Liebe Familie 8 - Linda Fischer - E-Book

Liebe Familie 8 E-Book

Linda Fischer

0,0

Beschreibung

Es geht weiter mit dem Familienleben von Tom Reuenthal, seiner Frau Leona und ihren Kindern. Für jeden von ihnen entwickelt sich alles ganz anders, als es ursprünglich mal geplant war. Sie erleben Überraschungen - also das ganze normale Leben. Nur leider tut das selten, was man sich erträumt. Dann bleibt nur anpassen. Leona konnte das schon immer ganz gut, für ihre Kinder jedoch ist vieles neu und so kehren sie immer wieder um: Alles auf Anfang - so ist es eben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 468

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch:

Während Leona und Tom Reuenthal schon an ihre nächste Trennung wegen der bevorstehenden Europa-Tournee denken müssen, arbeitet Felix Falkow noch immer in Schweden an seiner Doktorarbeit. Der junge Mann will unbedingt bei seiner Mutter im Hotel „Sonniger Garten“ arbeiten und freut sich sehr darauf, bald wieder in Deutschland zu sein.

Rena Falkow bereitet sich auf die nächste Tournee vor, ihr Studium neigt sich dem Ende zu. Außerdem gelingt es ihrem Mann Frederick Myers, weniger gefährdet zu arbeiten. Das eröffnet neue Perspektiven für die Familienplanung.

Das und noch mehr erwartet Sie diesmal in Linda Fischers Roman-Reihe „Liebe Familie“. Denn schließlich hat auch Cynthia – genannt „Zini“ – einiges vor. Sie will ihr Studium verkürzen und schnell in die Forschung einsteigen. Auch Jason und Tessa gehen ihren Weg.

Impressum:

Liebe Familie – Teil 8: Alles auf Anfang

Handlungsorte und Personen

Hotel „Sonniger Garten“ in einem kleinen Ort in Niedersachsen

Leona Reuenthal, Besitzerin des Hotels

Thomas Reuenthal, genannt Tom, ihr 2. Mann, Sänger „Phil Williams“, Deutsch-Amerikaner

Dennis Falkow, ihr 1. Mann, verstorben 1997

Die Kinder

Felix Anton Falkow, adoptiert von Leona und Dennis, erwirbt gerade Doktor-Titel

Anissa Serena Falkow, genannt Rena, studiert Musik, Englisch und Geschichte auf Lehramt

- Frederick Gabriel Myers, Renas Mann, führt Detektei in Hannover, US-Amerikaner, leitet für Tom die Tournee und übernimmt Sicherheit

Cynthia Falkow, genannt Zini, studiert Geologie in Berlin, Hauptziel Erdbebenforschung

Samantha Reuenthal, genannt Sam, Toms Adoptivtochter, Fotografin

- Markus Reuenthal, ihr Mann, unterrichtet Literatur an englischer Universität

Jason Reuenthal, genannt Jace, Toms Sohn

Tessa Nadine Reuenthal, Tochter von Leona und Tom

Hotelangestellte und Freunde

Marion Roske, Rezeption

- vertreten von Frau Herder, Aushilfe

Sylvia Hauke, Restaurantchefin

- Roswin Kober, ihr Lebensgefährte

Yu-Lan Vogelsang, Mitarbeiterin im Restaurant

- Volker Vogelsang, ihr Mann, Förster und Schulfreund von Tom

- Nadja und Tabea, beider Kinder, befreundet mit den Falkow- und Reuenthal-Kindern

Helgard Hermans-Nathmann, Küchenchefin und hauptamtliche Köchin

- Rüdiger Nathmann, ihr Mann

Stefan Linacker, Konditor

Olivia Trautmann, Hausdame

Jörn Trautmann, ihr Mann, Hausmeister

- Jan-Oliver Trautmann, ihr Sohn, verliebt in Tabea Vogelsang

Doris Röttger, Zimmerservice

- Michael Röttger, ihr Mann, Journalist, führt das „Dorfblatt“ – die Ortszeitung

- Michael Dennis Röttger, ihr Sohn, Soldat

- Isabell Röttger, ihre Tochter, Freundin und „Zwilling“ von Zini

Rosalba Inez, Barfrau und Rezeptionistin

Valentina Harms, Sekretärin

- Edzard Harms, ihr Mann, Landwirt

Silvia Holzschuh, Verkäuferin im Wellness-Lädchen des Hotels

- Uwe Holzschuh, ihr Mann, Polizeibeamter

Außerdem Hotelgäste wie Lena und Martin Stöcks, Florestan Schröder oder Gloria …

Verwandte der Familie Falkow-Reuenthal, weitere Freunde und Bekannte

Monika und Winfried Sebald, Leonas Eltern

Elisabeth Schmöck, Toms Ex-Frau

Ferdinande und Rüdiger Schmöck, deren Eltern in Hamburg

Fiete und Gesine, Fischlieferanten des Hotels in Hamburg

Olaf Bastius, Polizist in München

In Schweden

Mats Kristiansson, Ex-Schwager von Leona und Dennis, Hotelbesitzer, Stockholm

- Liv Kristiansson, seine Frau

- Lorena und Astrid, beider Töchter

Maria Kristiansson, Mutter von Mats

Hans Mjölsson, Sicherheitschef der Sigvald-Hotelkette

Viktor Halvorson, ehemals Bodyguard, arbeitet jetzt für Sigvald-Hotelkette

In den USA

Allison Reuenthal, Toms Mutter, lebt bei Napa, führt Weingut der Familie

Jennifer May Cowin-Reuenthal, genannt Jenny, Toms älteste Schwester

Ingrid Lorraine Walsh-McPherson, genannt Lorry, Toms 2. Schwester

Barbara Catherine Johnson, genannt Kitty, Toms 3. Schwester

Tobias Nick Reuenthal, genannt Nicky, Toms kleiner Bruder

Simon Miller, Bruder von Allison Reuenthal

Kendra Caroline „Casey“ Sysmanek, Leiterin des Weingutes der Familie Reuenthal

- John, ihr Mann, Sheriff in Napa

- Opal, studiert Weinbau, Rafael und Jacob, ihre Kinder

James „Jim“ Fitzwilliam Lester, Geologe und Erdbebenforscher

Jane Myers, 2001 verstorbene 1. Frau von Fred Myers

Rachel und Aaron Goldstein, Freunde von Tom, Renas ehemalige Gasteltern in New York

Mary Robinson, Sopranistin, Freundin von Rena

George Paginsky, Balletttänzer, Freund von Rena

Renas afroamerikanische Jazz-Band aus New York:

- Timmy Smith, Schlagzeug

- Ron Weethley, Kontrabass

- Cal Dizzie Bones, Klarinette und Gitarre

Benjamin, Sybil, ihre Tochter Rosie und deren Grandma in Washington, Freunde von Felix

Im niedersächsischen Dorf rund ums Hotel

Oskar Hirbisch, evangelischer Pastor im Ruhestand

Albrecht Bicknäse, Pastor

Nicole Tarrach, Freundin der Falkow-Schwestern, Medizinstudentin

Kristina Kyrkanson, Freundin der Falkow-Schwestern, Gemeindeschwester

Daniela Proll, Schwester von Markus Reuenthal

- Eltern Proll leben bei Dresden

Ruben Düster, Freund von Jason Reuenthal

- Hannah Düster, seine Schwester

- Mascha und Johannes Düster, deren Eltern

Richard „Ricky“ Müller, Ex von Zini, zusammen mit Isabell Röttger

Torsten Wölz, Dozent und Freund von Zini

Irene Wölz, Schwester von Torsten, Freundin von Zini

Anna, Mitschülerin von Tessa

Hannes Birkanger, Schüler einer Klasse über Tessa

- Johannes Birkanger, sein Vater

Nico, ehemaliger Mitschüler der Falkow-Schwestern

Stefan Weichsel, Autobesitzer

Herr Altmeister, Verwaltung des Baumarktes

In Hannover

Günter Fitzmann, Angestellter der Detektei von Fred Myers, später Partner

- Helene Videra, seine Freundin

Lisbeth Grämmel, Mitte 40, Sekretärin in der Detektei

- ihr Ehemann und ihre beiden Kinder (Tochter Ira)

Mandanten der Detektei wie Anja Brittner

Joachim „Achim“ und Birgit Tannert, Nachbarn

Weitere Nachbarn wie Frau Wundram (von gegenüber) oder Frau Rösler

Sven Rösler, deren Enkel und Nachhilfeschüler von Rena Falkow

Alexej Wassilikov, genannt Aljoscha, Violinist

Sonja, Musikstudentin

Sandra, Violinistin

Daniel Müller, Kriminalbeamter am LKA in Hannover und Freund von Fred Myers

- Susanne Müller, seine Frau

- Fabian und Bianca, ihre Kinder

Professor Paul Gillessen, Geologe und Mentor von Zini Falkow

- Anna Gillesen, seine Frau

Dr. Oliver Klimmer, Hausarzt von Rena Falkow

Milena Kurtz, Friseurmeisterin in Hannover

US-Marines, stationiert in Deutschland

Europa-Tournee I

David Blumenstein, Toms Anwalt und Freund, bereitet Tournee vor, Bruder von Rachel

Patricia „Pat“, Sängerin im Background-Chor

Gloria, Sängerin im Background-Chor

Betty, Tänzerin

Marietta, Tänzerin

Bob, Cello

Walter, Trompete

Gordon, Violine

Eliza und Ben – ebenfalls im Orchester

Susan „Suzy“, Beleuchtung

Grace, Tontechnik

Joseph Brian, Tontechnik

Bill, Bodyguard

Georg, Bodyguard

Paul, Bodyguard

Phillip, Bodyguard

Monica, Bodyguard

Ruth, Bodyguard

Stevie, Bodyguard

Jim, Fahrer

In Neapel/Italien:

Anna-Sophie Castelli, Dolmetscherin und Schulfreundin von Rena Falkow im Internat

- Antonio Castelli, ihr Ehemann, Archäologe

Erst Anfang 2009 wagte Rena Falkow etwas, das ihr schon lange auf der Seele lag. Sie holte die Kiste aus dem Keller, die Fred vom Los Angeles Police Department zugeschickt worden war. An diesem Montagabend, wenn ihr Mann mit der Arbeit in der Detektei fertig war, würden sie das Thema angehen. Noch länger durften sie es nicht aufschieben.

