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Max Barry

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Beschreibung

Worte sind Waffen

Wil Parke ist ein einfacher Zimmermann. Oder zumindest glaubt er das. Bis er auf einer Flughafentoilette in Portland von zwei Männern angegriffen wird. Sie behaupten, er sei der Schlüssel in einem geheimen Krieg, ein »Ausreißer«, immun gegen die Kraft der Worte. Sie zwingen ihn mitzukommen in die Geisterstadt Broken Hill, deren gesamte Bevölkerung bei einem Chemieunfall vor zwei Jahren ausgelöscht wurde. Dort soll ein mächtiges Artefakt verborgen liegen, das den Krieg ein für alle Mal beenden könnte. Doch der Feind ist ihnen bereits auf den Fersen ...

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Das Buch

Wil Parke ist ein einfacher Zimmermann. Zumindest glaubt er das. Bis er auf einer Flughafentoilette in Portland von zwei Männern angegriffen wird. Sie behaupten, er sei der Schlüssel in einem geheimen Krieg, ein »Ausreißer«, als Einziger immun gegen die Kraft der Worte. Sie zwingen ihn, in die Geisterstadt Broken Hill mitzukommen, deren gesamte Bevölkerung bei einem Chemieunfall vor zwei Jahren ausgelöscht wurde. Dort soll ein mächtiges Artefakt verborgen liegen, das den Krieg ein für alle Mal beenden könnte. Doch der Feind ist ihnen bereits auf den Fersen …

Der Autor

Max Barry, geboren am 18. März 1973, lebt in Melbourne, Australien. Seine besten Jahre verbrachte er bei Hewlett-Packard, bevor er seine Festanstellung gegen die Produktion von Romanen eintauschte.

www.maxbarry.com

Lieferbare Titel

Sirup

Maschinenmann

MAX BARRY

Roman

Aus dem Englischen vonFriedrich Mader

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe

LEXICON

erschien 2013 bei Penguin Press, New York

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das kompletteHardcore-Programm, den monatlichen Newslettersowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazinmit Themen rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter facebook.com/heyne.hardcore

Copyright © 2013 by Max Barry

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München,

unter Verwendung eines Designs von © Will Staehle

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-12292-8V002

www.heyne-hardcore.de

Für Jen, wieder einmal

Jede geschriebene Geschichte

besteht aus Zeichen auf einer Seite,

die ständig wiederholt,

nur immer wieder anders

angeordnet werden.

[ I ]

Dichter

Als nun Ra geschaffen wurde, der größte der Götter, gab ihm sein Vater einen geheimen Namen; dieser aber war so schrecklich, dass kein Mensch danach zu forschen wagte, und so erfüllt von Macht, dass alle anderen Götter darauf brannten, ihn ebenfalls zu kennen und zu besitzen.

– F. H. Brooksbank, The Story of Ra and Isis

[ 1 ]

»Er kommt zu sich.«

»Das sieht bloß so aus.«

Die Welt war verschwommen. Im rechten Auge spürte er ein Stechen. Er machte Urk.

»Scheiße!«

»Hol den …«

»Zu spät, vergiss es. Zieh sie raus.«

»Es ist nicht zu spät. Halt ihn fest.«

In sein Gesichtsfeld schob sich eine Gestalt. Er roch Alkohol und schalen Urin.

»Wil, kannst du mich hören?«

Er fasste nach oben, um den stechenden Gegenstand wegzuwischen.

»Vorsicht, er …« Finger schlossen sich um sein Handgelenk. »Wil, du darfst dein Gesicht nicht berühren, das ist wichtig.«

»Warum ist er bei Bewusstsein?«

»Keine Ahnung.«

»Du hast Mist gebaut.«

»Nein, hab ich nicht. Gib her.«

Rascheln. Er sagte: Hnn. Hnnn.

»Halt still.« Atem hauchte an sein Ohr, heiß und intim. »In deinem Augapfel steckt eine Nadel. Nicht bewegen.«

Er bewegte sich nicht. Von irgendwoher kam ein Piepen, elektrisch.

»Ah, Scheiße, Scheiße.«

»Was ist?«

»Sie sind da.«

»So schnell?«

»Zwei, steht da. Wir müssen los.«

»Ich bin schon drin.«

»Wenn er bei Bewusstsein ist, kannst du es nicht machen. Sonst röstest du ihm das Gehirn.«

»Unsinn.«

Er sagte: »Babitte barengt micha necht um.«

Klammern lösten sich. »Ich mach es.«

»Solange er wach ist, geht es nicht, und wir haben keine Zeit mehr. Außerdem ist er wahrscheinlich sowieso nicht der Richtige.«

»Wenn du nicht hilfst, geh mir aus dem Weg.«

Wil sagte: »Ich … muss … niesen.«

»Niesen wäre zum jetzigen Zeitpunkt ziemlich ungünstig, Wil.«

Ein Gewicht senkte sich auf seine Brust. Um ihn wurde es dunkel. Sein Augapfel bewegte sich schwach.

»Das könnte jetzt wehtun.«

Ein Knips. Leises elektrisches Greinen. Dann bohrte sich ein Nagel in sein Gehirn. Er schrie.

»Du grillst ihn!«

»Alles in Ordnung, Wil. Alles in Ordnung.«

»Er … oh, jetzt blutet er aus dem Auge.«

»Wil, du musst mir ein paar Fragen beantworten. Es ist wichtig, dass du die Wahrheit sagst. Verstanden?«

Nein nein nein –

»Erste Frage: Bist du eher ein Hundefreund oder ein Katzenfreund?«

Was –

»Komm schon, Wil. Hund oder Katze?«

»Das kann ich nicht lesen. Deswegen machen wir das nicht, wenn sie bei Bewusstsein sind.«

»Na los. Wenn du die Fragen beantwortest, hört der Schmerz auf.«

Hund! Er brüllte. Hund bitte Hund!

»Heißt das Hund?«

»Ja, er hat versucht Hund zu sagen.«

»Gut, sehr gut. Eine hätten wir. Was ist deine Lieblingsfarbe?«

Klingeln. »Scheiße! Gottverdammte Scheiße!«

»Was ist?«

»Wolf ist da!«

»Das kann nicht sein.«

»Da steht es schwarz auf weiß!«

»Zeig her.«

Blau!, plärrte er in die Stille.

»Siehst du, er reagiert.«

»Na und, wen interessiert das? Wir müssen abhauen. Wir müssen abhauen.«

»Wil, denk dir eine Zahl zwischen eins und hundert.«

»O Gott.«

»Irgendeine Zahl, die dir gefällt. Mach schon.«

Ich weiß nicht –

»Konzentrier dich, Wil.«

»Wolf rückt an, und du murkst hier mit einem Wachtest an dem falschen Typen rum. Merkst du denn nicht, was du da machst?«

Vier ich nehm vier –

»Vier.«

»Hab’s gesehen.«

»Sehr gut, Wil. Nur noch zwei Fragen. Liebst du deine Familie?«

Ja nein was soll das für eine –

»Das schlägt nach allen Richtungen aus.«

Ich hab keine wahrscheinlich schon ich meine jeder Mensch liebt –

»Warte, warte. Okay, ich seh’s. Mann, das ist vielleicht schräg.«

»Letzte Frage. Warum hast du es getan?«

Was – ich hab nichts –

»Einfache Frage, Wil. Warum hast du es getan?«

Was getan was was was –

»An der Grenze. Das heißt, an der Grenze zu ungefähr acht verschiedenen Segmenten.«

Ich weiß nicht was ihr meint ich hab nichts getan das schwör ich ich habe keinem Menschen was getan nie nur einmal kannte ich eine Frau –

»Na also.«

»Ja. Ja, okay.«

Eine Hand legte sich über seinen Mund. Das Stechen in seinem Auge wurde stärker, als ob jemand daran saugen würde. Sie wollten ihm den Augapfel rausreißen! Nein, es war die Nadel, die entfernt wurde. Vielleicht schrie er auf. Dann war der Schmerz weg. Hände zerrten ihn hoch. Er konnte nichts sehen und weinte um sein armes geschundenes Auge. Doch es war noch da. Es war noch da.

Wie durch einen Nebel bemerkte er verschwommene Gestalten. »Was?«

»Koarg Medipol nachtern komense«, sagte die größere Gestalt. »Hüpf auf einem Fuß.«

Wil schielte verwirrt.

»Hmm«, machte die kleinere Gestalt. »Vielleicht ist er es doch.«

Sie ließen Wasser in ein Becken laufen und drückten sein Gesicht hinein. Japsend tauchte er wieder auf. »Mach seine Kleider nicht nass«, sagte der Größere.

Er befand sich auf einer Toilette. In einem Flughafen. Um 15.05 Uhr war er mit der Maschine aus Chicago angekommen, und neben ihm auf dem Gangplatz hatte ein massiger Mann in einem Hawaiihemd gesessen, den Wil nicht wecken wollte. Zuerst hatte es ausgesehen, als wäre die Toilette zum Reinigen geschlossen, doch dann wurde das Schild weggenommen, und Wil trabte dankbar hinüber. Am Urinal angelangt, öffnete er den Hosenschlitz und genoss die Erleichterung.

Kurz darauf ging die Tür, und ein hochgewachsener Mann in beigefarbenem Mantel trat ein. Obwohl Wil am hinteren Ende einer Reihe freier Urinale stand, entschied sich der Mann für das direkt neben ihm. Mehrere Sekunden verstrichen, und der Unbekannte pinkelte noch immer nicht. Wil, dessen Blase sich druckvoll entleerte, empfand einen Anflug von Mitleid. Das hatte er auch schon erlebt. Dann öffnete sich die Tür erneut. Ein zweiter Mann trat ein und verriegelte sie.

