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Nachdem die 16-jährige Rieke beim Knutschen mit Ballettkollegin Fenja erwischt wurde, schickt ihre besorgte Mutter sie über die Herbstferien zu ihrer Tante Nelly, die ein einsames Haus im Wald bewohnt. Hier soll Rieke über ihr Verhalten nachdenken. In der Zeit macht Forstarbeiter Erik ihr Avancen, aber Rieke interessiert sich mehr für Neve, das sonderbare Mädchen aus dem Nebel. Und der Tanz mit Zuckerfee Fenja lässt sich auch nicht so leicht verdrängen ...
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Hanna Nolden
Herbstnebel
Rieke & Neve
Für Kirsten. Vielleicht traue ich mich irgendwann …
© 2022 Hanna Nolden
Rüstje 2, 21717 Deinste
Covergestaltung: Hanna Nolden
Bildmaterial: Shutterstock
Bestellung und Vertrieb:
Nova MD GmbH, Vachendorf
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-98595-179-6
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Inhalt
Impressum
Kapitel 1 Tante Nelly
Kapitel 2 Im Nebel
Kapitel 3 Erik
Kapitel 4 Das Mädchen in weiß
Kapitel 5 Begegnungen
Kapitel 6 Ein Tanz im Nebel
Kapitel 7 Nebelkuss
Kapitel 8 Feenringe
Kapitel 9 Der weiße Hase
Kapitel 10 Date oder nicht Date?
Kapitel 11 Zuckerkuss
Kapitel 12 Hoffnung auf Nebel
Kapitel 13 Nebeltanz
Kapitel 14 Ein Anfang
Epilog
Danksagung
Empfehlungen
Frustriert saß Rieke auf ihrem gepackten Koffer. Eine Million Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Worte, die sie ihrer Mutter entgegen schleudern wollte. Erklärungen, warum diese Art von Erziehung echt nicht zeitgemäß war. Wütendes, verzweifeltes verbales Um-sich-Schlagen. Aber irgendwann gab sie es einfach auf. In den letzten zwei Wochen hatte sie ihre Mutter mit nichts erreichen können, dann würde es ihr an ihrem letzten gemeinsamen Tag kurz vor der Abfahrt kaum gelingen. So gesehen war es vielleicht gar nicht schlecht, etwas Abstand von ihrer Mutter zu bekommen, die gerade ohne anzuklopfen Riekes Zimmertür aufstieß. »Bist du so weit?«
Sie klang gereizt und genervt. Als könnte sie es kaum erwarten, ihre Tochter loszuwerden.
Rieke zuckte die Achseln. »Schon lange.«
»Hast du nicht ein bisschen viel eingepackt für zwei Wochen?«
Entnervt verdrehte Rieke die Augen. »Finde ich eigentlich nicht.«
Sie stand auf, hob ihren Koffer einmal an und ließ sich nicht anmerken, wie schwer er tatsächlich war.
Während der Fahrt zum Bahnhof redete ihre Mutter in einer Tour. Rieke hörte ihr nur mit einem Ohr zu und überprüfte stichprobenartig, ob die Ansprache noch vertraut klang. Ja, sie hatte das alles bereits gehört. Dass sie ihr nicht erlauben würde, weiterhin zum Ballett zu gehen. Schließlich wären die Stunden teuer genug. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie es da zuginge.
Ja, genau. Diese Ballerinas. Schlimmer als Hafenarbeiter.
Selbst bei Bodenturnen wäre sie sich nicht so sicher, ob sie das nicht besser an den Nagel hängen sollte. Immerhin leide ja auch die Schule unter so viel Sport.
Erst, als sie auf dem Parkplatz standen, gelang es ihrer Mutter, Rieke mit einer völlig neuen Aussage zu überraschen. »Ich habe das alles schon einmal durchgemacht, weißt du?«
Rieke schnappte nach Luft. Durchgemacht? Was bitte schön machte ihre Mutter denn durch? Und hatte sie sich mal gefragt, was sie, Rieke, gerade durchmachte?
Erst nach geschlagenen drei Sekunden fiel ihr auf, was sie an dieser Aussage wirklich stutzig machte. »Was soll das heißen, du hast das alles schon einmal durchgemacht? Hast du etwa noch eine lesbische Tochter, von der ich nichts weiß?«
»Du bist nicht lesbisch!«, zischte ihre Mutter.
