nicht mehr. Sie spielte wie im Fieber und bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Gegen Mittag kam ihr Bruder nach Hause und klopfte an ihre Tür. Vany fuhr zusammen. War es wirklich schon so spät?

»Herein!«, rief sie und Tim schob die Tür auf.

»Hey Schwesterchen. Alles klar? Ich hab’ uns zwei …«

Tim hielt mitten im Satz inne und Vany folgte beunruhigt seinem Blick. Schnell ließ sie das Spiel pausieren und legte den XBox-Controller behutsam zur Seite.

»Ich … ich kann das erklären!«, stammelte sie.

Tim schüttelte fassungslos den Kopf und nahm den zweiten XBox-Controller – den, der ihrer Wut zum Opfer gefallen war - vorsichtig in beide Hände, fast so, als würde er einen Vogel mit gebrochenen Flügeln aufheben.

»Vany, was hast du … wie hast du … ich meine …«

»Ich kann das erklären«, wiederholte Vany kleinlaut. »Ehrlich!«

Sie sah Tims Adamsapfel hüpfen, als er schluckte.

»Na, dann mal zu«, forderte er sie auf.

»Na ja … also … das Spiel hat mich geärgert. Ich war wütend und … na ja … da hab’ ich den Controller ein paar Mal gegen die Wand geschlagen.«

Vany konnte Tim nicht mehr in die Augen sehen. Sie starrte ihre Hände an, die auf einmal zitterten. Sie liebte ihren Bruder und sie stritten sich so gut wie nie. Vorhin hatte sie nicht darüber nachgedacht, was sie tat, aber jetzt kam es ihr mit voller Wucht zu Bewusstsein. Sie hörte, wie Tim tief einatmete. Dann legte er den zerstörten Controller zur Seite und sagte: »Dir ist doch wohl klar, dass du mir den bezahlen musst, oder?«

Vany presste die Lippen aufeinander. Sie nickte, immer noch, ohne ihrem Bruder ins Gesicht zu sehen.

»Und dir ist auch klar, dass du jetzt erst mal allein spielen musst, weil ich im Moment keinen zweiten Controller habe.«

Vany sah erschrocken auf. Das hatte sie in ihre Überlegungen nicht mit einbezogen. Den ganzen Vormittag hatte sie allein gespielt und die Zeit war nur so verflogen, aber andererseits hätte sie natürlich schon gerne etwas Gesellschaft gehabt. Sie schluckte und nickte wieder.

»Also gut. Dann plündere ich nachher mal dein Sparschwein. Und du versuchst bitte, deine Aggressionen zu kontrollieren. Herrje. So kenne ich dich ja gar nicht! Lässt du deine Wut sonst auf dem Platz?«

Vany war sich nicht sicher, ob er das im Ernst oder im Scherz sagte. Sie zuckte nur deprimiert die Achseln.

»Wie auch immer. Ich hab’ uns zwei Pizzen in den Ofen geschoben. Ich bring’ dir deine gleich hoch.«

Damit wandte er sich um und verließ ihr Zimmer. Vermutlich hatte ihre Mutter nur ihr gesagt, dass sie vorhatte zu kochen. Vany hob das geborstene Stück Plastik auf und betrachtete es nachdenklich. Was so was wohl kostete?

 

 

2: Deckx

 

 

 

 

 

 

Vany hatte sowohl den Fernseher als auch die Konsole ausgeschaltet, als Tim mit der Pizza kam. Er setzte sich mit seinem eigenen Teller zu ihr aufs Bett und lächelte sie aufmunternd an. In Vany rumorte das schlechte Gewissen. Während sie die Paprikastücke von ihrer Pizza pulte, fragte sie unsicher: »Und? Bist du mir noch böse?«

»Böse? Wieso denn?«

»Na, wegen des Controllers.«

Tim zuckte die Achseln, verzog allerdings den Mund dabei, als würde er nicht daran erinnert werden wollen.

