Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Privatermittler Tom Brauer fährt nach Hiddensee, um seinen alten Freund Milan zur Vernunft zu bringen. Der exzentrische Theaterautor behauptet, die gemeinsame Schulfreundin Irina gesehen zu haben – doch die ist seit zwanzig Jahren tot. Sie verschwand bei einer sommerlichen Radtour, ihre sterblichen Überreste wurden zwei Jahre später gefunden. Toms Aufklärungsmission ist schwieriger als erwartet. Angetrieben von einer tiefen Sehnsucht nach Irina deckt Milan immer neue Widersprüche in den damaligen Ermittlungen auf. Ist es möglich, dass eine andere Leiche in den Dünen verbuddelt wurde und Irina noch lebt? Als ein Fischer tot im Vitter Bodden treibt, bekommt der alte Fall eine neue Brisanz. Und Tom beobachtet am Hafen eine Frau, die der totgeglaubten Irina ungeheuer ähnlich sieht ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 324
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Letzte Ausfahrt Hiddensee
Burkhard Wetekam
»Letzte Ausfahrt Hiddensee« ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen, Gegebenheiten und Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Ich habe Irina gesehen.
Ein schöner, einfacher Satz, dachte Tom. Nur vier Wörter. Und dabei absolut vollständig, mit Subjekt, Prädikat und allem, was ein Satz so braucht. Und trotzdem ein Satz, bei dem sich ihm alle Nackenhaare aufstellten.
Ich habe Irina gesehen.
Die Stimme im Telefon gehörte unverkennbar Milan. Diesen Sound erkannte Tom auch nach mehreren Jahren Funkstille. Milan hätte Synchronsprecher mit Spezialisierung auf Mafiafilme werden können. Nicht diese dummen Actionstreifen, sondern die von der etwas subtileren Art. Geschichten von Mordgesellen, die ihre Aufträge eiskalt erfüllen, dabei aber auf einer verzweifelten Jagd nach Liebe und innerem Frieden sind, den sie jedoch niemals erreichen können, egal, über wie viele Leichen sie in ihren maßgeschneiderten und blitzblank geputzten Lederschuhen hinwegsteigen. Für solche Typen hatte Milan die passende Stimme. Aber nach allem, was Tom wusste, nicht das dazugehörige Strafregister. Ich habe Irina gesehen.
Tom musste sich konzentrieren. Dieser Satz war so einfach, so klar, und doch so unmöglich. Er fühlte sich an wie ein Stromschlag aus einer falsch verkabelten Steckdose. In seinem Ohr hallte er nach, mit jedem Detail: Bei den ersten beiden Wörtern hatte Milans Stimme noch etwas gebebt, vor Irinas Namen, in der Mitte des Satzes, hatte er kurz abgesetzt, eine winzige Pause gemacht, als sei er noch immer verwundert über das, was er da wahrgenommen zu haben glaubte. Das Wort gesehen klang dann fest und entschlossen. Tom spürte, dass Milan sich Mühe gab, seinem Satz bei aller Aufgeregtheit am Ende doch noch Stabilität zu verleihen. Er wollte Toms Zweifel von vornherein ersticken.
Denn Milan konnte Irina nicht gesehen haben – das war vollkommen unmöglich. Trotzdem wies Tom die Worte nicht sofort zurück. Er zögerte. Wartete eine halbe Sekunde, eine ganze Sekunde, ließ sie in ihrer Unmöglichkeit verklingen, bis sie in dem virtuellen, von einem technischen Zirpen durchdrungenen Raum verschwunden waren.
»Wo bist du jetzt?«, fragte er. »Von wo rufst du an?«
»Hiddensee. Ich war oberhalb von Kloster, an der Steilküste. Da habe ich sie gesehen. Es war … es ist Irina.«
Tom sog die Luft ein. Auf der schmalen Holztreppe, auf halbem Weg zwischen Erdgeschoss und Obergeschoss, hatte ihn der Anruf von Milan erreicht, noch vor dem Frühstück. Irgendwo in diesem Halbdunkel, in dem es nach Farbe und abgeschlagenem Putz roch, musste er damit klarkommen, dass ihn Milan nach wer weiß wie vielen Jahren anrief und ihm ohne jede Vorwarnung erzählte, er habe Irina gesehen. Er war schon dabei, die staubgeschwängerte Luft sinnlos auszuatmen, aber dann verwendete er sie doch für das, was er sofort hätte sagen sollen. »Du musst dich getäuscht haben. Irina ist tot. Und das weißt du genau, Milan.«
Jetzt war es Milan, der erstmal nicht antwortete. Das Zirpen im virtuellen Raum zwischen ihnen steigerte sich zu einem garstigen Schnattern und brach dann plötzlich ab. Die Stille war schwer zu ertragen. Milan schien kein Problem damit zu haben. »Es wäre schön, wenn du herkommen könntest«, sagte er schließlich. »Ich rufe nachher nochmal an.«
Tom wusste im ersten Moment nicht, worüber Clara erschrak, als er das Wohnzimmer betrat. Er hatte die Tür sachte geöffnet und ging mit ruhigen Schritten in die Mitte des Raumes. Genauer gesagt, knapp neben die Mitte, denn die war besetzt von einem kunstvollen und mit Folie abgedeckten Stapel aus Möbeln. Der Putzstaub hing hier schwer in der Luft, er spürte ein unangenehmes Kratzen im Hals. Clara hatte den gröbsten Dreck aufgefegt. Jetzt saß sie auf der dritten Stufe einer Trittleiter und starrte ihn an. Als sie nach seiner Hand griff, verstand Tom, dass sie sich über nichts anderes als über ihn erschrocken hatte.
»Du siehst aus, als wäre dir ein Geist erschienen.«
»So könnte man das nennen«, sagte er leise. »Der Geist war allerdings am Telefon.«
»Hat er einen Namen?«
»Milan Mikitsch.«
Clara nickte, halb erstaunt, halb wissend. »Ist das nicht der, der nie auf E-Mails oder Anrufe reagiert?«
Auf unverfängliche Nachrichten, Geburtstagsgrüße oder allgemeine Fragen zum Befinden antwortete Milan tatsächlich nicht. Das schien ihn nicht zu interessieren. Und er ging auch grundsätzlich nicht ans Telefon, sondern überließ es seiner Mailbox, gute Freunde von damals mit einer kurzen Botschaft seiner Mafiasynchronstimme abzuspeisen. Aber jetzt hatte er sich ganz von selbst gemeldet, mit einer Nachricht, die keine Nachricht war, sondern ein Hirngespinst.