Erneut verdrehte Rieke die Augen und hievte ihr Gepäck aus dem Kofferraum.
»Du hast einmal – einmal! – mit einem Mädchen rumgeknutscht. Das macht dich nicht zu einer Lesbe. Haben wir uns verstanden?«
Rieke atmete ein, presste die Lippen aufeinander und atmete aus. Es hatte keinen Sinn, mit ihrer Mutter zu diskutieren. Sie zog den Griff heraus und rollte ihren Koffer Richtung Bahnhof. Ihre Mutter ging mit ebenso verkniffenen Lippen neben ihr her. Erst als Rieke ihren Koffer in den RE5 gehoben hatte und eingestiegen war, brachte sie noch etwas hervor: »Meld dich bitte, wenn du da bist.«
»Die Fahrt dauert 30 Minuten und Tante Nelly holt mich vom Bahnhof ab. Was …« Die Türen fingen piepsend an, sich zu schließen. »Ich melde mich.«
Wieder gab sie auf, aber manche Kämpfe lohnten sich eben nicht. Sie suchte sich einen Sitzplatz und starrte aus dem Fenster. Das alte Bahnhofsgebäude glitt an ihr vorbei und aus irgendeinem Grund fiel der Stress von Rieke ab. Sie zupfte ihre Kopfhörer aus der Manteltasche und verstöpselte sich die Ohren, um sich mit Tschaikowsky die Fahrt zu versüßen. Sie hatte Tante Nelly seit Ewigkeiten nicht gesehen. Ihre Mutter hatte nicht gerade das beste Verhältnis zu ihrer Schwester, die eine verschrobene Einsiedlerin war. Als Riekes Großmutter noch gelebt hatte, hatten sie sich wenigstens an Weihnachten gesehen, doch das war jetzt zwei Jahre her. Seither war der Kontakt komplett abgebrochen und Rieke war mehr als verwundert gewesen, dass ihre Mutter ihre Schwester aus dem Hut zauberte, als es darum ging, sie wegzuschicken.
Riekes Handy vibrierte. Eine Nachricht von ihrer besten Freundin Bianca. »Hey, Süße. Was machst du?«
»Ich sitze im Zug und höre Musik«, tippte sie ihre Antwort.
»Ach ja, der Besuch bei deiner Tante. Schade. Dann frage ich Cara, ob sie Lust auf Kino hat.«
»Mach das und grüß schön!«
Rieke steckte das Handy wieder in die Tasche. Draußen rauschten Felder und Weiden vorbei. Sie hasste es, ihre Freundinnen zu belügen. Dabei tat sie es schon so lange. Unmöglich, ihnen zu erklären, warum ihre Mutter ihr neuerdings die Ballettstunden verbot und warum sie ihre Tante besuchen musste, um in Stille und Einsamkeit ihr Verhalten zu überdenken. Von der ganzen Verstellerei fühlte sich alles in ihr verknotet an.
Rumhängen mit den Freundinnen, die über Jungs quatschten, die Rieke allesamt am Hintern vorbeigingen. Sie hatte mitgespielt, aber es war ihr jeden Tag ein bisschen schwerer gefallen. Und dann war die Zuckerfee gekommen und hatte eingeschlagen wie eine Bombe. Ihr erster Tanz war die reinste Magie gewesen. Die Ballettschule mitsamt allen anderen Schülern war um sie herum verschwunden. Wenn sich ihre Finger berührten, war es, als würde es knistern. Es hätte ewig dauern mögen und in Riekes Kopf tanzten sie weiter und seitdem lief die Zuckerfee auf ihrem Handy in Dauerschleife, doch es hatte Ballettstunde um Ballettstunde gedauert, bis Rieke begriff, dass sie sich das Knistern nicht einbildete. Und ungefähr noch einmal so lang, bis sie es schafften, allein in der Umkleide zu sein. Sie und Fenja, deren Lippen nach Zuckerperlen schmeckten. Fenja, deren Fingerspitzen sanfte Stromstöße durch Riekes Körper schickten. Ein Kuss wie ein Tanz. Bis plötzlich Fenjas Mutter reinplatzte und Riekes Zuckerfee am Pferdeschwanz von ihr wegzerrte.