»Es ist nur ein Stück Plastik, Vany. Und du hast gesagt, du bezahlst ihn mir. Aber darum geht es eigentlich nicht. Ich mache mir Sorgen um dich. Ist es wirklich das Spiel, das dich so wütend macht?«

Vany biss in ein Stück Pizza und kaute nachdenklich. Nein, selbstverständlich war es nicht das Spiel. Es war die Verletzung. Ihre eigene, grenzenlose Dummheit, sich das Knie zu verdrehen. Sie seufzte.

»Ich bin besser geworden, aber es gibt immer noch ein paar Sachen, die ich nicht draufhabe. Meine Ecken gehen immer sonst wohin.«

»Du weichst mir aus«, stellte Tim fest.

»Ich weiß«, gab Vany zu. »Natürlich ist es nicht das Spiel. Aber an meiner Verletzung kann ich gerade nichts ändern. Im Spiel jedoch kann ich mich verbessern. Ich weiß nur nicht wie. Ich habe den ganzen Morgen geübt, doch ich komme einfach nicht dahinter, wie man in diesem blöden Spiel eine vernünftige Ecke schießt!«

Tim stellte seinen Teller beiseite. Er hatte seine Pizza inhaliert, derweil Vany immer noch lustlos an ihrem ersten Stück nagte.

»Wo ist dein Laptop?«, wollte er wissen. Vany runzelte die Stirn und war kurz davor »Mein was?« zu fragen. Sie hatten den Laptop von ihren Großeltern zu Weihnachten bekommen, ihn jedoch nie benutzt. Lediglich zwei Referate hatte sie darauf geschrieben und ein wenig im Internet recherchiert.

»Im Schreibtisch, das Fach unter der Platte. Wieso?«

»Wart’s ab«, sagte Tim und stand auf, um den Laptop zu holen. Er stöpselte das Akkukabel ein und fuhr das kaum gebrauchte Gerät hoch. Vany schob sich den Rest des Pizzastücks in den Mund und leckte sich die Finger ab. Neugierig und skeptisch zugleich versuchte sie, Tim über die Schulter zu linsen.

»Sagt dir wenigstens YouTube was?«, fragte er mit einem Tonfall, als hätte er eine Idiotin vor sich.

»Ja klar. Die Leutz aus meiner Klasse zeigen sich auf ihren Handys immer dämliche Videos. Skateboardunfälle und so’n Zeug. Jazz hat mich sogar überredet, mir einen Account und eine Emailadresse zuzulegen.«

Tim nickte, ohne sie anzusehen, und Vany war sich nicht sicher, ob er ihr überhaupt zugehört hatte. Er tippte etwas, dann drehte er den Laptop so, dass sie den Monitor besser sehen konnte. Vany las, was er in die Suchzeile eingab: »Let’s Play Fußballgott 2016«. Sie runzelte die Stirn.

»Let’s Play?«, fragte sie ahnungslos.

»Jap. Da kannst du anderen beim Computerspielen zusehen. Ist manchmal ganz hilfreich, wenn man nicht weiterkommt.«

»Aha.«

Unter der Suchzeile wurden ihr jetzt einige Videos von verschiedenen Kanälen – oder Let’s Playern, wie Tim sie nannte – vorgeschlagen.

»Klick dich da einfach mal durch. Manche von denen sind schnarchlangweilig, aber andere machen richtig Spaß. Isst du deine Pizza noch?«

Vany schüttelte geistesabwesend den Kopf. Sie hatte nur ein Achtel ihrer Pizza gegessen, aber nachdem sie den ganzen Vormittag im Bett verbracht hatte, hatte sie ohnehin keinen Hunger. Tim nahm ihr den Teller ab und schob ihr den Laptop auf den Schoß. Vany wählte das erste angebotene Video aus. Der Kanal hieß MausLPs. Sie zuckte erst einmal kräftig zusammen, worauf ihre geprellte Schulter mit einem heftigen Ziehen reagierte. Ein knallbunter Werbespot brüllte sie in einer irrwitzigen Lautstärke an und befahl ihr, sofort eine Reise auf die Malediven zu buchen. Nach ein paar Sekunden konnte sie den Werbespot wegdrücken und das Let’s Play begann. Vany sah den Eröffnungsbildschirm von Fußballgott 2016 und ein Sprecher begrüßte das Publikum vor den Monitoren.

