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Das bekannte Grandhotel Horster inmitten der landschaftlichen Schönheit des Schwarzwalds ist ein Inbegriff von Luxus, Eleganz und Wohlleben. Hier scheint alles zu passen. Hinter den prunkvollen Fassaden gibt es eine eigene Welt mit ihren besonderen Dramen und Tragödien: Da ist der attraktive Hotelchef Urban, der nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus außer Gefecht ist. Jetzt muss sich seine Frau Eva in der Leitung des Hotels bewähren, was ihr nur mit ihrem Jugendfreund, Rechtsanwalt Konrad Kilius, an ihrer Seite gelingt. In dieser Phase erfährt sie, dass ihr bezaubernder Ehemann ein Verhältnis mit der hübschen Sekretärin Lona hat, die ganz nach oben will und dafür ohne Skrupel vorgeht. Jetzt ist es an Eva zu entscheiden, ob sie um ihre Existenz und ihre große Liebe kämpfen oder andere Wege gehen wird.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 466
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Liebe im Grand Hotel
Liebe im Grandhotel (Die Chefin)
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1968 by LichtenbergVerlag, Germany
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711719015
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
»Ich habe verstanden, daß du heute deinen dritten Hochzeitstag hast«, sagte die Hotelsekretärin Lona Simon, »es ist durchaus nicht nötig, daß du das dauernd wiederholst. Ich begreife nur nicht, daß dir das erst heute einfällt!«
Sie saß auf dem schweren antiken Schreibtisch im Büro des Hoteliers, die Beine mit den zierlichen Fesseln übereinandergeschlagen, und stach mit der Spitze ihres Kugelschreibers Löcher in den Stenogrammblock, der auf ihren Knien lag.
Urban Horster stand vor ihr, die Hände in den Taschen seines korrekten dunklen Anzugs, und zeigte jenes hinreißende Lächeln, das ihm seit jeher die Sympathien aller weiblichen Hotelgäste eingetragen hatte.
»So, begreifst du das wirklich nicht?« fragte er neckend. »Darf ich dich daran erinnern, daß ein faszinierendes junges Mädchen namens Lona es verstanden hat, mir so völlig den Kopf zu verdrehen, daß man es fast ein Wunder nennen kann, wenn ich mich überhaupt noch an meinen eigenen Namen erinnern kann?«
Sein Charme prallte an ihr ab.
»Ach, laß doch die blöden Witze«, sagte sie wütend. »Es gibt Dinge, die man einfach nicht vergißt. Seit Wochen habe ich mich auf diesen Tag gefreut …«
»Ich doch auch, Liebes«, sagte er begütigend und wollte seine Hand auf ihren Arm legen.
Sie stieß seine Hand heftig zurück.
»Ach, mach mir doch nichts vor! Es ist doch immer dasselbe. Deine Frau braucht bloß mit dem kleinen Finger zu winken, und schon läßt du mich im Stich.«
Sie warf ihr schulterlanges schwarzes Haar mit einer wilden Kopfbewegung zurück.
»Lona, Liebes, nun nimm doch mal Vernunft an …«
»Aber wieso gerade ich? Warum verlangst du nicht von deiner Frau, daß sie vernünftig sein soll? Schließlich ist es ja ihre eigene Dummheit. Warum hat sie dich erst heute an diesen blöden Hochzeitstag erinnert?«
»Weil sie erwartet hat, daß ich von selber daran denken würde!«
»Dann kennt sie dich aber schlecht.«
»Kann sein.«
Urban Horster nahm sich eine Zigarette aus dem schweren, wunderbar ziselierten Silberkasten und zündete sie sich mit dem Tischfeuerzeug an.
»Ich jedenfalls …« begann Lona.
»Das kann ich mir denken«, sagte er, »du hättest mich Tag und Nacht daran erinnert. Aber im Gegensatz zu dir ist Ellen eben bemüht, mir nicht auf die Nerven zu fallen.«
»Soll das heißen …?« Sie rutschte vom Schreibtisch, ließ Stenoblock und Kugelschreiber fallen und trat auf ihn zu, tiefen Vorwurf in den großen dunkelbraunen Augen, deren Wirkung sie durch ein geschicktes Make-up noch vergrößerte.
»Natürlich nicht«, sagte er rasch, »sei doch nicht so empfindlich. Ich wollte dich nicht beleidigen, nur … Versuch doch endlich zu verstehen! Ich liebe dich … ja, nur dich! Aber an unserem Hochzeitstag muß meine Frau wirklich vorgehen.«
Er machte keinen Versuch, sie in die Arme zu nehmen, und sie begriff plötzlich, wie ernst es ihm war und daß sein Widerstand nicht so leicht zu brechen sein würde wie sonst. In Sekundenschnelle hatte sie einen kindlich bettelnden Ausdruck in ihr pikantes kleines Gesicht gezaubert.
»Schrecklich«, sagte sie mit leiser Stimme, »ich muß doch heute nach Straßburg! Die Kleider sind fertig und …«
Sie schluckte schwer.