Seitdem hatte sie Fenja weder gesehen noch gesprochen. Sie hatte keine Nummer, unter der sie sie hätte erreichen können. Und nachdem Fenjas Mutter und direkt danach ihre eigene Mutter so ausgerastet war, hätte sie sich das auch nicht getraut. Aber es verging kein Tag, an dem sie nicht den Nussknacker auf ihrem Handy auswählte und sich den Tanz der Zuckerfee anhörte. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an Fenja dachte, an diesen Kuss in der Umkleide. Ein Kuss, der sich richtig angefühlt hatte und komplett anders als ihr erster, damals mit Nikolas Klotzki auf der Klassenreise, bei dem er ihr Kinn vollgesabbert und es Rieke vor Ekel geschüttelt hatte, was Klotzki leider gänzlich falsch verstanden hatte. Wochenlang hatte er sie genervt und überall herumerzählt, sie wäre seine Freundin, bis er dann endlich eine echte Freundin hatte, der er das Kinn vollsabbern konnte.
Nach dem Halt in Buxtehude fühlte sich Rieke immer besser. Es war jedenfalls die richtige Entscheidung gewesen, nicht darauf zu bestehen, zuhause bleiben zu dürfen. Sie hatte keine Ahnung, was sie bei Tante Nelly erwartete, oder was ihre Mutter ihrer Schwester berichtet hatte und wie sie zu der Thematik stand, aber es konnte nur besser sein als zuhause.
Nach Neukloster machte Rieke die Musik aus und ging langsam Richtung Ausgang. Als der Zug zum Stehen kam, drückte sie auf den grünen Türöffner und stieg aus. Ihr erster Eindruck von Horneburg war … enttäuschend. Als erstes sah sie ein flaches, rotes Backsteingebäude und darüber einen tristen grauen Himmel. Also, eigentlich den gleichen tristen grauen Himmel wie in Harburg, doch hier wirkte er noch ein bisschen trister.
Dann kam Tante Nelly mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Ihre langen, grauen Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt und sie trug denselben knielangen Mantel aus bunten Flicken, den sie schon damals stets getragen hatte.
»Oooh, Rieke! Lass dich anschauen! Wie groß du geworden bist.«
Rieke ließ sich an den mächtigen Busen drücken und grinste übers ganze Gesicht, als Tante Nelly sie wieder losließ. »Hallo, Tante Nelly.«
Ihre Tante legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich. Rieke brannte es unter den Nägeln, sie zu fragen, welche Informationen ihre Mutter ihr gegeben hatte, aber sie wartete auf den richtigen Moment. Sie stiegen in Nellys alten Mercedes und fuhren los. Rieke war noch nicht oft bei Tante Nelly gewesen. Ihre Mutter war eine echte Stadtpflanze und fühlte sich im Wald eingeengt. Die paar Male, die sie da gewesen waren, konnte Rieke an einer Hand abzählen. Trotzdem kam ihr der Wald vertraut vor, als sie von der Hauptstraße abbogen. Er schien sie willkommen zu heißen, ihr eine angenehm schwere Hand auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Ruh dich aus, mein Kind.«
Tante Nelly stellte den Wagen unter der riesigen Kastanie ab und blieb noch ein paar Sekunden sitzen, aufatmend, als hätte die kurze Fahrt in die kleine Stadt sie ausgelaugt. Seltsam, wie verschieden Schwestern sein konnten. Ihre Tante drehte sich zu ihr und lächelte sie aufmunternd an. »Dann wollen wir mal.«
Rieke schnallte sich ab und öffnete die Tür. Obwohl es nach wie vor trüb und nass war, hatte sich alles verändert. Die Luft war gesättigt mit dem Geruch von Moos und Rinde, matschigem Waldboden und Herbst. Auf der Auffahrt lagen Unmengen Kastanien und der Wald zeigte sich in prächtigen Herbstfarben.
Rieke atmete auf. »Es ist so wunderschön hier!«
»Das denke ich jeden Tag. Morgens nach dem Aufstehen und abends, bevor ich ins Bett gehe, und dazwischen eigentlich auch. Man kommt einfach zur Ruhe. Aber jetzt komm mit ins Haus. Ich koche uns einen schönen Tee und dann können wir uns unterhalten.«
Unterhalten. Das hatte Rieke befürchtet. Erneut fragte sie sich, was ihre Mutter ihrer Schwester erzählt hatte und was Tante Nelly darüber dachte. Würden sie hier ähnliche Standpauken erwarten wie zuhause? Nun, sie würde es erfahren.
