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Vany ist zurück aus Köln und schwört sich, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie war durch mit Deckx und durch mit YouTube. Von nun an würde sie sich auf das wahre Leben konzentrieren. Auf ihre Familie, ihr Fußballteam, auf Jazz und Leon. Doch das wahre Leben wirft ihr immer wieder Steine in den Weg. Ihre Familie behandelt sie wie ein rohes Ei, beim Fußball erwartet sie eine böse Überraschung und Leon lässt ihre Gefühle mal wieder Achterbahn fahren. Wen wundert es da, dass Vany eines Nachts in aller Heimlichkeit doch wieder vor dem Laptop landet? Natürlich in Deckx' Kanal. Von nun an gehören die Nächte den Videos, während Vany tagsüber versucht, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Doch wie lange kann das gutgehen? Der abschließende Band der Reihe.
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Seitenzahl: 505
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let´s play love:
Leon
Hanna Nolden
© 2020 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein
Covergestaltung: Christian Günther, Atelier Tag Eins | www.tag-eins.de
Lektorat: Michaela Harich
Alle Rechte vorbehalten
ISBN TB – 978-3-95869-413-2
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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1: Freundinnen
Es war zehn Uhr durch, als Vany wach wurde. Sie wunderte sich, dass niemand sie geweckt hatte. Es war Freitag und eigentlich hätte sie in die Schule gemusst. Entweder hatten ihre Eltern beschlossen, dass sie etwas Ruhe brauchte oder sie war ihnen inzwischen so egal, dass sie sich gar nicht mehr kümmerten. Vany bekam einen Kloß im Hals. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihre Mutter im Amt anrufen sollte. Stattdessen las sie die Nachrichten von Jazz und Leon. Jazz schrieb: »Lass uns nachher mal quatschen! Soll ich nach der Schule vorbeikommen?«
Vany überflog kurz die anstehenden Termine und antwortete: »Ich habe nachher Krankengymnastik und morgen wollte ich mein Team besuchen. Passt dir Sonntag?«
Dann war sie bereit für die Nachricht von Leon: »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Hab dich auch gern, du Pappnase.«
Vany musste grinsen. Sie fühlte sich erleichtert. Endlich gab es mal Reaktionen, die ihr halfen. Jetzt knurrte ihr jedoch der Magen und sie entschied, sich in der Küche nach etwas Essbarem umzusehen. Auf dem Weg durch den Flur betrachtete sie die Fotos an den Wänden. Familienfotos aus der Zeit, als Oma noch lebte. Wie glücklich sie alle ausgesehen hatten! Es fühlte sich nach wie vor seltsam an, durch das Haus zu gehen, aber das Gefühl hatte sich verändert. War es gestern auf eine unangenehme Art seltsam gewesen, fühlte es sich jetzt geradezu fantastisch an. Sie war nach Hause gekommen. Hier gehörte sie her. Sie humpelte die Treppe herunter, bog in die Küche ein und bekam den Schreck ihres Lebens. Am Fenster stand ihre Mutter, einen Becher Kaffee in der Hand.
»Was machst du denn hier?«, rief Vany verblüfft und stellte erschrocken fest, dass das überhaupt nicht nett klang. Das war ja ein toller Einstieg zur Wiedergutmachung! Aber ihre Muter schien es ihr nicht übel zu nehmen. Sie stellte ihren Becher zur Seite und entgegnete: »Ich habe mir freigenommen. Ich wollte dich heute nicht allein lassen und hier sein für den Fall, dass du reden willst. Und außerdem wollte ich dich im Blick haben.«
Ihre Mutter sah heute nicht mehr ganz so blass aus, doch sie hatte tiefe, dunkelblaue Augenringe. Wahrscheinlich hatte sie die Nacht über kein Auge zugetan. Vany verspürte den Impuls, sie zu umarmen, aber sie wusste nicht wohin mit ihren Krücken. Ohnehin war sie nie der Kuscheltyp gewesen und vermutlich hätte eine Umarmung ihre Mutter bloß noch mehr verunsichert. Also sagte sie: »Alles klar. Hier bin ich. Und ich habe einen Bärenhunger.«
»Das ist ja schon mal nicht schlecht«, fand ihre Mutter. »Was willst du denn haben?«
»Am liebsten Rühreier.«
»Setz dich. Ich mach dir welche.«
Vany setzte sich an den Küchentisch und beobachtete ihre Mutter, während sie ihr Kaffee und Orangensaft brachte und anfing, die Eier zuzubereiten. Sie schien froh zu sein, etwas zu tun zu haben. Vany wusste so gut wie Tim, dass ihre Eltern nicht gern über Probleme diskutierten. In der Familie schien die ungeschriebene Regel zu existieren, dass man Dinge besser totschwieg. Dieses Ding jedoch konnte man nicht totschweigen und ihre Mutter hatte offensichtlich keine Ahnung, was sie stattdessen tun sollte. Nachdem Vany sie eine Weile beobachtet hatte, hatte sie genügend Mut gesammelt für folgenden Satz: »Tut mir leid, dass ich euch Kummer bereitet habe.«
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um und musterte sie lange mit einem schwer zu deutenden Blick. Dann erwiderte sie: »Es ist passiert. Es lässt sich nicht mehr ändern. Wir müssen nur irgendwie weitermachen, oder?«
Weitermachen. Ja, genau das war es, was Vany in der letzten Nacht beschlossen hatte.
»Ja, das müssen wir«, bekräftigte Vany und hoffte, dass ihre Mutter es richtig deuten würde. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelang, das Versprechen, sich nicht mehr umbringen zu wollen, über die Lippen zu bekommen. Sie verpackte den Hoffnungsschimmer anders: »Kannst du mich nachher zur Krankengymnastik fahren?«
Es funktionierte. Das Gesicht ihrer Mutter hellte sich ein wenig auf.
»Selbstverständlich. Das mache ich gern.«
Das Frühstück schmeckte großartig und Vany ließ sich jeden Bissen auf der Zunge zergehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal etwas so gut geschmeckt hatte. Auch der Kaffee war ein Genuss und ließ das Gebräu auf der Polizeiwache zu einem fernen Albtraum verblassen.
So etwas Dummes mache ich echt nie wieder, bestärkte sich Vany in Gedanken.
Als sie fertig gegessen und ihre Mutter den Teller abgeräumt hatte, überlegte sie, was sie tun sollte. Obwohl ihr die gesamte rechte Seite wehtat, dort, wo sie aufgeschlagen war, als der Polizist sie zu Boden gerissen hatte, fühlte sie sich energiegeladen und hätte am liebsten etwas richtig Konstruktives getan. Wäre das verletzte Knie nicht, wäre sie joggen gegangen. Das war das Problem. Sie hatte sich bisher nie für etwas anderes als Sport interessiert. Sie war schon kurz davor, freiwillig etwas für die Schule zu tun, als ihre Mutter ihr plötzlich den Laptop vor die Nase hielt.
»Ich habe letzte Nacht noch einmal diese Kommentare gelesen.«
Vany schluckte. Diese Kommentare. Daran wollte sie lieber gar nicht erst erinnert werden, aber ihre Mutter sprach unerbittlich weiter.
»Ich habe begriffen, dass wir die Situation vollkommen falsch eingeschätzt haben. Du bist nicht computersüchtig. Deine Sucht beschränkt sich auf diesen einen Let’s Player.«
Vany war überrascht, wie leicht ihrer Mutter dieses noch vor kurzem unbekannte Wort über die Lippen ging.
»Seinetwegen warst du in Köln. Und seinetwegen hast du versucht, dich umzubringen. Das hat die Psychologin erzählt, die dein Tagebuch durchgeackert hat.«
Vany hielt den Atem an. Es war schon eine Katastrophe, dass eine Psychologin ihre geheimsten Gedanken gelesen hatte. Dass sie ihren Eltern davon berichtet hatte, war geradezu unerträglich. Sie fiel ihrer Mutter ins Wort, bevor sie weiterreden konnte: »Das Tagebuch existiert nicht mehr. Ich habe all die negativen Seiten herausgerissen. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Versprochen!«
Aber ihre Mutter ging gar nicht darauf ein. Vany begriff, dass sie für diesen Moment geübt hatte. Sie hatte sich die ganze Nacht überlegt, was sie Vany sagen wollte und würde sich nicht davon abbringen lassen: »Daher bekommst du deinen Laptop zurück. Ich nehme an, nachdem dieser junge Mann dich abgewiesen hat, wirst du ihn aus deinem Kopf bekommen. Trotzdem solltest du dir das Video ansehen, das er letzte Nacht hochgeladen hat. Denn es betrifft dich.«
Vany riss die Augen auf. Auf einmal schlug ihr Herz wie wild und sie hätte den Laptop am liebsten gepackt und durchs Küchenfenster geschleudert, damit er bloß nicht mehr mit ihr im selben Zimmer war. Ein Video, das sie betraf? Das konnte nichts Gutes bedeuten! Vor 48 Stunden hätte Vany durch ihre rosarote Brille geguckt und gehofft, es würde so etwas kommen wie: »An das Mädchen, das gestern bei mir im Laden war: Tut mir leid, dass ich dich abgewiesen habe. Ich finde dich süß. Lass mal Kaffee trinken gehen.«
Heute wusste sie, wie unwahrscheinlich das war. Nein, er würde sie nur noch rüder abweisen als er es vor dem Electropoint getan hatte. Doch ihre Mutter erwartete offenbar von ihr, dass sie es sich hier und jetzt ansah, darum fuhr Vany den Laptop hoch und verfehlte dank ihrer zitternden Hände beinahe das YouTube-Icon. Die neuen Benachrichtigungen ignorierte sie. Eine geballte Ladung Beschimpfungen würde sie nicht ertragen. Ihre nächste Konsequenz würde es sein, ihren Account zu löschen. Sie sah das Video, das ihre Mutter meinte sofort. Es trug den Titel »Wie es weitergeht oder eben nicht«. Vany bekam Magenschmerzen. Wegrennen erschien ihr plötzlich eine angemessene Reaktion. Aber ihre Mutter beobachtete sie, also spielte sie das Video ab. Es gab bloß einen schwarzen Hintergrund und Deckx´ Stimme klang fremd und ausdruckslos mit einem Hauch Frank Decker darin. Vany hörte ihm zu und hätte heulen mögen, doch sie riss sich zusammen.
