Liber Bellorum. Band II - Warda Moram - E-Book

Liber Bellorum. Band II E-Book

Warda Moram

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Beschreibung

Mein Weg war lang, trennte mich von Freunden und Familie, führte mich durch Licht und Schatten, bis mitten hinein in den Schlund der Hölle. Die Welt wird immer dunkler, je mehr ich von ihr sehe. Was mit einer Suche nach mir selbst begann, verwandelte sich in eine Flucht vor einer Wahrheit, zu groß für meinen sterblichen Verstand. Die Zeit ist gekommen. Meine Reise endet hier. Meine Herrschaft beginnt. AUS DEN CHRONIKEN DES REISENDEN Wer ist der wahre Feind? Feuermagier Kyle macht sich auf die Suche nach der Wahrheit: über Gräuel der Vergangenheit und dunkle Bedrohungen in der Zukunft. Wird ein zerbrechliches Bündnis dem ungewiss mächtigen Gegner trotzen können? *** Der zweite Band des "Liber Bellorum" - Warda Morams fesselnder Fantasytrilogie über zwei Brüder, die die Last der Welten auf ihren Schultern tragen ***

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Seitenzahl: 550

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Warda Moram

LIBER BELLORUM

LICHT UND SCHATTEN

Band II

Der Blog zur Trilogie:www.Liber-Bellorum.de

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Warda MoramLIBER BELLORUMLICHT UND SCHATTENBAND II

E-Book (epub): ISBN 978-3-86374-631-5(Druckausgabe: ISBN 978-3-86374-629-2, 1. Auflage 2022)

Mankau Verlag GmbHD – 82418 Murnau a. StaffelseeIm Netz: www.mankau-verlag.deInternetforum: www.mankau-verlag.de/forum

Bilder: © stock.adobe.com (Hintergrund Innenklappen, 398–400)

Lektorat: Julia Feldbaum, www.redaktionsbuero-feldbaum.deEndkorrektorat: Susanne Langer-Joffroy M.A., GermeringCover/Umschlag: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München, unterVerwendung von Bildern von istock / Getty Images PlusLayout/Satz Innenteil: Mankau Verlag GmbH

Illustrationen (Anhang): Heike Brückner,Grafikstudio Art und Weise, Regensburg

Für Litha,die mich aufgefangen hat

Inhalt

DIE STADT DER TOTEN

GEDANKEN

FAULER ZAUBER

ANTWORTEN

EPISTULAE EXUSTAE

KAPITEL 1

KAPITEL 3

KAPITEL 14

KAPITEL 178

KAPITEL 213

KAPITEL 298

KAPITEL 331

KAPITEL 391

DIE KASERNE

KALTES MÄRCHEN

ERSTE KONTAKTE

SANGIUS

DIE VERDAMMTEN DES HIMMELS

FRIEDENSVERHANDLUNGEN

AUSZÜGE AUS DEN CHRONIKEN DES REISENDEN

DIE AKADEMIE

DAS FEUERATOLL

MEANDOR

DIE KASERNE

DIE ROTE WÜSTE

DIE STERNSAVANNE

DAS MOOR DER TOTEN

DER NEBEL DER VERGESSENEN

DIE KORALLENSEE

LUNARIS

DAS SCHWARZE TAL

DIE STADTDER TOTEN

Mein Weg war lang, trennte mich von Freunden und Familie, führte mich durch Licht und Schatten bis mitten hinein in den Schlund der Hölle.Die Welt wird immer dunkler, je mehr ich von ihr sehe.Was mit einer Suche nach mir selbst begann, verwandelte sich in eine Flucht vor einer Wahrheit, zu groß für meinen sterblichen Verstand.Die Zeit ist gekommen.Meine Reise endet hier.Meine Herrschaft beginnt.

Der Reisende,Gründer des Schattenclans

Als Kyle aufwachte, war er kurz desorientiert, konnte sich nicht sofort erinnern, was passiert war. Noch leicht benommen sah er sich um. Er befand sich in einem prunkvoll eingerichteten Schlafzimmer, in einem unendlich weichen Bett. Er atmete tief die kühle Luft ein, die von einem sanften rötlichen Licht glühte. Er hatte Gerüchte gehört von Räumen wie diesem. Man erzählte sich darüber viel in den Straßen. Denn in ganz Necropolis gab es sie nicht. Außer … in der Festung des Fürsten.

Dann hatte er es also tatsächlich getan. Dann waren der ganze Kampf, sein kurzer Moment des Bewusstseins und die seltsamen Worte dieser fremden Stimme kein Traum gewesen. Aber das bedeutete dann ja auch … Als er den Blick schweifen ließ, entdeckte er tatsächlich seinen Bruder ganz in seiner Nähe.

Raven saß rechts von ihm auf dem Fensterbrett, die Knie entspannt an das Glas gelehnt. „Du bist wach“, stellte er fest, als ihre Blicke sich trafen.

Kyle konnte nicht antworten. Er sah seinen Bruder nur an – und die Epistulae Exustae in dessen Händen.

Fast schon desinteressiert blätterte Raven eine Seite nach der anderen um, und Kyle wartete nur darauf, dass auch er ihn nur fragte, was es damit auf sich hatte. Es hatten sich inzwischen zu viele Menschen über dieses angeblich leere alte Buch gewundert.

„Gestern war ich eine Heldin, heute bin ich eine Fremde, morgen werde ich vergessen sein“, las Raven vor, fuhr vorsichtig mit den Fingern über das Papier und beobachtete die aufsteigenden Funken beim Verglühen.

Kyle konnte ihn nur fassungslos anstarren. Ihm verschlug es völlig die Sprache, dass sein Bruder die Worte plötzlich lesen konnte.

Raven schlug das Buch zu, berührte noch einmal nachdenklich den Titel.

„Ich habe dir deine Sachen bringen lassen. Recht viel mehr hast du ja nicht besessen. Epistulae Exustae. Verbrannte Briefe. Hast du irgendeine Ahnung, was das zu bedeuten hat?“, fragte er.

Kyle konnte immer noch nicht antworten. Er wollte sich aufsetzen, um wenigstens den Kopf schütteln zu können, aber sobald er auch nur versuchte, sich zu bewegen, durchfuhr ihn ein brennender Schmerz.

„Warte“, Raven legte behutsam das Buch zur Seite und sprang vom Fensterbrett. Während er den Raum durchquerte, verfolgte ihn ein kleines, schwebendes Licht, das leicht bläulich schimmerte. Er half Kyle dabei, sich aufzusetzen, und holte ihm noch ein zweites Kissen, damit er sich anlehnen konnte.

Kyle schenkte ihm ein dankbares Lächeln, schwieg aber weiterhin. Nicht, weil ihm immer noch die Worte fehlten, sondern weil ihm die richtigen Worte fehlten.

„Diese Schmerzen, die du immer noch hast, kommen von einem starken Fluch, den das Schwert in deiner Wunde hinterlassen hat“, erklärte Raven, nachdem er sich zu ihm gesetzt hatte. „Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis die Schmerzen aufhören, wahrscheinlich wirst du sie immer noch spüren, wenn die Verletzung selbst längst verheilt ist. Urias hat es mir erklärt, dein ganz persönlicher Lichter und, wenn es nach Finn geht, der mächtigste Heiler auf beiden Seiten des Lichts. Was auch immer das heißen mag. Aber um ehrlich zu sein, konnte ich ihm nicht ganz folgen.“

„Warum bist du hier?“, fragte Kyle einfach, als er es aufgab, nach den passenden Worten zu suchen.

„Um dir das Leben zu retten.“

„Aber wie? Du konntest doch nicht wissen … Wie hast du hierher gefunden?“

„Ich weiß es nicht. Ich hatte das Gefühl, du steckst in Schwierigkeiten. Und diesem Gefühl bin ich nachgegangen. Saphira hat mir das erklärt, aber auch ihr konnte ich nicht so ganz folgen.“

„Aber du trägst deine Novizenrobe, wie bist du …?“

„Ein Tag“, unterbrach Raven. „Ich bin gerade einmal seit einem Tag hier und habe schon zu viele Leute getroffen, die mir gesagt haben, sie würden mich sofort töten, wenn ich nicht ihrem Fürsten das Leben gerettet hätte. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Was mich allerdings interessiert, ist, was du dir dabei gedacht hast.“

Kyle wich seinem Blick aus, sah sich nachdenklich im Raum um. „Gedacht … ich glaube, ich habe gar nicht gedacht“, gestand er zögernd. „Wenn man den Fürsten herausfordert, ist Denken wohl das Letzte, was man in dem Moment tut.“ Er sah wieder die Epistulae auf dem Fensterbrett an. „Du hast in meinem Buch gelesen?“

„Ein wenig. Ganz schön wirre Geschichte. Ich verstehe kein Wort davon. Du etwa?“

Kyle schüttelte den Kopf. „Nein. Noch nicht. Aber ich weiß, dass es wichtig ist. Es fehlt mir nur noch der Zusammenhang.“

In diesem Moment seufzte sein Bruder tief, stand auf und trat wieder ans Fenster, sah schweigend nach draußen. Wieder folgte ihm das Licht, aber er pustete es an wie ein lästiges Insekt, woraufhin es flatternd unter die Decke schwebte und dort in einer Ecke hängen blieb. Erst jetzt verstand Kyle auch den rötlichen Schimmer, der draußen über dem Himmel lag. Er legte den Kopf schräg, blinzelte angestrengt, dann sah er die Flammen. Überall in seiner Stadt brannten magische Feuer, selbst der Himmel war zu einem glühenden Inferno geworden, das die Sonne verdeckte und Necropolis in ein ewiges Zwielicht tauchte. Aber im Gegensatz zu seinem Bruder wusste er, was es damit auf sich hatte.