Die gut verschnürte Kiste barg seine Erinnerungen. Wenn das hier im Keller verstaubte, konnten sie das Kapitel seiner ersten Ehe nie abschließen. Und er hatte ihr schließlich freie Hand gelassen, was das Auspacken anging. Bisher hatte sie sich nicht getraut, nun wollte sie endlich wissen, was darin sein mochte.

Gut verschnürt in braunem Packpapier stand die Kiste auf ihrem Wohnzimmertisch. Rena holte eine Schere und drehte die Heizung etwas höher. Sie sah zögernd auf die Verpackung. Je länger sie wartete, desto seltsamer war ihr zumute. Sowie Fred den letzten Kunden verabschiedete, drohte das Unheil … Jedenfalls fühlte es sich so an.

„Du siehst für mich so aus wie ein verdammter Dementor“, sagte sie leise und legte die Schere unbenutzt wieder hin.

Zuerst sollten sie zu Abend essen. Eine feste Grundlage erschien ihr zwingend notwendig. Es gelang ihr garantiert nicht, Fred zu einem größerem Quantum Alkohol zu überreden. Also musste sie sich etwas einfallen lassen, damit er halbwegs entspannt mit seinen leidvollen Erinnerungen umgehen konnte.

Günter Fitzmann sah noch einmal in die Küche, bevor er sich auf den Heimweg machte, da er ihr Hantieren hörte.

„Du bist schon da? Ich dachte, du ziehst mit deinen Musikschulleuten los?“ „Nee. Die Kälte hat uns auseinander getrieben“, Rena schaute von ihrem Gurkenhobel auf. „Ist sibirisch draußen, ja. Wir sind froh, dass wir gerade keine nächtlichen Überwachungen haben. Boh – ich muss los. Fred macht nur noch ein bisschen Papierkram fertig.“ „Prima. Dann werfe ich jetzt die Bratkartoffeln an.“

Belustigt sah der Mann zu, wie sie eine Schale aus dem Kühlschrank nahm. „Reste-Verwertung?“ „Genau. Ich haue noch Schinken rein und Eier drüber, dann reicht’s für zwei. Mit dem Gurkensalat.“ „Ich bin kein Reste-Fan.“ „Du nicht? Da solltest du dein Urteil revidieren. Meine Familie liebt Bratkartoffeln. Fred auch.“ „Dein Bratkartoffel-Verhältnis, Rena?“

Damit entlockte er ihr ein vergnügtes Kichern. „Ja, genau. So kriege ich ihn rum …“ „Dann gehe ich besser schleunigst“, lachend verabschiedete er sich. Rena prustete über diesen eiligen Rückzug.

Es dauerte nicht lange, bis Fred aufkreuzte. Er freute sich sichtlich, sie und ein fertiges Essen vorzufinden.

„Alex und Sonja wollten doch üben? Und dann noch mit dir los?“ „Ja, aber nun sind sie zum Pferdeturm. Mit Schlittschuhen. Das brauche ich nicht. Falls es so kalt bleibt, meint Sonja, geben sie vielleicht bald den Maschsee frei. Dann will sie wieder geübt sein. Und Alex ist mit. Dabei hat der es nicht nötig. Sie wollen am Wochenende auf den See, wenn’s geht. Ob wir mitkommen. Soll ich dich fragen.“

Fred ließ den Wortschwall gelassen über sich ergehen und verteilte schon mal den Gurkensalat auf zwei Teller. „Ich auf Schlittschuhen?“ Er lachte leise über dieses Ansinnen.

„Was ist daran jetzt so lustig? Ach, herrje“, sie schlug die Hand vor den Mund und lachte mit: „Ich vergesse das immer. Du bist so sportlich, mein subtropischer Kalifornier … Kennst richtigen Winter kaum. Hast du jemals …?“ „Nein. Habe ich nicht“, er verzog das Gesicht: „Und ich messe mich nicht mit deinem russischen Freund, Eisprinzessin.“

Rena juchzte etwas, lud die Bratkartoffeln um und schob ihm und sich die Teller hin: „Setz dich. Solange es heiß ist, iss erst mal“, sie hörte selbst, welchen Befehlston sie anschlug. Fred musterte sie zwar interessiert, äußerte sich jedoch nicht dazu. Nach ihrem Gelächter zuvor zog er den Schluss, sie könne mehr auf dem Herzen haben als eine kleine Schlittschuhtour.

Gelassen probierte er und nickte ihr freundlich zu: „Sehr gut gewürzt. So, dann rede mal.“

Seine Frau dachte etwas nervös an die Kiste, die auf dem Wohnzimmertisch wartete. Worauf hatte sie sich da bloß wieder eingelassen? Sollte sie ihm jetzt quasi die Mahlzeit schon mit der Wahrheit verderben? Oder ausweichen und hoffen, er würde das nicht bemerken?

„Alex ist so ein Angeber. Man möchte meinen, er könnte auf seinen Schlittschuhen das nächste Rennen in Heerenveen gewinnen.“ Das war eindeutig feige, und sie ärgerte sich selbst über diese zickig klingenden Worte.

„Ich glaube, wir wählen besser ein anderes Thema“, Fred sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte. „Steigt deine Laune dann wieder? Politik lassen wir mal aus. Wie war deine Geschichtsvorlesung heute?“

Immerhin gab er sich Mühe. Wie lange das wohl anhalten mochte, überlegte Rena mit schlechtem Gewissen. Sie machte ein grimmiges Gesicht: „Langweilig. Genau wie die nächste Klausur. Wenn ich da nicht sämtliche Punkte einheimse, würd’s mich wundern.“ „Hast du etwa einen Zauber bereit wie die Weasley-Zwillinge“, neckte Fred sie.

Für einen Moment starrte Rena ihn fassungslos an. Hatte sie nicht gerade noch die Kiste als „Dementor“ bezeichnet? Und nun wählte ihr Mann treffsicher auch etwas aus „Harry Potter“ – das Zitat erschreckte sie, und sie konnte nur mit dem Kopf schütteln.

Als Fred aufstand, zuckte sie ebenfalls halb vom Stuhl hoch: „Wohin willst du?“

Wenn er jetzt das Wohnzimmer betrat, war vermutlich jede Spur seiner guten Laune vertrieben.

„Dir etwas holen, das dich hoffentlich zum Lächeln bringt. Obwohl ich es dir eigentlich heute Abend als Bettlektüre auf dein Kopfkissen legen wollte. Bin gleich wieder da.“

Sein heiteres Zwinkern beruhigte sie überhaupt nicht. Statt dessen fragte sie sich, wie sie die Kiste so schnell wie möglich heimlich wieder in den Keller bringen konnte. Jetzt gleich, während er ihr die „Bettlektüre“ holte? – Doch sie hörte deutlich, dass er – was auch immer – nur vom Flur herein holte. Jede weitere Minute erschwerte ihr ihre Aufgabe.

„Es ist nicht mehr Weihnachten“, sagte sie nur etwas kläglich, als er ihr das Päckchen hinlegte. Fred tat diesen Einwand mit einem Achselzucken ab: „Ich werde ja wohl meiner Frau auch im Januar ein Geschenk machen dürfen. Pack aus.“

Wortlos gehorchte Rena und starrte auf den Buchtitel: Die Märchen von Beadle dem Barden. Verblüfft schaute sie auf. Fred beantwortete die unausgesprochene Frage: „Als du Band 7 gelesen hast. Harry Potter und die Heiligtümer des Todes. Da hast du gesagt, du würdest gern diese Märchen lesen. Das sind sie. Deutsch. Ich hab’s zufällig im Buchladen gesehen, als ich meine Bestellung abholte.“

„Abgeholt habe. Abholte ist auch korrekt, aber zu korrekt“, verbesserte sie, ohne den Blick von diesem zauberhaften Geschenk zu heben. „Ich spreche nicht schlampig genug?“ „Nein. Du sagtest – du hast gesagt. Gelesen hast, geholt hast – das ist Umgangssprache. Ich hab’s gesehen – ist Umgangssprache. Abholte nicht.“ Fred nickte ernst zu diesen Ausführungen.

