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Warda Moram

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Beschreibung

Die Dunkelheit wächst mit jedem Moment - so, wie das Licht mit jedem Moment an Kraft verliert. Und wenn alles Schatten ist, wenn Hell und Dunkel ineinanderfließen wie Staub und Asche, Wasser und Blut, dann beginnt der kälteste Winter. Dann beginnen die Vergessenen wiederzukehren. Die Grenzen wurden gebrochen. Der Sucher erwacht ... (Epistulae Exustae, Kapitel 326) Zwei Brüder ziehen heimatlos umher: Der verwegene Kyle ist getrieben von seiner dunklen Vergangenheit, während der zurückhaltende Raven an der Impulsivität seines Bruders so manches Mal verzweifelt. Warum müssen sie stets fliehen, warum ständig lügen? Als sie ein Tabu brechen und die Grenze zum Verbotenen Land überschreiten, treten die in ihnen schlummernden magischen Kräfte zutage. Auf der hoch angesehenen Akademie von Lunaris sollen Kyle und Raven lernen, ihre Magie zu kontrollieren und zu nutzen. Doch bald schon beginnt die schöne Fassade zu bröckeln, und düstere Prophezeiungen nehmen Gestalt an … *** Der erste Band von "Liber Bellorum" - Warda Morams fesselnder Fantasytrilogie über zwei Brüder, die die Last der Welten auf ihren Schultern tragen ***

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Seitenzahl: 454

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Warda Moram

LIBERBELLORUM

BLUT UND FEUER

Band I

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Warda Moram

LIBER BELLORUM

BLUT UND FEUER

BAND I

E-Book (epub): ISBN 978-3-86374-625-4

(Druckausgabe: ISBN 978-3-86374-623-0, 1. Auflage 2021)

Mankau Verlag GmbH

D – 82418 Murnau a. Staffelsee

Im Netz: www.mankau-verlag.de

Internetforum: www.mankau-verlag.de/forum

Bilder: © stock.adobe.com (Hintergrund Innenklappen, 342/343, 344)

Lektorat: Julia Feldbaum, www.redaktionsbuero-feldbaum.de

Endkorrektorat: Susanne Langer-Joffroy M.A., Germering

Cover/Umschlag: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München, unter Verwendung von Bildern von istock / Getty Images Plus

Layout/Satz Innenteil: Mankau Verlag GmbH

Illustrationen: Mankau Verlag

Für Tamy,die mich aufgeweckt hat

INHALT

PROLOG

BRÜDER

DUNKLE VERGANGENHEIT

BLUT

FEUER

VERBRANNTE BRIEFE

EIFERSUCHT

GETRENNTE WEGE

DER SCHATTENCLAN

DER SCHATTENFÜRST

ANHANG

PROLOG

Er rannte, so schnell er konnte. Er wusste nicht, wohin. Sein Körper bestand nur noch aus Schmerz, seine Gedanken überschlugen sich. Sein Hals brannte, seine Beine wollten jeden Moment aufgeben, ihn nicht mehr länger tragen. Wollten diese Qual beenden, seine Flucht, seine Hoffnungslosigkeit … Er beobachtete sich selbst von außen, wie er rannte, vor lauter Verzweiflung kaum atmen konnte – aber dennoch rannte und rannte.

In seinem Kopf hallten die nicht enden wollenden Todesschreie unzähliger Menschen nach. Menschen, die er kannte, die er liebte. Er spürte immer noch überall die Hitze des Feuers, den beißenden Rauch in seiner Lunge. Er konnte kaum sehen vor lauter Tränen in der Dunkelheit der Nacht.

Winzige Hände klammerten sich an ihn, und er drückte das Baby fester an sich. Das leise Wimmern ging in seinem eigenen hilflosen Schluchzen unter, er versuchte schon lange nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Jämmerlich weinend konnte er den Blick nicht von seinem eigenen flatternden Schatten abwenden, geworfen von lodernden Höllenflammen, die ihn zu verfolgen schienen.

Vor seinen Augen drehte sich bereits alles, jeder weitere Schritt bedeutete einen neuen Kampf, er wollte sich nur nicht umdrehen, wollte nicht aufgeben. Aber was sollte er nur tun?

Er war doch selbst noch ein Kind!

Er konnte nicht mehr.

Er kam nur noch wenige Schritte voran, dann verließ ihn die Kraft, und er stolperte. Er brach zusammen und blieb einfach liegen. Für eine Weile verharrte er regungslos, während er verzweifelt nach Luft rang. Er vergrub das Gesicht im kalten Gras, schloss die Arme eng um das kleine wimmernde Bündel. Doch seine Erschöpfung steigerte sich mit jedem neuen Atemzug, bis er nicht einmal mehr die Kraft hatte zu weinen. Er verstummte, und aus dem Tal wehte ihm das gierige Knistern der Flammen entgegen.

Er stemmte eine Hand auf den Boden und richtete sich auf, drehte sich langsam um. Seine Augen brannten von den vielen Tränen, während er ratlos das Feuer beobachtete, das vor dem dunklen Nachthimmel mit lodernden Zungen sein Zuhause verschlang. Seine Heimat. Das seine Freunde und Familie tötete, deren Schreie immer noch in seinem Kopf widerhallten.

Warum hatte er nur überlebt? Er ganz allein mit dem Baby, das sich, beruhigt von seinem Herzschlag und seiner Körperwärme, längst in den Schlaf geweint hatte. Er gab dem Kleinen einen vertrauten Kuss auf die Stirn und wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte kein Zuhause mehr, keine Familie mehr, keine Hoffnung mehr.

Und dabei wusste er nicht einmal, was passiert war. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren Tod und Zerstörung, Feuer und Schmerz. Der grausame Anblick seiner Mutter, die vor seinen Augen bei lebendigem Leib verbrannt war.

Warum hatte er nur überleben müssen?

„Alles wird gut“, murmelte er mit brüchiger Stimme vor sich hin und wusste nicht, wen er damit beruhigen wollte. Das Baby schlief, und er glaubte seine eigenen Lügen nicht.

Ein blutrotes Leuchten erfüllte die Wolken über dem brennenden Dorf, als die Sonne aufging. Und mit dem ersten Licht des neuen Tages fiel der erste Regentropfen.

Er bewegte sich nicht. Er zog nur die Beine an, kauerte sich um das Baby herum zusammen und beobachtete den trüben Sonnenaufgang, beobachtete das blendende Feuer.

Es regnete den ganzen Tag, und alles, was am Abend blieb, war Asche.

BRÜDER

Es fühlt sich an wie ein Traum … Ich gehöre nicht wirklich dazu, und dennoch bin ich dabei. Ich sehe dich, so nah, und kann dich doch nicht berühren. Ich spüre deinen Blick, aber du bemerkst mich nicht.

Wer bist du?

Ich kenne dich nicht.

Was bedeutest du?

Ich verstehe dich nicht.

Was hast du vor?

Ich muss dich aufhalten …

Epistulae Exustae, Kapitel 327

Raven fröstelte, als er die Augen aufschlug. Er hatte kein gutes Gefühl … Ob das nun aus einem Traum stammte oder eher eine böse Vorahnung war, konnte er im ersten Moment nicht sagen. Allerdings wusste er sofort, was los war, als er im Dunkeln seinen Bruder erkannte, der ihn mit einer energischen Geste aufforderte aufzustehen.

„Beweg dich!“, zischte Kyle und zog ihm einfach die Decke weg.

Raven blieb unbeeindruckt liegen. „Was ist jetzt schon wieder?“

„Du erinnerst dich an den Sohn von den Leuten hier?“

Misstrauisch geworden setzte Raven sich auf. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn sein Bruder schon so anfing. „Natürlich erinnere ich mich an ihn. Ich habe mich erst heute Abend mit ihm unterhalten.“

„Wie es aussieht, hat man ihn gefunden.“

Raven starrte seinen Bruder fassungslos an. Für einen Moment konnte er nicht einmal antworten, war wie erstarrt. „Was …?“

„Nun ja, wir hatten einen kleinen Streit, es ist das ein oder andere unanständige Wort gefallen …“

„Was?“, wiederholte er nur ungläubig, weil er keine Worte fand.