„Das ist jetzt meine Stadt“, begann Kyle eine Erklärung, wurde aber sofort von einer knappen Geste Ravens unterbrochen.

„Ich will es gar nicht wissen. Du musst mir nichts erklären.“

„Ich möchte es aber, Raven. Ray?“

„Und hör endlich auf, mich so zu nennen.“

Kyle beobachtete seinen Bruder noch eine Weile, dann schlug er die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Diesmal konnte er die Schmerzen sogar ertragen, denn er war darauf vorbereitet gewesen. Dennoch musste er konzentriert die Zähne zusammenbeißen, als er aufstand und zu Raven ging. Er stützte sich neben ihm mit den Unterarmen auf dem Fensterbrett ab, folgte seinem Blick nach draußen. Der Stadtplatz war gewaltig, was das Schauspiel der Flammen fast noch eindrucksvoller machte. Wie die glühenden Überreste eines Waldbrandes leuchtete der entfernte Stadtrand in der Dunkelheit.

„Raven, was hier passiert ist …“

„Nein, Kyle, ich will es nicht wissen“, fiel Raven ihm erneut ins Wort, ohne ihn anzusehen. „Wir haben uns fast zwei Jahre lang nicht gesehen, und das Erste, was ich tun muss, als ich dich wiederfinde, ist, dir das Leben zu retten.“ Er atmete tief durch, hob für einen Moment die Hand, schien dann aber nicht mehr so recht zu wissen, was er vorgehabt hatte. „Und dir ist das alles egal. Du willst so weitermachen, als wäre nichts passiert.“

„Wie meinst du das?“

„Das weißt du selbst gut genug. Es gibt tausend Dinge, die man sich in so einer Situation sagen könnte. Es tut mir leid oder Ich habe dich vermisst oder auch ein ganz simples Wie geht es dir? Aber du willst mir nur irgendwelche Dinge erklären, von denen du denkst, dass ich sie nicht verstehe.“

„Und? Was ist falsch daran?“

„Ich will es nicht wissen“, wiederholte Raven, warf ihm einen kurzen Blick zu. „Ich will mich einfach nur mit dir unterhalten. Über völlig belanglose Dinge. Ich will wissen, wie es dir geht. Ob du mich vermisst hast. Wie dir das Wetter hier gefällt. Ob du jemanden kennengelernt hast.“

„Na ja, da ist Shaíra“, begann Kyle schon, schüttelte sich aber sofort widerstrebend. „Ich kann das nicht, Raven, ich bin so nicht, das weißt du.“

„Ja, ich weiß. Du bist der ehrwürdige Fürst des Schattenclans. Was immer das bedeuten mag.“

„Ich will es dir doch erklären, aber du lässt mich ja nicht!“

„Stimmt. Denn ich befürchte, dass es wieder mit deiner Einbildung zu tun hat, diese Welt hätte sich gegen dich verschworen.“

„Nicht gegen mich. Sondern gegen sich selbst.“

Raven seufzte erneut, schüttelte angestrengt den Kopf. „Siehst du, genau das meine ich.“

„Diese Seite der Welt ist alles andere als perfekt, Raven. Wenn ich mich recht erinnere, dann warst auch du skeptisch.“

„Stimmt, Kyle. Stimmt, du hast recht, ich war skeptisch, weil ich nicht glauben konnte, dass so ein Paradies wirklich existiert. Du warst skeptisch, weil du nicht ertragen konntest, dass so ein Paradies wirklich existiert. Ich wette, du hast dich unendlich gefreut, als du auf diesen Verein von Verrückten gestoßen bist.“

Kyle erinnerte sich unwillkürlich daran, wie er damals in der Ebene von den drei Soldaten aufgegriffen worden war, und lachte leise auf. „Und wie“, lächelte er, wurde aber sofort wieder ernst. „Ich kann verstehen, dass du zweifelst. Aber wenn du nicht willst, dass ich dir etwas erkläre, dann möchte ich dir wenigstens etwas zeigen.“ Er richtete sich auf, ging zu einem Stuhl neben der Tür, über dessen Lehne der Umhang des Fürsten hing. Der zerschlissene schwarze Stoff war ein Teil der Geschichte der Stadt. Er war ein antikes Relikt, das unzählige Schattenfürsten vor ihm als Zeichen ihrer Macht getragen hatten. Die Zeit hatte ihre Spuren daran hinterlassen. Ebenso die zahllosen Kämpfe um den Thron, Schwerter und Magie. Und zuletzt Kyles eigenes Feuer.

Auf der Sitzfläche lag sein roter Novizenmantel – eine Erinnerung an einen wichtigen Teil seiner eigenen Geschichte: die Zeit, die er an der Akademie verbracht hatte, und wenn sie auch noch so kurz gewesen war. Die vielen unbeantworteten Fragen, die ihn dazu gebracht hatten, sich von seinem Bruder zu trennen. Und die Suche nach Antworten, die ihn letztendlich in das Schwarze Tal und nach Necropolis geführt hatte.

Kyle zog beides an und warf einen kurzen Blick auf sein Schwert, das Schwert des Fürsten, das unter seiner Führung eine schlichte Eleganz angenommen hatte – der völlige Gegensatz zu der bestialischen Reißerklinge, die ihm vor Kurzem noch die Wunde geschlagen hatte –, und nach einem kurzen, ehrfürchtigen Zögern nahm er es an sich.

„Komm mit, kleiner Bruder“, begann er, „ich führe dich ein wenig durch Necropolis. Du sollst sie sehen, die Stadt der Toten.“

Raven war seinem Bruder nur widerstrebend gefolgt. Diese Stadt, dieses Necropolis, verunsicherte ihn. Die Menschen verunsicherten ihn, die ihm mit hasserfüllten Blicken hinterhersahen, nachdem er so lange nur Bewunderung und verhaltene Ehrfurcht empfangen hatte. In den schweren Mauern von Kyles Festung fühlte er sich wenigstens noch einigermaßen sicher. Und wahrscheinlich sollte er sich an seiner Seite, an der Seite des Fürsten, ebenso sicher fühlen. Aber es gefiel ihm nicht. Nichts an diesem Ort gefiel ihm, und er hatte nicht wirklich Interesse an dem, was Kyle ihm zeigen wollte. Es wäre ihm wirklich lieber gewesen, wenn er sich erst einmal mit seinem Bruder hätte unterhalten können. Ganz in Ruhe.

„Wo gehen wir hin?“, fragte er dennoch irgendwann, als er die Stille nicht mehr ertrug, die sein Bruder konsequent durchhielt.

Kyle schenkte ihm ein zufriedenes Lächeln. „Ich wusste, dass du früher oder später nachfragen würdest“, grinste er selbstsicher. „Wir gehen in eines der wichtigsten Viertel von Necropolis. Wenn du nach der Wahrheit dieser Welt suchst, liegen dort die meisten Antworten.“

Raven nickte nur, ließ die Worte auf sich wirken. Die Wahrheit dieser Welt. Derart bedeutungsschwere Worte war er von seinem Bruder nicht gewohnt. Er bezweifelte jedoch, dass auch nur halb so viel echte Bedeutung darin steckte.

Das Viertel, von dem Kyle gesprochen hatte, lag nördlich des gewaltigen Stadtplatzes. Lange bevor sie die ersten Häuser erreichten, erkannte Raven Menschen, die auf Bänken am Straßenrand saßen und sich unterhielten oder einfach nur den glühenden Himmel betrachteten. Als sie ihn und Kyle bemerkten, fielen die meisten von ihnen sofort auf die Knie und senkten demütig den Blick. Einige wenige nickten ihrem Fürsten nur anerkennend zu oder beachteten ihn nicht einmal. Aber Raven wunderte sich nicht, denn nur wenige Schritte später konnte er erkennen, warum.

Kyle blieb stehen und wandte ihm einen herausfordernden Blick zu. Raven wusste, worauf er wartete, aber er wollte ihm diese Bestätigung nicht geben. Diese Menschen, die hier die paradoxe Kühle des späten Abends genossen, passten so überhaupt nicht in das Bild, das er sich bisher von dieser Welt gemacht hatte. Von der Allianz des ewigen Friedens, die weder Armut noch Krankheit kannte. In der jeder Mensch in Würde alterte und bis zu seinem letzten Atemzug bei bester Gesundheit war.

Der alte Mann auf der Bank direkt neben ihm hatte demütig den Kopf gesenkt, seine rechte Hand lag auf seiner Brust, seine gesamte Körperhaltung machte deutlich, dass er alles gegeben hätte, um ebenso ehrfurchtsvoll vor seinem Fürsten auf die Knie fallen zu können. Die unnatürlich schlaffe Haltung seiner Beine allerdings verriet, dass er wohl gelähmt war.

Zur Linken des Mannes saß ein kleiner Junge, höchstens zwölf Jahre alt. Er gehörte zu denjenigen, die weder ihm noch Kyle Beachtung schenkten. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, einen alten Stoffhasen an sich zu drücken. Seine sehnigen Hände klammerten sich völlig verkrampft an das Kuscheltier, während er sanft hin und her wippend den wirren Blick über den Boden zucken ließ.