Milans Botschaft stand im Raum wie der weiße Elefant, auf den alle immer warten, der aber nie kommt, und wenn doch, dann ganz anders als erwartet, als unsichtbares Virus oder als Diktator mit Atomraketen in der Hosentasche. »Ich muss dahin fahren«, sagte Tom und strich sich durchs Haar. Es fühlte sich rau an, als ob der Putzstaub dabei war, ihn von oben her in eine Skulptur zu verwandeln. Zuerst die zerzauste Frisur und danach den Rest.
»Wohin?«, fragte Clara.
»Nach Hiddensee. Da ist Milan gerade. Und er behauptet, er habe Irina gesehen, in Kloster, an der Steilküste.«
Clara zog eine Schnute. »Du denkst hoffentlich daran, dass wir hier noch etwas vorhaben?« Sie ließ ihren Arm kreisen, wies auf kahle Wände und die in Plastikfolie gehüllten Möbel.
»Sicher, ja, aber ich glaube wirklich, ich muss dahin. Milan war mal mein bester Freund.«
»Und wer bin ich so? Also, mal ganz nebenbei gefragt?«
Tom lächelte. Er ging zu Clara, beugte sich vor und tupfte einen Kuss auf ihre Lippen. »Du bist die wichtigste und einzige Frau in meinem Leben.«
Claras Augenbrauen bogen sich ein wenig, aber sehr ausdrucksvoll nach oben, es war dieser Gesichtsausdruck, mit dem ein Mensch verfolgt, wie eine vertraute Person sich auf dünnes Eis begibt.
»Du kannst doch erstmal mit ihm telefonieren.«
»Er will nachher nochmal anrufen.«
»Frag ihn, ob er nicht zu uns kommen will. Dann könnt ihr in Ruhe über das sprechen, was er glaubt, gesehen zu haben.«
Tom zuckte mit den Achseln. »Ja, vielleicht.«
»Und wer ist Irina? Ist das die Frau, die …?«
Er hatte sich wieder umgedreht und betrachtete einen der neuen Kabelkanäle, den die Elektriker in die Wand gemeißelt hatten, von der Decke bis knapp über dem Boden, wo er im rechten Winkel abzweigte und zu einer Steckdose führte. »Ja, genau die ist es.«
Elektriker sind im Allgemeinen nicht sehr tolerant. Jedenfalls nicht, wenn es um Kabel geht, die in Würde alt und brüchig geworden sind. Und was die Nichteinhaltung von Sicherheitsvorschriften angeht, reagieren Elektriker regelrecht allergisch. Man muss das akzeptieren, dachte Tom. Eigentlich muss man es sogar begrüßen. Aber wenn man in den eigenen vier Wänden erlebt, wie Elektriker ihre Intoleranz gegenüber zweiadrigen Kabeln ausleben, dann ist das nicht amüsant.
Vor drei Wochen hatten sie einen dieser Fachleute angerufen. Die Deckenlampe im Wohnzimmer war defekt. Es lag nicht an der LED, es lag auch nicht an der Sicherung. Die Wandlampe und alle Steckdosen hatten noch Strom. Nur die Deckenlampe hatte sich nach einem kurzen, verzweifelten Flackern in eine ewige Nacht verabschiedet. Der Elektriker brachte gleich seinen Bruder mit. Die beiden hatten drüben in Barth einen kleinen Betrieb aufgemacht. Sie schienen alles gemeinsam zu machen. Einer schraubte die Lampe ab, der andere zupfte am Kabelende, das aus der Decke hervorlugte, der überreizte Hauptnerv des Gebäudes. Putz rieselte auf den Parkettboden. Einer der Elektriker lachte laut auf, der andere hob die Hände über den Kopf. Dann zupfte er nochmal am Kabel und ein größeres Stück Putz fiel zu Boden. »… müsste man alles stilllegen hier«, murmelte der eine Elektriker. »… ist wahrscheinlich im ganzen Haus so«, mutmaßte sein Bruder durch die Zähne.
Tom, der das Geschehen verfolgte, war kurz davor, die Show abzubrechen. Aber er wartete noch, bis die beiden auch die Wandlampe abgeschraubt und das dortige Kabel inspiziert hatten. Später einigten sie sich darauf, dass nicht alles sofort stillgelegt, sondern die Elektrik nach und nach erneuert werden sollte, zuerst im Wohnzimmer, anschließend in der Küche. Um Kosten zu sparen, wollten Tom und Clara möglichst viel selbst machen. Sie wollten auch die neuen Kabelkanäle zuspachteln. Nach einigem Zögern gestatteten ihnen die Elektriker, diese verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen.
Jetzt lagen die Kabelkanäle wie unversorgte Wunden offen vor ihnen.
Und Tom hatte schon wieder Milan am Telefon. »Du musst unbedingt kommen«, sagte die Stimme aus dem Mafiafilm. Milan war mindestens so unerbittlich wie ein Elektriker. »Ich bleibe auf jeden Fall hier und suche nach Irina.«
Er war nicht davon abzubringen. Und von der Idee, erstmal die Insel zu verlassen und in Ruhe alles zu besprechen, hielt er gar nichts. »Sie läuft jetzt hier rum, deshalb muss ich auch jetzt nach ihr suchen. Du denkst, ich bin bekloppt, oder?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Dann beweg dich her und wir suchen zusammen. Irina ist hier. Ich spüre das.«
»Es ist gerade schwierig.«
»Dann suche ich eben allein.«
Später saßen Tom und Clara in der Küche, vor sich zwei Becher mit Kaffee. Man musste dankbar sein für jeden Becher Kaffee, der sich herstellen ließ, ohne dass dabei das Haus abbrannte. Diesen Eindruck hatten jedenfalls die beiden Elektriker vermittelt. Tom hatte einige Nächte lang unruhig geschlafen, aber mittlerweile kam er damit klar, auf einem Vulkan zu leben, der jederzeit ausbrechen konnte.
Clara riss ihn aus seinen Gedanken.