„Komm schon, wir haben dafür keine Zeit! Wenn er aufwacht und den Leuten erzählt, was passiert ist …“

„Was ist denn passiert, bei den Göttern??“

Kyle zuckte erschrocken zusammen und presste ihm eine Hand auf den Mund. „Nicht so laut! Wenn dich jemand hört!“

Raven wurde immer unruhiger. Mit jedem weiteren Wort, das sein Bruder von sich gab, wurden seine Befürchtungen schlimmer. Kyle stellte immer wieder irgendwelche dummen Sachen an, aber bisher war er noch nie so nervös geworden deswegen. Oder fast nie. Raven erinnerte sich mit Schaudern an die wenigen Situationen, in denen er seinen Bruder auch nur ansatzweise nervös erlebt hatte.

„Ich erkläre dir ja alles“, fuhr Kyle nach einer Weile fort. „Aber nicht jetzt und nicht hier! Dazu haben wir einfach nicht die Zeit! Wenn dieser Idiot aufwacht, müssen wir weit genug weg sein.“

Als sein Bruder ihn daraufhin endlich losließ, fuhr Raven ihn sofort aufgebracht an: „Das ist doch einfach nicht zu fassen!“ Er hatte Mühe, nicht zu laut zu werden. „Da lasse ich dich einmal für einen Moment aus den Augen, und dann passiert schon wieder irgendetwas!! Wie lange hast du es jetzt ausgehalten in dieser Familie? Drei Tage? Vier?“

„Zwei Wochen“, entgegnete Kyle ungerührt. „Und das, obwohl dieser Junge mich nie leiden konnte.“

„Gut erkannt! Dieser Junge ist doch nicht einmal so alt wie ich! Was hast du ihm angetan?“

„Nicht hier!“, befahl Kyle, und Raven sah widerwillig ein, dass er wohl keine andere Wahl hatte, als ihm nachzugeben. Sein Bruder war sechs Jahre älter als er – wenn man sich allerdings an seinem Verhalten orientierte, sah es aus, als wäre es genau andersherum. Manchmal war es anstrengend, immer die Stimme der Vernunft sein zu müssen. Vor allem, wenn seine Worte stets auf unfruchtbaren Boden fielen.

Kyle ergriff ihn am Arm, sammelte mit der anderen Hand hektisch einige Sachen ein und zerrte ihn aus dem Zimmer. Ravens Blick haftete noch lange sehnsüchtig an dem Bett, in dem er bis eben gelegen hatte.

Es war immer dasselbe. Sie wohnten einige Tage, manchmal sogar eine ganze Woche in einem echten Haus. Dann kam wieder einer dieser Zwischenfälle, und sie mussten fliehen oder wurden verjagt.

Raven wusste nicht mehr, wann oder womit das Ganze angefangen hatte. Ihm kam es vor, als wäre er seit seiner Geburt auf der Flucht. Der erste Zwischenfall, an den er sich erinnern konnte, war allerdings ein wenig merkwürdig gewesen. Damals war er mitten in der Nacht aufgewacht und hatte feststellen müssen, dass das Zimmer, in dem er mit seinem Bruder geschlafen hatte, brannte. Wie alt war er da wohl gewesen? Sechs, vielleicht sieben Jahre? Kyle hatte ihm bis heute nicht erklärt, warum er den Brand gelegt hatte. Er hatte ihm immer irgendeinen Grund für das genannt, was er angestellt hatte, und wenn dieser noch so nebensächlich gewesen war. Aber warum er mitten in der Nacht Feuer gelegt hatte, darüber hatte er geschwiegen.

Raven erschauderte immer noch, wenn er daran dachte. An drei Brände erinnerte er sich – aber sie alle lagen schon so lange zurück, dass er sich nicht sicher war, ob nicht doch alles nur seltsame Zufälle gewesen waren. Andererseits hatten die Feuer aufgehört, als sein Bruder angefangen hatte, sich zu verändern und zu dem zu werden, der er heute war …

Irritiert sah Raven auf, als Kyle ihn losließ und das Fenster am Ende des Flurs öffnete. „Hat es irgendeinen Grund, warum wir ausgerechnet diesen Weg nehmen?“

„Ja, hat es. Jetzt geh schon!“

Raven warf seinem Bruder nur noch einen kurzen Blick zu, dann kletterte er, ohne weiter nachzufragen, durch das Fenster nach draußen. Im Moment war ihm alles recht, solange er nur bald eine Erklärung bekam.

Draußen stieß Kyle ihn ungeduldig an, um ihn in Bewegung zu setzen. Als das nicht funktionierte, nahm er wieder seine Hand und lief einfach los. Raven musste einen Fluch unterdrücken, weil er fast ausgerutscht wäre, dann konzentrierte er sich nur noch auf das Laufen.

Bereits nach wenigen Schritten machte sich die viel zu kurze Nacht bemerkbar, er stolperte und wurde sofort wieder von Kyle auf die Beine gerissen. Ein weiterer Fluch drängte sich ihm auf, aber diesmal hielt er sich nicht zurück: „Verdammt, Kyle, nicht so schnell!“

Sein Bruder warf ihm einen beschwörenden Blick zu, dann rannte er unbeirrt weiter. Die wenigen Häuser des kleinen Dorfes hatten sie schnell hinter sich gelassen. Im nächsten Moment verließ Kyle mit ihm auch schon den Feldweg und zog ihn querfeldein über das angrenzende Weideland.

Irgendwann wurde Raven sogar schwindlig. Eine Wolke schob sich vor den Vollmond und tauchte alles in vollständige Dunkelheit. In diesem Moment beschloss er, dass sie weit genug vom Haus ihrer – inzwischen ehemaligen – Gastgeber entfernt waren, und befreite sich aus dem Griff seines Bruders. Er hielt einfach an und ließ sich schwer atmend auf den Boden fallen.

„Hast du ein Glück, dass wir schon so weit von dem Hof entfernt sind“, bemerkte Kyle, der nicht einmal sonderlich außer Atem war.

Sein Bruder stand jetzt neben ihm, und obwohl Raven es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, spürte er förmlich den vorwurfsvollen Blick auf sich ruhen. Aber es war ihm egal. Er war mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden und dann viel zu lange viel zu schnell gerannt. Er hatte das Gefühl, sterben zu müssen.

„Keine Ausdauer, was?“, grinste Kyle, als Raven nach einer halben Ewigkeit immer noch nicht wieder zu Atem gekommen war.

Er war nicht einmal in der Lage zu antworten. Er machte eine unmotivierte Geste, von der er selbst nicht ganz wusste, was er damit ausdrücken wollte, dann blieb er reglos liegen.

„Und keine Kraft. Es wird Zeit, dass du ein wenig in Form kommst.“ Kyle setzte sich zu ihm und wartete geduldig ab, bis er sich beruhigt hatte.

Raven schloss erschöpft die Augen, aber bevor er in einen traumlosen Schlaf fallen konnte, erinnerte er sich daran, dass er ja eigentlich etwas von seinem Bruder wissen wollte. „Du schuldest mir noch eine Antwort“, bemerkte er, verschränkte die Hände unter seinem Kopf und sah Kyle abwartend an.

„Ach ja, die Sache mit dem Jungen …“, begann dieser gespielt betroffen. „Das war ein Unfall. Ein ganz dummer Unfall.“

„Warum fällt es mir nur so schwer, dir das zu glauben?“

„Na ja, dumme Geschichte, du weißt ja, dass er mich nicht sonderlich leiden konnte.“

„Wer kann das schon?“

„Tja, jedenfalls ist er mir irgendwie an den Fluss gefolgt und hat von mir verlangt, dass ich seine Familie in Ruhe lasse, meinen nutzlosen Bruder nehme und verschwinde.“

„Danke sehr.“

„Das hat er gesagt, nicht ich. Und er hat noch mehr ähnlich freundliche Dinge von sich gegeben.“

„Und deswegen mussten wir so überstürzt fliehen?“

„Nicht ganz.“

„Das habe ich befürchtet.“

Die vereinsamte Wolke setzte ihre Wanderung über den Nachthimmel fort, und im aufleuchtenden Mondlicht konnte Raven sehen, wie Kyle sich verlegen am Hinterkopf kratzte, bevor er mit einem merkwürdig lächelnden Unterton fortfuhr: „Wie auch immer, ich wollte mich nicht so beleidigen lassen. Und dich auch nicht. Und da habe ich vielleicht ein wenig überreagiert …“

„Überreagiert?“

„Vielleicht habe ich ihn geschlagen.“

„Mehr nicht?“

Kyle zögerte. Aber es war kein ernst gemeintes Zögern. In Wirklichkeit fand er das Ganze wahrscheinlich auch noch lustig.