Während Raven die beiden immer noch anstarrte und nicht in der Lage war, sich zu wundern, geschweige denn zu verstehen, was das zu bedeuten hatte, machte sein Bruder ein paar Schritte zur Seite. Er nahm eine Frau an der Hand, die unter seiner Berührung fast vor Entzücken das Bewusstsein verlor, und kam mit ihr zurück zu Raven.

„Du bist Pflegerin, nicht wahr?“, wollte Kyle wissen, woraufhin die Frau energisch nickte. „Gut. Warum stellst du meinem Bruder nicht ein paar unserer Toten vor?“

„Zu Befehl, mein Fürst!“, seufzte die Frau und verbeugte sich tief. „Der Junge hier, zum Beispiel, mit dem Hasen in der Hand. Er kam im Alter von sechs Monaten zu uns, er kann nicht sprechen und nur mit Hilfe laufen. Sein Körper altert normal, aber sein Verstand ist der eines Kleinkindes und wird es wohl immer bleiben.“

Raven starrte den Jungen lange wortlos an, dann entschied er sich, doch noch auszusprechen, was ihm die ganze Zeit auf der Zunge lag. „Nein, aber das ist unmöglich! Warum hat denn niemand …?“

„Man kann es nicht heilen“, unterbrach ihn die Pflegerin. „Keine Lichtmagie der Welt kann das. Genau wie keine Magie der Welt dem alten Methusalem seine Beine wiedergeben kann. Er ist bei sich zu Hause auf der Treppe gestürzt, vor zwei Monaten erst.“ Sie bedeutete ihnen mit einer bescheidenen Geste, ihr zu folgen, und führte sie dann die Straße entlang. Bald kamen sie an zwei Frauen vorbei, die sich entspannt unterhielten. Sie sahen vollkommen gesund aus, aber bevor Raven sich wundern konnte, erklärte die Pflegerin schon: „Die beiden sind blind. Die eine von Geburt an, die andere seit fünfzehn Jahren. Genauso lange sind sie hier.“

Und sie ging weiter. Bereits jetzt verstörte das Ganze Raven schon so sehr, dass er sich kaum auf den Weg konzentrieren konnte. Als er an einer Kurve vor lauter Gedankenverlorenheit fast über ein kleines Kind stolperte, legte Kyle ihm fürsorglich die Hand auf den Rücken und führte ihn. Raven war ihm dankbar dafür.

Die Frau navigierte sie lange durch das Viertel, zeigte ihnen alte, gebrechliche Menschen, die mit zittrigen Händen auf den Bänken saßen und ihrem Fürsten mit einem erschöpften Lächeln begegneten – immer mit der Gewissheit im Blick, dass jeder Tag der letzte sein konnte. Sie brachte sie zu einem kleinen Platz, auf dem sich taube Kinder mit Zeichensprache unterhielten und andere ausgelassen spielten, wobei sie ignorierten, dass ihnen Arme oder Beine fehlten. Auch Kinder, die dem Jungen mit dem Stoffhasen ähnelten, saßen hier.

Wenig später blieb die Pflegerin stehen und seufzte betrübt. Raven riss seinen Blick von einer alten Frau los, die offensichtlich verwirrt und desorientiert an einer Ecke stand, bis ein junger Mann kam und sie davonführte.

„Und hier ist eines unserer traurigsten Schicksale“, erklärte sie schwermütig und ging zu dem Jungen, der nun vor ihnen stand und Kyle gereizt anstarrte. Er war noch ein Kind – wenn Raven sich nicht täuschte, sogar das jüngste, das er heute gesehen hatte.

„Er ist wirklich intelligent“, erklärte sie weiter, „auch sehr begabt im Umgang mit der Wüstenmagie. Nur leider wurde er ohne Rippen geboren.“ Sie legte dem Jungen vorsichtig die Hand auf die Brust. „Es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt am Leben ist. Er muss in jeder Sekunde seines Lebens einen Brustpanzer tragen, um sein Herz zu schützen. Jetzt kann man es spüren, und wenn er den Schutz ablegt, kann man es unter seiner Haut schlagen sehen. Noch dazu ist er nicht in der Lage, Emotionen zu zeigen. Seinen Eltern machte das Angst. Im Alter von drei Jahren haben sie ihn ausgesetzt.“

Raven hob langsam den Blick zu seinem Bruder. „Was bedeutet das, Kyle?“, fragte er vorsichtig, wollte es eigentlich gar nicht wissen. Lieber wollte er vergessen, was er gesehen hatte, und wieder aufwachen in einer Welt, die immer noch das Paradies war, auf das er immer gehofft hatte.

„Danke, du kannst gehen“, entließ Kyle die Pflegerin, die sich sofort zurückzog. Dann nahm er Raven am Arm und machte sich mit ihm wieder auf den Rückweg zur Festung. „Ich glaube, du hast genug gesehen für heute.“

„Was soll das, Kyle? Was bedeuten all diese Menschen?“, fragte Raven mit vor Verwirrung zitternder Stimme.

Sein Bruder streichelte im Vorbeigehen einem jungen Mädchen über die Haare, das daraufhin verliebt seufzte.

„Sie sind die Toten, die dieser Stadt ihren Namen gegeben haben“, sagte er. „Sie sind die Alten, die Schwachen, die Kranken, die man in den glitzernden Metropolen der Allianz so vergeblich sucht. Sie sind die Wahrheit dieser Welt.“

Aber Raven verstand immer noch nicht. Vielleicht wollte er nicht verstehen, vielleicht war es aber auch ganz einfach zu viel für ihn.

„Bitte … erkläre es mir“, bat er deshalb – und trotzdem.

Kyle ließ sich mit der Antwort Zeit. Erst als sie bereits wieder den Stadtplatz erreicht hatten, kam er Ravens Bitte nach. „Der Schattenclan, das ist diese Stadt. Wir sind der Schattenclan, und wir sind ein Geheimnis, ein Märchen. Die Menschen dort draußen wissen das nicht, in der gesamten Allianz weiß man nicht, dass es uns gibt. Es gibt einige, die an uns glauben, aber sie behalten es für sich, aus Angst, für verrückt erklärt zu werden.“

„Ja, aber was hat das …?“, fiel Raven ihm ins Wort, wurde aber seinerseits wieder von Kyle unterbrochen.

„Diese Ebene, das Schwarze Tal, ist die Heimat des Clans. Man kennt nur den Anblick, den es von den Bergen aus bietet: eine lebensfeindliche, glühende Wüste aus schwarzem Glas. Unter normalen Umständen könnte niemand hier länger als zwei Tage überleben. Aber der Clan hilft sich mit Magie. Alles in dieser Stadt ist Magie. Die Luft, der Regen, die Wolken.“ Er brach ab, als sie die Stufen vor der Festung erreichten, stieg sie in aller Seelenruhe empor, und Raven folgte ihm ungeduldig.

Bis jetzt leuchtete ihm die Erklärung seines Bruders noch ein. In diesem Tal war es wirklich wenig sinnvoll, ohne Hilfe von Magie überleben zu wollen. Doch nichts davon war eine Antwort auf irgendeine seiner Fragen.

„Aber wie gesagt, die Allianz weiß das nicht“, fuhr Kyle fort, nachdem sie die Festung betreten hatten. „Sagt dir der Begriff Ehrentod etwas?“

Raven schüttelte nur den Kopf, es fiel ihm immer schwerer, den scheinbar zusammenhangslosen Gedankensprüngen seines Bruders zu folgen.

„Vor langer Zeit gab es in der Allianz die Tradition des Ehrentodes. Menschen, die das perfekte Bild des Paradieses stören würden, haben mehr oder weniger freiwillig den Weg in dieses Tal gesucht, um die Gesellschaft von der Bürde ihrer Existenz zu befreien. Lahme, Greise – halb blind und geistig verwirrt –, aber ebenso kleine Kinder, die mit geistigen oder körperlichen Makeln geboren wurden, wurden über das Gebirge gebracht, um hier zu sterben. Sie sind nie zurückgekommen, deswegen hat niemand je hinterfragt, ob der Tod in diesem Tal wirklich so zuverlässig waltet wie erhofft. In Wirklichkeit aber hat sich der Schattenclan all dieser Menschen angenommen. Hier ist ihre Zuflucht. Hier führen sie ihr zweites Leben als unsere Toten.“

Raven sah Kyle nur fassungslos an, während dieser ihn wieder in das Schlafzimmer führte, Umhang, Mantel und Schwert ablegte und sich erschöpft auf das Bett fallen ließ. Er konnte weder glauben noch verstehen, was er eben erfahren hatte. Sicher, es erklärte, warum die unansehnliche Unterschicht, die er in Lunaris vermisst hatte, sich jetzt plötzlich hier befand. Dennoch …

„Aber das müsste bedeuten, dass die Altmagier davon wissen, oder nicht? Warum habe ich dann noch nie davon gehört?“, kombinierte er zögernd. Er hatte ein wenig Angst vor der Antwort, immerhin war auch er Schüler der Akademie, immerhin war sie der Sitz der mächtigsten Menschen der Allianz, derjenigen, denen die Bewunderung aller Länder gebührte, die über ein Reich des ewigen und unantastbaren Friedens herrschten.