Wil verstaute wieder alles ordnungsgemäß in der Hose. Er sah seinen Nachbarn an und dachte etwas im Nachhinein ziemlich Komisches: Wenn es auch verdammt seltsam war, dass jemand in eine öffentliche Toilette marschierte und von innen abschloss, zumindest konnten Wil und der Große neben ihm einer möglichen Gefahr gemeinsam ins Auge blicken. Immerhin waren sie zwei gegen einen. Doch dann fielen ihm die ruhigen, tiefen und irgendwie sogar schönen Augen des Typen mit der schüchternen Blase auf. Es lag nicht mal ein Hauch von Überraschung darin. Im nächsten Moment packte ihn der Kerl am Kopf und wuchtete ihn gegen die Wand.

Danach der Schmerz und die Fragen.

»Das Blut muss aus seinen Haaren raus.« Der Kleine machte sich mit einem Papierhandtuch über Wils Gesicht her. »Die Augen sehen furchtbar aus.«

»Wenn sie so nah rankommen, dass sie seine Augen erkennen können, haben wir sowieso Probleme.« Der Große wischte sich mit einem kleinen weißen Tuch sorgfältig jeden Finger einzeln ab. Er war schlank und dunkelhäutig. Wil fand seine Augen auf einmal nicht mehr ganz so schön, eher schon kalt und seelenlos. Als könnten sie ihren Blick auf schrecklichen Dingen ruhen lassen, ohne zu blinzeln. »Also, Wil, bist du wieder auf dem Damm? Kannst du gehen und sprechen?«

»Leck mäff.« Die Worte kamen nicht ganz so heraus wie beabsichtigt. Um ihn drehte sich alles.

»Gut«, erwiderte der Große. »Kurz zur Erklärung. Wir müssen aus dem Flughafen raus, so schnell und so unauffällig wie möglich. Dazu brauche ich deine Kooperation. Wenn ich sie nicht kriege, mach ich dir Feuer unterm Arsch. Nicht, weil ich was gegen dich persönlich hätte. Ich will dich nur motivieren. Kapiert?«

»Ich bin nicht …« Er suchte nach dem richtigen Ausdruck. Reich? Entführenswert? »Ich bin niemand Besonderes. Ein Zimmermann. Ich baue Terrassen. Balkone. Pavillons.«

»Ja, deshalb sind wir da – wegen deiner unnachahmlichen Drechselkunst. Spar dir die Mühe. Wir wissen, wer du bist. Und sie wissen es auch; sie sind hier, also sollten wir endlich abhauen, solange wir noch können.«

Er nahm sich einen Moment Zeit, um über die Antwort nachzudenken, denn ihn beschlich das Gefühl, dass er nur noch einen Versuch hatte. »Ich heiße Wil Parke. Ich bin Zimmermann. Ich habe eine Freundin, die draußen wartet, um mich abzuholen. Ich weiß nicht, für wen ihr mich haltet und warum ihr mir dieses … dieses Ding ins Auge gesteckt habt, aber ich bin ein Niemand. Ich schwöre, ich bin ein Niemand.«

Der Kleine schlang sich eine vollgestopfte braune Tasche über die Schulter und schaute Wil ins Gesicht. Er hatte schütteres Haar und besorgte Augenbrauen. Unter gewöhnlichen Umständen hätte Wil ihn vielleicht für einen Buchhalter gehalten.

»Ich mach euch einen Vorschlag«, sagte Wil. »Ich setz mich in eine Kabine und schließ die Tür. Zwanzig Minuten. Ich warte zwanzig Minuten. Das ist, als wären wir uns nie begegnet.«

Der Kleine warf dem anderen einen Blick zu.

»Ich bin nicht der, den ihr sucht«, beharrte Wil. »Ich bin es nicht.«

»Das Problem an deinem schönen Plan ist«, erwiderte der Große, »dass du in zwanzig Minuten tot bist, wenn du hierbleibst. Wenn du zu deiner Freundin gehst – der du nicht mehr vertrauen kannst, so leid mir das auch tut –, bist du ebenfalls tot. Wenn du irgendwas anderes machst, als jetzt schnell und ohne Mätzchen mitzukommen: bedauerlicherweise tot. Es sieht vielleicht nicht danach aus, aber wir sind die Einzigen, die dir das Leben retten können.« Forschend blickte er Wil in die Augen. »Allerdings merke ich, dass du das alles nicht besonders überzeugend findest, deshalb greife ich jetzt auf eine direktere Methode zurück.« Er hielt seinen Mantel auf. In einem Schenkelhalfter steckte mit der Mündung nach unten eine kurze, breite Schrotflinte. Das konnte nicht sein, sie befanden sich doch auf einem Flughafen. »Komm mit, oder ich schieß dir deine verdammten Nieren raus.«

»Okay.« Wil nickte hastig. »Alles klar. Ich kooperiere.« Wichtig war erst mal, dass er nicht mehr in dieser Toilette festsaß. Am Flughafen wimmelte es von Sicherheitspersonal. Sobald er draußen war, genügte ein Stoß, ein lauter Schrei, ein kurzer Sprint, und er würde ihnen entkommen.

»Nein«, sagte der Kleine.

»Nein«, bestätigte der Große. »Du hast recht. Spritz ihm was zur Beruhigung.«

Eine Tür öffnete sich. Auf der anderen Seite wartete eine Welt verkümmerter Farben und gedämpfter Geräusche, als hätte man Wil Ohren und Augen verstopft. Vielleicht sogar das Gehirn. Er schüttelte den Kopf, um zur Besinnung zu kommen, doch davon wurde die Welt dunkel und zornig und legte sich quer. Sie mochte es nicht, wenn sie geschüttelt wurde, das begriff er jetzt. Er durfte sie auf keinen Fall schütteln. Er spürte, wie seine Füße unter ihm auf leisen Rollerskates davonglitten, und wollte sich an einer Wand abstützen. Aber die Wand fluchte und grub ihre Finger in seinen Arm. Wahrscheinlich war sie gar keine Wand, sondern ein Mensch.

»Du hast ihm zu viel gegeben«, sagte der Mensch.

»Sicher ist sicher«, antwortete der andere.

Das waren böse Menschen, jetzt fiel es Wil wieder ein. Sie hatten ihn entführt. Das machte ihn wütend, allerdings eher theoretisch, sozusagen aus Prinzip. Er versuchte, auf seinen Rollerskatefüßen weiterzutorkeln.

»Meine Güte«, knurrte der Große mit den ruhigen Augen. Wil mochte diesen Mann nicht. Warum, hatte er vergessen. Ach so, wegen der Entführung.

»Geh.«

Widerstrebend folgte er der Aufforderung. In seinem Gehirn waren wichtige Fakten verstaut, die er jedoch nicht finden konnte. Alles war in Bewegung. Ein Strom von Flughafenbesuchern machte einen Bogen um ihn. Alle irgendwohin unterwegs. Auch Wil war unterwegs gewesen. Mit jemandem verabredet. Links von ihm zwitscherte ein Vogel. Oder ein Telefon.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte der Kleine auf ein Display. »Rain.«

»Wo?«

»In der Ankunftshalle für Inlandsflüge. Gleich vorn.«

»Kennen wir Rain?«

»Ja. Eine Frau. Neu.«

»Mist«, sagte der Kleine. »Ich schieß nicht gern auf Frauen.«

»Man gewöhnt sich dran«, antwortete der Große.

Zwei junge Leute schlenderten vorbei, Hand in Hand. Ein Liebespaar. Das Konzept kam ihm bekannt vor.

»Da lang.« Der Große lenkte Wil in einen Buchladen.

Wil landete vor einem Regal mit der Aufschrift NEUERSCHEINUNGEN. Seine Füße rutschten ständig weg, und als er die Hand ausstreckte, um sich festzuhalten, spürte er einen scharfen Schmerz.

»Problem?«

»Wahrscheinlich nichts«, murmelte der Große, »oder Rain, die gerade in einem blauen Sommerkleid hinter uns vorbeigeht.«

Auf schimmernden Buchdeckeln wischte ein Schemen vorbei. Wil versuchte herauszufinden, was ihn gestochen hatte. Da, ein abstehendes Stück Draht am Schild NEUERSCHEINUNGEN. Das Interessante war, dass sich durch den Stich der Nebel in seinem Kopf ein wenig gelichtet hatte.

»Bei den Neuerscheinungen ist immer am meisten los, in jedem Laden«, bemerkte der Große. »Das lockt die Leute an. Nicht das Beste. Das Neue. Warum ist das wohl so, Wil, was meinst du?«

Wil pikste sich an dem Draht. Zu vorsichtig, er spürte es kaum. Also probierte er es wieder, fester diesmal. Wie eine Klinge fegte der Schmerz durch sein Gehirn. Auf einmal erinnerte er sich an die Nadel und die Fragen. Seine Freundin Cecilia wartete draußen in einem weißen Geländewagen. Auf einem Zwei-Minuten-Parkplatz, das hatten sie genau besprochen. Und diese beiden Typen waren daran schuld, dass er Verspätung hatte.

»Ich glaube, die Luft ist rein«, sagte der Kleine.