„Vielleicht habe ich ihn ein wenig fester geschlagen als geplant …“

Raven richtete sich skeptisch auf. „Wie viel ist ein wenig?“

„Na gut – möglicherweise habe ich ihm den Arm gebrochen und ihn dann aus Versehen den Wasserfall runtergestoßen. Aber wie gesagt, es war ein Unfall.“

Vor lauter Fassungslosigkeit vergaß Raven sogar zu atmen. Wortlos starrte er seinen Bruder an, während er verzweifelt zu realisieren versuchte, was dieser gesagt hatte. Erst als sein Körper ihn wieder zum Atmen zwang, konnte er sich aus seiner Geistesabwesenheit befreien und setzte sich ruckartig auf.

„Was stimmt nur nicht in deinem Kopf?“, fuhr er Kyle aufgebracht an, der sich von seinem Ausbruch jedoch nicht beeindrucken ließ. „Was hast du dir nur dabei gedacht?? Hast du dir überhaupt irgendetwas gedacht?! Was, wenn der Junge nicht überlebt hat?“

„Die Hoffnung hatte ich auch, dann hätten sich all meine Probleme von selbst gelöst.“

Erneut verschlug es Raven die Sprache. Er konnte einfach nicht glauben, was er hörte. Er wusste, dass sein Bruder nicht ganz normal war, aber das übertraf wirklich alles.

„Das kann unmöglich dein Ernst sein! Ich meine, du kannst doch nicht wirklich …“

„Ganz ruhig, er lebt ja noch. Aber du warst nicht dabei, ich habe nur unsere Familienehre verteidigt.“

Das war ihm endgültig zu viel. „Welche Familienehre, Kyle?“, brach es aus Raven heraus, und er sprang völlig außer sich auf. „Wir haben keine verfluchte Familienehre! Verdammt, wir haben doch nicht einmal eine Familie!!“

Kyle erwiderte nichts. Er stand gemächlich auf, rückte entspannt seine Kleidung zurecht und wandte ihm dann langsam einen ausdruckslosen Blick zu. Und gerade, als die Stille zwischen ihnen beiden unerträglich wurde, hob er die Hand und gab Raven eine knallende Ohrfeige, die ihn fast von den Beinen riss.

Wieder war es lange einfach nur still und dunkel, bevor Raven langsam klar wurde, was gerade passiert war. Völlig verstört hielt er sich die brennende Wange, traute sich kaum, den Blick zu heben. Seit neunzehn Jahren hatten sie kein Zuhause, seit er denken konnte, seit seiner Geburt … Und bei allem, was in diesen neunzehn Jahren passiert und nicht passiert war, hatte Kyle noch nie die Hand gegen ihn erhoben.

„Du und ich“, brach Kyle irgendwann die Stille, und endlich wagte Raven auch wieder, ihn anzusehen. „Wir beide sind alles, was von unserer Familie übrig ist. Das allein sollte dir schon etwas bedeuten.“

Raven beobachtete stumm, wie sein Bruder ihm den Rücken zuwandte und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Nach wenigen Schritten sah er sich jedoch noch einmal um und schenkte ihm im schwachen Mondlicht ein brüderliches Lächeln.

„Kommst du? Wir sollten noch ein wenig weitergehen, bevor wir uns einen Platz für die Nacht suchen. So bald wird die Sonne nicht aufgehen“, erklärte Kyle, und Raven folgte ihm ohne Widerspruch.

Raven schrak aus dem Schlaf, als ihn ein roter Lichtblitz weckte. Verwirrt und auch ein wenig verunsichert sah er sich um, aber da war nichts. Nur sommergrüne Weiden bis zum Horizont und ein vereinsamter Baum in der Ferne. Sein Puls raste wie nach einem schrecklichen Albtraum, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, während er sich verschlafen auf die Beine kämpfte und ausgiebig streckte. Es war wirklich ein schöner Tag, die Sonne schien, der Himmel war strahlend blau bis auf eine einzige verirrte Wolke. Es war angenehm warm, und ein sanfter Wind wehte, der das Gras tanzen ließ. Der fröhliche Gesang einiger Vögel erfüllte die Luft. Raven schloss wohlig seufzend die Augen, genoss die Ruhe, die Sonne auf seiner Haut, den Wind in seinen Haaren. In diesem Moment war er so weit entfernt von allen Problemen, allen Sorgen, dass er sich gar nicht fragte, wo sein Bruder war.

Eine Weile noch ließ er seine Gedanken schweifen, dann sah er wieder auf und erschrak erneut. Kyle stand vor ihm und sah ihm durchdringend in die Augen. Seit Raven denken konnte, jagte es ihm immer wieder einen eisigen Schauer den Rücken hinunter, wenn Kyle ihn so anstarrte. Die Augen seines Bruders hatten eine Farbe, wie sie sonst nur die eines Rachegottes selbst haben konnten. Sie waren so rot wie Blut, wie das dunkle Glühen des Sonnenuntergangs, kurz bevor die Nacht jedes Licht erstickte. Feuerrot.

„Du sollst mich nicht immer so erschrecken“, knurrte Raven gereizt und schob ihn zur Seite.

„Mir ist etwas klar geworden“, begann Kyle unbeirrt. „Du, mein lieber Bruder, brauchst Kraft und Ausdauer.“

„Was …?“

„Ich werde mich nicht wiederholen.“

„Nein, ich frage mich nur: Was meinst du damit?“

Kyle seufzte tief und hob die Hände, als wollte er sich mit ihm prügeln. „Na los, greif mich an.“

Raven bewegte sich nicht. „Ganz sicher nicht.“

„Komm schon! Ich tue dir auch nicht weh.“

„Vergiss es.“

Sein Bruder ließ die Hände wieder sinken und schüttelte enttäuscht den Kopf. „Früher oder später wirst du es brauchen.“

„Warum sollte ich?“

„Lass mich nicht so hängen, Ray! Ich will dir doch nur ein wenig das Kämpfen beibringen!“

Raven konnte nicht verhindern, dass in ihm mit einem Mal tatsächlich das Bedürfnis aufflammte, seinen Bruder zu schlagen. Nur einmal. Nur damit er endlich aufhörte, ihn so zu nennen. Ray. Das war nicht sein Name und würde es nie sein. Kyle bildete sich nur ein, Ray würde einen guten Spitznamen abgeben. Unter Brüdern. Von wegen.

„Nenn mich nicht so“, fauchte er halbherzig. So nervig es auch war, dass Kyle ihn immer so nannte, es war noch lange kein Grund, die Fassung zu verlieren.

„Wieso? Macht dich das wütend, Ray? Komm schon, Ray! Stell dir vor, ich wäre ein gefährlicher Angreifer, Ray!“

„Lass das.“

Kyle atmete tief durch. „Ich meine das ernst, Raven. Die Sache gestern Abend … Nächstes Mal geht es vielleicht nicht so gut für uns aus. Ich will nur, dass du dich im Notfall verteidigen kannst.“

„Nächstes Mal?“, wiederholte Raven gelangweilt. „Im Notfall? Heißt das, wenn wir einmal nicht rechtzeitig fliehen können? Ich habe das satt, Kyle. Wenn du nur endlich lernen würdest, dich zu beherrschen, dann wäre das alles überflüssig.“

„Das ganze Leben besteht doch aus Fliehen und Geflohen-Werden!“, konterte Kyle selbstverständlich.

„Man kann nicht geflohen werden.“

„Beweis es mir!“

Raven wollte schon etwas erwidern, aber er hielt sich zurück. Sein Bruder war nicht dumm. Und egal, welche Diskussion er selbst wie und warum anfing − er würde sie verlieren. Diese schmerzhafte Lektion hatte er über viele Jahre hinweg lernen müssen. Und deshalb gab er auch jetzt auf. Er verdrehte genervt die Augen, sah seinen Bruder nicht an, als er betont zögernd nachgab. „Also gut, wenn es unbedingt sein muss … Aber ich tue das nicht für dich!“

„Gut erkannt!“, stimmte Kyle ihm mit kindlicher Euphorie zu und ging wieder in Angriffsstellung. „Es ist eigentlich ganz einfach, beim Nahkampf gibt es nämlich nur eine Regel.“

Raven wollte es eigentlich gar nicht wissen. „Und die wäre?“, heuchelte er trotzdem Interesse.