»Hallo, meine lieben Zuschauer. Ich wende mich heute an euch aus einem nicht so schönen Grund. Heute ist mir etwas passiert, von dem ich gedacht habe, dass es mir nie passieren könnte. Ich werde nicht näher darauf eingehen, aber es hat mich geschockt. Ich muss viel nachdenken und im Moment habe ich keine Lust, Videos hochzuladen. Alle Projekte liegen damit erst einmal auf Eis. Bitte hakt nicht nach. Drängt mich nicht. Habt Verständnis, auch wenn ich euch nicht näher erkläre, was geschehen ist. Bis dann, euer Deckx.«
Vanys Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war das Video doch nicht so Frank-Decker-like. Immerhin hatte er sie nicht geoutet. Er hatte nicht gesagt: »Die bekloppte Vany96 ist bei mir im Laden aufgetaucht, hat mich angebaggert, eine Scheibe eingeschlagen und versucht, sich vor einen Zug zu werfen.« Das rechnete sie ihm hoch an und für einen winzigen Augenblick wollten sich die alten Deckx-Gefühle in ihr aufbäumen. Sie ließ es nicht zu. Deckx war nicht gut für sie. Deckx wollte sie nicht. Sie schloss den Browser und fuhr den Laptop herunter. Ihre Mutter sah sie gespannt an, aber Vany hatte keine Ahnung, was sie von ihr hören wollte. Sie sehnte sich danach, mit Jazz zu reden, obwohl es Ewigkeiten dauern würde, ihr alles zu erklären. Mit ihrer Mutter wollte sie sich jedenfalls nicht darüber austauschen.
»Ich bin oben, wenn du mich suchst.«
Die Reaktion schien ihrer Mutter nicht zu passen. Sie nahm sie am Ärmel und fragte ängstlich: »Du machst doch keinen Unsinn, oder?«
Vany musste sich beherrschen, nicht genervt aufzustöhnen. Wie oft würde sie ihren Eltern von heute an versichern müssen, dass sie nicht vorhatte, sich umzubringen? Fünfmal am Tag? Oder besser gleich zehnmal?
»Ich geh duschen«, sagte sie und machte sich los.
Vany schloss sich im Bad ein und lehnte sich gegen die Tür. Sie verstand gar nichts mehr. Nachdem sie ihr Tagebuch bereinigt und sich selbst geschworen hatte, von nun an alles anders zu machen, hatte sie sich beschwingt gefühlt. Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter darauf eingehen würde, dass sie es bemerken und sie dafür loben würde. Stattdessen bekam sie Misstrauen und komische Blicke. Vany spürte die Wut in sich. Die gleiche Wut, die sie dazu gebracht hatte, auf den Schwabbelschrank einzuprügeln und die Scheibe zu zertrümmern. Sie wollte nicht mehr wütend sein. Sie wollte positiv denken und nach vorn schauen! Sie ging unter die Dusche und stellte das Wasser so kalt, wie sie es gerade ertragen konnte. Während sie dastand, unterzog sie ihr Knie einer genaueren Untersuchung. Es fühlte sich überhaupt nicht gesund an. Es trug sie nicht und war immer noch geschwollen. Sie wusste, dass sie Geduld haben musste, auch wenn ihr das verdammt schwerfiel. Vany blieb unter der Dusche, bis sie am ganzen Körper vor Kälte zitterte. Die Wut war verflogen. Wenigstens etwas. In ihrem Zimmer suchte sie sich möglichst helle Kleidung heraus, um den anderen zu demonstrieren, dass ihre Stimmung sich aufgehellt hatte. Nachdem ihre Mutter am Vormittag jedoch schon nichts davon mitbekommen hatte, hatte sie wenig Hoffnung, dass irgendjemand es bemerken würde. Erst als sie sich fertig angezogen hatte, stellte sie fest, dass ihre Mutter ihr den Laptop auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es war vermutlich gut gemeint. Eine Art Friedensangebot. Trotzdem fühlte sich Vany unwohl dabei. Sie betrachtete das Gerät, als wäre es eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Kurz entschlossen schnappte sie das Ding und schob es in das Fach unter der Schreibplatte. Sie legte noch ein paar Bücher davor, damit sie es bloß nicht sehen musste. Jetzt fühlte sie sich etwas besser. Sie blickte auf ihr Handy. Jazz war mit einem Treffen am Sonntag einverstanden. Wenigstens klappte einmal etwas. Sie setzte sich auf ihr Bett und überlegte, was sie tun sollte. Der Laptop war aus ihrem Blickfeld verschwunden, allerdings nicht aus ihren Gedanken. Es gab so vieles, worüber sie hätte nachdenken sollen, aber lieber hätte sie sich abgelenkt. Ihr Blick fiel auf die Xbox, die noch an ihren Fernseher angeschlossen war. Damit hatte alles angefangen. Mit Fußballgott 2016. Irgendwann hatte sie dann nur noch Let’s Plays gesehen und das Spiel nicht mehr weiter verfolgt. Tim war ohnehin nur mit Lernen beschäftigt und nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war, bezweifelte Vany, dass es jemals wieder so werden würde wie früher. Trotzdem reizte es sie, diesen Moment wieder aufleben zu lassen. Sie schaltete Fernseher und Xbox ein und begann zu zocken. Das Spiel forderte sie längst nicht so wie am Anfang und ihr Ehrgeiz war verpufft. Noch immer gelang ihr nicht alles, doch auf einmal machte es ihr nicht mehr so viel aus, zu verlieren. Sie war richtig stolz auf sich, als sie das erkannte, und das Spiel machte ihr mehr Spaß denn je. Sie bekam ein paar Stunden totgeschlagen und schließlich stand Tim in der Tür und sah ihr schweigend zu. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn bemerkte. Vany beschloss, einen Vorstoß zu wagen, und fragte: »Willst du mitspielen?«
Die Antwort, ein desinteressiertes »Hab zu tun.«, gefiel ihr ganz und gar nicht. Was war bloß los mit ihrer Familie? Sie gab sich die größte Mühe, alles wieder geradezubiegen und niemand kam ihr entgegen? Aber so schnell gab sie nicht auf.
»Ist doch Wochenende!«
Sie ließ das Spiel pausieren und drehte sich zu Tim um. Er sah sie säuerlich an. Sie hatte keine Ahnung, was sie falsch gemacht hatte. Sie war freundlich gewesen, heiter. So, wie man sich eine kleine Schwester wünschen sollte. Und er schüttelte abfällig den Kopf und sagte: »Ich versteh dich einfach nicht. Gestern willst du dich vor einen Zug werfen und heute tust du so, als wäre nie was gewesen? Sorry, das ist mir zu doof.«
Das hatte gesessen. Vany spürte einen eisernen Dolch in ihrem Herzen. Sie kämpfte die Tränen zurück, bemühte sich, es ihn nicht sehen zu lassen. Zum Glück drehte er sich um und ging in sein Zimmer. Nun war sie wieder da: die Wut. Vany zwang sich, tief durchzuatmen. Dann schaltete sie die Xbox aus, stand auf und schloss ihre Zimmertür. Den ganzen Vormittag hatte sie sie offen gelassen. Als Einladung für ihre Mutter und Tim, wenn er nach Hause kam. Als Zeichen, dass sie Nähe wollte. Aber niemand war gekommen. Niemand hatte ihr gegeben, wonach sie sich sehnte. Was erwartete ihre Familie von ihr? Ihr kam es fast so vor, als wollten sie alle, dass sie es noch einmal versuchte. Vany nahm ihr gerupftes Tagebuch zur Hand und schlug es auf. In ihrem Schwur hatte sie einige Personen erwähnt. Sie beschloss, eine Liste anzulegen.