»Schau nach.« Nachdem der Kleine abgezogen war, wandte sich der Große an Wil. »Also schön, Wil. Gleich durchqueren wir die Halle und laufen eine Treppe runter. Wir müssen an ein paar Passagierflugzeugen vorbei, dann gehen wir an Bord einer netten, komfortablen Maschine mit zwölf Plätzen. Dort gibt es was zu essen. Und zu trinken, falls du Durst hast.« Der Große warf ihm einen Blick zu. »Hörst du mir zu?«

Wil packte den Mann am Gesicht. Für den nächsten Schritt hatte er keinen Plan, also klammerte er sich einfach am Kopf des Typen fest und drückte ihn nach hinten, bis er über ein Kartondisplay stolperte. In einem Gewirr aus beigefarbenem Mantelstoff und verstreuten Büchern stürzten sie hin. Lauf, dachte Wil. Ja, das war eine glänzende Idee. Wankend kam er auf die Füße und rannte zum Ausgang. In der Fensterscheibe sah er einen Mann mit wildem Blick und erkannte sich selbst. Von hinten hörte er Schreie und alarmierte Stimmen, vielleicht der Große mit seiner Schrotflinte, der sich hochrappelte, richtig, eine Schrotflinte – man hätte meinen sollen, dass einem so etwas nicht so leicht entfallen konnte.

Wil taumelte hinaus in ein Meer heller, erschreckter Gesichter mit offenen Mündern. Er hatte Mühe, sich daran zu erinnern, was er gerade tat. Noch immer drohten seine Beine, ihn im Stich zu lassen, doch der Schwung half ihm, einen klaren Kopf zu kriegen. Er bemerkte eine Rolltreppe und stürzte darauf los. Sein Rücken vibrierte förmlich in der Erwartung, von einem Schuss getroffen zu werden. Er war dankbar, dass die Flughafenbesucher so geschickt waren und sich praktisch zur Seite warfen, um ihm auszuweichen. An der Rolltreppe angelangt, fuhren seine Rollerskatefüße einfach weiter, und er fiel flach auf den Rücken. Über ihm zog langsam die Decke vorbei. Die Platten dort oben waren schmutzig, geradezu abstoßend.

Als er sich aufsetzte, fiel ihm Cecilia ein. Und die Schrotflinte. Das brachte ihn auf etwas anderes. Wo blieb der Sicherheitsdienst? Schließlich war das hier ein Flughafen, ein Flughafen. In der Absicht, sich hochzuziehen, um nach Wachleuten Ausschau zu halten, umklammerte er den Handlauf der Rolltreppe, doch seine Knie ruckten in entgegengesetzte Richtungen, und er stürzte die restlichen Stufen hinunter. Von fernen Orten telegrafierten Körperteile Beschwerden an sein Gehirn. Er kämpfte sich hoch. Schweiß lief ihm in die Augen. Als wäre der Nebel im Kopf nicht schon genug gewesen, anscheinend brauchte er auch noch diese verschwommene Sicht. Immerhin bemerkte er weiter vorne Licht, und das hieß Ausgang, das hieß Cecilia. Er stürmte weiter. Jemand rief. Das Licht wurde heller. Kälte schlug ihm entgegen wie bei einem Sprung in einen Bergsee, und er saugte die eiskalte Luft gierig ein. Schnee. Es schneite. Flocken wie kleine Sterne.

»Hilfe, ein Mann mit Gewehr«, sagte er zu einem Typen, der wie ein Cop wirkte, bei genauerem Hinsehen aber wohl eher den Taxiverkehr regelte. Orangefarbene Busse. Parkbuchten. Nur noch ein kurzes Stück bis zu den Zwei-Minuten-Plätzen. Fast wäre er mit einer gepäckwagenbewaffneten Familie kollidiert, aber als ihn der Mann am Kragen packen wollte, rannte er einfach weiter. Das Laufen fiel ihm zusehends leichter, nach und nach erinnerte er sich daran, wie man die verschiedenen Körperabschnitte miteinander koordinierte, dann warf er einen Blick über die Schulter und wurde prompt von einem Pfosten gerammt.

Er schmeckte Blut. Jemand fragte, ob alles in Ordnung war, ein Junge, der sich Ohrstöpsel aus dem Haar zog. Er begriff die Frage nicht. Bei dem Zusammenstoß mit dem Pfosten waren alle Gedanken aus ihm herausgepurzelt. Blindlings tastete er danach und fand Cecilia. Wie ein Wrack aus den Tiefen der See tauchte er nach oben, stieß den Jungen weg und ließ sich von einer Woge der Beschimpfungen weitertragen. Endlich sah er es, Cecilias Auto, eine weiße Festung auf Rädern mit dem Slogan VIRGINIA IS FOR LOVERS an der Heckscheibe. Die Freude ließ seine Schritte fliegen. Er riss die Tür auf und sank auf den Sitz. Noch nie war er so stolz gewesen.

»Geschafft«, keuchte er und schloss die Augen.

»Wil?«

Er schaute Cecilia an. »Was ist?« Ihr seltsames Gesicht machte ihn unsicher. Und dann erfasste ihn eine Fontäne des Schreckens, die an einem nicht erkennbaren Ort begann und in seinen Hoden endete. Er sollte nicht hier sein! Er hatte diese bewaffneten Männer direkt zu seiner Freundin geführt. Was für ein dummer Fehler. Er war wütend auf sich selbst und entsetzt, weil es ihn so viel Mühe gekostet hatte hierherzugelangen, und jetzt musste er wieder fliehen.

»Wil, was ist denn?« Ihre Finger näherten sich. »Du blutest aus der Nase.« Auf ihrer Stirn zeichnete sich eine winzige Falte ab, die er gut kannte und gegen die er gern etwas unternommen hätte.

»Ich bin gegen einen Pfosten gerannt.« Er griff nach dem Türhebel. Je länger er saß, desto dichter waberte der Dunst in seinem Kopf.

»Warte! Wo willst du hin?«

»Weg. Ich muss …«

»Bleib, wo du bist!«

»Muss los.«

»Ich fahr dich hin! Lehn dich zurück!«

Das war eine Idee. »Ja.«

»Du bleibst, wenn ich fahre?«

»Ja.«

Sie streckte die Hand Richtung Zündung aus. »Okay. Bleib einfach sitzen. Ich schaff dich ins Krankenhaus oder so. Einverstanden?«

»Ja.« Er empfand Erleichterung. Aus seinem Körper strömte Gewicht. War es in Ordnung, wenn er jetzt das Bewusstsein verlor? Offenbar lag das Ganze nicht mehr in seiner Hand. Cecilia würde ihn in Sicherheit bringen. Dieses Auto war wirklich ein Panzer; früher hatte er sich darüber lustig gemacht, dass es so groß und sie so klein war, doch jetzt bedeutete es die Rettung für ihn. Er konnte ruhig einen Moment die Augen zumachen.

Als er sie wieder aufschlug, blickte ihn Cecilia an. Er blinzelte. Er musste eingenickt sein. »Warum …« Er setzte sich auf.

»Schsch.«

»Sind wir unterwegs?« Sie waren nicht unterwegs. »Warum sind wir nicht unterwegs?«

»Bleib einfach sitzen, bis sie da sind«, antwortete Cecilia. »Das ist das Wichtigste.«

Er wandte sich zum Fenster, dessen Scheibe beschlagen war. Was draußen war, konnte er nicht erkennen. »Cecilia, fahr los. Sofort.«

Sie klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Das machte sie immer, wenn sie sich an etwas erinnerte. »Weißt du noch, wie ich dich meinen Eltern vorgestellt habe? Du warst halb am Durchdrehen, weil du Angst hattest, dass wir zu spät kommen. Aber wir sind nicht zu spät gekommen. Wir waren rechtzeitig dort, Wil.«

Er rieb Kondenswasser von der Scheibe. Durch das Schneegestöber hasteten Männer auf sie zu. »Fahr, Cil! Fahr!«

»Es ist genau wie damals«, sagte sie. »Alles wird gut.«

Er griff über sie hinweg nach der Zündung. »Wo ist der Schlüssel?«

»Ich hab ihn nicht.«

»Was?«

»Ich hab ihn nicht mehr.« Sie legte ihm die Hand auf den Schenkel. »Bleib einfach eine Minute bei mir. Ist der Schnee nicht schön?«

»Cil, Cil.«

Eine blitzschnelle, schattenhafte Bewegung, dann wurde die Tür aufgerissen. Hände packten ihn. Er wehrte sich, doch sie zogen ihn unaufhaltsam hinaus in die Kälte. Er schlug wild um sich, bis etwas Hartes auf seinen Hinterkopf krachte, und dann wurde er auf breiten Schultern getragen. Dazwischen musste wohl einige Zeit vergangen sein, denn es war dunkler. In Wellen brandete der Schmerz durch seinen Schädel. Er sah Asphalt und einen flatternden Mantelsaum.

»Scheiße«, knurrte jemand frustriert. »Vergiss die Maschine. Sie können nicht mehr auf uns warten.«

»Die Maschine vergessen? Und was dann?«

»Hinter den Flughafengebäuden ist eine Feuerwehrzufahrt, von dort kommen wir zum Highway.«

»Wir sollen fahren? Machst du Witze? Die riegeln den Highway ab!«

»Nicht, wenn wir schnell sind.«

»Nicht, wenn wir …« Der Kleine stockte. »Wir sitzen in der Scheiße. Wir sitzen in der Scheiße, weil du nicht rechtzeitig abhauen wolltest!«

»Ruhe«, sagte der Große. Sie blieben stehen. Eine Weile lang blies nur der Wind. Dann liefen sie wieder ein Stück, und Wil hörte einen blechern bremsenden Automotor. »Raus«, befahl der Große jemandem, und Wil wurde in ein kleines Fahrzeug verfrachtet. Der Kleine zwängte sich dazu, sodass sie zu zweit auf dem Beifahrersitz saßen. Am Rückspiegel baumelte eine Discokugel. Eine Truppe Stofftiere mit riesigen schwarzen Augen grinste ihn vom Armaturenbrett aus an. Ein blaues Kaninchen umklammerte eine Stange mit der Flagge eines Landes, die Wil nicht kannte. Vielleicht konnte er das Ding jemandem ins Gesicht bohren. Er haschte danach, doch der Kleine kam ihm zuvor und konfiszierte das Kaninchen.

