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"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.
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Seitenzahl: 47
Siegfried Lenz
Leute von Hamburg
Erzählung
Hoffmann und Campe Verlag
Schwer ist es, in Hamburg einen Hamburger zu ertappen. Auf eiliger, auf oberflächlicher Suche trifft man nur Krebse, Pinneberger, Bergedorfer, man begegnet den genügsamen Bücklingen einer strebsamen Gesellschaft, Makrelen aus Stade, Ewerschollen aus Finkenwerder, Heringe aus Cuxhaven schwimmen in erwartungsvollen Schwärmen durch die Straßen meiner Stadt, Hummer bewachen mit geöffneten Scheren die Börse; Knurrhähne begeben sich zu einer Konferenz ins Rathaus, man begegnet dem Seelachs und dem Dornhai und verfolgt volkreiche Wanderungen von Dorschen, die zum Hafen hinabziehen. Der erste, sozusagen unbewaffnete Blick findet immer wieder den Meeresgrund, er fällt in Aquariumsdämmerung; das hat schon Heinrich Heine erfahren müssen, als er mit gebildetem Spott und talentierter Melancholie die Leute von Hamburg suchte. Da bot sich unwillkürlich ein maritimer Vergleich an: Hamburg auf dem Grund der See, und durch es hintreibend, es bewohnend und beherrschend, zeigte sich mannigfaltiges Seegetier. Doch der unterseeische Vergleich schränkt zu sehr ein, er läßt zuwenig offen.
Um die Leute von Hamburg zu ertappen, um sich von ihnen begeistern oder befremden zu lassen, muß man sie anders suchen, mit bewaffnetem Auge, mit einem erheblichen Vorrat an leeren Stunden. Da nimmt man am besten ein Rumglas, ein geschliffenes, altmodisches, langstieliges Rumglas, man verschafft sich einen Fensterplatz in einer Kneipe – falls die Sonne mal irrtümlich scheinen sollte, kann man ja auch auf die Veranda hinausziehen –, und nach geduldiger Vorbereitung kann die Suche beginnen: man hebt das Glas gegen die Vorübergehenden, nimmt sie auf wie mit einer mitteilsamen Linse, bannt und sammelt sie. Gleich merkt man: Hamburger sind Leute, die sich selbst für Hamburger halten. Isoliert, durch den Schliff des Rumglases gebrochen, unterhaltsam verzerrt und auf mittlere Distanz gebracht, sind die Vorübergehenden auf einmal zu Geständnissen über sich selbst bereit. Gebrochen durch dein Rumglas, geben die Hamburger Aufschluß über sich selbst. Unbestaunt, solange sie sich dem bloßen Auge bieten, geben die Leute von Hamburg zum Staunen Anlaß, wenn sie in die eigensinnige Linse eines Rumglases hineingeraten.
Heben wir ruhig mal das Glas. Lassen wir zum Beispiel ein Mädchen ins Glas geraten. Ein Mädchen in Rock und Bluse. Sie ist langbeinig – alle Hamburgerinnen sind langbeiniger, als es die Kritiker in London und Paris wahrhaben wollen. Dem Mädchen ist schon anzusehen, daß sie in allen drei Sprachen, die sie beherrscht, besonderen Wert auf den rechtzeitigen Gebrauch des Wörtchens »Nein« legt. Als tadellose Hanseatin wurde sie während der Überfahrt von London nach Hamburg geboren, das Englische brauchte sie nicht zu lernen, nur Spanisch und Französisch, und mit Hilfe der drei Sprachen sorgt sie für eine Belebung des Imports von Fetten und Häuten. Ihr Vater läßt zwei Rotwein-Spezialtanker zwischen Bordeaux und Hamburg verkehren, er ist liebenswürdig gegen jedermann, solange die Überweisungen pünktlich erfolgen, und auch das Mädchen ist liebenswürdig gegen jedermann, der an der Haustür bereitwillig umkehrt. Seit zwei Jahren trägt sie eine Bandage am rechten Handgelenk: das Glas meint, die Bandage sei nötig wegen einer Sehnenentzündung, die beim Tennisspiel aufgetreten ist. Ihre Haut kann lächeln; ihre Augen und ihre Mundwinkel können es auch, tun es aber nicht unbedingt. Sie schätzt es keineswegs, wenn Jungen sie im Büro anrufen; wer sich nicht unmittelbar auf Fette und Häute bezieht – zumindest auf deren Import –, wird sachlich aufgefordert, sich kurz zu fassen. Verkante das Rumglas ein wenig, und du siehst: am Abend wird die freundliche Hamburger Fremdsprachenkorrespondentin über ihrem kleinen Hintern enge Blue jeans tragen, wird ihr Lieblingsgetränk Coca-Cola trinken, und in ihrem kühlen, sparsam möblierten Mädchenzimmer wird sie »Die Tarnowska« lesen und sich mit Frank Sinatra fremd in der Nacht vorkommen. Tanzen? Sicher, gelegentlich auch tanzen, und sie tut es, wie’s verlangt wird: sie tanzt würdevoll, sie tanzt gelangweilt, sie tanzt heiß und feierlich, doch wie vollkommen sie auch dem Partner im Tanz antwortet, hinterher darf sich niemand auf ein Ja berufen. Es ist ihr Stolz, weder Passionen zu haben noch Passionen zeigen zu müssen. Ihre nördliche Kühle hat nichts zu verbergen. Ihre blonde Nüchternheit verrät einen erstaunlichen Sinn für Selbstgenügsamkeit. Sollte sie sich eines Tages aus ökonomischen Gründen zu einem Kußabtausch bereit finden, wird sie hinterher die doppelte Menge Mundwasser gebrauchen und eine Familienflasche Coca-Cola trinken. Das Rumglas bescheinigt ihr Fügsamkeit – wenn auch nicht so viel, daß sie bereit wäre, einen eingerollten Regenschirm zu heiraten. Ohne Zweifel will sie ihr Firmenbüro pünktlich erreichen, also halt dich nicht auf, versuch nichts, laß das beredsame Glas abermals füllen mit purem Jamaika, und du fühlst dich geschärft, fühlst dich womöglich als Scharfschütze gegenüber hamburgischer Wirklichkeit, so, auf unverdächtigem Anstand, die Gesellschaft durch dein Glas anvisierend, sie erkennend, und erkennen kann manchmal heißen: zur Strecke bringen. Und wenn du daran nicht glaubst, dann mach dir einfach vor, daß du auf der Suche nach den Leuten von Hamburg bist, fang sie in deinem Glas und träum sie dir listig zurecht.