Mama – verhält sich seltsam.
Papa
Tim – scheint sauer auf mich zu sein.
Jazz
Leon
Das Team
Frau Volckmann-Doose
Ihren Vater hatte sie heute noch nicht gesehen und nachdem der Rest ihrer Familie so sonderbar reagiert hatte, bekam sie schon Magenschmerzen, wenn sie nur an eine Begegnung mit ihm dachte. Alle schienen sauer auf sie zu sein. Hieß es sonst nicht überall, ein misslungener Selbstmordversuch wäre ein Schrei nach Hilfe? Warum half ihr dann niemand? Alle führten sich auf, als müssten sie sie bestrafen. Vany wollte sich jedoch nicht kleinkriegen lassen. Sie würde das irgendwie durchstehen. Notfalls auch allein.
Ihr Vater war noch nicht von der Arbeit zurück, als ihre Mutter ihr von unten zurief, es wäre Zeit für die Krankengymnastik. Vany trödelte nicht. Bloß nicht noch mehr Ärger anziehen! Ihre Mutter wirkte weiterhin nervös und Vanys Laune sank in den Keller. Vielleicht sollte sie ihren Schwur kopieren und jeder Person in ihrem Leben eine Kopie aushändigen: »Hier, seht her! Ich habe beschlossen, dass ich leben will! Es wäre schön, dabei etwas Unterstützung zu bekommen!«
Aber sie befürchtete, selbst wenn sie das täte – einen Auszug aus ihrem Tagebuch verbreiten, aus dem intimsten Dokument, das sie besaß! - würde ihre Familie sich trotzdem nicht beruhigen. Sie fasste den Entschluss, am Montag mit Frau Volckmann-Doose darüber zu sprechen. Die war schließlich Fachfrau für so was und außerdem war sie dazu da, ihr zu helfen. Wenn die sie ebenfalls fallen ließ, war vermutlich Hopfen und Malz verloren.
Ihre Mutter setzte sie bei der Krankengymnastik ab, verkündete, dass sie einkaufen wollte und nach einer Stunde wieder da sein würde. Vany versuchte erneut, positiv zu denken. Die letzte Stunde Krankengymnastik war anstrengend gewesen. Genau das brauchte sie jetzt. Etwas körperliche Betätigung, um den Kopf frei zu bekommen. Leider hatte Kerstin, ihre Krankengymnastin, keine guten Nachrichten für sie. Zum einen musste Vany die Prellungen ihrer kompletten rechten Seite beichten und behauptete, sie wäre gestürzt. Zum anderen zeigte ihr Knie kaum Besserung und die zweite Beichte war, dass Vany die Übungen, die Kerstin ihr als Hausaufgabe mitgegeben hatte, hatte schleifen lassen. Trotzdem genoss Vany wenigstens in dieser einen Stunde das Mitleid und die Fürsorge, die Kerstin ihr entgegenbrachte. Sie versprach, von nun an fleißiger zu sein, und erinnerte sich selbst daran, dass sie schließlich vorhatte, irgendwann wieder Fußball zu spielen. Am liebsten wäre es Vany gewesen, die Stunde in diesem ruhigen Raum mit den bunten Gymnastikbällen und Therabändern, der Sprossenwand und dem kitschigen Motivationsspruch an der Wand würde niemals enden. Hier wirkte alles so warm und hell, während sie zuhause nur Kälte und Negativität erwarteten. Ihrer Mutter zumindest hatte der Einkauf nicht geholfen, bessere Laune zu bekommen. Das Schweigen im Auto war mal wieder so unangenehm, dass Vany sogar das Radiogedudel willkommen gewesen wäre. Ihre Mutter allerdings schien Gedudel im Moment nicht ertragen zu können. Vany setzte einen Funken Hoffnung auf ein gemeinsames Abendessen, aber nicht einmal daraus wurde etwas. Tim meinte, er hätte zu viel zu lernen und würde sein Brot in seinem Zimmer essen. Ihr Vater erzählte nach einem knappen, unverbindlichen Gruß, er hätte bereits in der Redaktion gegessen. Und auch ihre Mutter verkündete, keinen Hunger zu haben. Den hatte Vany nun auch nicht mehr und verabschiedete sich ins Bett. Dort saß sie ratlos und wusste erneut nichts mit sich anzufangen. Die Reaktionen ihrer Familienmitglieder überforderten sie restlos. Außerdem hatte sie Magengrummeln wegen dem bevorstehenden Zusammentreffen mit ihrem Team. Zum Schlafen war sie viel zu aufgewühlt. Sie nahm ihr Handy und entdeckte eine Nachricht von Jazz: »Hab heute in der Schule mit Tim gesprochen. Hast du wirklich versucht, dich umzubringen?«
Verdammt, Jazz! Nicht du auch noch! Vany traten die Tränen in die Augen, doch sie wollte nicht aufgeben. Sowohl Jazz als auch Leon hatten positiv auf ihre ehrliche und emotionale Nachricht reagiert, also beschloss Vany, diesen Kurs beizubehalten: »Ist eine lange Geschichte. Erzähl ich dir am Sonntag. Sagen wir einfach, ich hatte einen Kurzschluss. Jetzt bin ich wieder richtig verdrahtet. Nur glaubt mir das hier niemand. Alle behandeln mich wie eine Aussätzige. Ich halt das nicht aus. Ich fühl mich schrecklich einsam.«
Die Antwort kam postwendend und ließ Vanys Tränen überlaufen: »Ich war ´ne scheiß Freundin nach deinem Ausraster. Hab was wieder gut zu machen. Ich bin für dich da. Immer!«
Vanys Sicht verschwamm. Sie konnte ihre Dankbarkeit kaum in Worte fassen. Zum ersten Mal an diesem beschissenen Tag hatte sie das Gefühl, dass alles wieder gut werden konnte. Sie tauschte mit Jazz noch ein paar Emojis aus, bis es ihr besser ging und die Tränen versiegten. Anschließend ließ sie das Erlebte in ihrem Tagebuch Revue passieren und versuchte, ihre Familie zu verstehen. Es gelang ihr nicht, aber Jazz´ Worte halfen ihr, diesen Tag dennoch mit einem angenehmen Gefühl abzuschließen und so stellte sie ihren Wecker für den nächsten Morgen und ging schlafen.
2:Zurück auf dem Platz
Mit dem ersten Ton des Weckers war Vany hellwach. Sofort waren alle Gedanken vom Vortag wieder da. Sie gab sich keine Sekunde lang der Illusion hin, etwas könnte sich geändert haben. Tim würde immer noch sauer sein, ihr Vater nach wie vor distanziert und ihre Mutter sich seltsam verhalten. Außerdem würde sie heute auf ihren enttäuschten Trainer und im Stich gelassene Teamkollegen treffen. Das würde kein Zuckerschlecken werden. Sie beschloss, es gar nicht erst vor sich herzuschieben, stand auf und ging unter die Dusche. Im Haus war kein Ton zu hören. Vany fiel ein, dass sie überhaupt nicht im Kopf hatte, gegen wen sie heute spielten. Geschweige denn, ob es ein Heim- oder ein Auswärtsspiel war. Fußball war so weit weg gewesen in der letzten Zeit. Als hätte das alles in einem früheren Leben stattgefunden. Sie würde ihre Mutter fragen oder im Internet recherchieren müssen. Aber noch hatte sie ja etwas Zeit. Um sich einzustimmen, zog sie sich gleich ihr Trikot an. Sie ging in die Küche und stellte fest, dass noch alles schlief. Also gut. Es war Tag 2 nach ihrem Wiedergutmachungsentschluss. Sie würde sich von den Reaktionen ihrer Familie nicht beeindrucken lassen und zunächst ein anständiges Frühstück auf den Tisch bringen. Als Erstes setzte sie eine Kanne Kaffee auf. Das war eines der wenigen Dinge, die sie tatsächlich gut konnte. Vermutlich um Welten besser als die Leute, die in einer gewissen Kölner Polizeistation dafür zuständig waren. Dann angelte sie ihr Kinderkochbuch aus dem Regal über der Heizung und schlug nach, wie man Pfannkuchen machte. Mit den Krücken und dem Knie als Unsicherheitsfaktor war das Ganze doppelt schwierig, doch das Rührgerät weckte ihre Mutter und die ging ihr gleich zur Hand. Vany war insgeheim erleichtert. Sie hatte nie gerne am Herd gestanden und nachdem ihr der Teig zumindest auf den ersten Blick gelungen war, wäre es eine Schande gewesen, die Pfannkuchen anbrennen zu lassen. Ihr Vater gesellte sich wenig später zu ihnen. Bloß Tim ließ sich nicht blicken. Die Pfannkuchen waren himmlisch und schienen die Laune ihrer Eltern zu heben, wenn sie auch trotzdem nicht sonderlich gesprächig waren. Vany nutzte die Gunst der Stunde und erinnerte ihre Mutter: »Hast du auf dem Schirm, dass ich heute zum Spiel wollte?«
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das noch auf dem Schirm hast. Willst du dort wirklich hin? Es könnte hart werden.«
Wow. Mit so viel Feingefühl hatte Vany nach dem gestrigen Tag nicht gerechnet. Sie zuckte die Achseln.