„Kämpfe wie ein Mädchen!“

„Wie bitte?“

„Wie ein Mädchen! Beiß deinen Gegner in die Hand, zieh ihn an den Haaren, tritt ihm ins Gemächt. Alles ist erlaubt, womit der andere nur nicht rechnet.“

Raven musterte seinen Bruder skeptisch. Offensichtlich meinte Kyle wirklich ernst, was er sagte. Entspannt machte er also einen Schritt vorwärts und rammte ihm dann mit aller Kraft das Knie zwischen die Beine. Kyle keuchte schmerzerfüllt auf und ging wimmernd zu Boden.

„So in etwa?“, fragte Raven ungerührt und steckte gelangweilt die Hände in die Hosentaschen, um seine Gleichgültigkeit zu betonen. Er bekam keine Antwort, aber es störte ihn auch nicht. Anstatt sich um seinen Bruder zu kümmern, ließ er nachdenklich den Blick über die Wiesen schweifen, als würde er irgendetwas suchen, während er sich über das merkwürdige Gefühl der Befriedigung wunderte, das sich plötzlich so wohlig kribbelnd in ihm ausbreitete. Es gefiel ihm nicht.

„Was hast du jetzt vor?“, wollte er nach einer Weile wissen, aber offensichtlich hatte er Kyle fester getroffen als beabsichtigt, denn dieser krümmte sich immer noch auf dem Boden, als würde er furchtbar leiden.

„Ich meine, wir können schlecht den Rest unseres Lebens hier verbringen.“

„Du kleiner Bastard“, fluchte Kyle angestrengt, während er sich mühsam an ihm hochzog.

Raven konnte das selbstgefällige Lächeln nicht unterdrücken. „Ich habe nur getan, was du von mir wolltest“, grinste er, womit er sich einen giftigen Blick von seinem Bruder einfing. „Aber im Ernst, was hast du jetzt vor?“

„Na ja, ich würde sagen, das Gleiche wie immer“, antwortete Kyle fast munter, stützte sich dann aber doch leise fluchend bei Raven ab.

Das Gleiche wie immer. Das bedeutete also, sie würden wieder für eine unbestimmte Zeit in eine unbestimmte Richtung irren, ohne Weg und ohne Ziel, bis sie zufällig auf irgendein Dorf oder auch nur einen Bauernhof stießen. Es war schon so lange her, dass Raven das letzte Mal eine Stadt gesehen hatte … inzwischen glaubte er, dass Kyle das absichtlich machte. Dass er den Städten auswich, vielleicht aus Angst erkannt, erwischt und doch noch festgenommen zu werden, vielleicht aber auch, weil niemand, der bei Verstand war, freiwillig in einer Stadt lebte. Raven hatte selbst schon viel gehört, wie es dort zuging. Seit dem Tod des letzten Königs jagte ein Aufstand den nächsten. Irgendjemand erklärte sich zum Machthaber und wurde von seinem Nachfolger gestürzt. Und wenn gerade nicht alles im politischen Chaos versank, wurden unschuldige Bürger auf offener Straße ermordet, ohne dass es noch jemanden erschrecken konnte. Nein, Raven hatte kein großes Interesse an großen Städten. Ihm genügte ein Bauernhof, solange er nur ein Dach über dem Kopf hatte und vielleicht ein Bett, in dem er schlafen konnte. Und solange er nicht nach wenigen Tagen schon wieder verjagt wurde. Aber wenn er das schon hörte – das Gleiche wie immer –, dann bestand wohl wenig Hoffnung.

„Muss das sein?“, fragte er lustlos.

„Ja doch, ich denke schon, dass das sein muss. Hast du einen besseren Plan? Willst du etwa hier warten, bis zufällig ein Gasthaus vorbeikommt und uns mitnimmt?“

Raven ließ niedergeschlagen den Kopf hängen. „Natürlich nicht. Ich meine nur … Glaubst du, du kannst dich nur einmal in deinem Leben zurückhalten? Ich will nur dieses eine Mal nicht verjagt werden …“

„Kein Problem.“

„… oder fliehen müssen.“

„Das kann ich nicht versprechen.“

„Warum nicht, Kyle? Warum kannst du nicht einfach friedlich sein?“

Kyle klopfte ihm brüderlich auf die Schulter. „Tja, du kennst mich, ich bin eben temperamentvoll.“

Raven hob skeptisch eine Augenbraue. Temperamentvoll. Damit rechtfertigte sein Bruder jedes Mal sein Verhalten. Es war seine Ausrede dafür, warum er sich nicht ändern musste.

„So! Genug geredet! Ein wenig nördlich von hier führt ein Feldweg entlang. Dem sollten wir folgen“, verkündete Kyle und machte sich auf den Weg.

Raven folgte ihm. Das tat er, seit er denken konnte, und er würde es wohl noch bis ans Ende seines Lebens tun. Seinem Bruder folgen. Egal wie weit, egal wohin. Es spielte alles keine Rolle.

„Hier muss es doch irgendwo Menschen geben!“, stöhnte Raven, als die Sonne schon wieder unterging. Er war erschöpft und hungrig und wollte einfach nur noch schlafen. Ob in einem Bett oder unter einem Baum, das war ihm im Moment ziemlich egal. Seit Stunden wanderten sie nun schon den Feldweg entlang, der kein Ende zu haben schien.

„Du solltest wirklich etwas für deine Ausdauer tun“, stellte Kyle trocken fest. „Wenn du von ein bisschen Spazierengehen schon so erschöpft bist.“

„Ein bisschen? Spazierengehen?? Du jagst mich seit Stunden durch die Hitze, in einer Geschwindigkeit, die mit Spazierengehen absolut überhaupt rein gar nichts zu tun hat! Ich bin am Verdursten, meine Beine brechen gleich auseinander, und außerdem habe ich das Gefühl, dass mein Kopf gleichzeitig brennt und explodiert!“

„Hör auf zu jammern.“

„Hör du auf, mich zu quälen!“ Raven wollte sich weiter beschweren, aber sein Bruder schnitt ihm mit einer knappen Geste das Wort ab. Er sah kurz aus, als würde er auf irgendetwas warten, dann schenkte er ihm ein zufriedenes Lächeln.

„Na bitte“, grinste er nur und blieb stehen.

Raven wollte schon nachfragen, aber in dem Moment hörte er es auch. Das entfernte Geräusch von Pferdehufen. Und es näherte sich.

Wenig später bog auch schon ein Pferdewagen um die Kurve. Er gehörte offensichtlich einem Gutsbesitzer, denn der Wagen war mit unzähligen Heuballen beladen. Kyle winkte dem Kutscher übertrieben aufgeregt zu, und die zwei Pferde vor dem Wagen schnaubten gemütlich, als der Mann sie neben ihnen zum Stehen brachte.

„Kann ich euch helfen?“, fragte er und beugte sich ein wenig zu ihnen herunter. Er war mittleren Alters und hatte eine tiefe, heisere Stimme. Obwohl er kräftig gebaut war, schien seine Haltung gebeugt von jahrelanger Arbeit auf dem Feld. Er wirkte sympathisch.

„Ach, guter Mann, ich fürchte, ich muss Euch um einen Gefallen bitten“, begann Kyle schüchtern.

Raven hielt sich im Hintergrund. Er wusste Wort für Wort, was Kyle im Begriff war, diesem Mann zu erzählen. Denn wie so vieles andere auch wiederholten sich diese Worte ebenfalls alle paar Tage.

„Einen Gefallen?“

„Seht Ihr, mein Bruder und ich, wir … wie soll ich sagen …“ Kyle wich dem Blick des Landwirts aus und seufzte schwermütig.

Dieses Schauspiel war so falsch, dass Raven fast übel davon wurde. Das war auch ein Grund, warum er nur schweigend danebenstand, während Kyle den ahnungslosen Mann um den Finger wickelte. Hätte er sich eingemischt, hätte er wahrscheinlich die Wahrheit gesagt.

„Wir sind gewissermaßen auf der Flucht …“

Raven lachte innerlich über das gewissermaßen.

„Versteht mich nicht falsch, wir haben nichts verbrochen!“

Natürlich nicht.

„Es ist nur so … Ach, es ist ja nichts, wofür ich mich schämen muss: Wir sind Waisenkinder.“

Die erste und einzige Wahrheit an der Geschichte. Der Mann auf dem Kutschbock machte ein aufgeschlossenes Gesicht und zog kurz an einem Zügel, als eines der Pferde nervös auf der Stelle trat. Als würde es die Lüge spüren.