„Habe ich mich schon bedankt?“ „Nein“, antwortete er: „Du hast nur mein Deutsch kritisiert. Bekritelt.“ Es zuckte um seinen Mund. „Ich liebe dich“, sie sprang ihm an den Hals. Fred musste lachen, drückte sie jedoch an sich.

Nach ein paar Küssen fühlte sich die junge Frau viel besser. Sie schmiegte sich an ihren Liebsten und sah ihn aufmerksam an.

„Na, Spatz?“ „Ach, Fred. Manchmal ist alles … echt schwierig.“ „Was genau?“ „Mit dem Leben und so. Überhaupt.“

Er streichelte ihre weiche Wange. In Momenten wie diesem erkannte er den Unterschied überdeutlich. Sie war noch sehr jung. Früher oder später gestand sie sicher, was sie gerade bedrückte.

„Du, Fred?“ „Ja?“ „Um … bei Harry Potter zu bleiben: Welches Ereignis würde … würdest du dir aussuchen für deinen Schutzzauber?“ Jetzt schien sie ganz Kind zu sein, allerdings ein besorgtes Kind, das ihn scheu musterte und fast angstvoll dreinschaute.

„Schutzzauber?“ Er wiederholte es verdutzt, dann kam ihm die Erinnerung: „Für … Expecto patronum?“ „Ja.“ „Etwas Schönes. Glück. Und Notfall-Schokolade“, sagte er belustigt.

Ihr schweres Schlucken verriet ernste Sorge, also fügte er an: „Sag mir lieber, weshalb ich das brauche, hm.“ „Ich habe die Kiste aus dem Keller geholt. Wir können das nicht ewig aufschieben. Ich möchte, dass du sie auspackst.“

Der Mann runzelte zwar die Stirn, schwieg aber. „Sei mir nicht böse, Fred.“ „Dein Zauber funktioniert“, er schob sie sachte von sich und ging ohne jede weitere Erklärung ins Wohnzimmer.

Etwas zögerlich schaute Rena erst zum gedeckten Tisch, dann entschied sie, das Abendessen und auch das Aufräumen hinterher seien unwesentlich. Sie folgte Fred.

Ihr Mann hatte die Schere bereits in der Hand und schnitt die Verpackung der gewichtigen Kiste auf. Rena blieb an der Tür stehen. Sie rechnete durchaus damit, er könnte sie wegschicken.

Ohne sich umzusehen, sagte er ruhig: „Setz dich lieber. Da ist viel drin. Und wir entscheiden besser sofort, was wir damit anfangen.“ „Woran denkst du da?“ „Reißwolf“, die lakonische Erwiderung sagte mehr aus, als sie erwartet hatte.

Die etwas zittrige Frage verriet ihm deutlich, wie sehr sie den Inhalt fürchtete. Sie hatte unerwartet viel Angst – vor seinen Erinnerungen.

Obenauf lag eine Bibel. „Des Reverends bestes Stück“, merkte Fred spöttisch an und reichte sie ihr weiter. „Eine Bibel darf aber nicht in den Reißwolf, Fred.“ „Sondern?“ „Wir können sie ja verschenken. An die Kirchengemeinde. Falls da mal wer ist, der sie auf Englisch lesen will.“

Fred packte weiter aus. „Meinetwegen. – Das ist Janes familiäre Fotosammlung. Die ist nun eindeutig für den Reißwolf“, auch diesen Kasten gab er gleich an seine Frau weiter. Rena atmete tief durch: „Aber wenn Bilder von dir dabei sind?“ „Behalte, was du willst. Bücher … hm“, er packte weiter aus.

„Christliche Erbauungswerke schlimmster Provenienz. Die fliegen nun wirklich direkt auf den Müll. Die Schulhefte …“ er stockte, als er die erste Aufschrift las. Das waren keine normalen Schulhefte, sondern Janes Tagebücher. „Weg damit“, er warf sie neben Rena auf das Sofa, bevor er das letzte Stück heraus nahm, ein Metallkistchen. Der Schlüssel war mit einem Streifen Pflaster auf den Deckel geklebt.

„Was ist das? Eine Art Tresor?“ wunderte sich Rena. „Vermutlich der Schmuck der Familie. Kannst du haben. Viel Spaß damit.“

Diesmal war sie schockiert und keuchte. Fred drehte sich ruckartig zu ihr um: „Was?“ „Du glaubst doch nicht wirklich, ich könnte auch nur ein Stück von Janes Familienschmuck tragen? Das ist … zynisch.“ „Ausgerechnet du bist neuerdings der Typ Mensch, der Wertsachen wegwirft – interessant“, entgegnete Fred aggressiv.

Zuerst presste sie die Lippen aufeinander. Er kannte sie viel zu gut. Dann aber schluckte sie den Jähzorn und begann mit leisem Ton: „Wir verkaufen das alles … Was auch immer es ist. Und wir spenden das Geld anonym. Für die Kindertafel. Oder das Kinderhospiz. Wenn du einverstanden bist.“

Der gütige Gedanke beschämte ihn. Sie hatte diese Behandlung nicht verdient. Er durfte diesen abgrundtiefen Hass nicht an ihr auslassen. Ihre Augen wichen nicht von ihm, sie bettelte geradezu um sein Verständnis.

„Ja, Serena, das machen wir“, er stellte die geleerte Kiste auf den Fußboden und setzte sich auf die Tischkante, um die Inventarliste der Polizei zu kontrollieren.

Rena atmete noch einmal tief durch. Sie streckte die Hand aus und berührte sanft sein Bein, hoffend, er könnte sich wieder etwas beruhigt haben.

„Und wenn du nicht willst, dass ich mir das ansehe, dann kann wirklich alles geschlossen auf den Müll“, bot sie sachte an. „Nein. Ist eine Erbschaft. Du kannst dir alles ansehen. Und behalten, wenn du willst. Sieh es dir in aller Ruhe an.“

Diesmal fiel es ihm schwer, ihren Blick offen auszuhalten. Doch er erkannte sehr wohl, wie besorgt und ängstlich sie ihn auch jetzt noch beobachtete. So viel, wie seine junge Frau gerade empfand, war die ganze Sache gar nicht wert.

„Dein Patronus wirkt, Spatz“, sagte er leichthin. Ihre Augen leuchteten sofort wieder auf bei dem kleinen Scherz. Fred konnte wieder lächeln. Er beugte sich vor und küsste sie liebevoll. Rena strahlte wieder und vergaß, wie viel Kummer seine Vergangenheit ihr schon gebracht hatte.

„Okay, dann sieh mal drauf – und ich räume in der Küche auf. Oder willst du noch was essen, Serena?“ „Ich helfe dir.“ „Blödsinn. Das hier ist viel spannender für dich als der Abwasch einer Pfanne.“

Seine Ruhe täuschte sie tatsächlich. Sie ahnte nicht, welche Selbstbeherrschung dafür nötig war. Andererseits machte es ihm die Gegenwart seiner geliebten Frau vergleichsweise leicht, mit der Flut an Gefühlen und Erinnerungen fertig zu werden.

Während er in die Küche ging, dachte er darüber nach. Jetzt ging es ihm unendlich viel besser. Zum ersten Mal in seinem Leben besaß er eine Familie, die ihn sehr liebte und nicht im Stich ließ. Nachdem er inzwischen schon seit langer Zeit beobachtet hatte, wie sich die Geschwister kabbelten, nahm er nicht mal mehr Sams Aversion besonders ernst und betrachtete das als das, was es war: Konkurrenzkampf zwischen den Schwestern …

Wie reich war er jetzt: Er hatte diese wunderbare Familie und Freunde, eine eigene Firma. In den vergangenen Jahren hatten die vielen Veränderungen sein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Spätestens Serenas bedingungsloses „Ja“ zu ihm und die überraschende Erkenntnis, seine kleine Pazifistin entschiede sich bewusst für die Liebe zu ihrem Soldaten, hatte all das Gute ausgelöst und jedwede Bitterkeit vertrieben.

Rena sah sich den Schmuck an. Nichts davon gefiel ihr wirklich. Doch die winzigen Stempel und Markierungen zeigten bei den meisten Teilen den Silber- respektive Goldgehalt an. Es war auch Modeschmuck dabei, längst „out“ inzwischen – das hatten Janes Eltern vielleicht aus sentimentalen Gründen aufbewahrt.

Das hier musste sie loswerden und nahm sich vor, die kleine Metallkiste in ihren Rucksack zu stopfen, um alles so schnell wie möglich zu veräußern. Fred würde eine Quittung oder ein Einzahlungsbeleg auf ein Spendenkonto genügen. Er musste sich nicht selbst darum kümmern.

Nach und nach begriff sie, wie er sie mit den scheinbar lässigen Worten leicht getäuscht hatte. Ohne diese seelische Belastung hätte er auch das Auspacken dieses Postpakets nicht so lange vor sich hergeschoben. Es war gut, die Entscheidung jetzt herbeigezwungen zu haben. Damit konnten sie den Ballast sozusagen gemeinsam abwerfen.

Ob er jetzt in Ruhe essen konnte? Sie wollte ihm ein bisschen Zeit geben, da er das offensichtlich gerade brauchte.