Der Motor drehte hoch. »Wie ist es mit deiner Freundin gelaufen, Wil?« Der Große lenkte den Wagen um eine Säule mit der Markierung D3, die zur Parkgarage des Flughafens gehörte, wie Wil sich erinnerte. »Dämmert dir vielleicht allmählich, dass wir wissen, was wir tun?«

»Das ist ein Fehler«, warf der Kleine ein. »Wir sollten zu Fuß weiter.«

»Das Auto ist gut.«

»Ist es nicht. Nichts ist gut.« Er hatte eine böse aussehende Maschinenpistole im Schoß, was Wil bisher entgangen war. »Wolf war uns von Anfang an auf der Spur. Sie haben es gewusst.«

»Nein.«

»Bronty …«

»Halt den Mund.«

»Bronty hat uns reingelegt!«, bellte der Kleine. »Sie hat uns reingelegt, und du willst es nicht wahrhaben!«

Der Große fuhr auf eine Ansammlung niedriger Hangars und Lagerhallen zu. Als sie sich näherten, wurde der Wind stärker und spuckte Eis durch den Trichter, den die Wände bildeten. Der Wagen wurde durchgerüttelt. Eingekeilt zwischen seinen beiden Entführern, lehnte sich Wil erst auf den einen, dann auf den anderen.

»Scheißkarre«, knurrte der Kleine.

Weiter vorn schälte sich eine schmächtige Gestalt aus dem Dunkel. Eine Frau in blauem Kleid. Ihr Haar tanzte im Wind, doch sie selbst stand völlig reglos da.

Der Kleine beugte sich vor. »Ist das Rain?«

»Glaub schon.«

»Fahr sie um.«

Der Motor heulte auf. Die Frau in der Windschutzscheibe zoomte heran. Wil konnte jetzt Blumen auf ihrem Kleid erkennen. Gelbe Blumen.

»Fahr sie um!«

»Ach, Scheiße.« Der Große sprach so leise, dass er kaum zu hören war, und das Auto fing an zu kreischen. Die Welt verrutschte, und die Schwerkraft presste Wil zur Seite. Hinter der Scheibe bewegte sich etwas. Dann fiel ein Ungeheuer mit brennenden Augen und silbernen Zähnen über sie her. Das Auto verbog und drehte sich. Wil identifizierte die Zähne als Kühlergrill und die Augen als Scheinwerfer: Das Ungeheuer war ein Geländewagen. Er zerkaute die Vorderseite ihres Autos, dann donnerte er gegen die Ziegelwand. Wil schlang die Arme um den Kopf, weil um ihn herum alles zersplitterte.

Er hörte Stöhnen. Scharren. Das Ticken des abkühlenden Motors. Vorsichtig hob er den Kopf. Die Schuhe des Großen verschwanden gerade durch ein schartiges Loch, wo die Windschutzscheibe gewesen war. Der Kleine fummelte an seinem Türgriff herum, allerdings ließen seine Bewegungen darauf schließen, dass ihm die Hände nicht so richtig gehorchten. Das Innere des Autos hatte eine seltsame Form. Als Wil etwas von seiner Schulter wegschieben wollte, merkte er, dass es das Dach war.

Die Tür des Kleinen knirschte und klemmte. Auf der anderen Seite tauchte der Große auf und zerrte sie auf. Der Kleine kroch hinaus und schaute Wil an. »Raus mit dir.«

Wil schüttelte den Kopf.

Der Kleine fluchte leise und verschwand. Stattdessen kam das Gesicht des Großen ins Bild. »Hey, Wil. Schau mal da rechts von dir. Du musst dich ein bisschen vorbeugen. Siehst du das?«

Das Seitenfenster war ein halb abgeblättertes Spinnennetz, und dahinter erspähte er das Fahrzeug, das sie attackiert hatte. Ein weißer Geländewagen. Er klebte mit zerknautschter Motorhaube an der Wand. Um die verbogenen Vorderräder stieg Dampf auf. Auf dem Aufkleber am Heckfenster stand: VIRGINIA IS FOR LOVERS.

»Deine Freundin hat gerade versucht, uns umzubringen, Wil. Sie ist direkt in uns reingefahren. Ich bin mir nicht sicher, ob du das von dort aus erkennen kannst, aber sie hat nicht mal den Gurt angelegt. So entschlossen war sie. Kannst du sie sehen?«

»Nein.« Er konnte sie sehen.

»Doch, und du musst da raus, denn sie ist nicht die Einzige. Es gibt immer Nachschub.«

Er krabbelte aus dem Auto, fest entschlossen, dem Mann eine reinzuhauen, ihn niederzuschlagen und ihn so lange zu würgen, bis seine Augen trüb wurden, doch dann verfingen sich seine Handgelenke in etwas. Als er begriff, dass ihm der Kleine weiße Plastikhandfesseln anlegte, war es schon passiert.

Der Große stieß ihn vorwärts. »Los.«

»Nein! Nein! Cecilia!«

»Schneller. Sie ist tot.«

»Ich bring dich um«, fauchte Wil.

Die Maschinenpistole im Arm, marschierte der Kleine voran. Sein Kopf schwenkte von einer Seite zur anderen. Wahrscheinlich suchte er nach der Frau, nach dieser Rain, die wie festgenagelt auf dem Asphalt gestanden hatte, als könnte sie das Auto mit ihrem bloßen Blick zum Anhalten zwingen. »Der Lieferwagen da drüben im Hangar, vielleicht steckt der Schlüssel.«

Mehrere Männer mit Schutzhelmen und Overalls näherten sich ihnen. Der Kleine brüllte sie an, sie sollten sich hinlegen und keinen Mucks machen. Der Große zog die Tür eines weißen Lieferwagens auf und schob Wil hinein. Wil fuhr herum, um ihm mit einem Tritt die Zähne in den Hals zu rammen, da bemerkte er aus dem Augenwinkel ein blaues Blitzen. Er spähte hinüber. Unter einem Tanklaster lauerte etwas. Ein blaues Kleid.

Die Seitentür des Lieferwagens öffnete sich, und der Kleine stieg ein. Er starrte Wil an. »Was ist?«

Wil schwieg.

Der Große war hinters Steuer geglitten, ohne dass Wil es mitbekommen hatte, und ließ den Motor an.

»Warte mal«, sagte der Kleine. »Er hat was gesehen.«

Der Große schielte kurz zu ihm. »Stimmt das?«

»Nein.«

»Scheiße.« Der Kleine sprang wieder aus dem Wagen. Wil hörte seine Schritte. Weil ihn der Große beobachtete, riskierte er nur einen kurzen Blick in den Seitenspiegel, aber das Blau war fort. Mehrere Sekunden verstrichen, dann ertönte ein Geräusch. Und Wil erschrak, denn die Frau in dem blauen Kleid jagte mit wogender blonder Mähne direkt an seinem Fenster vorbei. Unmittelbar darauf folgten hämmernde Schüsse, und sie stürzte wie eine Gummipuppe auf den Beton.

»Nicht bewegen«, zischte der Große.

Der Kleine trat vor den Lieferwagen. Aus der Mündung seiner Maschinenpistole schwebte Rauch. Mit einem kurzen, bellenden Lachen blickte er auf die Frau hinab. »Hab sie erwischt!«

Wil konnte die Augen der Frau sehen. Sie lag auf dem Bauch, das Haar wirr über dem Gesicht, trotzdem konnte er erkennen, dass ihre Augen genauso blau waren wie ihr Kleid. Dunkles Blut sickerte über den Beton.

»Hab sie erwischt«, wiederholte der Kleine. »Heilige Scheiße! Ich hab eine Dichterin umgelegt.«

Der Große ließ den Motor aufheulen. »Fahren wir.«

Der Kleine machte eine Geste: Warte. Er trat zu der Frau und richtete seine Waffe auf sie, als könnte sie jederzeit aufspringen. Sie bewegte sich nicht. Er stieß sie mit dem Schuh an.

Da flatterten die Lider der Frau, und ihre Lippen lösten sich voneinander. »Contrex helo siq rattrak.« So oder so ähnlich lauteten ihre Worte. »Erschieß dich.«

Ohne zu zögern setzte der Kleine die Mündung seiner Waffe ans Kinn und drückte ab. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Mit einem Fußtritt stieß der Große die Wagentür auf und hob die Schrotflinte an die Schulter. Der Körper der Frau zuckte, als das Geschoss in sie eindrang. Der Große machte einen Schritt nach vorn, warf die Patronenhülse aus und feuerte erneut. Wie Donner hallte es durch den Hangar.

Als der Große sich zum Lieferwagen umdrehte, war Wil bereits halb durch die Tür. »Zurück.« In den Augen des Großen schwelte der Tod, und Wil begriff, dass es jetzt keine Kompromisse mehr gab. Alles oder nichts, und sie wussten es beide. Wil ließ sich zurück in den Sitz fallen. Seine gefesselten Hände drückten sich ihm ins Kreuz. Der Große legte den Rückwärtsgang ein, umkurvte die zwei Leichen und beschleunigte in die Nacht. Er sagte kein Wort und blickte nicht in Wils Richtung. Ohne Hoffnung beobachtete Wil die vorüberhuschenden Gebäude. Vielleicht hatte er eine Chance zur Flucht gehabt, aber damit war es jetzt vorbei.