»Im Moment ist sowieso alles hart und härter als der Beton eines Kölner Bahnsteigs kann es kaum werden.«
Ihre Mutter zuckte unter ihren Worten zusammen, als hätte sie sie geschlagen. Das tat Vany fast leid, doch sie nahm die Worte nicht zurück. Mochte ihre Familie sich im Totschweigen üben, sie würde das nicht mehr tun. Von nun an würde sie sich mitteilen und nichts mehr in sich hineinfressen.
»Also gut«, sagte ihre Mutter langsam. »Dann werde ich dich nachher begleiten.«
»Danke schön.«
Obwohl Vany nach außen hin Stärke demonstrierte, war sie verflixt nervös, als sie sich nach dem Frühstück auf den Weg machten. Tim hatte sich den ganzen Morgen nicht blicken lassen. Und das, wo das ganze Haus so köstlich nach Zimt und Pfannkuchen roch! Vany hatte ihre Mutter noch ein bisschen zu dem Spiel ausgefragt und sich dabei so lässig wie möglich gegeben. Zum Glück war es ein Heimspiel. So musste sie ihrem Team wenigstens nicht auf fremdem Terrain begegnen. Der Gast war der VfL Condor. Kein wirklich ernstzunehmender Gegner. Aber vor dem hatte Vany auch keine Angst. Eher vor weiteren unangenehmen Reaktionen. Als sie auf dem Parkplatz aus dem Auto stieg und von weitem die vertrauten Geräusche eines Fußballplatzes hörte, ging ihr ganz schön die Flatter. Sie waren früh dran und das gegnerische Team war noch nicht da. Die Mädels von Trainer Burkhardt jedoch waren schon dabei, sich aufzuwärmen. Erst jetzt wurde Vany bewusst, wie sehr sie das alles vermisst hatte. Hier fühlte sie sich mehr zuhause als irgendwo sonst. Trotzdem kam sie sich gerade wie eine Ausgestoßene vor. Und das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Sie reckte das Kinn und zwang sich, weiterzugehen. Ihr neues Patentrezept lautete: ehrlich sein. Gefühle zeigen. Bei ihrer Familie hatte das zwar bisher nicht funktioniert, dafür bei Jazz und Leon. Vielleicht klappte es ja auch mit dem Team? Jule entdeckte sie als Erste und rief so laut ihren Namen, dass alle anderen innehielten und sich zu ihr umwandten. Vany zwang sich zu einem zaghaften Lächeln. Trainer Burkhardt kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu und drückte sie herzlich.
»Vany! Wie schön, dass du da bist! Ich habe fast nicht damit gerechnet, dich noch mal auf dem Platz zu sehen.«
Ehrlich sein. Gefühle zeigen.
Sie erhob die Stimme, damit sie sich nicht wiederholen musste. Woher sie die Kraft dazu nahm, wusste sie nicht. Womöglich reichte es, hier zu sein und den alten Teamgeist zu spüren, der ihr früher so viel bedeutet hatte.
»Hallo Leute! Sorry, dass ich euch hängen gelassen hab. Mir ging es ziemlich beschissen und ich hätte es einfach nicht ertragen, herzukommen.«
Verdammt. Jetzt traten ihr die Tränen in die Augen! Sie senkte den Blick, aber plötzlich waren sie alle da. Die Mädels und der Trainer. Sie schlossen einen Kreis um sie, drückten sie, beteuerten ihr, wie sehr sie an sie glaubten und sie vermissten. Jetzt liefen Vany wirklich die Tränen. Sie wusste nicht, wann sie sich zum letzten Mal so glücklich gefühlt hatte. Und dann gab es einen Cut. So plötzlich und unerwartet, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über ihr ausgegossen. Eine Stimme, abfällig, vertraut, verhasst.
»Ist ja rührend!«
Fuck! Wie kam der hier her? Die Mädchen lösten den Kreis auf und gaben den Blick frei auf ihn. Den Schwabbelschrank. Verdattert drehte Vany sich zum Trainer um und stammelte: »Was … was will der hier?«
Trainer Burkhardt zuckte die Achseln. Es schien ihm schwerzufallen, mit der Sprache rauszurücken: »Sein Vater hat neue Trikots und Bälle gesponsert. Dafür habe ich Dirk als Assistenten aufgenommen. Wenn er sich gut macht und ein paar Kilo abspeckt, schafft er es vielleicht irgendwann mal ins Team.«
Vany schnappte nach Luft. Dirk Ahlfeld? Trainerassistent? Dirk lachte.
»Wenn du wieder fit bist, dann scheuch ich dich über den Platz, Schnegge!«
Vany presste die Lippen aufeinander. Ehrlich sein und Gefühle zeigen? Nun, bei dem, was gerade in ihrem Kopf vorging, war das keine gute Idee! Aber diesmal gelang ihr, was ihr damals in der Turnhalle nicht gelungen war. Sie schluckte die Wut herunter und wiederholte: »Neue Bälle und Trikots, ja? Ist ja toll.«
Sie wandte sich wieder den Mädels zu, denen dieses Zusammentreffen ebenso unangenehm zu sein schien, wie dem Trainer. Vany mochte sich gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, vom Schwabbelschrank über den Platz gescheucht zu werden. War bestimmt der Knaller!
»Also, Mädels! Ihr habt neue Trikots und neue Bälle, dann zeigt mir mal nachher, ob ihr auch ein paar neue Tricks gelernt habt! Ich will heute einen Sieg sehen, verstanden?«
»Verstanden!«, rief das Team und Trainer Burkhardt grinste bis zu den Ohren. Vany zwang sich zu lächeln und ging so beherrscht wie möglich zurück zur Tribüne, wo ihre Mutter wartete und ziemlich stolz aussah. Hätte der Schock nicht so tief gesessen, wäre Vany auch stolz auf sich gewesen. Das hier war ihr Verein. Ihr Zuhause. Ihre Zukunft. Alles, worauf sie hinarbeitete. Und plötzlich saß hier Dirk Ahlfeld, wie eine fette Spinne in ihrem Netz, und wartete auf Beute. Und auf einmal war Vany sich nicht mehr so sicher, ob sie noch Fußball spielen wollte.
Vany ließ sich nichts anmerken, doch sie fühlte sich wie gelähmt vor Entsetzen, als sie mit ihrer Mutter nach Hause fuhr. Sie hatte das ganze Spiel hindurch am Rand gestanden und ihr Team angefeuert. In der Halbzeit waren noch ein paar Mädchen zu ihr gekommen und hatten ihr gute Besserung gewünscht. Beide Tore fielen in der zweiten Halbzeit und ihr Team gewann verdient 2:0. Ihre Mutter wirkte nach dem Spiel richtig fröhlich und Vany bemühte sich, ihr nicht zu zeigen, wie heftig es in ihr brodelte. Mit etwas Glück war Ahlfeld nicht mehr da, wenn sie gesund wurde. Bestimmt verlor er irgendwann die Lust daran, auf sie und seine Rache zu warten. Oder er wurde wirklich ins Jungenteam befördert. Doch daran glaubte Vany nicht. Er hatte sich nicht ins Team eingekauft, um Fußball zu spielen, sondern um sich an ihr zu rächen. Sollte er jedoch einen langen Atem beweisen, stand für Vany fest, dass sie nicht ins Team zurückkehren würde. So hatte sie bloß zwei Alternativen: die Fußballschuhe an den Nagel zu hängen oder sich ein neues Team zu suchen.
Ihre Mutter ging in die Küche, um zu kochen, und Vany ging hinauf in ihr Zimmer und tat etwas, das früher einmal Routine gewesen war: Sie rief Jazz an. Die Freundin war beim zweiten Klingeln dran und freute sich hörbar über den Anruf. Wobei das schon übertrieben war und Vany sich fragte, ob sie nur so freundlich war, weil sie versucht hatte, sich umzubringen.
»Wie war das Spiel?«, erkundigte sich Jazz nach der überschwänglichen Begrüßung.
»Das Spiel selbst war ganz okay. Ich hatte Schlimmeres befürchtet, aber tatsächlich hat Cahide sich gut in meine Position eingearbeitet und macht sich super als Spielführerin.«
Vany war selbst überrascht, wie objektiv sie das sagen konnte. Sie verspürte keine Eifersucht auf die Mitspielerin und freute sich stattdessen, dass ihr Team jemanden gefunden hatte, der sie ersetzen konnte. Ihr wurde klar, dass sie sich längst zu ihrem Team hätte gesellen müssen. Sie war so dumm gewesen, sich von den anderen Spielerinnen abzukapseln! Dennoch überwog der negative Teil des Vormittags.