»Was ist damals eigentlich passiert?«
Er räusperte sich. Der Putzstaub kratzte noch immer im Hals. »Es war im Sommer nach dem Abitur. Milan hatte zusammen mit Irina und Hendrik eine Radtour Richtung Ostsee unternommen.«
»Wer ist Hendrik?«
»Auch einer aus unserem Abschlussjahrgang. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun. Er ist Wirtschaftsprüfer oder so etwas.« »Gut, und dann sind sie nach Hiddensee gefahren?«
»Eigentlich waren sie auf Rügen, auf einem Campingplatz. Nach Hiddensee haben sie eine Tagestour unternommen. Man kommt von Schaprode aus ja schnell mit der Fähre hin. Als sie nachmittags zurückfahren wollten, war Irina nicht mehr da.«
»Nicht mehr da? Waren die denn nicht zusammen auf der Insel unterwegs?«
Tom erinnerte sich, dass ihm die Sache damals auch merkwürdig vorgekommen war. Er kratzte sich am Kopf, ein Kalkkrümel landete im Kaffee. »Irina wollte sich nach dem Mittagessen wohl noch etwas angucken, ich glaube, die Dünenheide. Die beiden Jungs hat das nicht so interessiert, die saßen so lange in Vitte am Hafen.«
»Typisch. Wahrscheinlich, um ein Bier nach dem anderen zu zischen.«
Tom musste lachen. »Ja, kann schon sein.«
»Und was haben die beiden dann gemacht?«
»Ich nehme an, sie haben versucht, Irina anzurufen. Weiß aber nicht, ob sie damals alle ein Handy hatten, ist ja zwanzig Jahre her. Sicher ist, dass die beiden bis zur letzten Fähre gewartet haben. Als Irina dann noch immer nicht da war, dachten sie wohl, dass sie schon früher zurückgefahren sei. Jedenfalls haben sie die letzte Fähre genommen und gehofft, Irina auf dem Campingplatz zu treffen. Da war sie aber nicht. Gleich am nächsten Morgen sind sie wieder nach Hiddensee gefahren und haben den ganzen Tag über nach ihr gesucht. Am Abend haben sie dann die Polizei eingeschaltet.« Mit zusammengekniffenen Augen blickte Clara in ihre fast leere Tasse. »Merkwürdige Geschichte. Wie kann ein Mensch einfach so abhandenkommen, auf so einer kleinen Insel?«
»Je weiter man sich einer Sache nähert, umso größer und unübersichtlicher wird sie.«
Clara musste lachen. »Die geistreichen Sprüche des spätantiken Philosophen Tom Brauer, 13., völlig neu bearbeitete Auflage.«
»Na, hoffentlich bringt die 13. Auflage kein Unglück. Im Ernst: Geistreiche Sprüche gibt es genug auf der Welt. Da muss ich nicht auch noch mitmischen. Ich glaube, Milan ist der Einzige aus meinem Abiturjahrgang, der Bücher veröffentlicht hat. Soweit ich weiß, schreibt er inzwischen vor allem Theaterstücke.«
»Theater – das passt zu seinen aufdringlichen Anrufen. Die Sache mit der verschwundenen jungen Frau ging ja damals durch die Medien, kann ich mich noch dran erinnern. Das war lange, bevor wir uns kennengelernt haben. Jetzt sind wir schon einige Jahre zusammen und natürlich wusste ich, dass die Irina aus den Zeitungsberichten diejenige ist, von der du mir erzählt hast. Aber eigentlich wird mir erst heute Morgen richtig bewusst, dass du mit dieser Frau und ihren Freunden zusammen Abitur gemacht hast. Es ist, als ob die Welt wieder ein kleines Stück geschrumpft ist.«
In einem Schuhkarton bewahrte Tom Fotos aus seiner Schulzeit auf. Anfang des Jahrtausends war das gewesen, die letzten Jahre, in denen er überhaupt noch Papierfotos hergestellt hatte. Er fand den Karton im obersten Fach eines Bücherregals, pustete den Staub vom Deckel und kehrte zurück in die Küche.
»Hier, das ist ein Bild von Milan und mir bei einer Wanderung im Elbsandsteingebirge.«
»Da wart ihr ja noch richtig jung und knackig.«
Tom bemühte sich, Claras Spott zu überhören. Er konnte sich dunkel erinnern, dass ein älteres Ehepaar angeboten hatte, von ihnen ein Foto zu machen. Sie saßen am Fuß einer Felswand, die hinter ihnen aufragte wie der Stiefel eines Riesen. Tom trug ein kariertes Hemd und eine alberne rote Weste. Er sah aus wie ein übernächtigter Hobbit. Milan trug Jeans und ein weißes Polohemd, das einen schönen Kontrast zu seinen kräftigen schwarzen Haaren bildete. In diesen Haaren steckte eine Sonnenbrille, sein Gesicht zeigte ein breites Grinsen. Er schien sich eher über den Fotografen lustig zu machen, als für ein Bild zu posieren. Das hatte er nicht nötig, er wirkte cool, immer und überall, wo er sich aufhielt. Clara studierte die Aufnahme mit schief gelegtem Kopf. »Auf den ersten Blick würde ich sagen: Der Träumer und der Klassenclown.«
Tom lachte und schüttelte sich. »Ich nehme an, du hältst mich für den Träumer. Ich habe an dem Morgen ganz offensichtlich meinen Kamm nicht gefunden und ich schaue etwas dümmlich über die Kamera hinweg. Ist okay, mit dem Träumer komme ich klar. Aber Milan ein Klassenclown? Das passt nicht ganz. Er war immer kreativ, manchmal auch witzig. Aber viel prägnanter fand ich seinen Widerspruchsgeist. Er sah überall die Böswilligkeit von Schule, Staat und Obrigkeit am Werk. Sein Misstrauen war allgegenwärtig und er konnte hervorragend dramatisieren. Ich glaube, im Theaterbetrieb ist er ganz gut aufgehoben.«
Ein zweites Foto zeigte Milan in einem Innenraum, lässig zurückgelehnt auf einem Stuhl aus Metallrohr und Holzimitat, wie man sie in Schulen zu Tausenden findet. Neben ihm, auf einem gleichartigen Stuhl, saß eine junge Frau. Sie hatte sich Milan zugewandt, die Beine angezogen und die Füße auf seinem Oberschenkel abgesetzt. Ihre Schuhe lagen auf dem dunkelgrünen Teppichboden. Hinter ihr war ein Stück von einer Pinnwand zu sehen, behängt mit Zetteln und Plakaten. »Das war in unserem Pausenraum. Muss kurz vor dem Abitur gewesen sein.«
Clara betrachtete die junge Frau mit dem blassen Teint. Ihre Haare waren zu einem eleganten Scheitel gekämmt, an den Seiten und hinten waren sie kurz geschnitten. Markant war aber weniger die Frisur als die Farbe dieser Haare: ein intensives Rot.