Sie hob ihren Koffer aus dem Auto und trug ihn über den schlammigen Parkplatz bis zu dem steinernen Weg, der zum Haus führte. Hier konnte sie ihn rollen.
Tante Nelly seufzte. »Der Garten sieht furchtbar aus. Die Wühlmäuse rücken mir immer dichter auf den Pelz und das Unkraut übernimmt langsam die Macht. Leider macht mein Rücken nicht mehr so mit. Nächstes Jahr muss ich wohl mal einen Gärtner kommen lassen.«
»Kannst du dir das denn leisten?« Rieke hoffte, dass das nicht zu indiskret war.
Tante Nelly lachte. »Das entscheide ich nächstes Jahr.«
Sie schloss die Haustür auf, von der die weiße Farbe abbröckelte. Es gab wirklich viel zu tun an Haus und Hof, das sah Rieke auf den ersten Blick, obwohl sie wenig Ahnung von solchen Dingen hatte.
»Vielleicht könnte ich ja mal mit anpacken. Ich kenne mich zwar überhaupt nicht aus mit Gartenarbeit und Reparaturen, doch mit etwas Anleitung bekomme ich es bestimmt hin. Und jetzt, wo Mama mir die Ballettstunden gestrichen hat und darüber nachdenkt, mir Bodenturnen zu verbieten, hätte ich genug Zeit.«
Tante Nelly schmunzelte. »Wir schauen erst einmal, wie wir uns vertragen und wie es dir hier gefällt. Deine Schuhe kannst du dort hinstellen und deinen Mantel an die Garderobe hängen.«
Rieke tat wie ihr geheißen und sah sich neugierig um. Das Haus war so, wie sie es in Erinnerung hatte, was übersetzt hieß, dass es ebenfalls eine Renovierung dringend nötig hatte. Trotzdem war es gemütlich. Sie folgte ihrer Tante in die Küche, wo diese Tee aufsetzte. Tee war eigentlich nicht Riekes Ding, aber sie äußerte sich nicht dazu. Sie hatte in der letzten Woche genug aussichtslose Kämpfe mit ihrer Mutter ausgefochten, da wollte sie nicht auch noch mit ihrer Tante über Tee debattieren. Und außerdem war sie entzückt von den kleinen Tassen und der dazu gehörigen Kanne aus hauchzartem, weißem Porzellan, verziert mit rosa und lilafarbenen Blüten. Der Tee duftete angenehm und als die braunen Kandis, die Rieke an Bernstein erinnerten, knisternd im heißen Tee zerfielen, war es um Rieke geschehen.
»Fast wie Ballett«, murmelte sie, während sie gleichzeitig dachte, wie wenig Sinn das ergab. Sie hob die Tasse an den Mund, atmete den Dampf ein und nahm einen vorsichtigen Schluck. Das blumige Aroma breitete sich in ihrem Mund aus und hinterließ eine wohlige Wärme. Seufzend lehnte sich Rieke zurück. Vielleicht würde sie hier tatsächlich zur Ruhe kommen.
Als sie zu Tante Nelly aufsah, lächelte diese. »Gut?«
»Ja, sehr«, gestand Rieke. »Ich trinke sonst keinen Tee.«
»Wenn wir ausgetrunken haben, zeige ich dir dein Zimmer. Du sollst dich bei mir wohlfühlen.«
»Hat Mama dir erzählt, was passiert ist?«, fragte Rieke jetzt geradeheraus.
Nelly schenkte sich nach. »Ja, hat sie. Wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht willst.«
Rieke nickte und nahm sich ebenfalls eine weitere Tasse Tee. Es war ihr ganz lieb, nicht darüber zu reden. Mit niemandem. Nie wieder. Aber hatte ihre Mutter sie nicht hergeschickt, damit Tante Nelly ein ernstes Wort mit ihr sprach? Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie keine Ahnung, was ihre Mutter sich von ihrem Besuch hier erhoffte. Als ob Worte irgendetwas ändern würden! Wenn überhaupt, sollte sich mal jemand mit ihrer Mutter hinsetzen und mit ihr ein ernstes Wort reden. Oder erwartete sie, dass Rieke eine Einsiedlerin wurde wie ihre Tante? Sie zog die Augenbrauen hoch und sah zu Nelly auf. »Warum wohnst du hier eigentlich allein?«
Nelly grinste sie an und stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch. »Eigentlich lebe ich ganz gern allein.«
Das war nicht wirklich eine Antwort auf ihre Frage, doch im Gegensatz zu ihrer Mutter akzeptierte Rieke auch ausweichende Antworten.