Neben ihr lagen die verrutschten Schulhefte. Als angehende Lehrerin spürte sie professionelles Interesse am Inhalt. Sie griff sich wahllos eins der Hefte und schlug es auf, ohne Zeit für den Titel zu verschwenden. Es sah nach einem Aufsatz aus, und Rena las einen Abschnitt, obwohl ihr die Handschrift der Schülerin etwas schlampig erschien.

„Ich habe heute Vaters goldenen Stift genommen und einem Jungen dort in die Tasche gesteckt. Er hat ihn nicht verkauft. Er hat ihn hergebracht. Er ist so dumm. Jetzt denken alle, er hat ihn geklaut. Er hat nichts gesagt. Er redet nie. Er hat böse Augen, wenn er mich ansieht. Er weiß es. Er verrät mich nicht.“

Rena schüttelte den Kopf. Der Stil gefiel ihr nicht, die kurzen, abrupten Sätze – eine schlechte Note für diesen alles andere als flüssigen Stil, überlegte sie belustigt, bei dem fast jeder Satz mit demselben Wort begann. Sie warf das Heft zurück auf den Stapel und zog ein anderes heraus, das sie ebenso mittendrin aufschlug.

„Wir fahren heimlich nach Vegas. Morgen. Endlich habe ich es geschafft. Endlich. Jetzt habe ich ihn. Ich bin nicht krank. Ich kriege ihn. Sie werden neidisch sein. Alle. Anny und Gilda. Suze auch. Weil ich ihn kriege. Mit den Eltern werde ich fertig. Ich muss ihn ja nicht mitnehmen. Und mich lieben sie.“

Plötzlich ging der kritischen Leserin auf, was sie in der Hand hielt. Mit einem Keuchen schlug sie das Heft zu und starrte aufs Deckblatt. Da standen keine Angaben zum Schuljahr, wie sie fälschlich aus der Jahreszahl geschlossen hatte. Diese vermeintlichen Aufsatzhefte entpuppten sich als Tagebücher, schlimmer noch: Janes Tagebücher!

Hastig und mit leisem Entsetzen öffnete sie es wieder und las weiter, viel zu gebannt von dem verräterischen Text, um sich an ihre guten Manieren zu erinnern. Hier ging es um ihren geliebten Mann – und deshalb vergaß sie, wie sehr sie sich sonst an Diskretion und Vertraulichkeit hielt.

Mit jeder Zeile wurde ihr klarer, was sich zwischen 1998, 1999 und Janes frühem Tod im Juli 2001 abgespielt hatte. Sie konnte kaum noch lesen, so sehr tropften ihre Tränen. Was sie bisher nur aus Freds wortkargen Antworten geschlossen hatte, vielleicht geahnt, das las sie hier.

Schwarz auf Weiß zeichnete sich Janes Charakter vor ihren Augen ab: Rücksichtlosigkeit, Egozentrik, Ausbeutung jedes Mitmenschen. Intelligent war sie nicht – sie nutzte offensichtlich nur ihr gutes Aussehen aus und vor allem die Einsamkeit Freds.

Wütend wischte sich Rena die Tränen ab, um besser sehen zu können. Schließlich pfefferte sie das Heft auf den Stapel zurück und sank schluchzend auf dem Sofa zusammen, die Hände vor das Gesicht geschlagen.

So fand Fred sie, als er wieder ins Wohnzimmer schaute – verwundert, wo sie blieb: In Tränen aufgelöst.

„Serena, was hast du?“ „Das gelesen“, sie schniefte unschön und wies auf die Hefte. Fred hob eine Augenbraue. Es sah ihr nicht gerade ähnlich, anderer Leute Intimsphäre nicht zu achten.

„Ich dachte doch, es sind Schulaufsätze, nur ziemlich mies geschrieben“, sie fuhr sich über die Nase und die Augen, schnüffelte, rang um Fassung und weinte dann doch weiter.

„Ach, Spatz“, er kannte seine weichherzige Liebste. „Hat sie sich so sehr über ihre Krebserkrankung ausgelassen? Warum liest du das? Nach allem, was du schon mit deinem Vater durchmachen musstest … als kleines Kind.“ „Nicht das“, widersprach sie und schluchzte herzzerreißend, sich wohl bewusst, wie ihr Mann auf Mitgefühl reagierte.

„Was denn sonst?“ Rena schüttelte den Kopf auf diese besorgte Frage hin. Das mochte sie ihm nun wirklich nicht verraten.

Fred nahm das oberste Heft auf, schlug es ebenso wahllos wie zuvor seine Frau auf und las einige Zeilen. Er verstand sehr schnell, was Rena empfand, schleuderte das Heft zurück und nahm sie in die Arme.

„Serena, das ist so lange her. Ich hatte außerdem vor zehn Jahren überhaupt keine Ahnung davon, wie eine echte Familie ist. Deine bedingungslose Liebe und Loyalität, Leos Freundschaft, Toms blindes Vertrauen, deine Geschwister, die sich um meine Zuneigung bemühen … - das kannte ich nicht.“

„Sie war als Kind schon ein richtiges Charakterschwein“, stieß Rena hervor, hieb sich vor den Mund und presste dann ihr verweintes Gesicht an ihn. Fred musste lachen, mehr über ihr sichtliches Erschrecken nach dieser unumwundenen Ehrlichkeit als über die Worte.

Zweifelnd hob Rena den Kopf und sah ihn an. Fred versuchte, sein Lachen zu erklären: „Das stimmt vermutlich. Zumindest teilweise. Auch sie ist ein Kind ihrer Eltern und deren Erziehung gewesen“, er blieb ruhig dabei: „Spatz, ich sehe das heute alles viel gelassener, glaub mir. Damals … ihre Schönheit hatte mich eben beeindruckt. Welcher verknallte Knabe fragt schon nach dem Charakter seiner tollen Freundin? Bei Zini war ich wesentlich gereifter – und schlauer. Außerdem hat sie einen guten Kern, deine Schwester. Wenn sie über diese Spielphase rauswächst, wird sie sicher eine großartige Frau. Nicht so wie du, aber … möglicherweise annähernd“, überlegte er skeptisch und blinzelte ihr vertraulich zu.

Das brachte Rena zum Kichern. Sie putzte sich die Nase und umarmte Fred fest. Obwohl er recht locker mit dieser Situation umging, mochte sie nicht weiter über Jane sprechen, ihrer Neugier zum Trotz.

„Na, woran denkst du jetzt wieder? Frag ruhig. Komm schon, nur Mut. Du solltest langsam wissen, wie viel du mir zumuten darfst. Ich komme gut klar. Auch mit … einem Charakterschwein.“ „Ich weiß nicht …“

„Dank deiner liebevollen Rücksicht an Janes Grab … Serena, du hast nichts zu befürchten. So schwer es fällt, aber wir sollten doch Mitgefühl mit ihr aufbringen. Denn so geliebt wie du wurde sie nie. Nicht von ihren Eltern. Und, ganz ehrlich, von mir auch nicht. Was genau hast du gelesen?“ „Von ihrem Diebstahl, dem sie einem anderen in die Schuhe geschoben hat. Und eurer … Vegas-Reise.“

„Diebstahl war da im Heim an der Tagesordnung. Das hat mir nichts gemacht, die falschen Unterstellungen haben wir jeden Tag ertragen müssen, nicht nur ich, alle.“ „Und keiner hat gewusst, wie du bist? Du machst nichts Unrechtes, du stiehlst nicht!“

Mit einem Lächeln über ihre wütende Empörung schüttelte Fred den Kopf: „So wie du hat nie jemand an mich geglaubt. Vor lauter Liebe übersiehst du meine Fehler völlig.“ „Tue ich nicht. Genauso wie meine. Die kenne ich alle.“ „Serena, nun hör aber auf. Dann halte mir meine Fehler doch gleich mal vor bei der Gelegenheit.“

Rena atmete tief durch. „Du erzählst mir noch immer nicht viel, um mich zu schützen. Du lenkst ab, wenn dir … Dinge zu nahe kommen. Nicht unbedingt mich. Jedenfalls nicht immer. Aber alle anderen. Ich bin offener. Nur deinetwegen ringe ich mich zum Verschweigen durch.“ „Verschweigen? Was denn?“

Eine Weile überlegte sie, dann erinnerte sie sich an ein Beispiel: „Du hast neulich mitten drin gegrinst, als Alex dieses russische Lied gesungen hat. Hinterher hat er mich gefragt, ob du Russisch verstehst, weil du diese lustige Stelle bemerkt hast. Ich habe ja nur vage ‚hä‘ gemacht …“ „Es war nicht lustig, sondern zweideutig. Das heißt dann wohl, Alex … hm … ich muss künftig besser aufpassen. – Und deine Fehler?“

„Ich … verliere gerade mein wichtiges Ziel aus dem Auge. Weil das Geldverdienen auf Tournee leichter ist … Also, es macht unheimlich Spaß und bringt auch noch ein bisschen Zubrot hier ein. Statt wie Studium nur zu kosten. Will ich wirklich Lehrerin sein? Ja, das ist jetzt alles unausgegoren und voll wirr. Du kannst mit Recht behaupten, es läge an meiner Jugend. Aber ich werde in Juni schon 23. Und ich glaube, ich bin erwachsen. Immerhin schon zwei Jahre verheiratet. Ach, Fred, kannst du mich aushalten?“

„Und ich dachte schon, das hätte ich dir vor zwei Minuten erst glaubhaft versichert. Du solltest mitschreiben: Du bist mit Abstand das Beste, was mir passieren konnte, Serena. Und wenn du singen willst statt lehren, nur zu.“ „Nein, nein. Muss ich nicht. Wer weiß, was mir noch alles dazwischen kommt.“

Sie stockte und kuschelte sich an. Mit ihm gemeinsam ging es ihr gut, das Baby konnte durchaus noch etwas warten. Nach diesem emotionalen Abend mochte sie nicht noch so ein Thema anfangen.