„Wir sind seit Jahren unterwegs und wurden aus jedem Dorf verjagt, in dem wir um Hilfe gebeten haben. Seht Ihr, in jedem Dorf passieren manchmal Dinge – und es ist natürlich leicht, die Fremdlinge dafür verantwortlich zu machen …“

Misstrauen spiegelte sich in den Augen des Mannes wider. „Was für Dinge denn?“

Kyle lachte voller falscher Wehmut auf. „Ach, was eben so passiert auf dem Land. Eine verschwundene Sense, ein krankes Kind, einige gerissene Schafe … Ich kann Euch versichern, dass wir damit nichts zu tun hatten.“

Der Landwirt lachte leise auf. „Gerissene Schafe? Was für ein Unsinn!“

„Eben! Aber aus irgendeinem Grund bilden sich viele Leute ein, wir wären blutrünstige Monster!“

In dem Moment versiegte das Lächeln des Mannes, und Raven bekam schon fast Angst, Kyle hätte ihn verschreckt. Aber als der Mann sich noch weiter vorbeugte und seinen Bruder eingehend musterte, glaubte Raven zu verstehen.

„Du hast eine ungewöhnliche Augenfarbe“, bemerkte er.

„Dafür kann ich nichts, mein Herr“, sagte Kyle lächelnd und senkte verlegen den Blick.

„Und dein Bruder ist wohl nicht sonderlich gesprächig.“

„Da gebe ich Euch recht. Er ist ein wenig schüchtern.“

„Aha, aha …“, murmelte der Mann und kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Und was genau ist nun dieser Gefallen, um den du mich bitten willst?“

„Ich glaube, Ihr könnt es Euch denken, guter Mann. Ich erbitte Eure Gastfreundschaft. Mein Bruder und ich, wir irren seit Tagen durch die Gegend, ohne Schutz, ohne Verpflegung. Wir brauchen jetzt nichts so sehr wie eine Unterkunft.“

Der Landwirt erwies sich als hartnäckiger, als Raven gedacht hatte. „Ich weiß nicht … Es ist nicht meine Art, Fremde aufzunehmen.“

Kyle faltete die Hände zu einer flehenden Geste und sah den Mann beschwörend an. Raven wollte sich das Ganze eigentlich gar nicht ansehen, aber gleichzeitig faszinierte ihn nach all den Jahren immer noch, wie perfekt Kyle den tränenverschleierten Blick schauspielern konnte, mit dem er scheinbar den Willen der Leute brechen konnte. Und auch dieses Mal verfehlte er nicht seine Wirkung.

„Ich flehe Euch an“, bekräftigte Kyle seine Verzweiflung. „wir werden Euch nicht zur Last fallen, wir … wir können für Euch arbeiten, ohne Bezahlung. Alles, worum wir bitten, ist ein Platz zum Schlafen und etwas zu essen.“

„Ihr arbeitet also für euren Aufenthalt?“

Kyle nickte hastig. „Wir sind uns für nichts zu schade, mein Herr, solange wir nur bei Euch wohnen dürfen.“

Der Mann zögerte noch eine halbe Ewigkeit, dann winkte er sie endlich zu sich. „Also gut, springt auf.“

Während Kyle sich übertrieben bedankte, kletterte Raven wortlos auf den Wagen, ließ sich auf die weichen Heuballen sinken und seufzte entspannt.

„Oh, ich danke Euch, Ihr seid so gütig!“, hörte er seinen Bruder säuseln. „Mögen die Götter Euer Heim und Eure Familie segnen!“

Nur wenig später bewegte sich das Heu, und als Raven sich umsah, lag Kyle neben ihm.

Der Landwirt ließ die Zügel knallen, und die Kutsche setzte sich ratternd in Bewegung. „Mein Name ist übrigens Joamir. Ihr könnt mich Joe nennen.“

„Ich bin Kyle, und das ist mein Bruder Ray.“

„Raven“, korrigierte er. Schlimm genug, dass sein Bruder ihn immer so nannte, da sollte wenigstens sein Gastgeber seinen richtigen Namen kennen.

„Oh, du kannst ja doch sprechen, Junge!“, lachte Joe, und Raven konnte das Lächeln direkt spüren, das er ihm schenkte. Aber er sah sich nicht um, verschränkte nur die Hände unter seinem Kopf und beobachtete die Sonne, die bald untergehen würde.

„Du darfst dich später bei mir bedanken“, flüsterte Kyle neben ihm.

Raven sah ihn nicht an. „Du übertreibst zu sehr. Das wirkt unglaubwürdig“, bemerkte er trocken.

„Tja, nur merkwürdig, dass mir dann alle glauben.“

„Das bräuchte es alles nicht, wenn du …“ Aber er beendete den Satz schon gar nicht mehr. Er hatte jetzt keine Lust, sich mit seinem Bruder zu streiten, er war erschöpft von einem Tag, der bei näherer Betrachtung gar nicht so lang gewesen war. Die letzten Strahlen der Sonne wärmten ihn, die Bewegung des Wagens beruhigte ihn.

Außerdem war er wieder auf dem Weg in ein neues Zuhause. Wenigstens für eine Weile …

Raven schrie. Sein ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerzen, jede Bewegung war eine einzige Qual. Um ihn herum war nur Dunkelheit, eisige, kalte Dunkelheit. Sie umhüllte ihn, griff mit scharfen Klauen nach ihm, wollte ihn zerfetzen, ihm sein krampfendes Herz aus der Brust reißen. Das Blut in seinen Adern war pures Feuer, jeder einzelne Gedanke verwandelte sich in einen glühenden Speer, der ihn durchbohrte, bis er sich nur noch wünschte, endlich sterben zu dürfen. Und dann fiel er. Fiel und konnte sich nicht halten …

Plötzlich wurde es hell.

„Wach auf, wir sind da!“, schrie Kyle ihn gewohnt rücksichtsvoll aus dem Schlaf. Raven setzte sich erschrocken auf und hielt sich schwer atmend die Brust. Sein Blick huschte nervös umher, er blinzelte ein paar Mal im Abendlicht. Dann beruhigte er sich langsam, während er sich immer weiter von seinem Traum entfernte.

„Was für ein Traum …“, murmelte er immer noch ein wenig durcheinander und fuhr sich zerstreut durch die Haare. Erst jetzt drangen auch die Worte seines Bruders zu ihm durch, und er sah sich interessiert um. Er befand sich im Vorhof eines gewaltigen Landguts. Rechts standen eine Scheune und geräumige Ställe, links erhob sich ein gigantisches Wohnhaus, das schon von außen edel aussah. Raven nickte beeindruckt. Hier würde es ihm gefallen! Sein Blick wanderte weiter an Kyle vorbei und blieb schließlich an Joe hängen, der aus dem Stall kam und die Hände aneinanderklopfte. Er hatte wohl gerade die Pferde weggebracht.

„So, ihr könnt gleich anfangen, euch nützlich zu machen“, erklärte er und deutete auf die Scheune. „Die Heuballen müssen gelagert werden. Drei davon könnt ihr gleich in die Ställe bringen. Stellt sie einfach an die hintere Wand. Der Rest kommt in die Scheune.“

„Aber natürlich“, sagte Kyle lächelnd, blieb dann aber regungslos stehen.

„In Ordnung. Ich gehe solange nach drinnen und rede mit meiner Frau. Wenn ihr Glück habt, erwartet euch nach der Arbeit gleich ein Willkommensessen.“ Und damit ließ Joe sie allein.

Raven warf seinem Bruder einen abwartenden Blick zu.

„Na los, an die Arbeit!“, befahl Kyle, bevor er irgendetwas sagen konnte.

„Du hast nicht vor, mir zu helfen, oder?“, seufzte Raven.

„Gut erkannt. Jetzt fang schon an, ich sehe mich solange hier um und finde heraus, was dieser Hof zu bieten hat.“

Raven wartete noch ab, bis sein Bruder hinter dem Haus verschwunden war, dann stieg er übertrieben schwerfällig vom Wagen. Er war es gewohnt, dass die ganze Arbeit an ihm hängen blieb, er beschwerte sich schon längst nicht mehr darüber. Und Heuballen aufzuräumen war ohnehin kaum Arbeit zu nennen. Er mochte den Geruch, den das trockene Gras verströmte.

Er trug einen Ballen nach dem anderen in die Scheune und die letzten drei, wie aufgetragen, in den Stall an die hintere Wand. Kaum war er fertig, ließ er sich auf das Heu fallen und betrachtete nachdenklich die zahlreichen Auszeichnungen, die an der Wand hingen. Wenn er sich das so ansah, konnte er sich denken, warum diese Familie so wohlhabend war. Dreimal begehrtester Zuchthengst, viermal erster Platz im Wettreiten, einmal zweiter Platz. Unter dem letzten Preis stand ein anderer Name. Alicia … Wer das wohl war? Joe hatte von seiner Frau gesprochen. Hoffentlich war Alicia seine Frau.