»Hey Leute! Ich bin’s, eure Maus und heute starten wir ein megageiles Let’s Play, auf das ich mich schon lange irrsinnig freue.«

Vany verzog den Mund. Sie konnte nicht genau sagen, woran es lag, doch diese sogenannte Maus hatte etwas Unangenehmes in der Stimme. Eine gewisse Arroganz, die Vany nach fünf Minuten gehörig auf den Zeiger ging. Maus konnte alles und er konnte alles natürlich auch am besten. Vielleicht hätte sie von ihm tatsächlich lernen können, wie man bei Fußballgott 2016 vernünftige Ecken schoss, aber sie konnte ihn keine Sekunde länger ertragen. Sie drückte auf »zurück«, die Stimme verstummte und der Monitor zeigte wieder ihre Suchergebnisse an. Tim hatte ihre Pizza inzwischen ebenfalls verdrückt und bot Vany an, ihr einen Eistee zu bringen.

»Ja, gern«, murmelte Vany, ohne zu ihrem Bruder aufzusehen. Sie hatte bereits das nächste Video angewählt. Der Let’s Player nannte sich »Der Kniffler«. Im ersten Moment war Vany überrascht, denn er klang wie ein Moderator der Sportschau. Allerdings schien sich sein Let’s Play eher an Zuschauer zu richten, die bereits die Vorgängertitel von Fußballgott gespielt hatten und mit der kaum veränderten Steuerung bestens vertraut waren. Und außerdem war er – ähnlich wie ein Sportschaumoderator – unfassbar öde. Für Vany war es unbegreiflich, warum er so viele Abonnenten hatte. Sie klickte zurück und wählte ein Video von einem gewissen »VanRaff« aus. Da hielt sie allerdings noch weniger lange durch und auch Tim, der ihr jetzt ein Glas Eistee reichte, fand: »Der klingt wie ein schlechter Komiker mit Blähungen!«

Vany musste so lachen, dass sie etwas Eistee über ihren Ärmel schüttete.

»Bist du sicher, dass da noch was Gutes kommt?«, fragte sie, während sie sich gerade gegen die piepsige Jungenstimme von Mampelpampel entschied. Vielen Dank, aber Jungs im Stimmbruch hörte sie in der Schule oft genug.

»Keine Ahnung«, erwiderte Tim. »Ich wünsche dir viel Glück und kümmere mich jetzt mal um meine Hausaufgaben.«

»Okay.«

»Ich hab’ mein Handy neben mir liegen. Wenn du mich brauchst, schick mir eine WhatsApp.«

»Danke, Tim!«

»Ist doch selbstverständlich«, gab er zurück, allerdings wusste Vany, dass dem nicht so war. Ihre beste Freundin Jazz zum Beispiel – eigentlich hieß sie Jessika, aber seit sie Jazzdance machte, nannte Vany sie nur noch so – hatte einen ganz grauenhaften großen Bruder, der für seine kleine Schwester nicht den kleinen Finger krumm machen würde. Einmal hatte sich Jazz beim Basketball zwei Finger der rechten Hand gebrochen und ihr Bruder hatte sich noch über ihre krakelige Schrift lustig gemacht. Vany wusste, wie viel Glück sie mit Tim hatte. Er war mehr als nur ihr Bruder. Er war ihr bester Freund, auf den sie sich immer verlassen konnte und der immer für sie da war – vor allem, wenn die Welt sich gegen sie verschworen hatte und sie jemanden zum Reden brauchte.

 

Der nächste in Vanys Liste war ein Let’s Player namens Deckx. Als erstes fiel ihr Blick auf sein Avatarbildchen unten links. Es war im Mangastil gezeichnet und zeigte einen Typen mit einem Headset über dunkelbraunen, glatten Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Vany war zwar kein Mangafan, trotzdem gefiel ihr das Bildchen ausgesprochen gut. Es war irgendwie süß. Sie drückte auf Play und wurde von einer sanften, melodischen Stimme begrüßt, die Gott sei Dank, längst aus dem Stimmbruch draußen war. Also, natürlich wurde Vany nicht direkt begrüßt, aber sie fühlte sich gleich angesprochen. Die Stimme war so angenehm, dass sie auch einem Hörbuchsprecher hätte gehören können.