Allerdings wäre sie erfreut gewesen, wenn sie gewusst hätte, in welche Richtung Freds Gedanken wanderten: Im Sommer – 23 – sie war nicht mehr zu jung und unerfahren für ihr Wunschkind. Dennoch zögerte auch er bei diesem Thema. Nach der Aufregung über Janes Tagebücher sollte sie das erst mal verkraften.

„Ich muss noch über was mit dir reden, Fred.“ „Okay.“ „Fernsehen.“ Ihre Grimasse bewies, wie unangenehm ihr das war. Mit dem Stichwort konnte ihr Mann nichts anfangen: „Fernsehen?“

„Reiß mir bitte nicht den Kopf ab. Die 3SAT-Leute haben angefragt. Ein Porträt von mir. Für eine Sendung. Ähm … Kulturzeit. Die Sendung hast du schon mal gesehen. Sie haben ein Porträt von der Cellistin Sol Gabetta gemacht. Über ihr Projekt. Die CD haben wir hinterher gekauft. Projetto Vivaldi.“ „Die ist gut. Moment – langsam mal, Serena: Dein Porträt? Kulturzeit?“

Wieder atmete sie tief durch. Dann folgte die ausführliche Erklärung. „Anissa S., um genau zu sein. Ich habe gleich gesagt, dass ich erst mit dir drüber reden möchte, bevor hier ein Kamerateam aufschlägt. Sie würden mich zur Uni und zur Musikhochschule begleiten, möchten gern etwas Material von unserer Konzert-DVD benutzen. Sie würden auch auf unsere Konzerte in Deutschland, Österreich und der Schweiz hinweisen natürlich. Und möglicherweise unsere Ehe erwähnen. Und dass du sowas wie mein Manager sein könntest …“

Der allzu ernste Blick der Gletscheraugen brachte sie zum Schweigen. Freds Gedanken rasten.

Sie bot ihm gerade einen Ausweg an aus einer Situation, die er bisher als zweifelhaft bewertet hatte – sein ahnungsloser Engel. In mancher Hinsicht zeigte sie sich noch immer als Unschuldslamm.

„Bevor ich mich dazu äußere, möchte ich selbst mit den Leuten reden“, sagte er gelassen. „Aber klar. Mein Bodyguard. Vielleicht filmen sie das Firmenschild mit. Prima Reklame. Obwohl – die Kulturzeit – die haben keine Einschaltquoten wie ‚Wer wird Millionär?‘, denke ich.“

Fred küsste sie leicht und lachte unwillkürlich. In dieser Situation verwandelte sich seine scheue kleine Künstlerin in eine gewiefte Geschäftsfrau. Sie vereinte all das in sich – und ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen, wie ihre Oma Monika zu sagen pflegte. Der Kontrast bezauberte ihn unweigerlich.

***

Astrid Kristiansson fuhr direkt nach der Schule an diesem 9. Januar los – für ein Wochenende mit ihrer Freundin und deren Eltern zum Skifahren, natürlich außerhalb von Stockholm. Ihre Schwester Lorena sah etwas bedröppelt hinterher. Ihre Freundin, mit denen sie an diesem Freitag hatte losziehen wollen, war erkrankt. Nun stand das Wochenende vor ihr – ohne jeden Spaß.

Mats tat seine Älteste fast Leid. „Sollen wir versuchen, noch eine Karte zu kriegen? Möchtest du mit uns ins Theater gehen?“ fragte er freundlich. „Nein. Das Stück interessiert mich nicht, das ist dann auch nur langweilig. Da schreibe ich lieber meinen Deutsch-Aufsatz“, sie seufzte und verdrehte die Augen.

„Vielleicht überlegst du dir schon mal, wen du zu deinem Geburtstag einladen möchtest – und wie du feiern willst“, schlug Liv vor. Lorena warf der Mutter einen genervten Blick zu: „17 ist doof. Ich wäre lieber 25.“

Darüber konnte ihr Vater nur grinsen: „Was ist denn ausgerechnet an 25 erstrebenswert?“ „Ich würde bei dir mitarbeiten, was studiert haben und endlich erwachsen sein“, erwiderte das Mädchen heftig: „Und wenn du mich auslachst, Papa, ist das nur für dich witzig. Keiner von euch nimmt mich für voll.“

„Moment, Lorena. Was ist mit unserer Diskussion von gestern? Wir haben über Weltpolitik mit euch geredet beim Abendessen.“ „Und du hast gesagt, ich sei jung und naiv genug, um Obama für einen Heilsbringer zu halten. Felix hat sich gekringelt vor Lachen.“ „Er hat deine Argumente aber zum Teil auch unterstützt“, erinnerte Liv.

Mit grimmiger Miene schaute Lorena zu ihrem Vater. Mats amüsierte sich köstlich. In seinen tiefblauen Augen funkelte es vor Lachen, als er riet: „Dann setz das Gespräch mit Felix doch beim Abendessen fort heute.“ Lorena schnaubte verächtlich. Darauf wollte sie sich nicht einlassen.

Felix Falkow, der seiner Dissertation über Hotel-Wellnessbereiche wegen noch immer bei den Kristianssons in Stockholm lebte, kam gar nicht zum Essen. Er blieb in seinem Zimmer, sortierte und katalogisierte die Anhänge zu seiner Doktorarbeit. Sogar auf dem Fußboden hatte er Statistiken und Ausdrucke von Bildern ausgebreitet. Der Schreibtisch quoll über. Kaum blieb ausreichend Platz für Laptop, Maus und CDs.

Nach einem kurzen Blick auf das Chaos von der Türschwelle aus und der Anrede „Felix?“, auf die Lorena ein „Jetzt nicht!“ hörte, kehrte sie in die Küche zurück.

Den gedeckten Tisch konnte sie also vergessen. Eine Weile überlegte sie, ob sie allein essen sollte, dann schüttelte sie energisch den Kopf, machte zwei Teller fertig, füllte zwei Wassergläser mit Cola und trug alles auf einem Tablett nach oben.

Rigoros wollte sie ihr Tablett mitten auf seinem Schreibtisch abstellen, nachdem sie auf Zehenspitzen hingekommen war. Felix hielt sie entsetzt zurück: „Bist du irre? Wenn ein Glas umfällt, weil’s dir verrutscht, versaust du mir den Kram!“

Lorena verdrehte die Augen. „Wohin damit?“ „Die Gläser aufs Fensterbrett, die Teller auch. Wir setzen uns aufs Bett zum Essen. Ich räume das eben ab. Fass nichts an. Stell das Tablett neben die Tür an die Wand. Und tritt nicht auf die Fotos!“ „Die hast du doch alle eingescannt?“ „Aber ich gebe auch ein Original ab. Die Hochglanzdinger sind schweineteuer. Die muss ich alle aufkleben. Nichts hasse ich so sehr wie Bilder korrekt einkleben“, er stöhnte.

Nachdenklich tat das Mädchen, was er verlangte.

„Soll ich das für dich machen? Du könntest dafür meinen Deutsch-Aufsatz noch mal durchlesen, bevor ich ihn abgebe“, bot sie schließlich an. „Okay. Hört sich nach einem guten Deal an.“

Da er solche Tauschgeschäfte von zu Hause kannte, musste er grinsen. Lorena nahm die Bettdecke ab und rollte sie als Rücklehne zusammen. „Alles klar. Dann setz dich mal – aber nicht auf die Teller.“ Langsam fand sie das improvisierte Picknick witzig.

„Du bist noch schlimmer als Zini“, murrte Felix. „Mecker nicht. Wir wissen alle, wie schlampig du bist. Nicht so ordentlich wie deine Schwestern. Rena hat mir nämlich erzählt, wie oft du sie schon versetzt hast. Dass du nie das Bad putzt, wenn sie dich nicht zwingt.“ „Rena sollte ab und an ihre Klappe halten. Die ist so eine Spätzünderin, die merkt sonst nie was, wenn Fred ihr nichts sagt.“

„Anscheinend ist es wahr. Dann sollte ich dir meinen Aufsatz aufdrängen, bevor ich diese Bilder für dich einklebe“, versetzte das Mädchen kiebig. Felix grinste: „Nichts da. Damit fängst du gleich heute an. Damit ich dich unter Aufsicht habe. Direkt nach der Cola kannst du dir die Hände waschen. Und dann los.“ „Träum weiter, Dussel.“

Sie verstand es, leckere Häppchen zu machen. Dies hier war das, was die Schweden „Smörgåsbord“ nannten – in Miniatur. Alle waren unterschiedlich, sie hatte jeweils zwei pro Sorte gemacht und auf die beiden Teller verteilt.