»Das ist also Irina? Hat sich die Haare ja sehr auffällig gefärbt.«
»Die sind nicht gefärbt.«
»Das glaube ich nicht.«
Tom zuckte mit den Achseln. »Beschwören kann ich es natürlich nicht. Aber sie hat das behauptet und ich habe sie auch nie anders gesehen.«
»Erstaunlich. Jedenfalls ist sie eine schöne junge Frau. Sie war da wahrscheinlich siebzehn oder achtzehn, oder? Ich finde, sie wirkt erwachsener.«
»Kann gut sein, dass sie schon neunzehn war. Sie war mit ihrem Vater aus Russland gekommen. Ich fand sie immer außergewöhnlich, irgendwie rätselhaft.«
Clara drehte sich zur Seite und sah ihn prüfend an.
»Hattest du was mit ihr?«
Er musste lachen. »Nein, bestimmt nicht. Ich war damals viel zu schüchtern.«
»Ach nee.«
»Im Ernst, Irina wirkte auf mich unnahbar und auch ein bisschen arrogant. Eine Prinzessin. Ihr Vater war irgendein hohes Tier in einem Ministerium in Moskau gewesen. Kurz nach dem Amtsantritt von Wladimir Putin bekam er wohl Stress mit dem neuen Präsidenten, das kann ja lebensbedrohlich sein, wie wir heute wissen. Ich habe Irina in der Oberstufe kennengelernt, da sprach sie schon gut Deutsch, mit einem melodiösen russischen Akzent.«
»Was war denn mit Irina und Milan? Waren die mal zusammen?«
Tom sah sich das Bild an: Wie Irina die Füße auf Milans Oberschenkeln ablegte, wie sie ihn anblickte, etwas neugierig, etwas spöttisch, und wie er ihrem Blick begegnete, zurückgelehnt, lässig grinsend. Wer ihn kannte, wusste, dass das nur Fassade war. Er lief regelrecht über vor versteckter Sehnsucht und Trauer. »Sie haben viel gemeinsam unternommen«, sagte Tom. »Haben sich beide für Literatur und Musik interessiert. Aber sie waren nicht zusammen.« Clara nickte nachdenklich. »Ich glaube, ich kann es mir vorstellen. Er war vernarrt in sie. Mit seinem ganzen Temperament, mit seiner Lust, gegen die Welt anzurennen, sie zu verändern. Aber bei ihr ist er nicht richtig zum Zug gekommen. Sie hat es genossen, umworben zu werden.«
Tom sah Clara verwundert an. »Was du alles weißt! Ich glaube, das ist ganz gut beschrieben. Nach dem Abitur haben sie sich zu dieser Radtour verabredet. Er hat wohl große Hoffnungen daran geknüpft. Eigentlich wäre er gern allein mit ihr gefahren, aber ihr war es wichtig, dass Hendrik mitkommt, sozusagen als Anstandsdame.«
»Es muss schlimm für ihn gewesen sein, als sie plötzlich verschwunden ist.«
Toms Erinnerung an diese Zeit wurde von Minute zu Minute intensiver. Als ob eine unscharfe und beinahe vergessene Szenerie plötzlich scharf gestellt worden wäre.
»Es war eine Katastrophe. Als Milan von Hiddensee zurückkehrte, war er fertig mit der Welt. Und ich glaube, dass er mit diesem Erlebnis nie wirklich klargekommen ist.«
Clara nickte. »Wie lange hat es gedauert, bis sie Irinas Leiche gefunden haben?«
»Fast zwei Jahre. Ein Biologe, der im Frühjahr auf Hiddensee nach Bodenbrütern gesucht hatte, stieß ganz im Süden auf menschliche Überreste, in der Kernzone des Nationalparks. Darf man eigentlich nicht betreten.«
Tom hielt noch immer das Foto mit Irina und Milan zwischen den Fingern. Clara nahm es ihm weg und legte es in die Mitte des Tisches. Dann griff sie nach seiner Hand. »Es ist totaler Mist, dass du jetzt verschwindest. Wir haben doch vor, morgen das Wohnzimmer zu streichen. Und wir müssen die Küche ausräumen, weil dann die beiden schrecklichen Elektriker kommen und weitere Wände aufstemmen. Aber ich sehe ein, wenn Milan jetzt für dich wichtiger ist. Versprich mir, dass du so schnell wie möglich zurückkommst. Und schick mir ein paar Fotos. Ich war schon lange nicht mehr auf Hiddensee.« Tom nickte. Er führte Claras Hand an seine Lippen. »Danke.«
Gleich nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg. Er fuhr mit Claras altem Kombi nach Stralsund, über die Sundbrücke nach Rügen, dann weiter Richtung Inselmitte. Hinten im Auto lag ein leerer Eimer, der in jeder Kurve durch den Kofferraum polterte, als wäre er ein eingesperrtes Tier, das endlich freigelassen werden will. Tom versuchte, seine eigene Unruhe in den Griff zu bekommen und sich zu erinnern, wie es damals gewesen war, nach dem Verschwinden Irinas. Er hatte schon lange nicht mehr an diese dramatischen Wochen und Monate gedacht, diese Zeit nach dem Abitur, ein Sommer voller Widersprüche. Er erinnerte sich an das Gefühl einer beinahe grenzenlosen Freiheit, auch dieses nervöse Warten auf den Beginn des richtigen Lebens. Hatte dieses Leben eigentlich jemals angefangen? Und wie hatte er diese bedrückende Angst um Irina, die sie damals durchlitten hatten, verdrängen können?