»Etwas anderes macht mir viel mehr Sorgen. Du ahnst nicht, wen ich beim Spiel getroffen habe. Wer sich ins Team eingekauft hat und jetzt Trainerassistent ist!«
»Wer denn?«
Jazz´ Tonfall hatte sich geändert. Sie klang jetzt leicht abwesend. Vany wusste, dass sie sich nicht das geringste aus Fußball machte und immer abschaltete, wenn Vany davon erzählte. Aber als sie die Bombe platzen ließ, hatte sie Jazz´ volle Aufmerksamkeit.
»Dirk Ahlfeld!«
»Was?«, rief Jazz mit all der Empörung, die Vany am Vormittag nicht hatte rauslassen dürfen. »Na, der hat vielleicht Nerven.«
Vany wollte gerade mit einstimmen und sich so richtig über den widerlichen Schwabbelschrank auslassen, als Jazz einen Satz sagte, der ihr sofort den Wind aus den Segeln nahm: »Hast du ihn wieder verprügelt?«
Obwohl Jazz das vielleicht nicht böse gemeint hatte, fühlte es sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Erneut versuchte Vany, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie begriff, dass der Bruch zwischen ihr und Jazz sich nicht durch süße Worte allein reparieren ließ. Es würde Zeit brauchen.
»Nein, habe ich nicht«, antwortete Vany, bemüht, ihre Stimme so emotionslos wie möglich klingen zu lassen. So, als hätten Jazz´ Worte sie nicht getroffen. »Und werde ich auch nicht. Ich weiß nicht, was ich mache. Wahrscheinlich wird mein Knie eh nicht mehr heil. Dann hat es sich mit Fußball auch erledigt. Und wenn ich doch wieder fit werde, suche ich mir ein anderes Team.«
Noch während Vany das sagte, wurde ihr allerdings klar, dass sie das nicht wollte. Sie wollte nicht das Team wechseln. Sie wollte bei Trainer Burkhardt, bei Jule und Cahide und den anderen Mädchen bleiben. Und sie würde sich von einem verfluchten Dirk Ahlfeld nicht aus dem Team drängen lassen.
»Mama hat, glaube ich, zum Essen gerufen«, brach sie das Gespräch mit Jazz ab. »Bleibt es bei morgen?«
»Ja, klar. Ich komm vorbei. Du wolltest mir ja noch die Langfassung erzählen.«
»Mache ich. Bis morgen.«
Vany war deprimiert. Leon hatte sich auch nicht wieder bei ihr gemeldet und von sich aus Kontakt zu ihm aufzunehmen, traute sie sich nicht. Als sie runter zum Essen ging, war zumindest ihre Mutter immer noch entspannt. Ihr Vater hatte sich auch gefangen und erzählte etwas von einem Justizskandal, der gerade die Presse beschäftigte. Tim jedoch schaufelte stumm sein Essen in sich hinein und wich Vanys Blick aus. Nach dem Essen ging sie wieder hinauf, ließ ein weiteres Mal die Tür offen stehen und zockte Fußballgott 2016. Aber Tim blieb in seinem Zimmer. Das gemeinsame Abendessen fiel ein weiteres Mal aus. Und so saß Vany allein in ihrem Zimmer, fühlte sich vollkommen verloren und von allen abgekapselt. Sie hatte keine Ahnung, was sie gegen dieses furchtbare Gefühl unternehmen sollte. Mit einer gewissen Wehmut dachte sie daran, wie sie noch vor kurzem jeden Abend mit Let’s Plays verbracht hatte. Wie herrlich sie da hatte abschalten können. Sie vermisste das. Sie vermisste Deckx und das Bild, das sie von ihm gehabt hatte, bevor sie ihm im Electropoint zum ersten Mal in echt begegnet war. Unruhig tigerte sie in ihrem Zimmer hin und her, die Krücken so leise wie möglich aufsetzend, um niemanden zu stören. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie zog den Schreibtischstuhl zurück, räumte die Bücher zur Seite und holte den Laptop aus dem Fach. Sie nahm ihn mit zum Bett und stöpselte ihre Handykopfhörer an, damit niemand mitbekam, was sie tat. Dann fuhr sie den Laptop hoch. Es dauerte ihr fast zu lang, bis sie endlich den Browser öffnen konnte. Die Startseite von YouTube verriet ihr, dass Deckx tatsächlich kein weiteres Video hochgeladen hatte. Vany verzog den Mund. Irgendwie tat es ihr leid, dass sie Deckx so einen Schrecken eingejagt hatte. Ihretwegen plante er, das Let’s Playen aufzugeben und das durfte nicht passieren. Sie überlegte hin und her und allmählich reifte in ihr ein Plan. Sie war das Ganze falsch angegangen. Vany96 hatte versagt. Jetzt war sie klüger. Sie würde einfach noch einmal von vorne anfangen. Sie löschte ihren Account und legte sich schnell einen neuen an. Ohne lange zu überlegen, gab sie sich einen Namen, den sie mit Deckx verband. Rebekka. Wie das kleine Mädchen aus Fantastic Lights. Sie zog die Namen zusammen und so trug der Account den Namen Rebekka McLight. Im Internet suchte sie nach einem hübschen Foto für ihr neues Profil und fand schließlich ein Bild von einem blonden Mädchen in einem schwarzen Spitzenkleid. Im Hintergrund konnte man verschwommen einen Friedhof sehen. Sie war geschminkt und frisiert wie die Leute aus Deckx´ Lieblingsbands und hielt eine schwarze Rose in den Händen. Perfekt. Anschließend ging Vany auf Deckx´ Profil und schrieb unter das letzte Video, seine Ankündigung, pausieren zu wollen, folgenden Text: »Wie schade, dass du aufhören willst. Habe deinen Kanal eben erst entdeckt. Ich hoffe, du änderst deine Meinung.«
Unverbindlich. Nicht zu aufdringlich. Kaum zu unterscheiden von den Kommentaren, die bereits da waren. Und dieses hübsche Ding würde Deckx bestimmt nicht abweisen! Vany hatte keine Ahnung, warum sich das so verdammt gut anfühlte, doch das tat es. Sie war wieder im Spiel! Sie war vielleicht kurz ausgewechselt worden, aber jetzt stand sie wieder auf dem Platz und alles würde in Ordnung kommen. Sie loggte sich aus, löschte den Browserverlauf und machte sich bettfertig. Auf einmal schien der letzte Donnerstag weit zurückzuliegen. Fast so weit, als hätte es ihn nie gegeben. Sie schaltete das Licht aus und zeigte der Dunkelheit ein strahlendes Grinsen. Von nun an würde alles, aber auch wirklich alles besser werden.
3: Zwei Leben
Als Vany am Sonntagmorgen wach wurde, fühlte sie sich, ohne zu wissen, woran das lag, so glücklich wie schon lange nicht mehr. Vor ein paar Tagen hatte sie sich das Leben nehmen wollen. Sie hatte vor einem Trümmerhaufen gestanden und nicht gewusst, wie sie weitermachen sollte. Anschließend hatte sie in ihr altes Leben zurückfinden wollen und jeder hatte ihr Steine in den Weg gelegt. Aber auf einmal spielte all das gar keine Rolle mehr. Vany würde ihren Weg weiterverfolgen. Aufrichtig und emotional sein und auf diese Weise versuchen, ihre Familie, ihre beste Freundin, Leon und ihre Mannschaftskollegen zurückzugewinnen. Sie nahm sich sogar vor, von nun an zu jedem Spiel ihres Teams zu gehen, denn trotz der Begegnung mit dem widerlichen Dirk Ahlfeld hatte das Zusammentreffen mit den anderen ihr im Nachhinein gutgetan. Parallel dazu, ganz im Geheimen, würde sie sich eine neue Existenz aufbauen. Eine Existenz, von der niemand etwas wusste. Rebekka McLights Weg würde ein ganz anderer sein als Vanys und Vany musste aufpassen, dass diese Leben sich nicht miteinander vermischten. Niemand durfte davon erfahren. Schon gar nicht Tim oder ihre Eltern. Auch Jazz würde sie davon nichts erzählen. Vany war mit Deckx durch und würde reumütig zu ihrem bisherigen Leben zurückkehren. Rebekka hingegen fing gerade erst an!