Raven drehte sich um und ließ den Blick nachdenklich durch den Stall wandern. Er hatte allen Grund, sich Sorgen zu machen, denn Kyle schlug sich nicht nur gern mit Jungen, er war fast noch unberechenbarer, wenn er es mit einem Mädchen zu tun bekam. Er war – vorsichtig ausgedrückt – aufdringlich.

Als Raven gähnen musste, fiel ihm auf, wie hungrig er war. Immer noch mit den Gedanken bei dem mysteriösen Frauennamen stand er auf und machte sich auf den Weg in das Wohnhaus. Er fühlte sich fast wie ein Einbrecher, während er vorsichtig die Tür öffnete.

Sofort schlug ihm ein herrlicher Duft entgegen. Er hörte Stimmen hinter einer Tür, und als er sie öffnete, fand er sich in einer Küche wieder. Sein Bruder saß mit Joe am Tisch, und die beiden unterhielten sich entspannt, am Herd stand eine Frau und kochte.

„Darf ich vorstellen, das ist meine Frau Mary. Mary, das ist der andere Junge. Ray, glaube ich?“, erklärte Joe.

„Raven“, berichtigte er, konnte den Blick nicht von Mary abwenden. Einerseits, weil dieser betörende Duft ihn neugierig machte – was sie da wohl kochte? –, andererseits weil sie nicht Alicia hieß. Also doch eine Tochter? Raven wurde langsam nervös. Aber er wollte nicht fragen. Denn wenn er Glück hatte, dann wusste Kyle noch nicht einmal, dass es sie gab, und würde es vielleicht auch nie erfahren.

„Du bist wohl nicht sonderlich gesprächig, was?“, lächelte Mary und wandte sich wieder dem Herd zu.

„Setz dich doch, Junge, du musst da nicht so herumstehen.“

Raven sagte nichts, sondern setzte sich wortlos zu seinem Bruder. Er machte sich ein wenig Sorgen, dass diese Leute seine Verschwiegenheit falsch auffassten, deshalb bemühte er sich, stets ein freundliches Lächeln auf den Lippen zu haben.

„Ich habe mich gefragt“, begann Kyle im selben Augenblick, als hätte er nur darauf gewartet, dass Raven sich zu ihm setzte, „wo genau wir eigentlich gelandet sind. Wir irren immerhin schon seit einer ganzen Weile ziellos umher und haben zugegebenermaßen die Orientierung verloren.“

Mary kicherte amüsiert, und Raven verdrehte genervt die Augen. Er wusste schon lange nicht mehr, wo sie eigentlich waren, er konnte sich auch nicht erklären, warum es Kyle immer noch interessierte. Sein Bruder machte nicht den Eindruck, als hätte er irgendein Ziel oder einen Plan oder irgendetwas, wofür er wissen musste, wo er gerade war. Irgendwo. Genügte das nicht?

„Habt ihr das Gebirge südwestlich von hier gesehen?“, fragte Joe, und Kyle nickte sofort.

Raven machte sich gar nicht die Mühe, sich zu fragen, ob da tatsächlich irgendwo ein Gebirge gewesen war. Was machte es auch für einen Unterschied?

„Das sind die Nachtfallberge. Wir wohnen fast an der Grenze zu den westlichen Ödlanden. Bis in die Berge ist es etwa eine halbe Tagesreise, zur Küste ist es auch nicht weit, etwa drei Tage mit dem Pferd.“

Kyle wirkte nicht überrascht, fast so, als hätte er damit gerechnet. Raven hingegen fühlte einen eisigen Schauer, und für einen Moment durchfuhr ihn ein brennender Schmerz, wie er ihn in seinem Traum gespürt hatte.

Die westlichen Ödlande, das Nachtfallgebirge, nur eine halbe Tagesreise entfernt … Eine dunkle Legende rankte sich um diese Berge und die dahinterliegenden Ödlande. Eine Legende von himmlischer Strafe und der Rache der Götter. Es hieß, in den Bergen läge die heilige Grenze zwischen dem Reich der Menschen und dem Verbotenen Land. Um es zu erreichen, musste man einen Fluss aus Blut und einen knöchernen Wall überqueren. Beides war nicht nur ein bloßes Hindernis, sondern auch eine makabre Warnung an jeden leichtsinnigen Abenteurer, der sich zu nah an das Gebirge wagte. Wer diese Warnung ignorierte und die Grenzen der Götter verletzte, wurde von ihrem himmlischen Zorn zerschmettert.

Es gab unzählige Gerüchte darüber, was auf der anderen Seite lag. Manche besagten, die Götter selbst lebten dort in ihrem ganz eigenen Paradies und würden deswegen keinem Sterblichen gestatten, es zu betreten. Andere behaupteten, es wäre ein unberührtes, wildes Land voll fremdartiger Natur und unerschöpflicher Bodenschätze. Einige gingen davon aus, dass die Welt dort nicht anders aussah als auf dieser Seite des Gebirges. Am gängigsten war aber wohl die Vorstellung, dass es dort nur lebensfeindliche Ödlande gab.

Raven wusste nicht, wie viel an dieser Geschichte wahr war und wie viel nur ein albernes Ammenmärchen. Was er jedoch wusste, war, dass niemand, der sich auf den Weg in dieses Gebirge und die Ödlande gemacht hatte, jemals zurückgekommen war. Weder tot noch lebendig. Dementsprechend wusste auch niemand, was wirklich dort lag – im Verbotenen Land.

Raven wunderte sich, dass Kyle überhaupt keine Reaktion auf Joes Aussage zeigte. Immerhin war er es doch gewesen, der ihm diese Geschichte erzählt hatte. Mit mehr Herz und Leidenschaft als jeder andere, den Raven je darauf angesprochen hatte. Er war kurz davor, Mary und Joe danach zu fragen, aber Kyle kam ihm zuvor: „Ich hätte nicht erwartet, dass wir bereits so weit im Süden sind.“

„Ja, wir wohnen hier ziemlich weit draußen“, stimmte Joe ihm zu. „Aber gerade deswegen ist es hier so ruhig. Kein Eroberer hat großes Interesse an unserem Fleckchen Land zwischen dem Nachtfallgebirge und der Sturmsee.“

„Den Pferden merkt man es auch an. Die Zuchtlinien aus dem Inland sind viel kleiner und krankheitsanfälliger“, ergänzte Mary, während sie das Essen servierte und sich zu ihnen setzte. Sie war wirklich eine erstaunlich gute Köchin. Raven bemühte sich, ihr ein bewunderndes Lächeln zu schenken, dann sah er sie nicht mehr an und auch sonst niemanden. Er hoffte einfach, dass die anderen in ihrer Unterhaltung versanken und ihn ein wenig vergaßen. Diese nahm sowieso schon wieder allzu politische Züge an, das interessierte ihn alles nicht.

„Was sagst du dazu, Ray?“, riss irgendwann Marys Stimme ihn aus seinen Gedanken. Sie war bereits wieder dabei, den Tisch abzuräumen.

„Raven“, korrigierte er trocken. Er hatte nicht zugehört und konnte demnach auch nicht auf die Frage antworten, aber er hatte auch nicht vor, das zu tun.

„Entschuldige, Raven. Erzähl doch einmal ein wenig über dich, mein Junge. Du musst keine Angst vor uns haben.“

Raven wich ihrem Blick aus und überlegte, wie er am besten aus dieser Unterhaltung herauskam, ohne einfach aufzustehen und zu gehen. Er entschied sich für ein desinteressiertes Schulterzucken.

„Der spricht heute nicht mehr, das kann ich Euch sagen“, bemerkte Kyle, aber Mary ließ nicht locker.

„Ach was, das glaube ich nicht. Erzähl doch einmal, Junge, wie lange seid ihr denn schon auf der Reise?“

Reise, schoss es Raven durch den Kopf. Wohl eher Flucht.

„Seit neunzehn Jahren“, antwortete Kyle an seiner Stelle, und als er weitersprach, nahm seine Stimme einen eigenartigen Klang an, den Raven zwar kannte, der ihm aber immer noch ein Rätsel war. Fast wehmütig, traurig … Als würde die Erinnerung nach der langen Zeit immer noch unendlich schmerzen. Es passte nicht zu Kyle. Aber es klang auch nicht wie ein Teil seines perfektionierten Schauspiels.