„Sicher, der Ehrentod sollte jedem Altmagier ein Begriff sein“, antwortete Kyle und machte eine bedeutungsschwere Pause.

Damit ließ er zu, dass Ravens Vertrauen in seinen Meister für eine Sekunde ins Wanken geriet. Sein Vertrauen in diese ganze Welt. Gewissermaßen sogar in sich selbst.

„Aber ich glaube, mittlerweile halten sie ihn ebenso für ein Relikt aus alten Märchen wie den Schattenclan. Die Altmagier glauben vielleicht, sie würden die Allianz regieren, aber wahrscheinlich wissen sie selbst nicht, welche Opfer für die Wahrung der perfekten Fassade erbracht werden. Wenn der Begriff heute auch nicht mehr häufig gebraucht wird, gibt es immer wieder Menschen, die diesen Ehrentod für sich oder ihre Angehörigen wählen. Ihre Kinder oder Eltern – wer auch immer plötzlich zu einer Last wird. Es beobachten ununterbrochen mehrere Patrouillen des Clans die Grenze und bringen diese Leute unverzüglich nach Necropolis. Sie bringen jeden in die Stadt, der sich in unser Tal verirrt. Dann bleibt man entweder hier oder wird getötet.“

Er brach ab, und Raven entdeckte diesen Ausdruck auf seinem Gesicht, den er nur bekam, wenn er in Erinnerungen schwelgte.

„Nicht immer können die Menschen rechtzeitig gefunden werden. Vor allem die Schwachen, Kranken können in der erbarmungslosen Ebene meist nicht lange genug überleben. Bereits vor langer Zeit hat der Clan es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, diese Menschen nach Necropolis zu bringen, bevor es jemand anders tut. Ich weiß, das klingt paradox, denn gewissermaßen unterstützt der Clan dadurch die Propaganda der Allianz. Und wir haben damit ein weiteres Phantom geschaffen, ein weiteres Märchen, dessen Existenz die Altmagier vehement bestreiten: das der Menschenjäger. Kurz nachdem ich hier angekommen bin, habe ich gehört, dass sie beinahe einen Tutor der Akademie geholt hätten. Es war nicht schwierig herauszufinden, dass es sich dabei um Serin gehandelt hat. Letztendlich hat er den Weg in das Schwarze Tal ja nicht gefunden. Und vielleicht zu seinem Glück. Roben der Akademie werden hier nicht immer gern gesehen.“

Raven erinnerte sich, den Begriff Menschenjäger tatsächlich schon einmal von Serin gehört zu haben, als die Wahrheit über ihre Herkunft ihn fast um den Verstand gebracht hätte. Und er erinnerte sich daran, welche verachtenden Blicke seine Novizenrobe in dieser Stadt auf sich zog. Kyle wollte schon weitersprechen, aber er unterbrach ihn mit einer knappen Geste. Mit jedem Wort seines Bruders ergab alles immer mehr Sinn, passte alles immer besser zu den Zweifeln, die Raven selbst gehabt hatte.

„Aber die Altmagier wissen nichts davon?“, fragte er nach, wollte sich wenigstens das Gesicht der Akademie bewahren.

Kyle schüttelte den Kopf. „Ich glaube, sie ahnen es. Dann geben sie sich damit zufrieden. Aber sie wissen es nicht. Sie wissen erstaunlich wenig darüber, was hinter den Kulissen ihrer perfekten Allianz vor sich geht.“

„Und warum hast du mir das gezeigt?“

„Um dir die Augen zu öffnen. Diese Welt ist kein Paradies, das Paradies gibt es nicht. Es ist nur eine Illusion, eine Lüge, wie so vieles.“

Doch das genügte Raven immer noch nicht. „Aber diese ganze Sache mit diesem Clan … Diese ganze Stadt kann doch nicht nur dem einen Zweck dienen, kranken und alten Menschen ein Leben zu ermöglichen.“

Kyle seufzte sentimental, lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Er wich Ravens Blick aus, betrachtete friedlich lächelnd die Zimmerdecke. „Schluss mit dem Zauber“, begann er mit gesenkter Stimme, und Raven musste sich nicht lange wundern, um zu erkennen, dass er wohl irgendetwas zitierte. „Diese Welt hat lange genug unter euren Illusionen gelitten. Ich brauche eure Gnade nicht, ich sterbe freiwillig. Gehe in das Tal des Todes, denn was ihr nicht wisst: Dort liegt mein Land, meine Stadt. Dort blüht die Rose meiner Rache.“

Raven hob skeptisch eine Augenbraue und starrte seinen Bruder so lange wortlos an, bis dieser ihm den Blick zuwandte.

„Das ist ein Zitat aus den Chroniken des Reisenden“, meinte Kyle. „Er war der erste Schattenfürst, der Mann, der diesen Clan gegründet hat. Er hat auch gesagt, dass jeder, der nach Rache sucht, früher oder später den Weg in dieses Tal findet.“

„Also seid ihr nicht nur ein Verein von Verrückten, sondern ein Verein von rachsüchtigen Verrückten?“

Kyle lachte leise auf. „Ja, so in etwa.“

Raven verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich gereizt an die Wand. „Und? Wofür willst du dich rächen?“, fragte er zynisch, aber wie er erwartet hatte, bekam er keine Antwort. Kopfschüttelnd stieß er sich von der Wand ab, um zu gehen. Wohin, das wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht zurück nach Lunaris, vielleicht nur in ein anderes Zimmer. Aber so weit kam er ohnehin nicht.

„Du würdest es mir nicht glauben“, hielt Kyles Stimme ihn zurück.

Zweifelnd sah Raven seinen Bruder an. „Das kannst du nicht wissen.“

„Doch, ich bin mir ziemlich sicher. Ich bin hierher gekommen, weil ich … ja, ich war gewissermaßen eifersüchtig auf dich.“

„Das war schwer zu übersehen.“

„Aber das hat sich schnell gelegt. Ich habe hier den Unterricht bekommen, den ich gebraucht habe. Ich beherrsche jetzt alle Zauber der Feuermagie und … noch ein wenig mehr.“

Raven blinzelte irritiert bei diesen Worten, aber bevor er nachfragen konnte, sprach Kyle auch schon weiter: „Das mit meiner Rache hat sich erledigt. Jetzt … Ich bin mir selbst noch nicht sicher, aber ich glaube, ich sehne mich nach Gerechtigkeit.“

In dem Moment lachte Raven ungläubig auf und war schon kurz davor, doch einfach zu gehen. „Das ist ja wohl ein schlechter Witz!“, fuhr er auf. „Du und Gerechtigkeit? Das kannst du doch nicht einmal selbst glauben!“ Er erwartete, dass sein Bruder sich wieder mit irgendwelchen Entschuldigungen und Erklärungen verteidigte, umso mehr überraschte es ihn, als Kyle ihm plötzlich zustimmte.

„Du hast recht, ich glaube es selbst nicht. Aber wie gesagt, ich bin mir noch nicht sicher. Ich weiß nur, dass es etwas in dieser Welt gibt, das mich unendlich stört, und ich weiß auch, dass ich die Antworten auf tausend Fragen nicht selbst finden kann. Dieses Buch dort wird mir helfen. Genau wie die Chroniken des Reisenden. Aber das alles wird nicht reichen. Auch nicht mit deiner Hilfe. Du hilfst mir doch?“

Erneut konnte Raven seinen Bruder nur verdutzt anblinzeln. Er hatte sich in den zwei Jahren mehr verändert, als er jemals erwartet hätte. Aber der Tag war bereits viel zu lang gewesen, heute konnte er Kyle beim besten Willen nicht mehr antworten.

„Ich muss das alles erst einmal auf mich wirken lassen“, gab er seine Verwirrung zu. „Wir unterhalten uns morgen wieder. Vielleicht. Ich komme auf dich zu.“

Und damit ließ Raven seinen Bruder allein. Er schloss die Tür hinter sich und blieb auf dem Flur einfach stehen. Nur wenig später näherte sich ihm ein weißes Leuchten, und dann stand auch schon Kyles Diener vor ihm. Finn. Das alles war so irrsinnig, dass er es immer noch nicht fassen konnte. Sein Bruder als Alleinherrscher über eine ganze Stadt. Eine gewaltige Stadt noch dazu. Er fragte sich immer noch, wie es dazu kommen konnte und was das nun zu bedeuten hatte. Und spätestens nach dem heutigen Stadtrundgang und den wenigen Sätzen der Erklärung, die er erhalten hatte, konnte er die Fragen nicht mehr ignorieren. Er wollte es nicht wissen. Er wollte es nicht wissen wollen. Aber langsam begann er einzusehen, dass all diese Dinge nicht einfach verschwinden würden, wenn er sie lange genug ignorierte. Sein Bruder würde ihm noch viele Antworten geben müssen.

„Mein Herr?“, machte der unscheinbare Diener sich bemerkbar, nachdem Raven nicht auf ihn reagiert hatte. „Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?“

„Bring mich in irgendein Zimmer, in dem ich schlafen kann“, befahl er, und sofort kam Finn seinem Befehl nach. Führte ihn in einen Schlafraum, ein wenig von dem seines Bruders entfernt, was ihm nur recht war.

„Es soll Euch an nichts fehlen“, sagte Finn höflich lächelnd und zog sich nach einer tiefen Verbeugung zurück.