Vany begann den Morgen damit, ihrer Mutter bei den Vorbereitungen fürs Sonntagsfrühstück zu helfen. Sie konnte zwar nicht so wahnsinnig viel tun, dennoch gefiel es ihr, mit ihrer Mutter zusammen zu sein und etwas zu tun zu haben. Es war seltsam. Bisher hatte sie ihre Eltern als gegeben hingenommen und nicht weiter darüber nachgedacht. Sie konnten sie in den Wahnsinn treiben und vor Kurzem hätte sie gedacht, dass ihr das Verhältnis egal wäre. Sie war kein Kind mehr und hatte nur selten Lust, etwas mit ihren Eltern zu unternehmen. Nachdem sie die beiden jedoch zweimal hintereinander bitter enttäuscht hatte, hatte sie eine Eiseskälte zu spüren bekommen, die ihr klar gemacht hatte, wie wichtig ihr das Verhältnis zu ihren Eltern war. Ihre Mutter hatte sich von allen Familienmitgliedern am schnellsten erholt und schien die gemeinsame Zeit ebenso zu genießen, wie Vany es tat. Ihr Vater war auf sein normales Maß an Interesse und Aufmerksamkeit zurückgekehrt, wohingegen ihre Mutter doppelt so herzlich wie früher war. Ihre Wärme half Vany etwas Kraft zu tanken. Tim allerdings war ein Härtefall. Einst hatte Vany ihr Bruder alles bedeutet. Sie hatte zu ihm aufgesehen, gerne Zeit mit ihm verbracht. Seine Ablehnung schmerzte, aber nicht halb so sehr, wie sie erwartet hatte. Dafür war sie zu sauer auf ihn. Er hatte nicht zu ihr gestanden, hatte sie verpfiffen und jetzt weigerte er sich, ihr zu vergeben, obwohl sie sich alle Mühe gab. Sollte er bleiben, wo der Pfeffer wuchs! Nach dem Frühstück ging Vany in ihr Zimmer und machte die Übungen, die Kerstin, ihre Krankengymnastin, ihr aufgetragen hatte. Sie würde von nun an nichts mehr schleifen lassen. Sie würde für die Schule arbeiten, ihre Freundschaften pflegen und sich um ihr Knie kümmern. Es war unabdingbar, den Halt im Leben wiederzufinden. Den Laptop hatte sie wieder versteckt. Nicht, weil sie fürchtete, dass ihn ihr erneut jemand wegnehmen konnte, sondern um ihn nicht zu sehen. Zusammen mit den schwarzen Klamotten und dem Gothikschmuck lag er am Boden ihres Kleiderschranks, verdeckt vom Saum ihres Wintermantels. Diese Sachen gehörten nicht mehr zu ihrem Leben als Vanessa. Es waren Rebekkas Sachen und sie würde sie nur rausholen, wenn sie sie brauchte. Jede Nacht, wenn alles schlief, wollte sie zumindest einen Blick in Deckx´ Kanal werfen um überblicken zu können, ob er wieder Videos hochlud, worauf sie natürlich hoffte. Unter den alten Videos würde sie als Rebekka nichts schreiben. Wenn neue kamen, würde sie allerdings aktiv werden. Unaufdringlicher als Vany96 es gewesen war. Jeder Kommentar musste perfekt geplant und getimet werden. Diesmal würde Deckx ihr nicht durch die Lappen gehen. Sie überdachte ihre Strategien, während sie ihre Übungen absolvierte. Anschließend war sie ordentlich durchgeschwitzt und fühlte sich ausgezeichnet. Sie ging unter die Dusche und setzte sich im Anschluss an den Schreibtisch, um etwas zu lernen und Ordnung in ihre Schulunterlagen zu bringen. Da sie sich bisher nie etwas aus Schule, Heften und Ordnern gemacht hatte, gab es eine Menge zu tun. Sie besaß einen Collegeblock, den sie für jedes Fach nutzte. So musste sie zu Beginn der Stunden immer eine ganze Weile suchen bis sie das richtige Fach und den aktuellen Stoff fand. Jetzt setzte sie sich daran, Ordner anzulegen und fachspezifisch abzuheften. Manche Seiten schrieb sie sogar in Schönschrift ab. Nicht nur Tim konnte ein Streber sein! Sie gab sich besonders viel Mühe, da sie wusste, dass gute Noten auffielen. Wann immer jemand auffällig wurde, wurde geguckt, ob die Noten sich verschlechtert hatten. Schlechte Noten galten als Indiz dafür, dass es einem Teenager schlecht ging. Vany war eher der Meinung, gute Noten hießen, dass ein Teenager außer Schule sonst kein Leben hatte, aber jetzt ging es ihr um die Außenwirkung. Jeder sollte davon überzeugt sein, dass es ihr gut ging. Erst dann würde man sie in Ruhe lassen. Irgendwann rief ihre Mutter sie zum Mittagessen. Tim saß ihr gegenüber am Tisch und musterte sie verstohlen. Das war immerhin mal ein Fortschritt. Freitag und Samstag hatte er jedenfalls ausschließlich auf seinen Teller geguckt. Nach ein paar Minuten des Schweigens erkundigte er sich: »Was hast du den ganzen Vormittag über gemacht?«
Bingo! Und schon zahlte sich das Doppelleben aus. Vany musste nicht einmal lügen, um ihre Familie zu beeindrucken.
»Ich habe die Übungen für mein Knie gemacht, die ich von Kerstin gelernt habe. Und ich habe was für die Schule getan. Dinge abgeheftet und ein bisschen gelernt. War ja längst mal nötig!«
Die Reaktionen waren verblüffend! Ihre Mutter strahlte sie an, als würde sie gleich vor Stolz platzen. Ihr Vater hob anerkennend eine Augenbraue und tauschte einen schwer zu deutenden Blick mit ihrer Mutter. Da war noch ein Rest Unsicherheit, den Vany noch beseitigen musste. Tim schien zumindest vollends verwirrt. Er hatte die Stirn gerunzelt und sah aus, als würde er unbedingt sauer auf sie sein wollen, es aber nicht hinbekommen. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Wenn du meinst.«
Meine ich, dachte Vany, ohne es auszusprechen. Dass Tim ihr nicht vergeben wollte, machte sie wütend. Eigentlich mochte sie Herausforderungen, aber die hier ging an die Substanz. Sie war es nicht gewohnt, dass so lange Funkstille zwischen ihr und ihrem Bruder herrschte. Doch sie würde es durchstehen. Sie aß ihren Teller leer und verabschiedete sich nach oben, um das Schulchaos zu beseitigen, bevor Jazz auftauchte. Sie freute sich darauf, die Freundin zu sehen, gleichwohl sie nervös war. Zuletzt hatte Jazz sich verständnisvoll gezeigt und bemüht, für sie da zu sein. Andererseits hatte Vany auch das Gegenteil erlebt und wusste nicht, wie Jazz die Geschichte von Deckx aufnehmen würde. Jazz war die meiste Zeit über vernünftig und angepasst. Ihr würde es im Traum nicht einfallen, die Schule schleifen zu lassen oder gar von zuhause abzuhauen. Vany betete, dass sie sie nicht verurteilen würde. Sie war gerade dabei, sämtliche Bleistifte in ihrer Federtasche anzuspitzen, als es an der Tür klingelte. Rasch ließ sie einen letzten Blick durch ihr Zimmer schweifen. Es war aufgeräumt. Sogar das Bett war gemacht. Vany hörte, wie ihre Mutter und Jazz sich unten im Flur unterhielten. Es folgte das Knarren der Treppe. Die Tür ging auf und Vany blieb die freudige Begrüßung im Halse stecken, denn Jazz war nicht allein. Hinter ihr betrat Leon das Zimmer und schlagartig ging in Vany alles drunter und drüber. Sie hatte sich mindestens so aufgeräumt gefühlt wie ihr Zimmer. Als könnte sie nichts erschüttern. Aber Leon änderte alles. Zum einen sah er nicht gut aus. Er wirkte übernächtigt und blass mit tiefen Augenringen, als hätte er seit einigen Nächten nicht geschlafen. Zum anderen explodierte ein gut verschlossen geglaubtes Fass mit wild gewordenen Schmetterlingen in ihrer Brust. Und zum dritten: Warum war er mit Jazz hier? Vany konnte nicht mehr geradeaus denken, nur noch reagieren und leider ließ die Fassungslosigkeit ihren Tonfall nicht gerade freundlich klingen: »Was machst du hier?«
Leon tauschte einen unsicheren Blick mit Jazz. Einen Blick, der Vanys Deutung nach so viel hieß wie »Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?«
Jazz indes war niemand, der einen Plan schnell aufgab, bloß weil er im ersten Augenblick nicht zu funktionieren schien. Sie übernahm das Wort.