Am Tag, nachdem sie von Milan und Hendrik als vermisst gemeldet worden war, durchkämmten Polizisten die gesamte Insel, vor allem die Dünenheide und den Süden, weil Irina angegeben hatte, dass sie dort spazieren gehen wollte. Einen Tag später weiteten die Einsatzkräfte das Suchgebiet auf die Gewässer rund um die Insel aus. Polizeitaucher waren am Schwarzen Peter unterwegs, einer Bucht im südlichen Teil der Insel. Sie überprüften den von einem Damm abgeteilten Binnensee und die Boddengewässer. Milan hielt es kaum aus, nicht in der Nähe des Geschehens zu sein. Aber Tom fand, dass es nicht gut war, wenn er allein dort oben blieb. Nur mit Mühe konnte er seinen Freund überzeugen, nach Weimar zurückzukehren. Es war ein heißer Sommer, sie trafen sich beinahe täglich, saßen an der Ilm oder liefen über den Ettersberg. Milan hielt es nirgendwo aus, schon gar nicht in der Nähe von größeren Menschengruppen oder von Mitschülern, die weiterhin ihre neugewonnene Freiheit feierten, so, als wäre nicht ein Mensch aus ihrer Mitte verloren gegangen, wie vom Erdboden verschluckt. Tom hatte noch das Bild vor Augen: Wie Milan die Faust ballte und rief, es könne doch nicht sein, dass Irina einfach so verschwunden sei. Eine Woche später wurden die Suchaktionen vorerst beendet. Milan konnte das nicht akzeptieren. Vor allem wollte er nichts davon wissen, dass Irina möglicherweise einen Unfall erlitten oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. In dieser Zeit keimte bei ihm der Verdacht auf, dass ihr Verschwinden eine Inszenierung gewesen sein könnte, geplant und ausgeführt von ihrem eigenen Vater.
Tom hatte Valentin Kramarov nur ein einziges Mal gesehen, bei einem Schulfest, kurz vor dem Abitur. Einige aus dem Jahrgang hatten nachmittags noch auf dem Schulhof gestanden und Bier getrunken, als eine schwarze Limousine vorfuhr, die an eine Staatskarosse erinnerte. Irina hatte den Wagen nicht bemerkt, hatte gelacht und getrunken. Jemand, der das Auto erkannt hatte, machte sie darauf aufmerksam. Und Tom erinnerte sich jetzt wieder genau, dass sie sich damals von einem zum anderen Moment zu verwandeln schien. Sie stellte die halbvolle Flasche ab, sortierte ihre Haare und legte sich die Jacke über den Arm. Dann sagte sie sehr förmlich, dass sie jetzt gehen müsse. Inzwischen war ihr Vater aus dem Auto ausgestiegen. Er kam auf die Gruppe der jugendlichen Biertrinker zu und blieb in etwa zehn Metern Entfernung stehen. Tom wunderte sich, wie alt er schon war. Er schätzte ihn auf etwa siebzig. Kramarov hatte kurz geschnittenes graues Haar und trug einen ebenfalls grauen Bart. Streng und ernst wirkte er, ein Patriarch, dachte Tom, und seine sonst so lässige Tochter schien sich in seiner Gegenwart in ein diszipliniertes und folgsames Mädchen zu verwandeln. Als Mitschüler ihr zuprosteten, ging sie nicht darauf ein, sondern nickte nur gnädig. Milan wollte sie zum Abschied umarmen – sie drückte ihn mit der Handfläche freundlich, aber bestimmt von sich weg. Dann wandte sie sich schnell ab und ging zu ihrem Vater.
Über die Vergangenheit von Valentin Kramarov gab es nur wenige gesicherte Informationen. Leitender Beamter im Moskauer Wirtschaftsministerium, das war die Formulierung, die man in Zeitungen fand. Es hieß, er habe sich in den Wirren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schwer bereichert, viele Feinde gemacht und sei deshalb in den Westen gegangen. Irina war seine einzige Tochter, die Mutter lebte nicht mehr. Zusammen mit ihrem Vater wohnte sie in einem Gründerzeithaus in der Westvorstadt. Einer Anekdote zufolge wurde Kramarovs Hund vergiftet, angeblich eine Drohung oder Racheaktion des russischen Geheimdienstes. Tom fand die Geschichte nicht besonders glaubwürdig.
Allerdings schien sich Kramarov durchaus Sorgen um das Wohlergehen seiner Tochter zu machen. Sie wurde morgens zur Schule gebracht und mittags wieder abgeholt, auch nach Partys stand spätabends ein Fahrzeug bereit, um sie nach Hause zu bringen. Allerdings kam normalerweise nicht der Vater persönlich, sondern ein angestellter Fahrer.
Kramarovs Vorgeschichte und dieses geheimnisvolle Leben jenseits der Schulcommunity, in das Irina meist per Chauffeur verschwand, regte auch Milans Fantasie an. So kam er wohl auf die Idee, Irinas Verschwinden sei inszeniert worden. Er hatte schon kurz nach dem Ereignis Andeutungen gemacht, aber erst eine oder zwei Wochen später sprach er seinen Verdacht offen aus. Um seine Tochter vor staatlichen Racheakten zu schützen, habe Kramarov sie von Hiddensee weggeschafft, vermutlich in ein anderes Land.
Tom hatte sich die Geschichte angehört, sie halbherzig in Zweifel gezogen, sie aber nicht strikt zurückgewiesen. Er wollte seinen Freund nicht unnötig verletzen. Die Idee, dass Irina nun in einer Welt der Schönen und Reichen angekommen war, in der sie sich eine neue Existenz aufbauen konnte, half Milan, mit der ungewissen Situation klarzukommen. Nach und nach schien er sich von der Last zu befreien, die ihn seit der Fahrt nach Hiddensee in den Abgrund zu ziehen drohte. Er kümmerte sich um einen Studienplatz und bereitete seinen Umzug nach Berlin vor. Tom hingegen zog es nach Leipzig. Ihre Treffen wurden seltener und sie verloren sich aus den Augen.
Am Hafen von Kloster war einiges los. Hochsaison, Mittagszeit, die Stunde der Fischbrötchen. Es war schwül und beinahe windstill. Hochnebel verschleierte die Sonne. Ein schlammiger Hafengeruch konkurrierte mit dem Duft von heißem Fett. Tom erinnerte sich an Claras Worte und machte ein paar Fotos: ein historischer Zweimast-Segler, der gerade an der langen Pier lag, das stattliche Hotel Hitthim mit seinem filigranen Fachwerk, ein buntes Windspiel im Souvenirladen, die mit Holz verkleidete Kioskbude am Weg zum Dorf. Es waren Klischeebilder, für Clara eigentlich uninteressant, aber es geht bei solchen Bildern ja nicht um den Inhalt, sondern um das Gefühl. Die Sehnsucht nach dem Ort, nach dem letzten Besuch, nach der verklärten Erinnerung.