Raven verzichtete auf ein Licht. Der rötliche Schimmer, der durch das Fenster fiel, reichte ihm aus, um den Weg zu seinem Bett zu finden. Tief seufzend ließ er sich in die Kissen fallen und starrte noch lange nachdenklich in das Halbdunkel vor sich, bevor ihn endlich die Erschöpfung übermannte.

Am nächsten Morgen wurde Raven von einem unguten Gefühl geweckt. Noch leicht verschlafen öffnete er die Augen, und ihm blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als er Finn bemerkte, der abwartend neben seinem Bett stand.

„Bei allen Göttern!“, schrak er auf. „Was suchst du hier?“

Der Diener trat einen Schritt zurück und verbeugte sich tief. „Ich bitte um Verzeihung, mein Herr, ich wollte Euch nicht wecken. Aber jetzt, da Ihr wach seid, darf ich Euch etwas bringen?“

„Nein, verdammt!“, fluchte Raven den überraschten Diener an. Seine Verwirrung vom gestrigen Abend war nicht vergangen. Sie war sogar noch schlimmer geworden. „Du hast hier nichts verloren, verschwinde!“

Finn wich noch weiter zurück, senkte unterwürfig den Blick. „Verzeiht, Herr. Ich wollte nur sichergehen, dass für Euren Aufenthalt hier alles bereitet ist“, erklärte er kleinlaut und zog sich geduckt zurück.

Raven sah ihm verdutzt nach. Ja, das war in der Tat eine Erklärung. Er war es nicht gewohnt, einen Diener zu haben, der Tag und Nacht nur darauf wartete, seine Befehle anzunehmen. Aber auch in den vergangenen Jahren war er hin und wieder von Saphira geweckt worden, die in seinem Zimmer irgendetwas aufräumte, ihm frische Wäsche brachte oder auch nur einen duftenden Kräuterstrauß auf das Fensterbrett stellte.

Er realisierte erst nach und nach, dass er den armen Finn völlig grundlos angefahren hatte, und es tat ihm leid. Aber das war die Atmosphäre dieser Stadt. Dieses ewig düstere, blutrot glühende Himmelsinferno. Es raubte ihm ganz einfach die Nerven, und das schon nach der kurzen Zeit, die er hier verbracht hatte. Er vermisste die Sonne.

Raven stand auf, zog sich hastig an und eilte zu seinem Bruder. In dessen Zimmer angekommen schloss er gewissenhaft die Tür hinter sich, schlich zum Stuhl neben dem Bett und setzte sich. Kyle schlief. Und Raven wartete geduldig, bis er von selbst aufwachte. Er war sich der Ironie bewusst, die in diesem Verhalten lag, nachdem er Finn aus eben demselben Grund verjagt hatte. Aber er wollte Kyle nicht wecken. So ungeduldig er auch war, so wenig wollte er, dass der Moment wirklich eintraf, indem er all seine Fragen aussprach – und womöglich noch Antworten darauf bekam. Er wollte hier nicht sein. Er wollte gehen. Nach Hause. Sofort.

Aber in diesem Moment öffnete Kyle auch schon die Augen und blinzelte ihn irritiert an. „Guten Morgen, kleiner Bruder“, grüßte er ihn heiser und gähnte herzhaft.

Raven antwortete nicht. Er wich seinem Blick aus, klemmte die Hände zwischen die Knie und sah ihn wieder an. „Kyle“, begann er nach einer weiteren Ewigkeit des Schweigens zögernd. „Was … was ist ein Schattenfürst?“ Die Frage fiel ihm so unendlich schwer, weil es eines dieser Dinge war, die er eigentlich gar nicht wissen wollte. Er wollte diese Stadt, diesen Clan nicht verstehen, aber er wusste, dass ihn das Unwissen früher oder später verrückt machen würde. Und viel schlimmer: Er wusste, dass auf diese eine Frage viele weitere folgen würden.

Kyle setzte sich vorsichtig auf, konnte einen leisen Fluch aber nicht unterdrücken, als der Schmerz ihn durchfuhr. „Der Schattenfürst ist das Oberhaupt des Schattenclans“, erklärte er anschließend. „Jede Staatsform braucht ihre Führungskräfte. Der Schattenclan hat seinen Herrscher.“

„Warum bist du der Schattenfürst?“

„Warum nicht?“

Raven atmete tief durch, senkte bedrückt den Blick. „Nein, ich meine das ernst. Warum bist du dieser Herrscher? Konntest du nicht einfach …? Diese Führerrolle passt so überhaupt nicht zu dir.“

„Bitte? Sie passt perfekt zu mir! Sieh dich um! Sieh mich an! Was könnte ich mehr wollen?“

„Ich verstehe das alles nicht“, gestand Raven. „Diese Stadt verwirrt mich. Ich komme mir vor wie in einen merkwürdigen Albtraum versetzt.“

„Man gewöhnt sich daran.“

„Und was macht jetzt so ein Schattenfürst?“

Kyle antwortete nicht sofort. Starrte eine ganze Weile nur ernst vor sich hin, als würde diese Frage seinen Verstand vollkommen übersteigen. Als er endlich weitersprach, wirkte er mit seiner Antwort selbst nicht ganz zufrieden: „Der Schattenfürst regiert den Schattenclan.“

„Nein wirklich“, seufzte Raven. „Und was macht so ein Schattenclan? Ich weiß es nicht, Kyle. Ich frage dich, weil ich es wirklich nicht weiß. Du hast mir all diese Menschen gezeigt, all die Toten, und alles, was es mir gebracht hat, sind Hunderte unbeantworteter Fragen, die mir keine Ruhe mehr lassen. Du hast gewonnen. Ich will es wissen. Hilf mir, dich zu verstehen.“

Kyle schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Ich will es versuchen. Du wirst bereits ahnen, dass der Schattenclan mehr ist als eine Zuflucht für diese Menschen.“

„Du hast von Rache gesprochen“, erinnerte sich Raven.

Kyle nickte zustimmend. „Der Schattenclan mit all seinen verstoßenen und rachsüchtigen Mitgliedern bildet das einzige Gegenstück zur Allianz. Wer sich nicht der Regierung der Altmagier unterwirft, unterwirft sich mir.“ Er lachte amüsiert auf. „Das klingt gut, nicht wahr? Meistens ist es eine stumme Koexistenz. Übergeordnetes Ziel des Clans ist und war es allerdings schon immer, die Altmagier-Herrschaft zu stürzen und die Allianz zu zerschlagen. Andersherum wäre es genauso, aber es weiß ja niemand, dass es uns gibt. In der Gründungszeit der Allianz, noch vor dem Jahr null der hiesigen Geschichtsschreibung, gab es einige Stimmen, die nicht ganz einverstanden waren mit dem Plan, alle Grenzen abzuschaffen und alle Länder in einem einzigen Bündnis der Herrschaft der Altmagier zu unterstellen. Es gab Aufstände – bis hin zu einem regelrechten Bürgerkrieg. Selbstverständlich hatten die Altmagier keine Schwierigkeiten, die Rebellion zu zerschlagen. Es hat viele Menschen das Leben gekostet. Vor allem viele Unschuldige. Der endgültige Sieg über ihre eigenen Bürger beschreibt die Gründung der Allianz und den Beginn der neuen Zeitrechnung. Dieser Widerstand war noch nicht der Clan, auch wenn die Legenden in dieser Hinsicht über die Jahre verschmolzen sind. Aber wir haben dennoch aus der Vergangenheit gelernt. Deswegen halten wir uns verdeckt, um ein ähnliches Massaker zu verhindern – zumindest bis wir so weit sind, die Geschichte neu zu schreiben.“

„Von wegen es gibt keinen Krieg in dieser Welt“, murmelte Raven, was seinem Bruder erneut ein lustloses Auflachen entlockte.

„Genau das dachte ich mir auch. Aber es ist eben eine Angewohnheit der Altmagier, alles zu leugnen, was ihr Bild der perfekten Welt stören könnte. Der Krieg wurde aus der Geschichte gelöscht, und die vermeintlichen Sieger haben die Allianz als unbeflecktes Bündnis des ewigen Friedens gegründet. Das Ganze ist über fünfzehnhundert Jahre her. Heute kennt niemand mehr die Wahrheit. Niemand außerhalb des Clans, wohlgemerkt.“

Kyle verstummte, und Raven erwiderte nicht sofort etwas. Es war versucht, einfach alles abzustreiten, was er hörte. Es wäre so einfach gewesen, den perfekten Frieden zu verteidigen, den er seit zwei Jahren lebte, hätte er sie nicht selbst gesehen, die Relikte des Krieges, von dem sein Bruder sprach. Angefangen bei Lunaris und seiner Stadtmauer.

„Und das ist es also, was du tust“, fasste er irgendwann mit gesenkter Stimme zusammen. „Du willst die Staatsordnung der Allianz vernichten, eine ganze Welt ins Chaos stürzen, um über die Überreste herrschen zu können?“

Kyles Lächeln erstickte. Er sah ihn auf einmal mit einem so kalten Blick an, dass es Raven fröstelte. Aber er ließ sich nichts anmerken, hielt dem eisigen Blick seines Bruders stand.

„Ich bin gerade einmal seit zwei Tagen Fürst. Ich weiß noch nicht genau, was ich mit meiner Macht anfange“, sagte Kyle mit einer leidenschaftslosen Stimme, die nicht zu seinem Blick passte.