»Leon und ich saßen am Freitag in der Mensa, als Tim sich zu uns gesetzt hat. Er hat uns erzählt, dass deine Eltern dich in Köln bei der Polizei abholen mussten und was passiert war. Daher haben Leon und ich Nummern ausgetauscht und ich habe gestern beschlossen, dass ich ihn heute mitbringe. Immerhin sind wir Freunde, oder? Fast sowas wie eine Clique.«
Eine Clique? Vany musste sich zusammenreißen, um nicht auszurasten. Jedes einzelne Wort kam ihr wie ein Angriff vor. Sie ist einen Tag nicht da und Jazz setzt sich direkt zu Leon an den Tisch? Ihr blöder Bruder verrät sie gleich zum zweiten Mal und dann tauschen die beiden auch noch Nummern? Bekam Jazz jetzt Mineralwasser-und-Salat-Nachrichten? Leon schien zu sehen, dass Vany kurz vorm Ausflippen war und wandte sich an Jazz: »Könntest du uns kurz allein lassen?«
Jazz nickte zögerlich, verließ das Zimmer und schloss die Tür. Vany hatte das Gefühl, die Luft wäre zu dick zum Atmen. Sie saß noch auf ihrem Schreibtischstuhl und Leon ging vor ihr in die Knie, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Er druckste nicht lange herum, kam gleich zur Sache: »Stimmt es? Hast du versucht, dich umzubringen?«
Vanys Gedanken überschlugen sich und sie konnte kaum einen davon greifen. Er hatte nicht gefragt, was sie in Köln gemacht hatte. Der andere Punkt schien ihm wichtiger zu sein. Was wollte er von ihr hören? Sie zuckte abwehrend die Achseln.
»Weiß nicht.«
Er sah sie an mit einem so ernsten Gesichtsausdruck, wie sie ihn noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Was heißt, du weißt es nicht? Du musst doch wissen, ob du dich umbringen wolltest? Dein Bruder behauptet, du hast dich vor einen Zug werfen wollen.«
»Ich ...«, stammelte Vany, hoffnungslos überfordert. Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen und sie sie nicht zurückhalten konnte. »Ich war am Bahnhof. Ich war durcheinander. Ich ... kann mich nicht genau erinnern.«
»Du kannst dich nicht erinnern? Warum nicht? Hast du Drogen genommen oder so? Was war denn bloß los? Was hast du in Köln gemacht?«
Vany war verzweifelt. Sie wollte nicht, dass Leon so mit ihr sprach. Es kam ihr wie eine Anklage vor und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verteidigen sollte.
»Ich habe keine Drogen genommen. Du weißt, dass ich keine Drogen nehme!«
»Weiß ich das?«, provozierte er sie. »Das ist doch die Frage, oder? Was weiß ich eigentlich wirklich über dich? Ich wollte dich näher kennenlernen, du wiederum gibst mir nur Rätsel auf. Ich verstehe dich einfach nicht. Du siehst mich im Park mit einer Kollegin, rennst weg und im nächsten Moment erfahre ich, dass du dich vor einen Zug werfen wolltest. Hunderte Kilometer von hier entfernt. Und jetzt sitzt du hier und behauptest, du wüsstest nicht, ob du dich umbringen wolltest?«
Vany rieb sich die Arme. Noch nicht einmal in der Polizeiwache hatte sie sich so unwohl gefühlt. Sie konnte Leon nicht in die Augen sehen. Eine Träne tropfte von oben auf ihr Knie und färbte den Stoff der Jeans dunkelblau.
»Du hast gesagt, dass du mich gern hast«, wimmerte sie. Ihrer Stimme fehlte jede Kraft. Sie fühlte sich so verloren. Leon stöhnte auf.
»Himmel, Vany! Natürlich habe ich dich gern. Sonst wäre ich wohl kaum hier. Das macht es so verdammt schwer. Wann immer ich versuche, dir nahe zu kommen, rennst du weg. Ich habe das Gefühl, du willst meine Nähe gar nicht. Und das wäre noch nicht einmal das Schlimmste. Als ich dich zum ersten Mal wahrgenommen habe, im Vorraum zum Büro der Psychotante, da habe ich gedacht, das bedeutet was. Du hast so verloren gewirkt, dass ich dich beschützen wollte. Gleichzeitig schwach und stark. Ich wollte dich unbedingt besser kennenlernen, du dagegen gibst mir nichts. Keinen einzigen Hinweis darauf, was du magst, was du erwartest. Als wäre dein ganzes Leben mit diesem einen Ding, das dir etwas bedeutet hat, verpufft. Und wenn du das Leben so wenig achtest, dass du es einfach wegwerfen willst ... dann ...«
»Dann was?«, hauchte sie, als er nicht weiter sprach, und sah verunsichert zu ihm auf. Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe Menschen verloren, die ich sehr liebte. Ich habe mich in meinem Leben oft allein gefühlt, trotzdem wollte ich es nie wegwerfen. Ich sehe mir jeden Tag mit an, wie mein Vater sich langsam zu Tode säuft, du jedoch wolltest alles mit einem Schlag beenden. Und ich weiß nicht ... ich weiß einfach nicht, ob ich ... mit jemandem zusammen sein kann, der das Leben so wenig schätzt.«
Vany konnte es nicht verhindern. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Sie wünschte so sehr, dass er sie in den Arm nehmen würde, aber das tat er nicht. Sie wusste, dass ihm die Worte schwergefallen waren. Sie hatte sein Zögern gespürt. Doch jetzt war alles raus. Er war ehrlich gewesen. Er war immer ehrlich zu ihr gewesen. Das hatte er ihr voraus. Schließlich spürte sie seine Hand an ihrer nassen Wange. Sie lehnte sich dagegen und schloss die Augen. Er nahm seine Worte nicht zurück.
»Lass mir Zeit. Und nimm dir selbst auch welche. Und wenn du bereit bist, meine Fragen zu beantworten, reden wir.«
Und er war fort. Vany hörte die Tür, hörte, wie Jazz seinen Namen nannte, hörte die Treppe. Dann war Jazz bei ihr und zog sie in ihre Arme.
»Oh, Süße, was ist passiert?«
Vany presste ihr Gesicht an Jazz´ Schulter, krallte sich an ihr fest und weinte haltlos. Nicht einmal Deckx´ Ablehnung hatte so wehgetan wie das hier. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wollte vielleicht nicht mehr sterben, dieses Leben wollte sie allerdings auch nicht mehr. Sie hätte alles darum gegeben, wirklich mit Rebekka McLight tauschen zu können.
»Was hat er getan? Ich … ich hätte ihn nicht mitgebracht, wenn ich gewusst hätte, dass er dich zum Weinen bringt.«
Jazz´ Verzweiflung erreichte Vany, so sehr sie auch mit ihrer eigenen beschäftigt war. Sie löste sich von Jazz, vergrub das Gesicht in ihrem T-Shirt und versuchte, es einigermaßen trocken zu bekommen. Sie konnte weder über Leon noch über sich selbst reden. Sie hatte sich fest vorgenommen, Jazz alles zu beichten. Wie sie sich in die Idee verrannt hatte, Deckx könnte sich in sie verlieben. Wie sie mehr und mehr süchtig geworden war von seinen Let’s Plays. So süchtig, dass sie auch jetzt, nach allem, was sie in Köln erlebt hatte, nicht von ihm lassen konnte, ihn brauchte, um einschlafen zu können, um einmal wenigstens mit Denken aufzuhören.
»Kennst du das, wenn man versucht, alles richtig zu machen? Alles wieder in Ordnung zu bringen und es bröckelt an allen Ecken und Enden, weil zu viel kaputt ist, um es zu reparieren.«
Jazz verzog das Gesicht.
»Ach Vany, sag so was nicht! Es kommt alles wieder in Ordnung. Bestimmt! Du musst nur … Geduld haben.«
Vany nickte zögernd. Aber sie fühlte sich so leer, dass sie nicht einmal sagen konnte, ob Jazz´ Worte Sinn ergaben oder nicht. Sie wäre lieber für sich gewesen, wusste jedoch nicht, wie sie Jazz dazu bringen sollte, zu gehen, wo sie gerade erst gekommen war. Zum Glück verschaffte Jazz selbst ihr eine Atempause, indem sie anbot: »Soll ich uns was zu trinken raufholen?«
»Ja. Ja, das wäre gut.«
Jazz sprang auf, als könnte sie es nicht erwarten, aus dem Zimmer zu kommen. Vany versuchte, sich irgendwie zu sammeln. Sie wollte nicht über Leon nachdenken, über das, was auch immer er von ihr erwartete. Sie hievte sich hoch und schlurfte zu ihrem Kleiderschrank. Sie setzte sich auf den Boden und öffnete die Schiebetür. Sofort fanden ihre Hände das Kleiderbündel, in dem der Laptop versteckt war. Sie schob zwei Finger durch die Stoffschichten und berührte das Plastik. Sie schloss die Augen und versuchte, ihn zu spüren, seine Energie, seine Ruhe wahrzunehmen.
Heute Nacht, dachte sie. Heute Nacht werde ich dieses Leben zumindest kurz hinter mir lassen und jemand anders sein. Dann vergesse ich den Schmerz.