»Herzlich Willkommen, meine lieben Zuschauer! Heute starten wir mit einem neuen Projekt, das ein wenig ungewöhnlich für mich ist, denn, ich habe es ja schon häufiger in anderen Let’s Plays erwähnt, Fußball ist eigentlich nicht so mein Ding.«

Vany presste die Lippen aufeinander und war kurz davor, sich wieder zurück zu klicken, aber die Stimme klang irgendwie so sympathisch, dass sie beschloss, Deckx trotz seiner Abneigung gegenüber Fußball eine Chance zu geben.

»Auf dieses Spiel habe ich mich trotzdem gefreut, da nämlich ein Kumpel von mir am Grafikdesign beteiligt war. Also Norman: dieses Let’s Play haben wir dir zu verdanken.«

Wie cool, dachte Vany und grinste. Sie nahm den Finger vom Touchpad und lehnte sich zurück. Wollte sie doch mal schauen, wie Deckx sich schlug, wenn er doch von Fußball so wenig Ahnung hatte wie sie von Videospielen.

»Also, dann legen wir mal los.«

Wie Vany zuvor legte Deckx sich ein Spielerprofil an und wählte eine Oberligamannschaft, mit der er beginnen wollte. Er versuchte, seinen Charakter so zu gestalten, dass er seinem Avatar ähnlich sah, und im Endeffekt sah er fast so aus wie Marten Olafson. Deckx bewies jede Menge Humor und seine coolen Sprüche brachten Vany so zum Lachen, dass sie alles um sich herum vergaß. Alles. Sogar die Schmerzen in Knie und Schulter und das Glas Eistee in ihrer Hand. Sie war bei Part 5 angekommen, als neben ihrem Bett das Telefon klingelte. Vor Schreck verschüttete sie ihren Eistee. Schnell ließ sie das Video pausieren, stellte das Glas weg und ging ran.

»Hey Vany! Du warst heute nicht in der Schule. Was ist los mit dir?«

Es war Jazz. Vanys Blick ging unsicher zum Laptop. Würde sie das Video wiederfinden, wenn sie es wegklickte? Irgendwie hatte sie Angst, es könnte verschwinden, wenn sie es jetzt nicht zu Ende ansah.

»Warte mal ne Sekunde, ja?«

»Okay.«

Vany legte den Telefonhörer zur Seite und klickte auf Deckx’ Namen. Das brachte sie direkt in seinen YouTube-Kanal, wo über 700 Videos darauf warteten, von ihr angesehen zu werden. Schnell klickte sie auf »Kanal abonnieren«. Jetzt konnte wohl nichts mehr schief gehen.

»So, da bin ich wieder. Tut mir leid, dass ich mich nicht eher bei dir gemeldet habe, Jazz. Aber mir ist am Samstag etwas richtig Ätzendes passiert. Ich habe mir beim Spiel einen Kreuzbandriss zugezogen.«

»Ach du sch…!«, stieß Jazz aus. »Wie lange fällst du aus?«

»Können sie noch nicht sagen. Im Moment ist das Knie zu sehr geschwollen. Ich soll es eine Woche nicht belasten. Nächste Woche darf ich dann auf Krücken in die Schule humpeln.«

»Oh Mann, Vany! Das tut mir so unendlich leid!«

Vany lag eine bittere Bemerkung auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter. Jazz konnte schließlich nichts dafür, dass ihr das passiert war.

»Wird schon«, entgegnete sie gezwungen. Immer positiv denken, oder nicht? »Lenk’ mich lieber etwas ab. Was geht in der Schule?«

Und da hatte sie einen Nerv getroffen. Eineinhalb Stunden plapperte Jazz jetzt. Solange, bis der Akku ihres schnurlosen Telefons schlapp machte. Eineinhalb Stunden, in denen Vany ihre Sorgen komplett vergaß. Darin war Jazz große Klasse. Das liebste Plappermaul der Welt! Als sie mit Quatschen fertig waren, fühlte Vany sich viel besser. Denn egal, was passierte, sie war wenigstens nicht allein.

 

 

3: Fantastic Lights