„Köstlich. Wo hast du das gelernt? Oder hatte Liv die Teller schon im Kühlschrank stehen?“ „Papa kann das viel besser als Mama. Und ich kann es selbst“, etwas beleidigt klang diese Antwort schon.

„Gut. Wirklich richtig gut. Ich bin total ausgehungert. Die sind echt toll“, lobte Felix und stopfte sich voll. „Du kannst von meinen auch haben. Ich habe zu viele gemacht.“ „Danke“, erfreut übernahm er Lorenas Teller.

Das gefiel ihr. Sie schaute ihm beim Essen zu. Es schmeckte ihm sichtlich, kein Wunder, nachdem er das Mittagessen hatte ausfallen lassen.

„Warum hast du kein Mittag gegessen?“ „Keine Zeit“, antwortete er knapp. Als sie skeptisch guckte, fuhr er fort: „Die Fotos abholen. Die Ausdrucke Korrektur lesen … Der ganze Mist muss noch mal überarbeitet werden. Und die Einfügungen.“ „Wie lang wird denn das, wenn es richtig fertig ist?“ „250 bis 300 Seiten … Mir fällt leider immer noch was ein.“ „Cool“, Lorena bewunderte zumindest diesen Fleiß.

Felix kaute eifrig und bemühte sich, ihr etwas von seiner Doktorarbeit zu erklären. Zwar war das Mädchen noch keine 17, aber mit Hotels kannte sie sich trotzdem aus. Dieses Thema hatte sie schließlich von Kindheit an tagtäglich begleitet, und der Konzern der Sigvald-Hotelkette war ihr vertraut. Auch das Thema Wellness war ihr nicht gerade fremd.

Er stellte die beiden leeren Teller übereinander und dann zu den halbgeleerten Cola-Gläsern auf den Fenstersims.

„Jedenfalls nett von dir, uns so lecker zu versorgen. Vielen Dank“, Felix wollte Lorena brüderlich auf die Wange küssen, genau wie zu Hause bei seiner Familie auch. Doch Lorena war von dem unerwarteten Dank so überrascht, dass sie sich ihm ruckartig zuwandte, und die vertrauliche Geste landete mitten auf ihren Lippen.

Ihr verblüfftes „Oh“ machte es nicht besser, sondern verlangte nach Vertiefung dieses Kusses. Innerhalb von Sekundenbruchteilen artete es in einen Rausch aus, der sie beide alles vergessen ließ – bis Felix zur Vernunft kam.

Entsetzt über sein Verhalten sagte er etwas tonlos: „Entschuldige. Das wollte ich nicht.“ „Aber es ist ein irres Gefühl“, Lorena rührte sich nicht vom Fleck und genoss es sichtlich, wie fest er sie im Arm hielt.

Felix starrte sie fassungslos an. Das Mädchen zwinkerte: „Mir gefällt es. Ich will mehr davon.“

„Du spinnst wohl?“ „Hat es dir nicht gefallen? Doch, hat es. Das spüre ich ziemlich deutlich“, sie kicherte und drückte sich unmissverständlich noch näher an ihn. Felix rückte überhastet ab: „Hör auf. Das dürfen wir nicht. Ich kann hier nicht mit einer Minderjährigen rummachen. – Du, das ist nicht lustig, Lorena. Ich habe wegen dieser blöden Doktorarbeit seit Monaten keine Frau mehr angefasst. Da reagiert man eben etwas heftiger.“ „Dann sollte ich Astrid, Mama und womöglich auch meine Oma vor dir warnen?“ Lorena prustete und umfasste ihn, um wieder näher zu kommen.

„Hör auf damit. Es reicht!“ Aber er musste doch grinsen dabei, weil sie die Augen so aufriss. Ihre nächsten Sätze jedoch bewiesen ihm, wie vorsichtig er sein musste. Sie erspürte in ihrer Neugier zu viel und forschte interessiert, ob sie richtig lag in ihrer vagen Ahnung.

„Ach? Mehr davon hältst du nicht aus jetzt, oder? Das gefällt mir. Die Jungs sind immer so nervös und kriegen nichts auf Reihe. Aber du weißt, wie ich angefasst werden möchte.“

Seine Hand zuckte sofort zurück, Felix keuchte etwas entsetzt – mehr über sich selbst als über das Mädchen: „Verdammt, Lorena. Nein.“ „Ich erlaube es dir doch. Du kannst mich anfassen. Überall. Ein Erwachsener ist echt viel praktischer als diese unerfahrenen Fummler.“

Darüber lachte er unwillkürlich doch wieder und entspannte sich bei ihrem normalen Ton etwas. Dies war irgendwie „typisch Mädchen“, also wohl ungefährlich.

„Hast du tatsächlich so viel Ärger mit Fummlern?“ „Jede Menge. Allerdings sind sie nicht wirklich auf mich aus.“ „Was ist das denn für ein komischer Spruch?“ „Eher auf Papas Geld“, stellte das Mädchen illusionslos fest.

Für jemanden mit nicht mal 17 verhielt sie sich erstaunlich gelassen und dachte extrem praktisch und realistisch. Felix runzelte die Stirn: „Sicher nicht alle. So hässlich bist du doch nicht.“

Das quittierte sie mit einem leicht genervten Kopfschütteln, verdrehte die Augen über soviel Dummheit und klärte ihn auf. Sie sah die Sache völlig anders.

„Oh, doch, Felix, ganz klar. Es sind die Sigvald-Hotels. Ich bin nicht blöd, weißt du. Ich kann Leute einschätzen. Muss ich ja. Dir ist das Geld völlig egal. Du würdest meine Eltern noch mögen, wenn wir völlig pleite wären …“ „Eben darum solltest du jetzt besser gehen. Eben weil deine Eltern uns vertrauen“, er bemühte sich, das freundlich und neutral zu sagen trotz der seltsamen Situation. Lustig fand er es nicht.

„Schade. Ich bin nämlich ziemlich neugierig.“ „Worauf? Ach, wie Erwachsene funktionieren? Das hast du doch längst gemerkt und weißt anscheinend ganz gut darüber Bescheid.“ Lorena lachte und ließ sich nun etwas williger wegschieben.

Sie setzte sich auf und griff nach ihrem Glas: „Sprudelt noch.“

Der Doktorand atmete tief durch. Ihr Abstand bedeutete eine echte Erleichterung. „Trink schnell aus. Und verschwinde“, empfahl er, ihrer Fügsamkeit wegen wieder gelassener und nahm auch sein Glas wieder vom Fensterbrett.

„Ich finde es trotzdem schade. Gerade weil ich dir vertrauen kann, hätte ich dich gern als ersten gehabt. Du hast wenigstens Ahnung. Da würde es wohl weniger wehtun“, meinte Lorena versonnen und fand das durchaus bedenkenswert.

Felix verschluckte sich an seiner Cola und rang nach Luft. Er wedelte mit den Armen, sie möge verschwinden. Lorena stellte das Glas zurück und klopfte ihm auf den Rücken.

„Geht’s wieder?“

Er röchelte auf diese Frage etwas, das sich ganz nach „raus“ anhörte. Das missachtete das Mädchen geflissentlich, gab ihm seine Wasserflasche vom Fußboden hoch und wartete geduldig ab, bis er wieder normaler zu atmen schien.

„Kriegst du wieder Luft? Oder krepierst du jetzt noch?“ „Sag mal, Lorena, hast du was eingeworfen?“ „Nein. Wieso?“ „Wie kannst du so nüchtern darüber reden?“

Für einen Moment lief sie rot an, dann schluckte sie und sagte ernst: „Ich mag dich und vertraue dir. Sage ich doch. Und irgendwann muss es ja sein.“ Sie zuckte gleichmütig mit den Schultern: „Warum also nicht jetzt? Dann habe ich das hinter mir.“

Zum ersten Mal in seinem Leben musste Felix sich für einen jungen Menschen verantwortlich fühlen. In seinem Gehirn herrschte völlige Leere. Irgendwie musste er dieses fehlgeleitete Kind bremsen, dachte er jammervoll und wünschte, das sei nicht ausgerechnet seine Aufgabe.

„Hör mal … ähm … Mit so einem … Geschenk solltest du nicht derartig … äh … leichtfertig umgehen“, stotterte er schließlich. „Geschenk? Bist du aber altmodisch“, kritisierte Lorena. „Ich bin zehn Mal lieber altmodisch als ein verdammter Kinderschänder, du Göre. Wenn du fünf Jahre älter wärst, würdest du das wissen. Im Moment hast du eher Haue als Küsse verdient.“

Unwillkürlich stellte er sich eine seiner Schwestern in dieser Situation vor. Er musste fast wieder grinsen, als er sich an Rena und Fred erinnerte. Das war eine Weile her, aber sein Schwager hatte etwas Ähnliches erlebt, sich jedoch wesentlich geschickter aus der Affäre gezogen. Ob das eine typische Falkow-Nummer wurde? Diesmal von der anderen Seite? Er hütete sich, seine Belustigung zu zeigen.