„Mein Bruder war damals erst wenige Monate alt. Nicht einmal ein halbes Jahr …“

Raven warf ihm einen leeren Blick zu. Er wollte nur Kyles Gesicht sehen, wollte dessen Ausdruck deuten können, der in diesem Moment genauso wenig zu ihm passte. Er würde es wohl nie schaffen, seinen Bruder zu verstehen.

„Darf ich fragen, was passiert ist?“, wollte Mary vorsichtig wissen, aber Kyle schüttelte nur den Kopf.

„Das kann ich Euch nicht sagen, entschuldigt bitte.“ Das war dieselbe Antwort, die auch Raven immer auf diese Frage bekam.

„Das tut mir leid. Aber du und dein Bruder, ihr seid ein ungleiches Paar, ich muss schon sagen.“

Raven konnte direkt sehen, wie Kyle in diesem Moment wieder seine Maske aufsetzte und mit seinem falschen Spiel fortfuhr. Er war einfach nur merkwürdig.

„Oh, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie oft man uns das sagt!“, lachte er.

Raven faltete schweigend die Hände in seinem Schoß. Er hatte nichts mit seinem Bruder gemeinsam. Absolut gar nichts. Manchmal fragte er sich, ob sie wirklich Geschwister waren – allerdings nur, wenn er sich mal wieder mit Kyle gestritten hatte. Denn nicht nur, dass sie sich verblüffend ähnlich sahen, irgendwo liebte er seinen Bruder auch … Warum sonst hielt er ihn nach neunzehn Jahren immer noch aus? Es war eine Art Hassliebe. Es ging nicht mit und es ging nicht ohne einander. Raven wünschte sich nur, Kyle würde endlich lernen, sich zu beherrschen!

„Aber ich kann Euch versichern, dass wir Brüder sind.“

Raven ertappte sich dabei, wie er geistesabwesend nickte.

„Ihr seid doch zwei nette Jungen“, wunderte sich Mary. „Wie kann es sein, dass ihr in neunzehn Jahren kein Dorf gefunden habt, in dem ihr euch niederlassen könnt? Es muss doch auf Dauer wahnsinnig anstrengend sein … kein Zuhause zu haben?“

Raven senkte den Blick, starrte gedankenverloren auf seine Hände. Es war nicht das erste Mal, dass er diese Frage gestellt bekam. Und wieder hätte er fast sein Schweigen gebrochen, um zu antworten, bevor sein Bruder wieder seine Lügen erzählen konnte. Natürlich war es anstrengend. Er wünschte sich nichts so sehr wie ein Zuhause. Wenn nur Kyle endlich …

„Ach, ich weiß auch nicht“, antwortete sein Bruder gespielt schwermütig. „Vielleicht liegt es auch ein wenig an mir.“

Raven schloss die Augen und konzentrierte sich nur noch auf seinen Atem. Vielleicht? Vielleicht?? Woran lag es denn sonst, wenn nicht an Kyle? Er wollte seinem Bruder nicht die Schuld geben. Er hatte sich eben einfach nicht so gut unter Kontrolle wie andere. Es war doch bestimmt auch für ihn nicht leicht. Aber in Gesprächen wie diesen, wenn er sich Kyles Lügen anhören musste … Er ertrug das einfach nicht länger.

Wortlos stand Raven auf, nickte Joe und Mary kurz zu, dann verließ er, ohne sich auch nur einmal umzusehen, erst die Küche, dann das Haus. Erst als er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, atmete er mehrmals tief durch, bis er sich beruhigt hatte. Die Hitze des Tages war einer feuchten Kühle gewichen. Das späte Glühen des Sonnenuntergangs färbte den Horizont noch ein letztes Mal tiefrot, dann erlosch das Licht, und blaue Schatten breiteten sich über den Himmel und das Land aus. Raven lehnte sich erschöpft an die Wand und betrachtete gedankenverloren die aufkommende Nacht. Die Luft war schwer, er konnte den nahenden Regen förmlich riechen.

Als sich die Tür neben ihm öffnete, sah er sich nicht um. „Warum liegt es diesmal an dir?“, fragte er, und schon im nächsten Augenblick lehnte Kyle neben ihm.

„Diesmal bin ich ein Mensch der Reise. Immer auf der Suche nach Abenteuern, sowas in der Richtung. Warum bist du abgehauen?“

Raven warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Das fragst du wirklich?“

Dann schwiegen sie beide für einen Moment. Irgendwann klopfte Kyle ihm aufmunternd auf die Schulter und stieß sich von der Wand ab. „Komm wieder rein. Mary hat mir das Gästezimmer gezeigt. Es wird dir gefallen.“

„Ach ja?“

Kyle schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Aber ja. Es hat zwei Betten.“

Das beruhigte Raven tatsächlich. Er seufzte wohlig, aber als er sich umsah, war sein Bruder bereits verschwunden. Er wandte den Blick nach Südwesten, aber in der Dunkelheit hatte er keine Möglichkeit, das Nachtfallgebirge zu erkennen. Die Grenze zum Verbotenen Land. Ein Fluss aus Blut und ein knöcherner Wall …

Wer zur Hölle war diese Alicia?

Nachdenklich löste auch er sich von der Wand, ging zurück in das Haus und instinktiv die Treppe nach oben. Hier fand er vier Türen und wunderte sich fast, als er nicht sofort die richtige öffnete. Er stand in einer Art Ankleidezimmer. An einer Wand hingen viele teure Kleider edelster Stoffe, die ihn nur noch einmal daran erinnerten, was für eine wohlhabende Familie ihnen ihre Gastfreundschaft schenkte. Ihm gegenüber stand sogar ein Frisiertisch mit einem silbernen Spiegel. Raven war plötzlich froh, dass es schon so dunkel war, denn er hatte im Moment keine große Lust, sein heruntergekommenes Spiegelbild zu sehen.

Kopfschüttelnd drehte er wieder um und öffnete die nächste Tür. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Alles ordentlich und sauber, im Regal neben dem Schreibtisch standen sogar Bücher, offensichtlich nach Größe sortiert. Der Anblick machte ihn fast ein wenig traurig, denn er erinnerte ihn an eine Zeit, in der noch so vieles anders gewesen war. Als sie bei einem zurückgezogen lebenden Priester Unterschlupf gesucht hatten, der, selbst auf der Flucht vor irgendeinem der unzähligen Bürgerkriege, sein Leben dem Schutz seines größten Schatzes gewidmet hatte: einem antiken, halb verwitterten Buch voll alter Göttermythen. Dieser Mann hatte sich mit Freude die Zeit genommen, ihnen nicht nur den Götterglauben näher-, sondern auch das Lesen beizubringen. Raven erinnerte sich an viele, lange Abende, die sie gemeinsam bei Kerzenlicht an dem kleinen Tisch in der windschiefen Hütte gesessen und sich gegenseitig daraus vorgelesen hatten. Es war eine friedlichere Zeit gewesen … damals. Eine langsamere Zeit. Aber das Ganze war bestimmt schon zehn Jahre her, wenn nicht noch länger. Kyle hatte schnell die Geduld für das geschriebene Wort verloren, Raven hingegen studierte nach wie vor jedes Buch, das er in die Finger bekommen konnte. Hin und wieder, wenn sie das Glück hatten, so wohlhabende Gastgeber wie Joe und seine Frau zu finden, waren regelrechte Schätze darunter. Vor allem Geschichtsbücher hatten es ihm angetan.

Raven warf einen verstohlenen Blick über die Schulter und schlich sich in den Raum. Schnell überflog er die Titel der Bücher im Regal, fand aber nichts Spannendes. Sie befassten sich alle mit Pferden oder der Etikette, beides Dinge, die ihn nicht wirklich interessierten. Aber anstatt daraufhin einfach wieder zu gehen und es dabei zu belassen, sah er sich weiter im Zimmer um.