Wie verabredet war Milan bei der Fischbarkasse Willi zu finden. Er saß auf dem Geländer des Stegs und aß ein Fischbrötchen. Sein durchtrainierter Oberkörper steckte in einem grauen T-Shirt. Mit seiner Sonnenbrille und dem üppigen schwarzen Haar sah er aus wie die Vorhut der kalabrischen Mafia. Als er Tom kommen sah, sprang er von dem hölzernen Geländer herunter und warf das angebissene Fischbrötchen in einen Mülleimer. Er drückte Tom kurz, aber schmerzhaft an sich.
»Super, dass du da bist. Lass uns gleich losgehen.«
»Losgehen? Wohin?«
»Hoch zur Steilküste. Ich muss dir zeigen, wo ich sie gesehen habe.«
»Sollen wir nicht erstmal …«
Milan ging einfach los. Er redete, ohne sich umzudrehen. »Doch sicher, das ist wichtig. Unbedingt. Du musst verstehen, warum ich das hier alles veranstalte. Ich habe gedacht, wenigstens du hältst mich nicht für verrückt. Wenigstens du.«
Tom blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Der Hauptweg zog sich in einem weiten Bogen durch Kloster, ein merkwürdig undefinierter Weg, uneben und ohne Begrenzungen. Er führte zwischen kleinen Läden und Cafés hindurch. Tom hätte sich gern irgendwo niedergelassen, aber Milan ging zielstrebig voran und umrundete ungeduldig flanierende Inselbesucher. Tom verglich ihn mit einem Hund, den man in einen Tunnel gesperrt hatte. Es gab nur einen Weg zum Licht. Der Hund lief los. Er konnte gar nicht anders. Wer ihm nicht folgte, musste im Dunkeln bleiben. »Für verrückt halte ich dich nicht«, sagte Tom säuerlich. »Ich denke nur, dass du dich getäuscht hast.«
Milan lachte. »Warte ab. Du wirst staunen, wenn wir da oben sind.« Er legte ein zügiges Tempo vor. Tom versuchte, neben ihm zu bleiben, und sah ihn von der Seite an. Seine Haare waren länger als früher, sie reichten bis zur Schulter, über der ein kleiner Lederrucksack hing. Die schwarze Mähne war von einzelnen grauen Strähnen durchsetzt. Sein Gesicht kam Tom schmal und blass vor, es hatte etwas Maskenhaftes. Sie bogen in den Hügelweg ein, es ging jetzt aufwärts, an einer Galerie vorbei und dann an der hinter Bäumen versteckten Lietzenburg, der alten Villa, die einst der Künstler Oskar Kruse hatte bauen lassen. Seine Tochter Käthe, die Erfinderin der berühmten Käthe-Kruse-Puppen, hatte hier ihre Sommer verbracht, zusammen mit ihren zahlreichen Kindern. Viele andere Persönlichkeiten vergangener Zeiten waren präsent, gerade in dieser Ecke der Insel. Gerhart Hauptmann, Albert Einstein und viele andere hatten ihre Füße auf diese Wege gesetzt. Es kam Tom unwirklich vor, dass Milan ausgerechnet hier eine Frau gesehen haben wollte, die schon lange nicht mehr lebte. Wenn das möglich war, konnten dann nicht plötzlich auch Asta Nielsen und Joachim Ringelnatz um die Ecke kommen?
Der Weg zur Steilküste war nicht viel mehr als ein Trampelpfad, der zwischen Buschwerk und Bäumen hindurchführte. Tom schwitzte und geriet außer Atem. Milan ging unbeirrt weiter und schien in seiner Mission gefangen zu sein. Bevor das Meer zu sehen war, konnte man es riechen und hören. An anderen Tagen schlugen die Wellen donnernd gegen die Insel, heute streichelte die Ostsee den Strand lediglich. Beinahe so, als hätte sie ein schlechtes Gewissen wegen der letzten Sturmtage.
Eine Abzweigung führte vom Hauptweg zu einem kleinen, von dichtem Gebüsch umschlossenen Platz, ein wunderbarer Aussichtspunkt, der einen Blick über die Ostsee erlaubte. Milan schob eine Brombeerranke zur Seite und tastete sich so weit wie möglich an die steil abfallende Böschung heran. Dann zeigte er hinunter. Tom sah den hellen Sandstreifen, sanft plätschernd rollten die Wellen auf den Strand. Hier und da spazierten Menschen am Ufer entlang.
»Hier hast du sie gesehen?«
»Sie kam von Norden her.«
Wie das klang: ‚Von Norden her’! Milans Stimme war rau. Er schien von dem Moment, als er die Frau erblickt hatte, noch ganz gefesselt zu sein.
»Das ist doch viel zu weit unten«, sagte Tom kühl. »Du kannst von hier oben keinen Menschen erkennen.«
Milan schob seine Sonnenbrille nach oben, sodass sie in seinem schwarzen Haar festhing. Zum ersten Mal konnte Tom seine Augen sehen. Noch immer war da dieser wilde Glanz, der ihn früher schon fasziniert hatte. Milan griff in seinen Rucksack und holte ein Fernglas heraus. »Hier, nimm. Probier es aus.«
Das Fernglas war schwer und an einigen Stellen zerkratzt. Aber es fühlte sich nach gehobener Qualität an. Tom richtete es auf den Sandstreifen und stellte es scharf. Ein älterer Mann rutschte in sein Blickfeld. Seine weißen Haare waren sorgfältig gekämmt, er trug eine Brille mit goldenem Rand und hatte einen Leberfleck auf der linken Wange. »Erstaunlich«, brummte er. »Man kann tatsächlich recht genau sehen, wer da geht.«
Milan nahm ihm das Fernglas aus der Hand und reichte ihm stattdessen sein Handy. »Ich hab auch Fotos gemacht.« Auf dem Display war eine Frau zu sehen, die den Strand entlang spazierte. Sie hatte rote Haare, trug eine blau-weiß gestreifte Bluse und eine dreiviertellange Hose aus beigem Stoff. Tom zog das Bild mit den Fingerspitzen weiter auf, um das Gesicht zu erkennen, aber es löste sich, je stärker er es vergrößerte, zu einer bunten Pixelsoße auf.