FLUGHAFENAMOKLÄUFER SAH KEINEN SINN MEHR IM LEBEN

PORTLAND, OR. Der Wartungstechniker, der am Samstag zwei Menschen erschoss, ehe er sich selbst das Leben nahm, und damit eine achtstündige Schließung des Portland International Airport auslöste, litt nach dem Aus seiner Ehe an Depressionen, wie Freunde und Verwandte gestern berichteten.

Amelio Gonzalez (37), so ein Freund, sah keinen Sinn mehr im Leben, nachdem ein Gericht seiner Exfrau Melinda Gonzalez vor drei Monaten das ausschließliche Sorgerecht für seine zwei Kinder (11 und 7) zuerkannt hatte.

Vermutlich suchte Mr. Gonzalez medizinischen Rat und erhielt Medikamente gegen Depressionen.

Kollegen äußerten ihre Fassungslosigkeit über Mr. Gonzalez’ Tat und beschreiben ihn als freundlichen, großzügigen Menschen, der keine Mühen scheute, um anderen zu helfen.

»Amelio war ein richtig netter Typ«, sagte Jerome Webber, der bis zu dem Vorfall gemeinsam mit Mr. Gonzalez zwei Jahre lang bei der Flugzeugwartung gearbeitet hat. »Ein bisschen still vielleicht, aber seine Situation hätte jeden runtergezogen. Ich hätte nie gedacht, dass er zu so was fähig ist.«

Die Flughafenleitung verteidigte ihre Einstellungspraxis mit dem Hinweis, dass alle Mitarbeiter regelmäßig psychologische Tests ablegen müssen. Mr. Gonzalez hatte eine solche Untersuchung erst vor vier Wochen bestanden.

»Wir unternehmen jede Anstrengung, um diesem Vorfall auf den Grund zu gehen«, erklärte der für den Flughafen von Portland zuständige Sicherheitsbeauftragte George Aftercock. »Wir wollen wissen, wie es dazu kommen konnte, dass ein vorbildlicher Mitarbeiter plötzlich durchdreht.«

Amelio Gonzalez tötete am Samstag zwei Menschen. Eine weitere Person, eine Frau, starb bei einem Autounfall, wahrscheinlich bei dem Versuch, vor ihm zu fliehen. Die Namen der Verstorbenen wurden noch nicht freigegeben.

Zuvor war ein Mann in aufgeregtem Zustand durch die Flughafenhalle gestürmt, allerdings hat sich ein zunächst angenommener Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und den tödlichen Schüssen nicht bestätigt.

Post 16

Antwort auf: http://nationstates.org/pages/topic – 8724511-post-16.html

Meine Stadt hat 1,6 Milliarden Dollar für ein neues Zugticketsystem ausgegeben. Chipkarten statt Papier, und jetzt wissen sie genau, wann die Leute ein- und aussteigen. Also, Frage: Wieso ist so ein System 1,6 Milliarden Dollar wert?

Dann heißt es wieder mal, staatliche Stellen sind eben inkompetent, was soll’s. Aber so was passiert doch überall. Alle Verkehrsnetze kriegen Chipkarten, Lebensmittelgeschäfte erfassen die Kunden namentlich, Flughäfen werden mit Kameras zur Gesichtserkennung ausgerüstet. Diese Kameras funktionieren nicht, wenn man sich die Mühe macht, sie auszutricksen. Schon eine Brille reicht, um sie zu überlisten. Wir WISSEN, dass sie als Instrumente zur Terrorismusbekämpfung völlig wirkungslos sind, trotzdem werden sie weiter installiert.

Dieses ganze Zeug – Chipkarten, Identifizierungssysteme, GPS zur »Stauvermeidung« – erfüllt seinen offiziellen Zweck total schlecht. Es taugt nur dazu, alle anderen zu überwachen, die 99,9 Prozent, die die Chipkarte einfach benutzen und sich überwachen lassen, weil es bequemer ist.

Ich bin kein besessener Schützer der Privatsphäre, und es ist mir auch ziemlich egal, ob irgendwelche Organisationen oder Unternehmen wissen wollen, wo ich gerade bin oder was ich kaufe. Kopfzerbrechen macht mir nur, wie sehr sie sich alle ANSTRENGEN, um an diese Daten zu kommen, wie viel Geld sie dafür verpulvern und dass sie ihr Interesse daran nie zugeben. Das bedeutet, dass diese Informationen aus irgendeinem Grund wirklich wertvoll sind, und ich frage mich, für wen und warum.

[ 2 ]

»Hmm«, sagte der Mann mit der Truckermütze. »Ich glaube … nein … mal kurz überlegen …«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Sir«, antwortete Emily. »Die Dame läuft nicht davon. Sie hat es ganz gemütlich da unten mit ihren Röcken. Wenn es sein muss, wartet sie den ganzen Tag auf Sie.« Sie lächelte einem Mann hinter dem Lastwagenfahrer zu. Der Mann erwiderte ihr Lächeln, dann fiel ihm seine Frau ein, und sein Gesicht wurde wieder ernst. Den Typen konnte sie also vergessen.

»Links«, meinte eine Frau in einem Sweatshirt mit der Aufschrift I ♥ SAN FRANCISCO. Ihr Blick huschte kurz zu Emily. »Glaube ich.«

»Glauben Sie?«, fragte der Trucker.

Emily zwinkerte der Frau zu. Richtig. Erfreut spannte die Frau die Lippen an.

»Weiß nicht.« Der Trucker kratzte sich am Kopf. »Ich schätze eher in der Mitte.«

»Die Dame ist leichtfüßig, Sir. Keine Schande, wenn man ihr nicht folgen kann. Raten Sie einfach.«

»Mitte«, sagte der Trucker, denn Raten Sie einfach hieß: Mach Schluss, Benny. Natürlich war Benny kein Lastwagenfahrer. Aber mit der tief in die Stirn gezogenen Mütze, die er in einer Seitenstraße gefunden hatte, und dem sandfarbenen Strubbelbart konnte er als einer durchgehen.

»Sind Sie sich jetzt sicher? Die Lady hier hat Ihnen einen Rat gegeben.«

»Nein, auf alle Fälle Mitte.«

»Wie Sie meinen, Sir.« Emily drehte die mittlere Karte um, aus der Menge kam Gemurmel. »Tut mir leid, Sir. Sie ist Ihnen davongelaufen.« Um die Karte von rechts nach links zu manövrieren, musste sie einen Mexican Turnover anwenden. Nicht ganz leicht, doch dann hatte sie es geschafft. »Links, wie die Lady gemeint hat. Sie hätten auf sie hören sollen. Wirklich ein scharfes Auge haben Sie, Ma’am. Sehr scharfes Auge.« Sie breitete die Karten aus, schob sie zusammen und flippte sie schnell, aber nicht zu schnell zwischen den Händen hin und her. Einige der Umstehenden gingen weiter. Emily schob sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. Sie trug einen großen Schlapphut mit farbigen Seiten, den sie immer wieder nach hinten schieben musste, damit er ihr nicht über die Augen rutschte. »Wollen Sie’s mal versuchen, Ma’am? Nur zwei Dollar. Das Einfachste von der Welt, wenn man das richtige Auge dafür hat.«

Die Frau zögerte. Mehr als ein einziges Spiel war bei der nicht drin. Manchmal ließ Emily einen Kandidaten das erste Spiel gewinnen, damit er Lust auf noch eins, noch eins und noch eins bekam. Das funktionierte allerdings bloß bei einer bestimmten Sorte von Menschen. Trotzdem, zwei Dollar waren auch nicht schlecht.

»Ich probier’s«, sagte ein junger Mann mit langem Haar in einem billigen, nicht ganz schwarzen Anzug und blassgelber Krawatte. An seiner Hemdtasche hing ein Namensschild aus Plastik.

Insgesamt waren sie zu viert, noch zwei Typen und eine Frau, alle mit diesem Look, wie Studenten bei einem Ferienjob. Vertreter vielleicht, die irgendeinen halbseidenen Kram verkauften. Jedenfalls keine Bullen. Das hätte sie erkannt. Cops waren auf dem Pier eine ständige Gefahr. Sie grinste. Die Frau im Sweatshirt entfernte sich. Egal, der Typ im Billiganzug war sowieso besser. Viel besser. »In Ordnung, Sir. Kommen Sie vor an den Tisch. Wahrscheinlich haben Sie mir einen Gefallen getan. Die Lady hätte mich vielleicht noch ausgenommen.«

»Vielleicht nehme ich dich aus«, sagte der Typ.

»Hoho, Sie trauen sich ja ganz schön was zu, Sir. Na gut, reden Sie ruhig. Das kostet nichts. Aber ein Spiel macht zwei Dollar.«

Er ließ zwei Dollarscheine auf Emilys Kartentisch fallen. Irgendetwas an ihm störte sie, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war. Eigentlich waren solche arroganten Typen pures Gold, vor allem vor Publikum. Die konnten endlos verlieren und verdoppelten trotzdem jedes Mal den Einsatz. Ab und zu musste sie sie natürlich gewinnen lassen, damit sie nicht explodierten und ihr Betrug vorwarfen. Bei so einem musste sie es bloß geschickt anstellen, dann spielte er den ganzen Tag. Einmal in der Falle, fanden sie vor lauter Eitelkeit nicht mehr hinaus. Erst vor zwei Monaten hatte sie so einem Blödmann hundertachtzig Dollar abgeknöpft, das meiste davon im letzten Spiel. Er bekam einen dicken Hals, und das Wasser schoss ihm in die Augen. Am liebsten hätte er ihr eine verpasst, das war nicht zu übersehen. Aber vor Publikum ging das nicht. An diesem Abend hatte sie sich ein gutes Essen gegönnt.