Augenblicklich ging es ihr besser. Sie stellte sich vor, Rebekka McLight zu sein. Die würde bestimmt nicht heulend zusammenbrechen, wenn ein Junge ihr eine Abfuhr erteilte. Nein, Rebekka McLight nahm sich die Jungs, die ihr gefielen. Vany stellte sich vor, eine echte Superheldin zu sein. Tagsüber die unscheinbare Vanessa Nowak und nachts die schillernde Rebekka McLight, die stets das Richtige tat und immer erreichte, was sie wollte. Aber das Wichtigste an so einem Superhelden war, die doppelte Identität aufrecht zu erhalten. Niemand durfte von diesem zweiten Leben wissen und damit sie es ungehindert aufbauen konnte, musste sie sich als Vany am Riemen reißen. Vany richtete sich auf und straffte die Schultern. Sie war ja schon auf dem richtigen Weg gewesen. Ihre Mutter hatte sie inzwischen auf ihre Seite gezogen und die anderen würden folgen. Sie musste sich bloß wieder einfügen, wieder unauffällig werden. Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie sah trotzdem furchtbar aus, was wohl verständlich war. Dann überlegte sie sich, welche Brocken sie Jazz hinwerfen konnte, damit sie zufrieden war und keine weiteren Fragen stellte. Eigentlich hatte sie ihr alles von Deckx erzählen wollen. Jetzt hatte sie ihren Plan geändert. Deckx musste ihr Geheimnis bleiben, so gut es ging. Vielleicht hatte ihr Tim auch davon erzählt, trotzdem musste sie so tun, als wäre Deckx ihr von einer Sekunde auf die andere egal geworden. Sie hörte, wie Jazz in ihrem Zimmer Getränke abstellte, trocknete sich ab und ging zu ihr.
»Was ist denn jetzt wirklich vorgefallen zwischen dir und Leon?«, fragte Jazz unumwunden. Vany griff nach einer der beiden Mineralwasserflaschen, die Jazz mitgebracht hatte, schraubte sie auf und nahm einen großen Schluck, bevor sie antwortete: »Ich glaube, Leon nimmt mir sehr übel, dass ich mich vor den Zug werfen wollte.«
Jazz zog eine Augenbraue hoch. »Ja, logisch. Das nehme ich dir auch übel! Und deine Eltern und dein Bruder vermutlich auch. Und ich bin trotzdem nett zu dir und bringe dich nicht zum Weinen. Ich weiß ja nicht. Ich glaube, er hat da irgendwas falsch verstanden. Schließlich wollen wir, dass es dir wieder gut geht, nicht, dass du es gleich wieder versuchst.«
Vany lächelte traurig. Sie hatte Leon genau verstanden, aber Jazz wusste nicht, dass Leon seinen Bruder und seine Mutter bei einem Autounfall verloren hatte. Das wusste nur sie. Jazz indes fing gerade erst an, sich über Leon aufzuregen: »Ich meine, ich hätt’s mir irgendwie auch denken können. Er hat zwar behauptet, dass er dich mag, aber er war ja dabei, als Tim mich angesprochen hat. Und Tim hat erzählt, dass du zu diesem Let’s Player wolltest, den du so toll findest. Und dass du dich seinetwegen vor den Zug schmeißen wolltest. Also, womöglich ist er nur eifersüchtig. Was ich auch irgendwie verstehen kann, denn ich meine … dass Leon auf dich steht, war ja offensichtlich und ich dachte, du magst ihn auch. Warum also fährst du durch das halbe Land, um dich mit einem anderen zu treffen? Bloß, weil du Leon mit dieser Hundesitterin gesehen hast? Also, ich mein …«
»Stopp!«, rief Vany und presste die Hände gegen die Schläfen. »Jazz, bitte! Du bringst mein Gehirn zum Platzen! Ich hab doch gesagt, ich hatte einen Kurzschluss. Ja, vielleicht spielt da auch mit rein, dass ich Leon mit dieser Trulla gesehen habe. Es war eine fixe Idee. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat. Ich wollte einfach weg, habe erfahren, dass ich woanders auch nicht willkommen bin und da … gab es halt nur noch diesen Weg. Aber das war ein Ausrutscher. Das passiert mir nicht wieder. Versprochen!«
Jazz sah Vany abschätzend an. »Ich weiß nicht, Vany. Ich habe das Gefühl, du verschweigst mir etwas. Man kommt doch nicht von einem Tag auf den anderen auf die Idee, sich umzubringen! Und wenn man die Idee erst einmal hatte, ist sie doch nicht plötzlich weg.«
Vany schloss die Augen. »Das ist sie. Ehrlich. Als ich begriffen habe, wie knapp ich davon gekommen bin, habe ich eine scheiß Angst bekommen. So eine Dummheit mache ich nicht noch einmal.«
»Und dieser Let’s Player? Was ist mit dem?«
»Mit dem bin ich durch.«
Allmählich ging Vany Jazz´ Fragerei auf die Nerven.
»Und dann? Konzentrierst du dich jetzt auf Leon?«
»Nein!«, widersprach Vany vehement. »Ich werde mich auf mich konzentrieren. Darauf, gesund zu werden. Darauf, wieder ein Teil meines Fußballteams zu werden. Darauf, vielleicht nicht sitzen zu bleiben. Und eigentlich auch darauf, wieder mehr Zeit mit meiner besten Freundin zu verbringen. Sofern sie aufhört, mich mit Fragen zu löchern!«
Jazz sah sie nur an und Vany erkannte, dass sie sie noch nicht überzeugt hatte. Also legte sie nach: »Jazz, bitte. Es ist schlimm genug, dass meine eigene Familie mich behandelt, als wäre ich eine tickende Zeitbombe. Mama hat sich halbwegs wieder eingekriegt, Papa spricht nicht drüber und Tim redet kein Wort mehr mit mir. Das muss ich wieder auf die Reihe kriegen, sonst bin ich nachher schuld daran, dass er sein Abi versemmelt. Es wäre also toll, wenn wenigstens zwischen uns alles wieder so werden könnte, wie es mal war.«
Jazz sah sie weiterhin an und Vany befürchtete, dass sie noch eine Schippe würde drauflegen müssen, aber dann nickte Jazz.
»Also gut. Ich habe dir versprochen, für dich da zu sein und das bin ich auch. Allerdings finde ich den Gedanken, dass du abgehauen und bis nach Köln gefahren bist, immer noch total krass. Geschweige denn, dass du dich vor einen Zug werfen wolltest! Das werde ich nicht so schnell abhaken können und ich hoffe, dass du es mir eines Tages erklärst. Wahrheitsgemäß und ausführlich, damit ich es verstehe.«
»Mache ich, sobald ich es selbst verstanden habe, okay?«
Jazz lächelte. »Ich glaube, damit kann ich leben. Und was hast du jetzt vor?«
Vany zuckte die Achseln. »Ich werde morgen mit Frau Volckmann-Doose darüber sprechen. Genau dafür ist sie schließlich da und ich denke, ich werde ihr eine Chance geben.«
»Wow«, machte Jazz anerkennend. »Das finde ich richtig klasse!« Sie umarmte die Freundin spontan. »Du machst das schon, Vany.«
Vany erwiderte das Lächeln, zaghaft, unsicher. Ja, vielleicht. Vielleicht war der Plan wirklich gut, aber leider fühlte er sich vollkommen falsch an. Alles, was Vany wollte, war fliehen. Leons Ansprüchen entfliehen, Tims Schweigen, der Schule und Therapiesitzungen. Ihrem kaputten Knie und der ebenso kaputten Karriere. Fliehen und jemand anders sein. Und nur dieser Gedanke gab ihr in dem Moment Halt. Die Vorfreude auf das andere Leben, das auf sie wartete, sobald die Nacht anbrach und alles schlief. Sie konnte es kaum erwarten!
4: Abserviert
Den Rest des Tages verbrachte Vany in einer Art Dämmerzustand. Sie funktionierte. Sie gab ihren Eltern das Gefühl, dass alles in bester Ordnung sei und ging Tim aus dem Weg. In Wahrheit schossen die Gedanken wie Fußbälle durch ihren Kopf. Ständig kamen ihr Leons Worte in den Sinn, so sehr sie auch versuchte, sie zu verdrängen. In Dauerschleife sah sie ihn vor sich, wie er vor ihr in die Knie ging und sagte, was er gesagt hatte. Dabei wollte sie es nur vergessen, es verdrängen, es am liebsten ungeschehen machen. Sie versuchte, sich an Rebekka McLight festzuhalten. Wann immer ein Fußball mit Leons Namen darauf durch ihren Kopf schoss und gegen ihre Schädeldecke knallte, ersetzte sie ihn durch einen Rebekka-Ball. Sie erfand eine vollständige Biografie für sie, überlegte, auf welche Schule sie ging und welche Hobbys sie hatte. Es musste interessant sein, durfte dabei aber nicht unglaubwürdig werden. Vany fielen auf Anhieb haufenweise Sportarten ein. Tischtennis. Badminton. Rudern. Nichts davon schien so richtig zu passen.
Billard, dachte Vany schließlich. Sie selbst hatte erst ein paar Mal in ihrem Leben Billard gespielt und zwei linke Hände dabei gehabt. Zu Rebekka passte es irgendwie.
Außerdem, beschloss Vany, sollte sie Gitarre spielen. E-Gitarre natürlich.