„Aber du kannst darüber sprechen, als hättest du alles seit Jahren geplant. Du weißt genau, was du mit deiner Macht anfangen willst, Kyle. Glaub nicht, dass ich das nicht sehen kann.“ Raven erkannte, dass er seinen Bruder an einer empfindlichen Stelle getroffen hatte.

„Du würdest mir wieder nicht glauben“, erwiderte dieser trocken.

„Wahrscheinlich. Du könntest trotzdem versuchen, es mir zu erklären.“

Kyle wandte entschlossen den Blick ab. „Noch nicht. Erst wenn ich selbst genug Antworten habe.“

Und zu seiner eigenen Überraschung gab Raven sich damit zufrieden. Nicht zuletzt, weil er noch tausend andere Fragen hatte. „Auch gut. Aber zu einer anderen Sache. Wie bist du der Fürst geworden?“

Er traf den verdutzten Blick seines Bruders. „Wie? Du weißt es nicht? Du warst doch dabei?“

„Na ja, nicht wirklich. Ich habe nur gesehen, dass du verletzt warst, und Urias hat mir erklärt, dass die Wunde von einem verfluchten Schwert kommt. Mehr nicht. Ich habe mir zwar eine Vorstellung machen können, aber …“ Er brach ab, wartete – hoffte darauf, dass sein Bruder ihm widersprach.

Aber nach langem Zögern nickte Kyle nur widerstrebend. „Ich fürchte, das stellst du dir richtig vor. Den Titel des Schattenfürsten trägt man auf Lebenszeit. Irgendwann passiert es dann, dass sich jemand berufen fühlt, diesen Titel zu übernehmen, und die einzige Möglichkeit dazu besteht darin, den aktuellen Fürsten herauszufordern. Man kämpft im Duell gegeneinander, wer überlebt, darf herrschen.“

Raven wollte schon etwas sagen, aber die Bestätigung, dass sein Bruder tatsächlich in einer derartigen Gefahr schwebte, verschlug ihm erst einmal die Sprache.

„Früher oder später werde ich auch herausgefordert werden, vielleicht sogar gestürzt“, fuhr Kyle fort, was es nicht unbedingt besser machte.

„Was hat eigentlich dein aufdringlicher Diener für ein Problem?“, fragte Raven deshalb schnell, um das Thema zu wechseln.

„Finn?“, wunderte sich Kyle.

„Ja, Finn. Er ist mir irgendwie unheimlich. Ich bin gerade einmal zwei Tage hier, und ich mag ihn schon jetzt nicht.“

Kyle zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Ich auch nicht, aber er hat den letzten vier Fürsten loyal gedient.“

Und wieder waren sie beim selben Thema angelangt. Aber diesmal konnte Raven es nicht einfach ignorieren, denn es erschreckte ihn regelrecht.

„Den letzten vier?“, wiederholte er ungläubig. „Der ist doch kaum älter als ich! Wie lange dauert denn die Amtszeit so eines Fürsten?“

Kyle zögerte. Ihm war deutlich anzusehen, dass es ihm selbst genauso wenig gefiel, über diese Sache nachzudenken, die nach seiner Beschreibung unweigerlich mit seinem Tod enden würde.

„Selten länger als zwei Jahre“, gestand er schließlich, was Raven noch mehr entsetzte.

„Nein, oh nein, Kyle, das ist nicht wahr. Du willst mir erzählen, du hast nur noch zwei Jahre zu leben? Du kommst hierher, stürzt deinen Fürsten und nimmst seinen Platz ein, obwohl du weißt, dass sie dich dann in zwei Jahren töten?“

Kyle schnaubte verächtlich, aber während er antwortete, fiel es ihm schwer, Raven in die Augen zu sehen. „Keine Sorge, sie werden mich nicht töten“, versicherte er. „Du kennst mich, es wird ihnen nicht gelingen. Außerdem habe ich dich.“

„Ich bin doch nur durch einen Zufall hier, Kyle! Und verdammt noch mal, ich werde auch nicht bleiben! Ich bin Novize! An der Akademie! Und dorthin werde ich wieder zurückgehen!“

„Mir wird schon nichts passieren, Ray. Mir ist bis jetzt auch nichts passiert.“

Raven sah ihn nur skeptisch an.

„Gut, bis vorgestern. Und das war auch eine Ausnahme. Ich bin jetzt vorsichtiger.“

„Bis vorgestern warst du noch kein Schattenfürst, Kyle“, seufzte Raven, stand kopfschüttelnd auf und trat ans Fenster. „Warum brennt deine Stadt?“

„Ich bin nicht ganz sicher. Es hat wohl irgendwas mit meiner Feuermagie zu tun. Das ist eines von den Dingen, die ich erst selbst verstehen muss. Aber genug von mir. Bei dir sind immerhin auch zwei Jahre vergangen. Was ist denn alles passiert, was habe ich verpasst?“

Raven legte nachdenklich eine Hand an die Fensterscheibe. Wie schon gestern und am Abend davor bemerkte er auch jetzt wieder, wie uneben das Glas war. Als wäre es – wie alles in dieser Stadt – nicht von Menschenhand hergestellt worden, sondern einfach entstanden. Aus sich selbst. Die Häuser am fernen Stadtrand lauerten in der Dunkelheit wie hungrige Wölfe mit rotglühenden Augen.

„Nicht viel“, begann er anschließend, während er seinen Blick über die Ebene schweifen ließ. „Ich habe mich wieder mit Serin vertragen. Zu erfahren, dass wir aus dem Verbotenen Land kommen, hat ihn ziemlich mitgenommen. Ich hatte ein wenig Sorge, dass ich deswegen noch Schwierigkeiten bekomme, aber seitdem hat niemand mehr etwas deswegen gesagt. Ich habe gerade mein viertes Semester an der Akademie bestanden, bin aber schon auf dem Stand des sechsten Semesters. Um meine Grundausbildung nachzuholen, hatte ich bisher keine Zeit, nur den Lichtzauber habe ich mir selbst beigebracht. Und … mit der Hilfe von Melenis.“

„Wie geht es ihr?“, fragte Kyle so unvermittelt, dass Raven nicht ganz wusste, was er antworten sollte.

„Gut, schätze ich. Sie ist eine begabte Magierin. Und sie vermisst dich nicht.“

Sein Bruder lachte friedlich auf. „Das habe ich auch gar nicht erwartet. Dann bist du jetzt also ein echter Blutmagier?“

„Wohl kaum. Ich bin immer noch Schüler. Auch wenn ich jetzt den einen oder anderen Zauber beherrsche.“

„Willst du mir einmal etwas zeigen?“

„Die Blutmagie ist nichts, was man mal eben vorführen kann“, widersprach Raven ernst, aber seinen Bruder konnte das nicht beeindrucken.

„Ach, komm schon. Ich zeige dir auch etwas, pass auf!“, grinste Kyle enthusiastisch und straffte ein wenig seine Körperhaltung. „Das ist ein Zauber, den ich mir auch selbst beibringen musste.“

Raven zuckte erschrocken zusammen, als in der Mitte des Raumes, wo ein wenig Platz war, plötzlich ein Feuer aufflammte, das Kyle hoch konzentriert anstarrte.

„Dieser Zauber hat nicht viel Sinn, aber es ist eine äußerst gute Übung, da das Feuer sich nur ungern in irgendeine bestimmte Form zwingen lässt.“

Kyle verstummte, und Raven sah fasziniert zu, wie die blutrote Flamme erst wild flackerte, sich immer mehr zusammenzog und fast schon greifbar wirkte. Die ungezügelte Bewegung verfiel in einen pulsierenden Rhythmus, der fast einem Herzschlag ähnelte. Und plötzlich hob die Flamme den Kopf. Ein schlankes Gesicht sah sich eingehend im Raum um, während lange, seidig anmutende Feuerzungen wie glänzende Haare im Sturm wehten. Das Geschöpf entfaltete erst den einen Arm, dann den anderen, richtete sich schließlich anmutig auf. Jetzt stand dort ein flammendglühender Frauenkörper, schlank und anmutig, der sich äußerst verführerisch streckte, wie nach einer langen, erholsamen Nacht. Die leuchtende Kreatur wandte den konturlosen Blick an Raven, schwebte elegant auf ihn zu, lehnte sich mit verlockend gespitzten Lippen zu ihm vor. Raven war vor Verwirrung wie versteinert. Er konnte dem Feuerwesen nicht ausweichen, aber das musste er auch gar nicht, denn kurz bevor es ihn berühren konnte, verglühte es in einer kleinen, leuchtenden Wolke.

„Schade“, hörte er Kyles Stimme neben sich und wandte ihm langsam den Blick zu. „Aber der Zauber ist wirklich anstrengend, recht viel länger konnte ich ihn noch nie aufrecht halten.“

„Was war das?“, fragte Raven, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte.

„Ein Feuergeist. Ein großer Feuergeist. Hat er dir gefallen?“

„Was?“

„Nicht? Verdammt, dabei habe ich mir solche Mühe gegeben. Hat er dich nicht an jemanden erinnert?“

Das hatte er tatsächlich, aber Raven schüttelte trotzdem schweigend den Kopf.

„Na ja, Melenis. Ich dachte mir, ich mache dir eine kleine Freude. Ist sie mir nicht gelungen?“

„Ist das alles, was du kannst?“, entgegnete Raven betont unbeeindruckt. „Nackte Frauen heraufbeschwören?“ Er hatte Mühe, dem unschuldigen Blick seines Bruders standzuhalten. Denn da war tatsächlich etwas, das er für Melenis empfand, und er wollte nicht, dass Kyle es bemerkte.