„Nein. Ich glaube dir das nicht. Du haust mich nicht. Du schlägst keinen, der kleiner ist. Oder Mädchen. Tante Leo wäre sonst sehr sauer.“ „Deine Tante Leo – meine Mutter – würde uns beiden für das hier die Leviten lesen und uns in handliche Stückchen zerlegen“, mahnte er ernst.

Das überlegte sich Lorena. „Können wir nicht einen Deal machen, Felix?“ „Wenn du dann verschwindest? Aber umgehend, kapiert? Okay, ich höre.“ „Ja. Okay. Also … ich habe bald Geburtstag. Von da an in fünf Jahren. Wenn du nicht verlobt oder verheiratet bist, würde ich dich dann gern treffen.“ „Treffen? Wo – wie?“ „Egal. Hier. Oder bei euch. Dann bin ich … ähm … 22 und du …“, dehnte sie.

„33. Grauenvoll. Egal. Vergiss es. Meinetwegen treffen wir uns an deinem Geburtstag. Was wünschst du dir? Einen Ball wie Zini? Einen Ballettabend?“ Er markierte Würgen: „Da kriege ich jetzt schon Zustände. Vielleicht tut es ja ein Abendessen. Ich kann zwar nicht kochen, aber ich kenne in Stockholm und zu Hause ganz gute Restaurants.“ „Kochen kann man lernen. Aber das meine ich nicht.“

Felix verdrehte die Augen: „Nun los – raus damit. Und dann verschwinde endlich.“ „Wenn ich dann noch Jungfrau bin, kriege ich dann die Nacht mit dir? So als Geburtstagsgeschenk?“ Sie sammelte Teller und Gläser wieder aufs Tablett und sah ihn dann fragend an.

So ein Angebot hatte Felix noch nie gehört und auch nicht erwartet. Da stand sie, das Tablett auf einer Hand in Balance haltend wie eine geübte Kellnerin und wartete offensichtlich auf seine Zustimmung. Fünf Jahre – eine endlose Zeit. Bis dahin traf sie garantiert jemanden, der ihm dieses Problem vom Hals schaffte. Dennoch galt es, ihr das Gesicht zu wahren und zu verhandeln, das wusste er genau.

Mochte sie im Moment auch noch so sehr nach Geschäftsfrau klingen, sie war eine sensible Person und zudem ein pubertierender Teenager. Wenn er nicht die richtigen Worte fand, beleidigte er sie zutiefst. Verantwortung konnte ganz schön lästig sein und zudem reichlich verwirren, fand er und stöhnte verzweifelt. Ein kontrollierter Rückzug – leider durch eine halbe Zusage, den Rest regelte garantiert die Zukunft … Darauf verließ er sich.

„Ich weiß nicht. Lässt du mich dann jetzt in Ruhe?“ „Ja.“ „Und bringst mich nicht in komische Situationen?“ „Verfängliche? Meinst du das? Das wäre okay für mich. Nur, wenn ich jetzt dein Versprechen kriege natürlich“, beharrte sie zielstrebig.

„Okay. Meinetwegen. Da wird sowieso nichts draus. Also gut, Lorena – abgemacht.“ „Cool.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und schloss die Tür hinter sich.

Als er endlich allein war, musste er lachen. Sie würde diesen seltsamen Deal vermutlich schon vor ihrem jetzigen Geburtstag vergessen haben, dachte er, gleichzeitig belustigt und auch eine Spur enttäuscht. Warum waren Frauen nur so kompliziert – selbst mit 16 schon? Er grinste bei der Vorstellung, wie seine Schwestern auf diese Nummer reagieren würden …

Doch einen Teil ihres Versprechens hielt Lorena konsequent. Sie ließ ihn völlig in Ruhe, machte nie auch nur die geringste Anspielung in den folgenden Tagen. Bald hatte Felix über seine Arbeit das merkwürdige Zusammentreffen wieder verdrängt. Für ihn gab es derzeit nichts Wichtigeres als die Fertigstellung seiner Arbeit.

Wie versprochen half ihm Lorena mit den Fotos, er sah im Gegenzug ihren deutschsprachigen Aufsatz auf Fehler durch. Nichts an ihrem Verhalten ließ darauf schließen, was am Freitagabend passiert war – oder auch nicht passiert war. Also machte sich Felix bald keine Sorgen mehr, und er hütete sich, das Thema jemals wieder anzusprechen.

***

Der 20. Januar 2009 war für alle Amerikaner ein großer Tag: Obamas Amtseinführung. Etwa zwei Millionen Menschen sahen sich das live auf der National Mall in Washington D.C. an – bei Bush waren es nur 250 000 gewesen.

Auch Leona nahm sich den Nachmittag frei, um daheim mit ihrer Familie vor dem Fernseher der Sondersendung im ZDF zu folgen. Ihre Kinder sahen es sich aufmerksam an. Jason und Tessa behaupteten, Barack Hussein Obama sei auch ihr Präsident und standen folglich auf, als zunächst Vizepräsident Joe Biden und dann Obama als Präsident vereidigt wurden.

Aretha Franklin sang, ein kleines Ensemble spielte ein eigens für diesen Tag komponiertes Lied von John Williams. Es wurde gebetet, und Obama hielt seine Antrittsrede. Die gefiel ihnen allen. Es ging hauptsächlich um Wiederaufbau, ums Anpacken und vor allem um Verantwortung.

Eine Freundin der Obamas verlas ein Gedicht. Es gab keine Übersetzung. Doch selbst Leona folgte mühelos allem. Auch die Reden hätten für sie nicht mehr übersetzt zu werden brauchen, dachte sie.

Zwar hatte sie Tom gebeten, den deutschen Ton abzuschalten, doch der Kinder wegen lehnte er ab. So hätten sie es am nächsten Tag in der Schule leichter, behauptete er gelassen. Bei der Nationalhymne „Star Sprangled Banner“, vorgetragen von einem Chor der Navy, sangen die Amerikaner alle mit, auch Tom, Jason und Tessa vorm Fernseher. Für die letzten Zeilen schloss sich selbst Leona an: The land of the free and the home of the brave … - Das war auch ihr ein Begriff.

***

Mit einem Lächeln ging Leona an die Arbeit im Büro. Mit ihren erwachsenen Kindern telefonierte sie gern. Zini kam in Berlin gut zurecht. Sie berichtete begeistert von einem Zusammentreffen mit ihrem Lieblingsprofessor, Paul Gillessen, der in Berlin einen Vortrag gehalten hatte und sie danach zum Essen ausführte. Er hatte nicht nur über Gestein gesprochen, sondern ihr auch von seiner Frau Anna und den Kindern erzählt.

Auch Rena meldete sich zwischendurch, und selbst Felix hatte sie kürzlich gesprochen. Seine Arbeit näherte sich dem Ende, bald würde er seinen Job an ihrer Seite aufnehmen, und Leona besprach schon mit Tom, wie sie es am besten halten sollten – zwei Generationen Chefs im Hotel, so nannte ihr Mann das.

„Einigt euch vorher. Und macht gemeinsam einen Plan, Leo. Sonst gibt’s nur überflüssiges Kompetenzgerangel.“ „Den Plan mache ich. Damit wir drüber reden können.“

„Und ändern“, Tom sah sie scharf an. „Und ändern“, Leona verdrehte die Augen und griff sich mit einer dramatischen Grimasse gleich mit beiden Händen an die Kehle.

„Du bist seit zwölf Jahren alleiniger Boss, Leo. Und ein junger Mensch hat andere Ideen. Kannst du dich drauf einlassen?“ „Ich habe ja dich. Als mein mieses Gewissen“, spöttelte sie.

An diesen Austausch dachte sie nun, griff zur Maus und schlug die gewünschte Seite im Computer auf. Auf ihre Webseite sollte sie ihren Sohn als erstes ansetzen, denn ihr machte das keinen Spaß …und Felix hatte seine helle Freude an digitalen Spielereien.

An diesem Tag wurde sie mehrfach am Empfang aufgehalten, da diverse Gäste gern mit der Chefin sprachen, wenn sie ihr über den Weg liefen.

Am Nachmittag hielt die Empfangsdame sie an, als sie wieder mal an der Rezeption vorbei lief: „Im Restaurant sitzt ein Ehepaar, das gern mit Ihnen sprechen möchte. Verwandte von Agathe und Walter Müller.“ „Ach? Gut, ich gehe gleich hin. Danke, Frau Herder. Die Müllers waren jahrelang … jahrzehntelang Gäste hier … die ersten damals im Haus hier“, erläuterte Leona kurz, da die Aushilfe offenbar keine Ahnung hatte.

Als Leona selbst damals mit einer Reisegruppe hier gestrandet war, zum Entsetzen der jungen Susanne Falkow, der wesentlich jüngeren Schwester von Dennis, mit 50 Reisenden, die Unterkunft und Verpflegung brauchten, hatte Leona Söderbaum blitzartig das Kommando an sich gerissen. Die einzigen anderen Gäste, Agathe und Walter Müller, zogen mit und veranlassten Susanne, sie einfach machen zu lassen.

Fast 25 Jahre war das inzwischen her, die Müllers waren damals schon hochbetagt gewesen und vor einiger Zeit in kurzem Abstand voneinander verstorben. Nun saßen deren nächste Verwandte im Restaurant, wie sich erwies.