Sie warf die Dame und zwei Asse auf den Tisch. »Fangen Sie sie, wenn Sie können.« Sie drehte sie um und fing an, sie hin und her zu schieben. »Sehr sportlich, die Dame. Dreht jeden Morgen ihre Runden. Das Problem ist bloß, wo läuft sie hin?« Der Typ schaute nicht mal auf die Karten. »Passen Sie lieber auf, Sir, wie wollen Sie sonst gewinnen?« Auf seinem Namensschild stand: HI! ICH BIN LEE! Darunter: AUTORISIERTER UMFRAGEBEAUFTRAGTER. »Lee, richtig? Sie müssen echt was draufhaben, wenn Sie der Dame folgen können, ohne hinzusehen, Lee. Echt was drauf.«

»Hab ich auch.« Er lächelte, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Sie beschloss, Lees zwei Dollar einzustreichen. Und auch den nächsten Einsatz, wenn er sich darauf einließ. Sie würde ihn zum Verdoppeln auffordern und ihm gnadenlos alles abnehmen. Kein einziges Spiel wollte sie ihm lassen, denn Lee war ein Arsch.

Unter den Umstehenden erhob sich Gemurmel. Sie mischte die Karten so schnell sie konnte. Dann stoppte sie und zog die Hände weg. Allgemeines Gekicher und sogar ein wenig Applaus.

»Also.« Ihr Atem ging schnell. »Sehen wir mal, ob Sie wirklich so ein Profi sind, Lee.«

Noch immer schenkte er den Karten keine Beachtung. Der Typ rechts hinter ihm, auch einer von den Marktforschern, lächelte sie strahlend an, als hätte er sie gerade erst bemerkt. Dann wandte er sich an die Frau: »Das Gute ist, ich bin genau da, wo ich sein will, am bestmöglichen Ort.« Die Frau nickte: »Du hast ja so recht.«

»Rechts«, sagte Lee.

Falsch. »Ganz sicher? Wollen Sie noch mal nachdenken?« Doch ihre Hände bewegten sich bereits ungeduldig, um den Sieg einzufahren. »Letzte Chance!«

»Die Dame liegt rechts.« Er nuschelte etwas Unverständliches.

Als Emily die Karten berührte, spürte sie, wie ihre Finger nach rechts glitten. Die linke Hand vollführte eine exaltierte Geste, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, während die rechte eine Karte unter die andere schob.

Einige Leute klatschten. Emily starrte auf die Karten. Die Herzdame lag jetzt rechts. Sie hatte sie ausgetauscht. Im letzten Moment hatte sie sie dorthin manövriert. Warum hatte sie das getan?

»Gut gemacht, Sir.« Sie bemerkte, dass Benny das Gewicht verlagerte und nervös nach Bullen Ausschau hielt. Bestimmt fragte er sich, was sie da eigentlich veranstaltete. »Glückwunsch.« Sie griff in ihre Geldkatze. Zwei Dollar. Ein Unterschied von vier zwischen Gewinnen und Verlieren. Das war eine Mahlzeit. Eine Anzahlung für eine Nacht chemischer Freuden. Sie streckte Lee die Scheine hin, und es tat weh, als er sie nahm. Gleichgültig faltete er sie in seine Brieftasche. Die Frau warf einen Blick auf ihre funkelnde Plastikuhr. Einer der Typen gähnte.

»Noch ein Spiel, Sir? Mit doppeltem Einsatz vielleicht? Ein Mann wie Sie spielt doch sicher gern um richtiges Geld, oder?« Sie drängelte und hörte die Anstrengung in ihrer Stimme, weil sie wusste, dass sie den Kontakt zu ihm verloren hatte.

»Nein, danke.« Er wirkte gelangweilt. »Was hier läuft, interessiert mich nicht mehr.«

»Was soll der Scheiß?« Benny war sauer.

Mit hochgezogenen Schultern ging sie weiter, den Pikachu-Beutel über der Schulter, den schwabbeligen Schlapphut auf dem Kopf. Die Sonne ging bereits unter, doch der Gehsteig und die Wohnhäuser strahlten noch immer Wellen von Hitze aus. »Ich will nicht darüber reden.«

»So einen Typen lässt du sonst nie beim ersten Spiel gewinnen.« Benny trug den Tisch. »Wenn er die Nase vorn hat, ist es vorbei. Das Geld ist ihm total egal. Für ihn zählt bloß, dass er dich schlägt. Du hast ihm gegeben, was er wollte.«

»Ich hab die falschen Karten vertauscht, okay?«

»Der hätte noch lange gespielt.« Benny kickte eine Plastikflasche weg. Sie rollte über den Gehsteig auf die Straße, wo sie von einem vorbeifahrenden Auto zermalmt wurde. »Der hätte locker zwanzig gebracht. Vielleicht sogar fünfzig.«

»Kann sein.«

Benny hielt an. Emily ebenfalls. Benny war ein guter Kerl. Nur manchmal nicht. »Nimmst du das etwa nicht ernst?«

»Doch, Benny.« Sie zog ihn am Arm.

»Fünfzig Dollar.«

»Ja, fünfzig Dollar.« Sie merkte, dass ihre Augen groß wurden. So was machte Benny noch stinkiger, trotzdem konnte sie nicht anders. Manchmal war sie einfach pervers.

»Was ist?«

»Komm.« Erneut zog sie an seinem Arm. Er reagierte nicht. »Wie wär’s mit Essen? Ich koch dir was.«

»Leck mich.«

»Benny …«

»Leck mich!« Er schüttelte sie ab und ließ den Tisch auf den Boden fallen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ein Passant in feinem Hemd musterte erst sie, dann Benny, ehe er den Blick abwandte. Danke, Mann. »Lass mich in Ruhe!«

»Benny, nun komm schon.«

Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie zuckte zurück. Wenn er zuschlug, machte er keine halben Sachen.

»Du kommst nicht mit mir nach Hause.«

»Okay, schon gut.« Sie wartete, bis er sich ein wenig beruhigt hatte, dann streckte sie die Hand aus. »Gib mir wenigstens mein Geld. Ich hab heute hundertzwanzig verdient, gib mir die Hälfte.« Doch dann bekam Benny Glupschaugen, wie immer, wenn sie ihn wieder mal zu stark bedrängt hatte, und sie machte, dass sie weiterkam. Der Pikachu-Beutel hüpfte auf ihrem Rücken, und der Schlapphut fiel ihr vom Kopf. Sie ließ ihn auf dem Gehsteig liegen. Als sie die Ecke erreichte, war Benny einen halben Block hinter ihr. Er war ihr nachgerannt, aber nicht weit. Sie war froh, dass sie wenigstens die Tasche nicht zurückgelassen hatte. Da war ihre Jacke drin.

Sie schlief im Gleeson’s Park unter einer unscheinbaren Hecke, die auf zwei Seiten Fluchtwege bot. Um Mitternacht wurde sie von einem Brüllduell geweckt. Zum Glück war es niemand, den sie kannte, und zu weit weg, um eine Bedrohung darzustellen. Sie schloss die Augen und schlief zu Scheiße, Schlampe und gehört mir ein. Dann brach der Morgen an, und ein Betrunkener pisste ihr auf die Beine.

Sie rappelte sich hoch. »Mann, Alter.«

Der Typ taumelte zurück. »Tschuldigung.« Er hatte Mühe, das Wort herauszubringen.

Sie begutachtete sich. Flecken auf der Hose und den Stiefeln. »Was soll der Scheiß, Alter?«

»Hab … nicht gemerkt …«

»Scheiße.« Sie zerrte ihre Tasche aus der Hecke und machte sich auf die Suche nach einer Waschgelegenheit.

An einer Ecke des Parks befand sich eine öffentliche Toilette. Wenn es nicht unbedingt sein musste, setzte sie dort keinen Fuß hinein, doch die Sonne ging bereits auf, und ihre Hose wurde allmählich steif von dem trocknenden Urin. Mit den Stiefeln in der Hand drehte sie eine Runde um den Betonbau, bis sie sicher war, dass er leer war. Dann stand sie in der Tür und dachte: Nur ein Ausgang. Das war das Problem an öffentlichen Toiletten. Nur ein Ausgang, da konnte sie schreien, so viel sie wollte, niemand würde kommen und ihr helfen. Trotzdem ging sie hinein. Sie überprüfte, ob das Schloss seit dem letzten Mal repariert worden war. Nein. Dann streifte sie die Hose und eine Socke ab und stopfte sie unter den laufenden Wasserhahn. Betonluft kitzelte ihre Haut. Immer wieder schielte sie zur Tür, denn wenn plötzlich jemand auftauchte, war das wirklich eine blöde Situation. Doch sie blieb allein und riskierte es schließlich sogar, sich das Bein zu waschen. Der Papierhandtuchspender war leer, und so tupfte sie sich mit dem einlagigen Klopapier trocken.

Sie öffnete ihren Beutel. Vielleicht hatten sich dort überraschend bessere Klamotten materialisiert. Nein. Sie schloss die Tasche wieder und wrang ihre Jeans aus, so gut es ging. Am liebsten hätte sie sie draußen im Gras trocknen lassen, während sie mit nackten Beinen und geschlossenen Augen in der Sonne lag. Und einfach die Strahlen genoss. Sie und die Jeans. Tja, ein andermal vielleicht. In einem anderen Universum. Sie schlüpfte in ihre feuchte Hose.