»Okay, das ist gar nichts.«
Milan riss das Fernglas hoch, er drückte es beinahe unter Toms Nase. »Hier. Durch das Ding hab ich sie gesehen. Du hast es ausprobiert. Ich bin mir sicher. Hundertprozentig.« »Wann war das?«
»Heute früh, etwa eine Stunde, bevor ich dich angerufen habe. Ich war hier für einen Morgenspaziergang. Wollte ja eigentlich heute abreisen. Und vorher nochmal rauf bis zur Hucke, um Uferschwalben zu beobachten. Es ist so ungeheuer schön, ihnen beim Fliegen zuzusehen. Aber dann … ich bin fast durchgedreht, als sie da den Strand entlang spazierte. Es ist unglaublich … wie kommt sie hierher, was macht sie hier?« In Milans Kopf schien die Zeit zurückzuspulen, bis zu dem Punkt, an dem er glaubte, Irina entdeckt zu haben. Seine Stimme bebte. »Ich konnte gar nicht aufhören, sie zu beobachten, ich wollte runterbrüllen, aber dann dachte ich, vielleicht bekommt sie Angst, weil sie nicht versteht, was los ist, und haut ab. Ich hab versucht, hier an Ort und Stelle runterzuklettern, aber keine Chance – zu steil, alles voller Dornengestrüpp. Heißt ja auch Dornbusch, oder?« Er lachte kurz auf. »Dann bin ich losgerannt. Ich dachte, wenn sie von Norden her den Strand entlangläuft, dann muss sie in Kloster am Heimatmuseum rauskommen. Wenn ich schnell gehe oder laufe, dann kann ich sie da abpassen. Das war der Plan. Bin also runter in den Ort, auf dem Hauptweg nach rechts gelaufen, bis zum letzten Strandübergang, bevor das Steilufer losgeht. Da habe ich gewartet. Es kamen ein paar Leute vorbei, aber sie war nicht dabei. Ich bin ihr dann entgegengegangen, also, dachte ich, dass sie da ja noch langkommen muss, aber nach zwei- oder dreihundert Metern habe ich entdeckt, dass es noch eine Treppe nach oben gibt. Die hatte ich vorher gar nicht gesehen. So was Idiotisches. Sie muss da hochgegangen sein, während ich ganz nah am oberen Ende dieser Treppe vorbeigelaufen bin. In der Zeit, in der ich dann unten am Heimatmuseum gewartet habe, ist sie natürlich längst weg und über alle Berge. Ist doch vollkommen idiotisch. Ich könnte durchdrehen!« Tom war erschöpft. Je länger Milan ihn mit seinen fantastischen Geschichten zutextete, umso leerer fühlte er sich. Das musste dringend aufhören. Er ließ sich auf einem mit Gras bewachsenen Absatz nieder. »Was hast du dann gemacht?«
»Dann habe ich dich angerufen. Du bist der Einzige, der mir helfen kann.«
»Setz dich mal.«
»Du willst, dass ich mich setze?«
»Ja, wir sollten mal in Ruhe nachdenken.«
»Ich will aber nicht in Ruhe nachdenken. Ich will was unternehmen.«
»Setz dich. Bitte.«
Tom wartete. Milan hatte seine Sonnenbrille wieder vor die Augen geschoben. Er kniff die Lippen zusammen, machte eine abschätzige Kopfbewegung und ließ sich widerwillig neben Tom nieder.
»Du weißt, dass Irinas Leiche zwei Jahre nach ihrem Verschwinden gefunden wurde. Hier auf Hiddensee.«
Milan hob den Zeigefinger. »War klar, dass du so anfängst. Du willst die ganze Sache abwürgen. Du nimmst die Version der Geschichte, an die alle glauben, weil du denkst, sie kann nicht falsch sein. Aber vielleicht ist sie doch falsch.«
»Du bezweifelst die Ermittlungsergebnisse der Polizei? Es wurde eine Leiche gefunden. Darüber gibt es viele Berichte. Es gibt auch ein rechtsmedizinisches Gutachten. Irina ist tot. Sie hatte ein Loch im Schädel.«
Milan verschränkte die Arme und sah finster vor sich hin. »Du musst nicht denken, dass ich das alles damals nicht mitbekommen hätte. Ich habe es gelesen, ich habe Nachrichten gehört. Ein Ermittler hat sich sogar persönlich bei mir gemeldet, um mir das mitzuteilen. Ich habe ’ne Vorladung von der Staatsanwaltschaft bekommen und eine Aussage gemacht. Das alles hat mich beinahe zerstört. Ich habe weitergelebt, aber ich war innerlich tot. Für Jahre. Ich habe Geschichten geschrieben, zwei, drei Romane, alle nicht sehr erfolgreich. Irgendwann habe ich angefangen, für das Theater zu arbeiten. Entwickle Figuren, die ich auf die Bühne schicke, damit sie sich dort ineinander verhaken, sich bekriegen, sich zusammenraufen, sich lieben. Sie werden zu lebenden, leidenden und lachenden Menschen – das ist das Größte, was es gibt. Kannst du dir das vorstellen?«
Tom hatte ausnahmsweise keine Einwände.