„Nein, ich kann schon noch andere Dinge“, antwortete Kyle. „Alles Mögliche eben, was mit Feuerbeschwörung zu tun hat. Frag mich nicht, warum, aber ich kann auch einen Elch machen.“

„Einen Elch.“

„Ja, aber nackte Frauen gefallen mir einfach besser.“ Er schenkte Raven ein freches Lächeln und lehnte sich entspannt in seinem Bett zurück. „Was ist mit dir?“

„Ich habe nichts gegen Elche …“

Kyle kicherte leise. „Nein, ich meine … du weißt, was ich meine. Man kann dir ansehen, dass irgendetwas zwischen dir und Melenis passiert ist. Gib es zu, da läuft irgendwas zwischen euch. Sag schon, was läuft da?“

„Nichts.“

„Komm schon, Ray, mir kannst du es doch sagen! Wenn du willst, dann erzähle ich dir auch, was ich …“

„Nein, lass es lieber.“

Kyle zuckte nur mit den Schultern. „Dann eben nicht. Aber ich gebe keine Ruhe, bevor du mir nicht erzählst, was zwischen euch ist. Und du kennst mich. Das ist nicht nur eine leere Drohung!“

Raven nickte schwermütig, denn er wusste, dass sein Bruder die Wahrheit sagte. Noch dazu ging ihm dessen Neugier nicht einmal auf die Nerven. Er wollte ja jemandem erzählen, was ihm auf der Seele lag, er war sich nur nicht sicher, ob sein Bruder der Richtige dafür war. Kyle hatte sich wirklich stark verändert, das musste er sich schon nach der kurzen Zeit ihres Wiedersehens eingestehen. Zwar hatte er nicht seine unbeschwerte, alberne und manchmal respektlose Art abgelegt, aber da war auch eine ganz neue Seite an ihm. Sein gefasster, ernster Ton, wenn er über den Clan sprach. Die würdevolle, selbstbewusste Haltung, wenn er als Fürst mit seinen Untertanen interagierte. Der dunkle Schatten gedankenversunkener Bedeutsamkeit in seinem Blick, wenn er ihn über die albtraumhafte schwarze Splitterstadt schweifen ließ.

Raven hoffte, dass es eine Veränderung zum Besseren war. Ob sie aber ausreichte, um die zwangsläufige Verwandtschaft auf eine tatsächliche Freundschaft auszuweiten, da war er sich noch nicht so sicher.

„Na ja, sie … sie hat mich geküsst“, erzählte er schließlich zögernd.

Kyles Augen leuchteten auf. „Na, ich wusste es doch! Und dann?“

„Nichts dann. Dann bin ich losgegangen, um dich zu suchen.“

Sein Bruder blinzelte langsam, senkte für einen Moment den Blick, als würde er angestrengt überlegen, aber zu keinem Ergebnis kommen. „Wann war das?“

„Vor einer Woche vielleicht? Ich bin mir nicht ganz sicher, wie lange …“

„Das kann doch nicht sein!“, unterbrach Kyle ihn aufgeregt, fast schon aufgebracht. „Zwei Jahre, und alles, was du zustande bringst, ist ein einziger Kuss vor einer Woche?“

„Na ja, ich …“

„Auf mich kannst du es nicht mehr schieben, Brüderlein, ich war die ganze Zeit nicht da. Ich hätte ein wenig mehr von dir erwartet, Ray. Zwei Jahre! Da kann man es doch zu mehr bringen als zu einem Kuss!“

„Vielleicht will man ja gar nicht, dass es zu mehr kommt, schon einmal daran gedacht?“, warf Raven ein, weil er plötzlich das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. Er wünschte sich jedoch bald, lieber nichts gesagt zu haben.

„Nein, Raven, habe ich nicht“, antwortete Kyle, ohne überlegen zu müssen. „Man will immer, dass es zu mehr kommt, verstanden? Immer. Ohne Ausnahme. Es sei denn …“ Er unterbrach sich selbst, versank einmal mehr in Gedanken und wandte ihm dann den prüfenden Blick zu. „Es war Melenis, oder? Sie hat sich nicht getraut, oder? Hat dir irgendeine Geschichte erzählt von wegen erstes Mal? Es würde ihr zu schnell gehen? So war es doch!“

Und wieder war Ravens Mund schneller als sein Verstand. „Ganz im Gegenteil. Ich glaube, für Melenis hätte es ruhig schneller gehen dürfen.“ Er wollte sich am liebsten selbst ohrfeigen, als sein Bruder ihn daraufhin fassungslos anstarrte. Er sah aus, als würden sie plötzlich nicht mehr dieselbe Sprache sprechen, und die Worte, die er hörte, kämen ihm zwar bekannt vor, würden in seinen Ohren aber keinen Sinn mehr ergeben.

„Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, Raven“, gestand er, aber anstatt einfach gar nichts mehr zu sagen, wurden seine Spekulationen immer wilder. „Ist sie vielleicht nicht … wie drücke ich das bloß aus … dein Geschmack? Würde dir jemand wie Serin besser gefallen? Oder bist du deswegen den ganzen Weg hierher zu mir gekommen? Ich fühle mich ja geschmeichelt, Raven, aber wir sind Brüder!“

Raven schrak auf. „Spinnst du?“

„Ich versuche nur, dich zu verstehen!“, ließ Kyle nicht locker. „Und wenn du vor einem Mädchen wie Melenis davonläufst, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten!“

„Ich bitte dich, Kyle.“

„Dann stehst du entweder auf Männer, oder …“

„Sag es nicht.“

„ … es ist dein erstes Mal!“

Raven atmete angestrengt durch und wandte sich wieder dem Fenster zu. Er spürte den fassungslosen Blick seines Bruders, der sich in seinen Nacken bohrte, konnte seine Gedanken förmlich hören. Aber was war denn auch so schlimm daran? Dann hatte er eben noch nie … Er konnte ja nicht einmal etwas dafür! Immerhin hatte er fast sein ganzes Leben lang kein Mädchen länger gekannt als zwei Wochen. Und wem hatte er das zu verdanken?

Doch diesmal konnte er Kyle nicht einmal einen Vorwurf machen, denn in dieser Beziehung hatte sein Bruder recht: Er hätte zwei Jahre Zeit gehabt, und Melenis hatte mehr als deutlich gemacht, was sie sich von ihm erhoffte. Je länger er darüber nachdachte, umso deutlicher wurde alles. Der Kuss kurz vor seinem Aufbruch war nur ihr letzter Aufschrei gewesen, nachdem er sich die ganze Zeit geweigert hatte, ihrem Flüstern zuzuhören. Es hätte ihm viel früher auffallen müssen.

Wie sie sich immer in seiner Nähe aufgehalten hatte, hier und da ein sanftes Lächeln, ein verlegener Blick, eine scheinbar zufällige Berührung … Wie hatte er nur so blind sein können!

„Ich musste mir ja die ganze Zeit Sorgen um dich machen“, verteidigte er sich irgendwann halbherzig, aber in seiner Stimme war nicht die geringste Spur von Überzeugung zu hören, deswegen hielt sein Bruder es wohl auch nicht einmal für notwendig, ihm zu antworten.

Er hörte ein Geräusch hinter sich, und als er sich umdrehte, war Kyle aufgestanden und wollte wohl, dass er mit ihm das Zimmer verließ.

„Na komm, kleiner Bruder, lass mich dir ein kleines Geschenk machen.“

Raven zögerte immer noch, musterte seinen Bruder eingehend. Er versuchte, seine Gedanken zu lesen, er kannte Kyle gut genug, er müsste eigentlich erahnen können, was er vorhatte. Als er glaubte, die Antwort zu haben, erschrak er sogar ein wenig.

„Vergiss es, Kyle, ich werde bestimmt nicht mit dir in ein Bordell gehen!“, regte er sich auf und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu.

„Das macht gar nichts, ich kann dir bestimmt auch das eine oder andere Mädchen bringen lassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sogar ein paar hier habe.“

„Hör schon auf mit dem Unsinn, Kyle. Ich will nicht irgendein wildfremdes Mädchen, nur weil du den Gedanken nicht ertragen kannst, dass ich …“ Er brach ab, hoffte, dass sein Bruder ihm nicht ansehen konnte, wie sehr er sich insgeheim dafür schämte.

„Dass du was? Siehst du, du kannst es nicht einmal aussprechen. Oh, du tust mir leid, wirklich.“

„Vielleicht bin ich ja glücklich damit!“

„Bist du nicht. Niemand kann in deinem Alter noch Jungfrau sein und sich damit zufriedengeben. Das geht nicht, das ist einfach nicht möglich. Immerhin bist du jetzt ja auch schon …“ Kyle brach ab und als Raven ihm einen kurzen Blick zuwarf, sah er aus, als würde er hoch konzentriert rechnen.

„Einundzwanzig“, half Raven nach, woraufhin sein Bruder fast vollständig die Fassung verlor.

„Einundzwanzig!“, wiederholte er mit angedeutetem Entsetzen, fuhr sich verzweifelt durch die Haare. „Bei allen Göttern! Es ist schlimmer, als ich dachte! Einundzwanzig Jahre und noch kein einziges Mal? Das kann doch nicht sein!“ Er wandte Raven den wirren Blick zu, und als er dann keine Worte mehr fand, fing er an, sinnlos zu gestikulieren, während er angestrengt nachdachte.