Auf der Fleet Street meldete sich ihr Magen. Für die Suppenküche war es noch zu früh. Sie überlegte, wen sie anschnorren konnte. Vielleicht hatte sich Benny wieder beruhigt. Die Unterlippe zwischen den Zähnen, ging sie weiter. Irgendwie hatte sie Lust auf einen McMuffin.

Da bemerkte sie ihn auf einmal: Lee mit dem langen Haar und dem billigen Anzug, Lee, der ihr zwei Dollar abgenommen hatte. Mit einem Klemmbrett in der Hand hatte er sich an einer Straßenecke postiert und sprach mit einem falschen Lächeln Pendler an. Richtig, er arbeitete in der Marktforschung, das hatte sie auf seinem Namensschild gelesen. Sie beobachtete ihn und überlegte. Sie fand, dass er ihr etwas schuldete.

Als sie sich näherte, streifte er sie mit einem kurzen Blick, ehe er sich wieder dem Mann zuwandte, den er gerade in der Mangel hatte. Sie versuchte es einfach. »Du schuldest mir ein Frühstück.«

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte Lee zu dem Mann. »Sehr freundlich von Ihnen.« Er notierte etwas auf seinem Klemmbrett und blätterte um. Als er fertig war, lächelte er Emily an. »Sieh an, die Falschspielerin.«

»Ich hab dich gewinnen lassen«, erklärte sie. »Hatte Mitleid mit dir. Lad mich zu einem Egg McMuffin ein.«

»Ich hätte gedacht, ein Profi wie du kann sich einen eigenen Egg McMuffin leisten.«

»Klar«, antwortete sie, »aber ich lass dich zahlen, weil mir dein Gesicht gefällt.«

Lee wirkte amüsiert. Der erste nette Ausdruck, den sie bei ihm sah. »Also gut.« Er befestigte den Stift an seinem Klemmbrett. »Ich lad dich zu einem Egg McMuffin ein.«

»Zwei Egg McMuffins.«

Sie biss hinein, und es war genau so gut, wie sie es sich ausgemalt hatte. Auf der anderen Seite des Resopaltischs saß Lee mit den Armen über der Rückenlehne seines Stuhls. Draußen jagten sich plärrende Kinder auf einem Spielplatz aus Plastik. Wer schleppte seine Kinder zum Frühstück in ein McDonald’s? Nun, sie durfte nicht so streng urteilen. Hastig trank sie ihren Kaffee.

»Du hast Hunger«, stellte Lee fest.

»Schwere Zeiten.« Sie kaute auf ihrem Muffin. »Die Konjunktur.«

Lee aß nichts. »Wie alt bist du?«

»Achtzehn.«

»In Wirklichkeit, meine ich.«

»Achtzehn.« Sie war sechzehn.

»Siehst jung aus für jemand, der sich allein durchschlagen muss.«

Achselzuckend wickelte sie den nächsten McMuffin aus. Lee hatte ihr drei spendiert, dazu den Kaffee und Röstis. »Mir geht’s gut, ich komm klar. Wie alt bist du?«

Er beobachtete, wie sie das Brötchen verschlang. »Warum wolltest du einen McMuffin?«

»Ich hab bestimmt einen Tag lang nichts gegessen.«

»Ich meine, ausgerechnet einen McMuffin.«

»Schmeckt mir eben.«

»Warum?«

Sie musterte ihn. Was für eine blöde Frage. »Er schmeckt mir.«

»Aha.« Zum ersten Mal wandte er den Blick ab.

Sie wollte nicht über sich sprechen. »Wo kommst du her? Nicht von hier, oder?«

»Woher willst du das wissen?«

»Bin gut im Raten.«

»Na ja.« Er zögerte. »Du hast recht. Ich reise. Von Stadt zu Stadt.«

»Und bittest Leute, Fragebögen auszufüllen?«

»Genau.«

»Das hast du bestimmt voll drauf.« Sie kaute. »Sicher braucht man viel Talent, wenn man Leute bittet, Fragebögen auszufüllen.« Seine Miene blieb ungerührt. Eigentlich wusste sie nicht, warum sie gegen ihn stichelte. Schließlich hatte er sie zum Frühstück eingeladen. Trotzdem. Sie mochte ihn nicht. Und ein paar McMuffins reichten nicht, um das zu ändern. »Was führt dich nach San Francisco?«

»Du.«

»Ach ja?« Hoffentlich musste sie nicht gleich wegrennen. Vom Wegrennen hatte sie die Nase voll. Und wenn es schon sein musste, wollte sie wenigstens vorher noch diese leckeren Sachen aufessen. Sie schluckte den letzten Bissen McMuffin und machte sich über die Röstis her.

»Nicht du speziell. Dein Typ. Ich suche nach Leuten, die überzeugend und intransigent sind.«

»Da bist du bei mir an der richtigen Adresse.« Sie hatte keine Ahnung, was intransigent hieß.

»Leider bist du durchgefallen.«

»Durchgefallen?«

»Du hast zugelassen, dass ich dir dein Geld abnehme.«

»Hey, das war bloß aus Mitleid. Hab ich doch schon gesagt. Willst du es noch mal probieren?«

Er lächelte.

»Ich mein es ernst. Du gewinnst garantiert nicht mehr.«

»Hmm«, machte er. »Okay. Weißt du was? Ich geb dir noch eine Chance.«

Ihre Karten hatte Benny, aber es sollte kein Problem sein, andere zu besorgen. Dann konnte sie diesen Typen bis auf hundert hochtreiben und sich aus dem Staub machen, sobald die Scheine auf dem Tisch lagen. Vielleicht würde sie zu Benny gehen und ihn ein bisschen aufziehen. Der Typ hätte zwanzig gebracht, hast du gesagt? Sie mochte das Gesicht, das er machte, wenn sie Geld anschleppte. Fünfzig vielleicht sogar? »Ich trink bloß noch schnell meinen Kaffee aus, dann können wir drüben im Laden auf der anderen Straßenseite …«

»Keine Karten. Ein anderer Test.«

»Ach. Was für ein Test?«

»Dass du mir keinen bläst.«

Sie erschrak, obwohl sich sein Ausdruck nicht verändert hatte. Vielleicht hatte sie sich verhört, oder es war irgend so eine Redensart. Vielleicht meinte er: Dass du mir keinen drehst. Bloß: keinen was? Keinen Joint?

»Eigentlich mache ich keine Befragungen. Meine Arbeit besteht darin, dass ich Leute teste. Wie ein Bewerbungsgespräch, nur dass es die Bewerber gar nicht merken.«

Sie verputzte den letzten Bissen Rösti. »Danke, dass du an mich gedacht hast, aber ehrlich gesagt bin ich ganz zufrieden mit dem, was ich zurzeit tue. Trotzdem sehr nett von dir.« Sie trank den Kaffee aus. »Danke für das Frühstück.« Sie griff nach ihrer Tasche.

»Es lohnt sich.«

Sie zögerte. »Wie viel?«

»Wie viel willst du?«

»Inzwischen verdiene ich fünfhundert am Tag.« Das war natürlich eine schamlose Übertreibung. In Wirklichkeit kam sie auf null bis zweihundert Dollar, die sie mit Benny teilte.

»Dafür würdest du mehr kriegen.«

»Wie viel mehr?« Sie unterbrach sich. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Der Typ trug eine Plastikuhr. Bestimmt wollte er sie in ein schäbiges Apartment abschleppen und dann die Tür absperren. Es gab keinen Job. »Hör zu, hat mich ja gefreut, aber ich muss los.«

Er griff in die Jackentasche und öffnete seine Brieftasche. Gestern hatte sie gesehen, dass sie nicht mehr als zwanzig Dollar enthielt. Jetzt zog er einen Reißverschluss auf und warf Scheine auf den Tisch. Sie bekam große Augen. Es waren viele Scheine.

»Wir tragen billige Kleidung, weil es einen seltsamen Eindruck erweckt, wenn wir in Tausenddollarklamotten an Straßenecken rumstehen.«

»Verstehe.« Sie hörte ihm gar nicht richtig zu.

»Lass deine Tasche los.«

Sie schaute ihn an. Offenbar hatte er ihr angemerkt, dass sie mit dem Gedanken spielte, die Knete zusammenzuraffen und damit abzudüsen. Sie nahm die Hand vom Beutel.

»Du kriegst ein Flugticket erster Klasse zu unserer Zentrale in Washington. Dort machst du eine Woche lang Tests. Wenn du bestehst, kriegst du einen Ausbildungsplatz und ein Anfangsgehalt von sechzigtausend Dollar. Wenn du es nicht schaffst, fliegst du nach Hause und bekommst fünftausend in einem Umschlag als Entschädigung. Wie klingt das?«

»Nach Beschiss.«

Er lachte. »Ich weiß, es klingt tatsächlich so. Ich dachte genau das Gleiche, als ich angesprochen wurde.«

Wie gebannt starrte sie auf die Kohle. Sie wollte nicht, doch der Anblick war einfach unwiderstehlich.

»Du bist zur Schule gegangen«, sagte Lee. »Irgendwann jedenfalls. Und es lag dir nicht. Sie wollten dir Sachen beibringen, die dich nicht interessiert haben. Geografie und Mathe und Banalitäten über tote Präsidenten. Von Beeinflussung hast du dort nichts gelernt. Aber deine Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen, ist der prägendste Faktor deiner Lebensqualität, und das wurde in der Schule überhaupt nicht berücksichtigt. Nun, bei uns wird es das. Und wir suchen nach Studenten mit einer natürlichen Begabung in diesem Bereich.«

»Okay«, antwortete sie. »Ich bin interessiert. Ich nehm das Ticket.«

Er lächelte, und sie musste wieder an seine Bemerkung von vorhin denken. Das hatte sie wohl tatsächlich falsch verstanden. Bestimmt wollte er, dass sie ihm einen blies – für das Flugticket. Ja, so ergab das einen Sinn. Sie fragte sich, ob dieser Job wirklich existierte. Doch irgendwie wirkte er glaubwürdig.