Er wusste nicht ganz, warum er das tat. Vielleicht wollte er sich selbst beunruhigen, vielleicht ging es ihm besser, wenn er sicher wusste, dass sein Aufenthalt hier nicht der längste werden würde, damit er sich erst gar keine falschen Hoffnungen machte, die ohnehin nur wieder enttäuscht wurden. Vielleicht hatte er auch gar keinen Grund, warum er den Schrank öffnete und eingehend den Inhalt begutachtete. Hier war alles ebenso ordentlich und geordnet wie im Rest des Zimmers, er wollte am liebsten fluchen, als er einen Rock aus dem Schrank zog. Die Kleider im anderen Zimmer hätten auch Mary gehören können. Sie waren eindeutig für besondere Anlässe gedacht, eine Pferdeschau vielleicht oder eine Auktion. Dieses Zimmer aber und dementsprechend auch dieser Rock konnten wohl nur einer Tochter gehören. Er schätzte Mary auf unter vierzig Jahre. Und wenn ihre Tochter bereits alt genug war, um einen zweiten Platz in einem Reiter-Wettbewerb zu belegen, musste sie zwischen fünfzehn und achtzehn Jahre alt sein. Vielleicht auch ein wenig älter, aber einen allzu großen Unterschied würde es nicht machen.

Sorgfältig legte Raven den Rock wieder zusammen und schlich aus dem Zimmer. Hoffentlich hatte ihn niemand bemerkt … Aber wer schon? Derjenige hätte ihn höchstens darauf angesprochen, was er in diesem Zimmer verloren hatte. Sogar Kyle hätte das getan, wenn auch eher, um ihn zu ärgern.

Die nächste Tür, die er öffnete, führte endlich in das Gästezimmer. Er wusste es, weil Kyle dort im Licht einer Kerze auf dem Bett saß und ihn mit einem Blick ansah, als würde er ihn nicht mehr erkennen.

„Was hältst du von dieser Familie?“, fragte Raven, während er nachdenklich an das Fenster schlenderte und nach draußen in die Dunkelheit sah.

„Na ja“, kam die Antwort von Kyle.

„Na ja?“

„Sie sind seltsam.“

„Sie sind nett. Es tut mir leid, wenn du diese Eigenschaft als seltsam empfindest, aber ich wäre dir trotzdem dankbar, wenn du dich dieses Mal beherrschen könntest.“

„Hör auf, das zu sagen, du gehst mir damit langsam auf die Nerven.“

Raven seufzte tief. „Ich habe es einfach satt, immer verjagt zu werden. Ich bin müde. Diese ewige Flucht ist ermüdend. Ich weiß einfach nicht, wie lange ich das noch mitmachen will.“

Aber Kyle lachte nur geringschätzig auf. „Ich bitte dich, Ray, das sagst du doch jedes Mal!“

„Raven. Du kennst meinen Namen, also sprich mich auch damit an.“

„Kopf hoch. Wir haben hier wieder für ein paar Tage eine Unterkunft, und danach geht es weiter! Das Leben ist eine Reise …“

„Aber das sollte es nicht sein“, unterbrach Raven seinen Bruder. „Das Leben sollte keine Reise sein. Es sollte ein Leben sein. Ich …“ Er atmete tief durch, die nächsten Worte fielen ihm unendlich schwer, aber er musste es aussprechen, wenn er nicht irgendwann den Verstand verlieren wollte. „Ich stehe immer weniger hinter dir, Kyle. Ich sehe dich an und sehe meinen Bruder, den ich liebe. Aber in letzter Zeit hat sich an dem Bild etwas verändert. Ich … ich gebe dir die Schuld.“

„Ach ja?“

„Bitte, Kyle, nimm mich nur dieses eine Mal ernst. Ich weiß nicht, wie lange ich dir noch folgen will, ich … Wie gesagt, ich gebe dir die Schuld an allem. Nicht, dass ich es absichtlich tue, um irgendeinen Sündenbock zu finden … Ich versuche, mich dagegen zu wehren, aber ich schaffe es einfach nicht mehr. Es tut mir leid.“

Kyle entgegnete nichts mehr. Raven bemerkte erst, wie fest sich seine Finger an das Fensterbrett krallten, als ein scharfer Schmerz seinen Unterarm durchfuhr. Sofort versuchte er, sich zu entspannen, aber seine Gedanken drehten sich nach wie vor im Kreis. Er hörte ein Geräusch hinter sich, als sein Bruder sich mit einem nachdenklichen Seufzen in sein Kissen fallen ließ.

Eine halbe Ewigkeit später öffnete sich die Tür, und Mary steckte den Kopf in das Zimmer – unentwegt lächelnd. „Ich habe euch unten ein Bad eingelassen“, erklärte sie, vor Gastfreundlichkeit strahlend. „Und ich bringe euch hier ein paar frische Sachen. Ich hoffe, sie passen. Aber entscheidet euch besser schnell, wer von euch als Erstes in den Zuber steigt, ansonsten ist das Wasser kalt.“

Sie erwartete wohl gar keine Antwort, sondern legte nur einen Stapel sauberer Kleider auf dem freien Bett ab und zog sich wieder zurück. Raven wartete noch, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann warf er seinen Bruder, der gerade aufgestanden war, zurück auf das Bett „Ich gehe zuerst“, beschloss er. Er hätte noch eine ganze Menge Erklärungen für ein eventuelles Warum parat gehabt, aber er sparte sich die Zeit. Und da Kyle sowieso nicht nachfragte, verwendete er seine angefangenen Gedanken lieber darauf, sich auf ein heißes Bad zu freuen.

Raven war deutlich entspannter, als er sich fast eine Stunde später wieder auf den Weg ins Gästezimmer machte. Das Zimmer war dunkel, Kyle lag im Bett und sah aus, als würde er schlafen. Raven fand den Anblick seines schlafenden Bruders immer ein wenig befremdlich. Es gab ihm einen Hauch von Menschlichkeit, der nicht zu ihm passte. Aber was passte schon zu Kyle?

Vorsichtig schloss Raven die Tür hinter sich und ließ sich auf sein Bett sinken. Die Bettdecke duftete nach Lavendel, sie raschelte leise, als er sich darin einwickelte und die Beine anzog. Gedankenverloren strich er mit der Hand übers Kopfkissen, dann schloss er die Augen. Er war unendlich erschöpft. Der Tag war anstrengend gewesen, und die kurze Pause auf dem Heuwagen hatte als Erholung nicht wirklich ausgereicht. Und dennoch … diese Erschöpfung verfolgte ihn schon so lange, dass er sich kaum mehr erinnern konnte, wie es ohne sie gewesen war.

Wenigstens hatte er keine Schwierigkeiten mit dem Einschlafen.

„Guten Morgen, Junge.“

Raven schrak aus dem Schlaf und hätte um ein Haar einfach zugeschlagen. Er konnte sich zum Glück im letzten Moment zurückhalten, denn Mary stand vor ihm und musterte ihn besorgt.

„Alles in Ordnung bei dir? Schlecht geträumt?“

Er nickte nur wortlos. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. In letzter Zeit häuften sich die Albträume. Und was für welche!

„Falls du dich fragst, es ist eine Stunde vor Mittag. Ich habe euch heute ein wenig länger schlafen lassen, weil jemand zum Essen kommt“, erklärte Mary und schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln. „Zieh dich an, mach dich fertig, viel Zeit hast du nicht mehr. Und, Ray …“

„Raven.“ War das denn so schwierig??

„Ich fände es wirklich schön, wenn du dich heute überwinden könntest. Du bist bestimmt ein ganz netter Junge, ich finde es schade, dass du so wenig sprichst.“

Raven bemühte sich um ein sanftes Lächeln, aber er hatte das Gefühl, dass der Versuch auf ganzer Linie scheiterte. Er durfte nicht sprechen. Er hatte Angst, die Wahrheit zu sagen.

„Na ja, mehr, als dir gut zuzureden, kann ich auch nicht tun. Ich erwarte dich in einer halben Stunde in der Küche.“ Sie strich ihm lächelnd über den Kopf – eine fast mütterliche Geste – und ließ ihn allein.

Raven sah ihr lange nach, dann stand er auf und zog sich an, denn viel Zeit hatte er nicht mehr …

Als er in der Küche ankam, saßen bereits alle am Küchentisch und unterhielten sich angeregt.

„Wenn ich es doch sage, nur wenige Tage, nachdem er den Vogt gestürzt hat“, erklärte Joe gerade und machte eine unmissverständliche Geste, die ein Fallbeil andeutete.

„Müsste sich so ein Bürgerkrieg zwischendurch nicht positiv auf das Geschäft auswirken?“, vermutete Kyle, woraufhin Joe entrüstet schnaubte.

„Ich verkaufe meine Pferde nicht für so einen Unsinn“, erwiderte er. „Wenn ich meine Tiere für jeden selbst ernannten König oder göttergesegneten Feldherren hergeben würde, hätte ich bald keine mehr.“