„Überanstreng dich nicht“, meinte Raven genervt. Warum musste sein Bruder daraus auch so eine große Sache machen?

Plötzlich nahm Kyle seine Hände und sah ihm flehend in die Augen. „Bitte, kleiner Bruder, ich flehe dich an: Lass mich dir eine Frau bringen.“

„Was? Nein!“

„Vertrau mir, wenn du erst einmal eine echte Frau hattest, sieht die Welt gleich viel schöner aus! Und wenn du zu Melenis zurückkommst, kannst du ihr gleich zeigen, was du alles gelernt hast!“

Das brachte Raven endgültig an den Punkt, an dem er sich das nicht mehr länger anhören wollte. „Das reicht, das geht endgültig zu weit!“, fuhr er seinen Bruder an, stürmte an ihm vorbei zur Tür. „Ich verschwinde.“

„Nicht, Raven. Bleib hier.“

„Nein, ich habe genug von dir. Wie konnte ich nur vergessen, was für ein Idiot du bist! Ich bin froh, dass es dir gut geht, aber ich muss mir das nicht anhören. Wir sehen uns dann in zwei Jahren.“

Kyle seufzte tief. „Es tut mir leid, in Ordnung? Ich wollte dir nicht zu nahe treten, ich war taktlos, und es tut mir leid.“

Raven hielt inne, als er das hörte. Er zögerte einen Augenblick, bevor er sich zu seinem Bruder umwandte und ihn ungläubig ansah. Er konnte sich kaum erinnern, wann Kyle sich zuletzt bei ihm entschuldigt hatte. Wenn es eine aufrichtige Entschuldigung sein sollte, war er sich nicht sicher, ob er schon jemals eine von ihm gehört hatte. „Das meinst du doch nicht ernst.“

Kyle zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Was weiß ich, jedenfalls solltest du hierbleiben. Wenigstens für ein paar Tage. Bitte.“

Raven machte einen skeptischen Schritt auf ihn zu. Dass sein Bruder eine Veränderung durchgemacht hatte, war ihm ja schon zuvor aufgefallen. Dennoch reichten diese wenigen Worte aus, um ihn für den Moment vollkommen zu überfordern.

„Hast du mich da eben wirklich gebeten zu bleiben?“, fragte er ungläubig, und Kyle nickte schwach. „Das war kein Befehl? Keine Ironie, mit der du mir eigentlich sagst, dass du mich loswerden willst?“

„Bleib noch ein wenig.“

„Also gut“, gab Raven zögernd nach. „Aber dann kannst du mir jetzt wenigstens etwas zu essen bringen lassen. Ich bin am Verhungern.“

Kyle schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Fühl dich ganz wie zu Hause.“

Raven blieb auch die nächsten drei Tage bei seinem Bruder. An einem verregneten Nachmittag saß er vor der Festung auf dem Thron des Fürsten und ließ den Blick nachdenklich über den gewaltigen Stadtplatz schweifen. Am brennenden Himmel standen dunkle Wolken, die schweren Regentropfen, die von ihnen auf die gläserne Erde fielen, verwandelten sich im roten Höllenlicht in glitzerndes Blut.

Der Regen war angenehm, was es fast noch absurder machte. Die gesamte Stadt stand in Flammen, aber niemanden schien es zu stören. Necropolis lag mitten im lebensfeindlichen Schwarzen Tal, aber die Luft hier war kühl und angenehm, der Regen hingegen warm genug, um im Schauer nicht zu frösteln. Und alles glühte in diesem blutigen Licht … Selbst, jetzt noch, als er es vor sich sah, selbst ein Teil davon war, konnte Raven nicht glauben, sich nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt existierte.

Er schüttelte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und senkte den Blick. In seinen Händen hielt er das Buch seines Bruders, die Epistulae Exustae. Und schon allein, dass er hier mit ihnen saß, gab ihm ein neues Rätsel auf, denn der Regen konnte die wertvollen Seiten nicht beschädigen. Das Wasser perlte einfach daran ab und ließ das Papier unberührt zurück. Ob das nun an der Magie lag, die in den Tropfen steckte, oder an der Magie des Buches? Vielleicht an beidem.

Die bedeutungsschweren Worte, die bei Berührung von einer unsichtbaren glühenden Feder nachgefahren wurden, verstärkten den Eindruck der seelenlosen Hölle nur noch mehr. Immer wieder erinnerte er sich an den halbschattigen Wald von Saphira, die sonnigen Gärten der Akademie und den fröhlichen Vogelgesang, den er hier so vermisste. Und immer wieder fiel ihm auf, wie deutlich diese Welt gespalten war. Wie deutlich auch er selbst gespalten war zwischen der Hölle seines Bruders und dem Paradies rund um die Akademie.

Er seufzte tief, ließ die Hand einfach auf der aufgeschlagenen Seite liegen und hob den Blick wieder zum Horizont. Warum sträubte er sich nur immer noch dagegen? Er wusste jetzt, dass es seinem Bruder gut ging, er hatte eine ganze Stadt voller Verbündeter um sich, einen mächtigen Lichten in seiner Festung … Kyle ging es gut, er konnte also damit aufhören, sich Sorgen um ihn zu machen, und endlich anfangen, sich seine Gefühle für Melenis einzugestehen. Wenn er sich nur nicht so sicher wäre, dass er auch sie früher oder später verlieren würde.

Als er Schritte hinter sich hörte, sah er sich um und entdeckte Kyle, der ihm ein flüchtiges Lächeln schenkte.

„Hier bist du also“, stellte er fest, wunderte sich nicht, als er das Buch entdeckte, hatte wohl auch schon seine wasserabweisende Eigenschaft entdeckt.

„Ich habe ein wenig nachgedacht“, meinte Raven, blätterte sinnlos die Seiten durch. „Und ich weiß jetzt, warum deine Stadt brennt.“

Kyle lehnte sich interessiert neben ihm an den Thron. „Und?“

„Das liegt an den Zaubern, die seit Entstehung dieser Stadt gewoben werden. An keinem anderen Ort auf der Welt wird so viel Magie gewirkt. Schon allein der Regen. Drei mächtige Wassermagier braucht es, damit einmal in der Woche in dieser Stadt der Regen fällt. Und da vor allem die Fürsten des Clans immer besonders mächtig sind und umso mehr auf ihre Magie setzen, hat die Festung sich irgendwann selbstständig gemacht. Ist zum lebenden Herz von Necropolis geworden.“ Er machte eine kurze Pause, erinnerte sich an den Eindruck, den dieses monströse Gebäude schon auf ihn gemacht hatte, als er es zum ersten Mal gesehen hatte. Ein schlafender Dämon, ein dornenbesetzter Drachenkörper. Nachdem er das alles jetzt auch verstand, glaubte er fast, den trägen Herzschlag des Wesens zu spüren.

„Eine lebende Festung“, wiederholte Kyle beeindruckt, sah sich kurz danach um. „Wie hast du das herausgefunden?“

Raven hörte damit auf, die Epistulae durchzublättern, und war nicht überrascht, als er genau an der richtigen Seite angehalten hatte. Auch dieses Buch war reine Magie, manchmal glaubte er, es würde sogar seine Gedanken kennen.

„Steht alles hier drin“, erklärte er und begann zu lesen: „Kapitel 3: Mein Weg war lang und hat mich dennoch wieder hierher zurückgeführt. Goldene Heimat, goldene Stadt. Erstrahltest du gestern noch im Glanz der Wüste, verschlingt dich heute das Dunkel. Der Zauber der Herrschaft hat dein Herz verfinstert, doch ich kann dir kein Licht bringen. Denn mein Weg ist nicht die Herrschaft, mein Weg ist die Suche, mein Weg ist die Einsamkeit.“ Er schlug das Buch zu. „Und dann geht es so weiter, da wird ewig beschrieben, wie einsam und leer doch die Welt ist … relativ uninteressant.“

Kyle verschränkte gedankenversunken die Arme vor der Brust und gab einen nachdenklichen Laut von sich. „Wenn du es so sagst, ist deine Schlussfolgerung recht naheliegend, ja.“

„Diesem Buch haben wir es auch zu verdanken, dass wir noch leben, oder?“

Kyle blinzelte ihn irritiert an. „Wie meinst du das?“

„Vor zwei Jahren. Der Sucher. Du wusstest, dass er kommen würde, denn auch das steht alles hier drin. Kapitel 326: Die Grenzen wurden gebrochen. Der Sucher erwacht.“ Raven atmete tief durch, fuhr vorsichtig über den ledernen Einband. „Was bedeutet das, Kyle? Was ist das für ein Buch?“

„Das versuche ich seit zwei Jahren herauszufinden.“

„Du musst doch langsam zu irgendeinem Ergebnis kommen.“

„Es gibt noch zu viele Kapitel, die ich nicht verstehe.“

Erneut hörte er Schritte, sah sich diesmal aber nicht um. Kyle war bereits bei ihm, wer sonst konnte es also sein, wenn nicht Finn?

„Endlich habe ich Euch gefunden, Herr“, seufzte da auch schon die unterwürfige Stimme des Dieners. „Ich muss mit Euch sprechen, ich fürchte, es ist wichtig.“

„Dann fang schon an“, meinte Kyle gelassen, woraufhin Finn nervös mit seinen Fingern spielte.