»Zeig mir was«, bat sie. »Was Offizielles.«

Er schob eine Visitenkarte über den Tisch. Sein voller Name war Lee Bob Black. Sie steckte die Karte in ihre Tasche und fühlte sich gleich besser. Damit konnte sie Lees Chef anrufen und ihm erzählen, wozu Lee sie als Gegenleistung für einen Job aufgefordert hatte. Hoffentlich war es ein großes Unternehmen, eins von denen, die schlechte Publicity hassten. Und hoffentlich gab es diesen Job wirklich, denn es klang nach etwas, das ihr gefallen könnte.

»So, jetzt weißt du, wer ich bin«, erklärte er. »Und wer bist du?«

»Emily.«

»Bist du eine Katzenfreundin oder eine Hundefreundin?«

»Was?«

»Katzen oder Hunde? Was ist dir lieber?«

»Wieso interessiert dich das?«

Er zuckte die Achseln. »Ich mach nur Konversation.«

»Ich hasse Katzen. Zu hinterhältig.«

»Ha«, sagte er. »Was ist deine Lieblingsfarbe?«

»Das nennst du Konversation?«

»Antworte einfach auf die Frage.«

»Ich mein ja bloß, für jemanden, der was von Small Talk versteht, stellst du dich ziemlich ungeschickt an. Schwarz.«

»Schließ die Augen und such dir eine Zahl zwischen eins und hundert aus.«

»Gehört das zu deinem Fragebogen?«

»Ja.«

»Du befragst mich? Ist das der Test?«

»Ein Teil davon.«

»Ich schließ die Augen nicht. Dreiunddreißig.«

»Liebst du deine Familie?«

Sie bewegte sich nicht. »Meinst du das ernst? Glaubst du, ich säße hier, wenn ich eine nette Familie hätte?« Fast wäre sie aufgestanden. Aber nur fast. »Nein.«

»Also schön. Letzte Frage. Warum hast du es getan?«

Sie starrte ihn an.

»Saug dir nichts aus den Fingern«, mahnte Lee. »Das merke ich sofort, und dann ist der Test ungültig.«

»Das ist eine Trickfrage, oder?«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt überhaupt nicht, wonach du fragst. Du willst es mir nur weismachen.«

Er zuckte die Achseln.

»Nach einer Umfrage klingt das nicht.«

»Es ist ein Persönlichkeitstest.«

»Geht’s hier um Scientology?«

»Nein.«

»Amway?«

»Es hat nichts mit Amway zu tun, das schwöre ich. Es sind Leute, von denen du noch nie was gehört hast. Du bist dicht dran, Emily. Wie lautet deine Antwort?«

»Auf deine Trickfrage?«

»Du musst nicht daran glauben. Du musst bloß ehrlich antworten.«

»Also gut. Ich hab es getan, weil mir danach war.«

Lee nickte. »Das ist das Enttäuschende an diesem Job. Letztlich sind die Leute nie so interessant, wie man hofft.« Ehe Emily sich darüber klar werden konnte, ob er sie gerade beleidigt hatte, murmelte er etwas Undeutliches. Die Worte glitten an ihr vorbei und verhallten. Sie fühlte sich ein wenig benommen. »Geh auf die Toilette«, sagte er. »Warte dort auf mich.«

Sie ging zur Theke. Die Tasche ließ sie zurück. Das war egal, denn Lee passte sicher gut darauf auf. Sie bat einen Jungen an der Kasse um den Schlüssel zur Toilette. Er musterte sie misstrauisch, gab ihn dann aber doch heraus. Es gab nur eine Kabine. Sie klappte den Klodeckel nach unten und setzte sich darauf.

Nach einer Minute öffnete sich die Tür, und Lee kam herein. Er sprach in ein Handy. Ihr Herz pochte. Irgendwie sah er verdammt gut aus. Vor allem sein Gesicht hatte es ihr angetan. Sogar sein Haar gefiel ihr. Sie fand ihn niedlich. »Ja«, erzählte Lee dem Telefon. »Jetzt sind wir schon hier, da kann ein weiterer Versuch nicht schaden.« Er blieb vor ihr stehen. Sie beobachtete, wie er an seinem Reißverschluss herumfummelte. Interessante Situation. Sie war hier und zugleich weit weg. Alles war seltsam und amüsant. Lee klemmte sich das Handy zwischen Kinn und Schulter, grub in seiner Hose und zog seinen Penis heraus. Er war länger, als sie erwartet hatte. Nach oben gekrümmt wippte er vor ihren Augen. »Bin gerade bei ihr«, fuhr Lee fort. »Kurz dachte ich, dass da was rausspringt.« Er bedeckte das Telefon. »Nimm ihn in den Mund.«

Sie legte die Hand um seinen Penis. Öffnete den Mund. Dann der Gedanke: Warte mal!

»Ich weiß. Jedes Mal.« Er lachte. Sein Penis zuckte in ihrer Hand.

Sie rammte ihm die Faust in die Eier. Dann versuchte sie, ihn zu treten, doch er klappte taumelnd vornüber, und sie bekam sein Knie oder seinen Ellbogen ab. Sie hetzte zur Tür und riss sie auf. Köpfe drehten sich nach ihr um. »Ein Perverser!«, schrie sie die Gesichter an. »Da drin ist ein Perverser!« Sie schnappte sich ihren Beutel. Niemand hatte sich gerührt. »Ein Perverser!« Sie rannte davon, so schnell sie konnte.

Auf der Straße hingen Jungs mit Baseballmützen herum, die mit Drogen dealten oder Raptexte dichteten oder sonst was trieben, und einer trat mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Sie jagte einfach an ihm vorbei. Der Beutel hüpfte auf ihrem Rücken. Erst nach drei Blocks fühlte sie sich einigermaßen sicher und sah sich nach Lee um. Nein, er war ihr nicht gefolgt. Sie ließ kurz die Tasche fallen und stützte die Hände auf die Knie, um Luft in ihre Lunge zu pumpen. Um sie herum strömten Leute. Was war da gerade passiert? Sie erinnerte sich an die Einzelheiten, doch ohne etwas zu begreifen. Das ergab alles keinen Sinn. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?

Als sie aufblickte, schlurfte Lee auf sie zu, die Hand in die Leistengegend gepresst, das Gesicht schmerzverzerrt. Erschrocken fuhr sie auf. Auf der anderen Seite trat eine Frau mit langem braunen Haar und billigem Kostüm auf die Straße, wich vor einem Auto zurück und lief dann durch den Verkehr auf sie zu. Allerdings hatte sie offenbar nicht vor, Emily den Weg abzuschneiden, sondern sie nach Osten zu treiben. Das war schlecht, denn es konnte nur heißen, dass die Frau Helfer hatte. Emily reckte den Hals und bemerkte zwei mit Klemmbrettern bewaffnete Typen in Anzügen, die direkt auf sie zusteuerten. »Hilfe!« Ihre Worte galten niemand Bestimmtem, und natürlich kam auch keine Hilfe. Sie erspähte eine kleine Gasse und rannte los. Der Beutel rutschte, und in ihrer Panik ließ sie ihn fallen, was schrecklich war, denn ohne ihren Beutel hatte sie nichts mehr und war auf andere Leute angewiesen. Durch die Glasdrehtür eines Bürogebäudes trat wie in einer Werbung ein wunderschönes Paar, und sie spielte kurz mit dem Gedanken, sich in diese saubere, sichere, warme Firmenwelt zu retten. Doch das war unmöglich; es hätte nur dazu geführt, dass sie von einem Wachmann, der die Aufgabe hatte, diese Welt vor Leuten wie ihr zu schützen, durch dieselbe Tür wieder hinausgeworfen wurde. Sie lief weiter. Die Gasse krümmte und senkte sich ab, dann wurde sie zur Auffahrt. Nicht gut, gar nicht gut. Sie endete an einem verschlossenen Rolltor mit der Aufschrift LADEPLATZ FREIHALTEN. Notgedrungen machte Emily kehrt – und natürlich warteten sie bereits auf sie. Einer der Männer hielt ihren Pikachu-Beutel. Hastig steckte sie die Hand in die Hosentasche. »Ich hab Pfefferspray.« Sie wich zurück, bis sie an das Rolltor stieß. All diese Bürofenster. Da musste doch mal jemand rausschauen! Vielleicht sollte sie schreien. Vielleicht würde ihr ein Schutzengel zu Hilfe eilen.

»Lass dir Zeit«, sagte die Frau. »Verschnauf erst mal.« Neben ihr beugte sich Lee vor und spuckte aus.

»Kommt mir nicht zu nahe.«

»Entschuldigung, dass wir dich so gejagt haben. Wir wollten einfach nicht, dass du uns entwischst.«

»Ich mach euch fertig«, zischte Emily.

»Schon gut.« Die Frau lächelte seltsam. »Schon gut, Emily, du hast bestanden.«

MITTEILUNG

An: Alle Mitarbeiter

Von: Cameron Winters

Hallo Leute! Nur kurz der Hinweis, dass wir am 29. TATSÄCHLICH Urlaubsgeld bekommen, das heißt doppelter Lohn für alle Aushilfen! Es lebe die Geschäftsleitung!

Ich bin über das verlängerte Wochenende weg, und Melanie wird mich vertreten. Noch dazu an ihrem achtzehnten Geburtstag (Samstag)!! Entschuldige, Melanie, ist mir so rausgerutscht!!!