»Und weißt du was: In all meinen Theaterstücken kommt etwas von Irina vor. Niemals die ganze Irina, nur immer ein Aspekt. Ihre Art, von einem Buch zu schwärmen, das sie nur zur Hälfte verstanden hat. Ihr Lächeln, wenn man ihr ein Kompliment macht. Ihre Bewegungen, wenn sie aufsteht und wortlos weggeht. Ihr Akzent, wenn sie zu einem anderen Menschen ‚Du bist ein Schlawiner‘ sagt oder ‚Was für ein Schlingel!‘ Und wenn sie dabei lacht. Die Art, wie sie einen Apfel betrachtet, bevor sie hineinbeißt. Ihr kurzes, verächtliches Kopfschütteln, wenn sie etwas nicht akzeptieren kann. Die Geste, mit der sie ihre Haare hinter das Ohr schiebt. Wie sie mit den Fingern den Weg zu einem bestimmten Ort auf eine Tischplatte zeichnet. Der Blick, seitlich von unten, der dich trifft, wenn du dich traust, ihr etwas Persönliches zu sagen. Die Art und Weise, wie sie über ihren Vater schweigt, wenn du so vermessen bist, sie danach zu fragen. Der Hauch von Angst, der über diesem ganzen Thema liegt.«
Er schien in der Welt von damals regelrecht zu versinken. Tom räusperte sich. »So etwas kannst du in ein Theaterstück hineinschreiben?«
Milan lachte in sich hinein. »Natürlich nicht so direkt. Aber ich sehe es. In jedem Theaterstück finde ich etwas von Irina wieder, von ihrem Wunsch zu leben und den Ängsten, die diesem Wunsch entgegenstanden. Von ihrem inneren Kampf. Sie hat ihren Vater geliebt, aber sie hasste seinen Kontrollzwang. Sie wollte frei sein, aber in ihrem Inneren hatte sich schon dieser Geist der Angst eingenistet. Ich schreibe eigentlich nur weiter, um irgendetwas von Irina bei einer Premiere wiederzuentdecken. Dann bin ich glücklich.«
Sie schwiegen. Tom sog die Luft tief ein. Hier oben war sie besser als unten am Hafen. Sie trug etwas von der Weite des Meeres in sich und vom Salz, das darin gelöst war. Plötzlich spürte er einen heftigen Schlag gegen seine Schulter. »Pass auf«, sagte Milan und beugte sich zu ihm rüber. »Wir machen es so: Wir tun einfach so, als wäre das, was ich gesehen habe, Realität. Du glaubst das nicht. Aber ich bin mir sicher, dass Irina heute Morgen über diesen Strand gelaufen ist. Und ich bitte dich: Lass dich auf das Experiment ein. Vergiss, was die Polizei und sonstige schlaue Leute damals rausgefunden haben. Betrachte die Geschichte vom anderen Ende her: Irina ist hier. Sie ist jetzt auf dieser Insel. So wie wir auch. Es ist Realität. Du bist doch Privatermittler. Lass uns die notwendigen Fragen stellen. Was tut sie hier? Warum ist sie nach Hiddensee gekommen? Wo treibt sie sich sonst rum? Wie lebt sie? Ist sie mit jemandem zusammen? Hat sie Kinder? Was ist damals wirklich passiert? Lass uns all diese Fragen stellen. Wir sind dabei auch nicht allein. Während du auf dem Weg nach Hiddensee warst, habe ich einiges auf meinem Facebook-Account geschrieben.«
Tom starrte Milan an. »Du hast was?!«
»Mach dir keinen Stress, Junge! Dich habe ich mit keinem Wort erwähnt.«
»Ich will auch nicht, dass du das tust, Milan. Das ist mir wichtig. Wie du richtig erwähnt hast, arbeite ich als Privatermittler. Ich brauche Diskretion und ich habe bei denen, die mich kennen, einen Ruf zu verlieren.«
Milan sah ihn erstaunt an. »Na sowas. Ganz schön eitel geworden, der Tom. Aber immerhin wachst du endlich mal auf. Gut, du möchtest nicht mit einem Irren in einen Topf geworfen werden. Ich respektiere das. Du kannst auch gern lesen, was ich geschrieben habe. Es ist ganz harmlos. Hier!« Er tippte auf seinem Handy herum und reichte Tom das Gerät. Das Display zeigte den Facebook-Eintrag, den er unter dem Usernamen MilanDerTitan geschrieben hatte:
+++ AUFRUF!!! Vor zwanzig Jahren verschwand auf Hiddensee die Abiturientin Irina K. aus Weimar. Zwei Jahre später wurde sie tot aufgefunden. Ich will diesem Fall aus persönlichen Gründen noch einmal nachgehen, weil ich einige offene Fragen sehe. Deshalb bitte ich Leute, die dazu etwas beitragen können, sich bei mir zu melden. Denkt daran, dass jedes Detail wichtig sein könnte. Seit Dienstag bin ich auf Hiddensee und werde jetzt noch ein paar Tage hierbleiben. Ich danke euch! Euer Milan +++
»Das habe ich auch gleich in sämtliche Hiddensee-Foren reinkopiert«, sagte Milan stolz. »Die Leute hier wissen jetzt Bescheid. Und vielleicht gibt es jemanden, der schon seit Jahren etwas weiß, es aber nie gesagt hat, weil er denkt, die Behörden würden das sowieso nicht glauben.«
Tom schüttelte sich. Er fühlte sich wie bei einer Fahrt mit dem Karussell. Die Welt rauscht an einem vorbei, jeder Versuch, eine Sache oder einen Menschen genauer in den Blick zu nehmen, muss scheitern. Er hätte gegen jeden zweiten Satz, den Milan von sich gab, protestieren müssen, aber es kamen immer neue Sätze, immer neue Verirrungen, sodass er gar nicht mehr wusste, wo er anfangen sollte.
Unvermittelt wechselte Milan das Thema. »Hey, ich habe übrigens seit heute Morgen kein Zimmer mehr. Eigentlich wollte ich ja abreisen. Hatte mein Gepäck schon am Hafen deponiert. Dann habe ich Irina gesehen. Als du auf dem Weg hierher warst, habe ich beim Hiddensee-Service angerufen. Und die wollten sich dahinterklemmen, obwohl es jetzt gerade schwierig ist. In der Hauptsaison ist auf dieser Insel jedes verdammte Gästezimmer belegt. Aber irgendwo werden wir unterkommen.«
»Wir?«
»Natürlich wir!«
»Hör zu, ich hatte nicht vor …«
Milan hob die Hand mit dem Telefon, um Tom zum Schweigen zu bringen. »Warte, ich rufe da nochmal an.« Er wählte eine Nummer und blickte, mit dem Gerät am Ohr, raus aufs Meer, als würde dort irgendeine Wahrheit erscheinen. »Ja, hier ist Milan Mikitsch. Ich hatte heute Morgen schon mal … ja, wirklich? Das ist ja fantastisch. … Ach, Mensch, bin ich froh. Das hilft mir weiter. Ja, wirklich nett. Schicken Sie mir die Adresse per SMS.«