„Lena Stöcks. Mein Mann Martin. Ich bin eine Großnichte von Agathe. Sie hat immer von Ihnen geschwärmt. Von Ihnen und Ihrem Mann. Herr Falkow ist sogar mal mit Onkel Walter zum Fallschirmspringen gegangen?“ „Ja. Ich war richtig in Panik – er und der alte Herr … Ich hätte Dennis erschlagen können wegen dieser Unvernunft, jemanden in dem Alter zu einem Tandemsprung mitzuschleppen“, Leona lachte leise in der Erinnerung und setzte sich mit an den Tisch.

„Und jetzt wandeln Sie auf den Spuren Ihrer Verwandten, Frau Stöcks?“ „Wir haben gestern eine Tante meines Mannes besucht. Das hier lag auf dem Rückweg …Wir haben an der Bundesstraße das Hinweisschild gesehen. Zufällig. Wir fahren gern über Land.“ „Sogar bei diesem Wetter“, pflichtete ihr Mann ihr etwas resigniert bei.

„Willkommen im ‚Sonnigen Garten‘. Wir freuen uns über jeden Gast. Sylvia“, sie winkte die Restaurantchefin Sylvia Hauke näher: „Das ist das Ehepaar Stöcks. Sie sind Verwandte unserer nahezu allerersten Gäste. Du erinnerst dich bestimmt an die Müllers, Agathe und Walter, das freundliche alte Ehepaar …“

„Oh ja, die waren reizend. Wir waren alle sehr traurig, als wir von ihrem Tod hörten. So schnell – alle beide, einfach weg.“ „Sie waren hochbetagt. Und einer konnte nicht ohne den anderen“, bemerkte Martin Stöcks ruhig und freundlich.

Sie bestellten sich Mittagessen, Leona empfahl das Lamm mit der trockenen Anmerkung, das möge sogar sie – ein bekennender Nicht-Schaf-Fan. Als Sylvia mit der Bestellung ging, kamen die drei am Tisch ins Erzählen und sprachen über kleine Episoden, die sie im Laufe der Jahre mit den Müllers erlebt hatten.

„Meine Tante hat mal erzählt, dass sie bei Ihnen zum Adventskaffee war – mehrfach.“ „Ja. Weil mein zweiter Mann sie eingeladen hat. Das war immer richtig nett.“ „Tante Agathe hat damals sehr geweint, als Ihr erster Mann … so rasch …“ Lena Stöcks schluckte und brach mitten im Satz ab.

Doch Leona konnte längst gefasst damit umgehen. „Ja, ich weiß. Sie hat es mir erzählt. Auch, wie sehr sie ihn bei einem ersten Besuch danach vermisste. Manchmal denke ich heute noch, was er sagen würde … Wir haben seitdem so viel verändert. Und demnächst wird unser Ältester hier einsteigen. Komisch, jetzt wo wir darüber reden. Ich denke fast, er müsste mit federndem Schritt um die Ecke biegen und uns mit diesem sieghaften Lächeln anerkennend zunicken …“

Für einen Moment verlor sie sich in dieser Erinnerung, dann sah sie auf und lachte die beiden an: „Alles Quatsch.“ „Sie haben sich sehr geliebt …“ Auch das war eine Weisheit, die wohl die alte Tante weitergegeben hatte.

„Ja. Aber … ich habe unglaubliches Glück gehabt. Zwei Jahre nach dem Tod von Dennis kam sein Vetter aus Amerika …“ „Und Sie sind wieder verheiratet“, ergänzte Lena Stöcks. Leona nickte. „Glücklich?“ erkundigte sich ihr Mann. „Martin! Sowas fragt man doch nicht! Sei nicht so neugierig.“

Mit einem Lachen registrierte Leona Reuenthal, wie ruppig Lena ihren Mann in die Rippen stieß. Das wirkte vertraut – so wäre es im Hause Reuenthal-Falkow auch zugegangen.

„Ihre Art der Neugier halte ich gut aus. Die drängt aus persönlichem Interesse – nicht, um eine Story an die nächstbeste Zeitung zu verhökern“, schmunzelte sie. „Zeitungen interessieren sich nicht für Leute wie uns“, Martin Stöcks winkte heiter ab. „Gut. Mein Mann jedenfalls ist nicht gänzlich unbekannt. – Wenn man vom Teufel spricht … Tom!“ Sie hob die Hand und wedelte damit herum, als sie ihren Liebsten am Eingang zum Restaurant sah.

Nachdem er seine Freundin Yu-lan Vogelsang begrüßt hatte, kam Tom zu Leona und ihren Gästen an den Tisch.

„Guten Tag“, sagte er in seiner ruhigen, gelassenen Art. „Das Ehepaar Stöcks. Frau Stöcks ist eine … Großnichte von Agathe Müller. Du erinnerst dich sicher an Agathe und Walter. Mein Mann: Thomas Reuenthal“, stellte Leona vor.

„Ihre Tante war eine ganz zauberhafte alte Dame. Ich erinnere mich bis heute mit großem Vergnügen an unsere Adventskaffee-Nachmittage“, in seinen dunklen Augen leuchtete es auf: „Mit Ihrem Onkel konnte ich über Militärdienst fachsimpeln. Mein Onkel ist nämlich auch ein alter Soldat. Leo hat das natürlich gehasst.“  „Ich bin schon immer gegen den Irak-Krieg gewesen“, aber das war allenfalls ein Satz aus dem Rückzugsgebiet, ohne jede Feindseligkeit.

Mit einem Lachen klopfte Tom ihr auf die Schulter. Leona grinste ihn an und wandte sich dann wieder den Gästen zu: „Unsere Debatten – und Tom ist halber Ami – waren immer reines Kriegsgeschrei. Legendär. Behaupten unsere Kinder jedenfalls.“ „Kriegsgeschrei?“ Lena Stöcks kicherte. „So ist sie eben – eine echte Gefahr“, zwinkerte Tom.

Bis das Essen kam, plauderten sie noch zu viert weiter. Dann verabschiedeten sich die Gastgeber.

Auf dem Weg aus dem Restaurant heraus nahm Tom Leonas Arm. Sie sah fragend zu ihm auf. „Die alte Dame hat dichtgehalten“, sagte er leise. „Sie mochte dich. Nicht den Künstler. Den Menschen.“ „Ja. Ich sie auch. Sehr sogar. Rena hat eben angerufen. Deswegen suchte ich dich – sie bekommt Besuch vom Fernsehen.“ „Fernsehen?“

Abrupt blieb Leona stehen und seufzte. Langsam wurde auch ihre Tochter ein Star, und sie wusste noch immer nicht recht, ob sie das begrüßen oder verabscheuen sollte.

„Sie hat ihren Bodyguard griffbereit. Das wird schon“, tröstete Tom mit trockenem Humor. „Sehr witzig.“ „Früher oder später schleppt sie Preise an. Das Mädchen wird mit jedem Tag besser und besser. Und wenn es jetzt sogar die Öffentlich-Rechtlichen bemerken …“ Toms frohes Lob entsprach nicht ganz Leonas Auffassung, doch ausnahmsweise schwieg sie dazu.

Die Aufnahmen liefen gut, Rena und ihre Freunde von der Musikhochschule spielten ein klassisches Stück, Alex Wassilikov knuddelte sie vor Freude, als die Fernsehleute alle lobten und applaudierten. Der fertige Beitrag würde noch im Februar im Fernsehen laufen.

Als alle endlich abzogen, schnappte sich Rena ihr Mobiltelefon und schickte eine SMS an Fred: „Kannst heimkommen – die Horde ist weg.“ „Wird spät heute“, bekam sie binnen Sekunden zur Antwort.

Günter war gemeinsam mit Fred unterwegs. Rena schaute aus dem Fenster. Es regnete in Strömen. „Wird spät heute“, erwies sich als falsch – er kam gar nicht nach Hause; offenbar verfolgte er eine Spur und mochte sich keine Pause gönnen. Seit mehr als 24 Stunden war er unterwegs.

Auch am Sonnabend fragte sie sich, wo er sein mochte. Auf ihre SMS, die sie während des einsamen Frühstücks abgesetzt hatte, antwortete er bisher nicht. Langsam stieg ihre Unruhe.

Sie ging einkaufen, ließ dann das Mittagessen aber ausfallen. Allein schmeckte es ihr nicht. Besorgt wanderte sie durch das stille Haus.

Der Regen hielt an. Die Temperatur lag nur bei drei Grad Celsius – unangenehm, um draußen zu sein.

Zuerst übte sie noch eine Weile, was sie in der Woche wegen der diversen Fernsehaufnahmen versäumt hatte. Das gelang, obwohl sie zwischendurch immer wieder auf die Uhr sah und den Kopf schüttelte.

Es wurde bereits dunkel, als sie endlich die Haustür hörte. Es krachte im nächsten Moment. Rena fuhr vom Sofa hoch und rannte in den Flur. Fred lag der Länge nach dort, schaute zu ihr hoch und grinste müde: „Rucksack. Ich hatte ihn selbst abgestellt, die Haustür geschlossen und …“ „Hast du dir wehgetan?“ „Nein.“ „Himmel, wie du aussiehst …“