»Soll ich dir dann dein Zimmer zeigen?«
»Ja, gern.«
Das Gästezimmer lag im ersten Stock und hatte zwei Fenster. Eines ging zur Straße hinaus, von der Rieke allerdings nicht viel sehen konnte, weil sie hinter einem Wall verborgen lag, auf dem hohe Lebensbäume wuchsen. Aus dem anderen Fenster konnte Rieke eine kleine Weide sehen. Dahinter begann der Wald.
Eingerichtet war das Zimmer mit einem Bett unter der Dachschräge, einem kleinen Schrank sowie einem Sofa und einem Schreibtisch.
»Hast du dir etwas zu lesen mitgebracht?«, fragte ihre Tante. »Ich kann dir sonst etwas leihen.«
Rieke verzog den Mund. »Ich bin nicht so die Leseratte. Hast du denn kein Internet?«
Sie hatte fast Angst, diese Frage zu stellen, doch ein kurzer Blick auf ihr Handy hatte ihr verraten, dass sie hier absolut kein Netz hatte. Null Balken und ein klägliches E.
Tante Nelly fing schallend an zu lachen. »Ich bin Autorin, Süße. Denkst du, ich sitze an meiner Schreibmaschine und schicke meinem Verleger das Manuskript in einem Pappkarton? Ohne Internet wäre ich hoffnungslos verloren. Ich gebe dir gleich den WLAN-Schlüssel.
»Oh, das ist Musik in meinen Ohren!«
Nur wenige Augenblicke später lag Rieke auf dem Bett und sah sich auf dem Handy eine Aufführung des Nussknackers an. Trotz vollendeter Tanzkunst konnte die russische Balletttruppe sie nicht von all den Fragen abhalten, die ihr durch den Kopf geisterten. Sie wusste immer noch nicht, was ihre Mutter eigentlich von ihr erwartete. Was sollte hier passieren, was nicht auch zuhause nicht passieren würde? Und wie sollte Nelly dabei helfen, die sich zwar offenbar freute, Rieke zu sehen, sich jedoch nicht gerade ein Bein dafür ausriss, sie auf den rechten Weg zurückzubringen.
Erst jetzt fiel Rieke wieder ein, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, sich zu melden. Sie schloss YouTube und wählte WhatsApp aus. »Bin angekommen. Schnarchlangweilig hier.«
Ihre Mutter antwortete prompt, und Rieke wurde bewusst, dass sie vermutlich vor ihrem Handy gesessen und auf die Meldung ihrer heilen Ankunft gewartet hatte.
»Langweilig ist genau richtig. Langweilig wird dir und mir mal ganz guttun.«
Rieke verdrehte die Augen. Okay. Dann war wohl Langeweile das Allheilmittel ihrer Mutter. Sie kehrte zu YouTube zurück, bis Tante Nelly sie zum Abendessen herunterrief, bei dem sie irgendwie nicht wussten, worüber sie sprechen sollten. Und da Tante Nelly sich im Anschluss wieder in ihr Arbeitszimmer verzog, entschied Rieke, einfach mal früh ins Bett zu gehen.
Kurz vor acht Uhr am Morgen wurde Rieke wach. Eigentlich hatte ihr Plan für die Herbstferien aus hemmungslosem Ausschlafen bestanden. Das war schon mal gründlich misslungen. Sie stand auf und trat ans Fenster. Die Sonne hatte sich gerade über den Wald erhoben, nur, dass der Wald verschwunden war. Nein, im Grunde war die ganze Welt verschwunden. Lediglich ein paar Baumspitzen waren zu erkennen. Der Rest wurde von dichtem Nebel verschluckt. Beeindruckt starrte Rieke in das Weiß, das ihre Gedanken mit Watte zu umhüllen schien. Sie legte eine Hand an den Fensterrahmen und drückte ihre Nase gegen die Scheibe. Der Wald war da und zugleich war er es nicht.
Plötzlich hielt Rieke nichts mehr in ihrem Zimmer. Ohne sich vorher zu waschen, schlüpfte sie in die abgelegten Kleider vom Vortag und verließ das Gästezimmer. Von Nelly war nichts zu sehen und zu hören, als wäre ihre Tante genau wie der Wald vom Nebel verschluckt worden. Wahrscheinlich schlief sie noch.