»Die Kleider! Deshalb brauchst du doch nicht traurig sein! Die können wir doch genausogut noch nächste Woche abholen.«
»Aber ich kann doch nicht noch länger in demselben alten Zeug herumlaufen!«
Er musterte ihre Erscheinung, den schmalen grauen Rock, der ihre runden Hüften und die schlanke Taille betonte, den korallenroten kurzärmeligen Pullover, der sich um ihren festen Busen schmiegte. Plötzlich war das alte Lächeln wieder in seinem Gesicht.
»Mir gefällst du sehr gut so«, sagte er schmunzelnd.
»Das ist doch kein Argument!«
»Na, dann darf ich dich vielleicht daran erinnern, daß dein Kleiderschrank so prall gefüllt ist, daß er fast aus den Scharnieren platzt!«
»Urban«, sagte sie schmollend, »Liebling, du hast ja recht. Ich bin ein ganz dummes kleines Ding, aber ich hatte mich nun mal so darauf gefreut! Bitte, bitte, tu mir doch die Liebe, fahr mit mir nach Straßburg … nur ganz rasch hin und wieder zurück! Dann kannst du doch nachher immer noch …«
Er stieß seine Zigarette mit einer ungeduldigen Bewegung in die kupferne Aschenschale.
»Warum mußt du dir auch ausgerechnet deine Kleider in Straßburg kaufen! Als wenn es hier in Baden-Baden nicht genug Möglichkeiten gäbe!«
»Liebling«, sagte sie sanft, »hast du denn ganz vergessen, warum ich das tue? Doch nur dir zuliebe. Du selber hast mich doch darum gebeten … damit ich dich nicht kompromittiere. Damit die Klatschmäuler hier sich nicht den Mund darüber zerreißen können, woher ich das Geld habe, mir teure Modellkleider zu kaufen.«
Er stieß noch immer seine schon gänzlich zerdrückte Zigarette in die Aschenschale.
»Du würdest mir entschieden mehr damit helfen, wenn du versuchen würdest, deine Ansprüche ein bißchen herabzuschrauben. Du weißt genau, daß ich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten bin. Ich habe große Kredite aufnehmen müssen …«
»Na eben«, fiel sie ihm kaltschnäuzig ins Wort, »da kommt es auf ein paar lumpige Tausender mehr oder weniger doch auch nicht an!«
Es sah sie an, und in seine leuchtend blauen Augen trat ein kalter Glanz. Er bereute plötzlich, daß er sich überhaupt mit ihr eingelassen und daß er es dahin hatte kommen lassen, daß sie so mit ihm zu sprechen wagte. Sie war attraktiv, und sie hatte es verstanden, sein Interesse zu wecken und, länger als jede andere vor ihr, wachzuhalten. Aber sie war nicht die einzige reizvolle Frau auf der Welt, und von jeher hatten die Frauen es ihm leichtgemacht. Warum sollte er sich gerade von dieser einen beherrschen lassen?
»Geh zum Teufel«, sagte er grob, »ich habe genug von dir.«
Lonas Gesicht wurde zu einer glatten, ausdruckslosen Maske.
»Danke«, sagte sie kühl, »ich danke dir für deine Aufrichtigkeit. Es ist immer gut, ganz klar zu wissen, woran man ist.«
Sie nahm den Stenogrammblock und ihren Kugelschreiber vom Boden auf und fragte mit ironischer Beflissenheit:
»Haben Sie mir noch etwas zu diktieren, Herr Horster? Oder irgendwelche Anweisungen zu geben? Nein? Dann darf ich mich jetzt wohl zurückziehen.«
Sie ging zur Tür, als ob sie das Zimmer verlassen wollte, drehte sich aber, die Klinke schon in der Hand, noch einmal um.
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, sagte sie mit einem süßen Lächeln, »ich werde schon jemanden finden, der mich nach Straßburg fährt – und mir meine Kleider bezahlt!«
Urban Horster war fest entschlossen gewesen, sie gehen zu lassen, aber diese Andeutung genügte, seine guten Vorsätze zunichte zu machen. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und packte ihre Handgelenke.
»Was soll das heißen?«
»Als ob du mich nicht ganz genau verstanden hättest! Ich pfeife auf deine Liebe, wenn sie so aussieht. Ich habe knickrige Männer seit jeher gehaßt. Gott sei Dank gibt es ja noch andere!«
»Du Biest!«
Er preßte ihre Handgelenke, so daß sie zusammenzuckte, aber das herausfordernde Lächeln schwand nicht von ihrem Gesicht.
»Traust du es mir etwa nicht zu?«
Er haßte sie in diesem Augenblick, haßte sie von ganzem Herzen. Aber die Vorstellung, daß ein anderer Mann ihren geschmeidigen Körper genießen sollte, machte ihn rasend. Er riß sie in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich!«
»Wir fahren«, flüsterte sie mit glänzenden Augen, als er sie endlich freigab, »nicht wahr … wir fahren!«
Als Urban Horster zehn Minuten später sein Büro verließ und in die Hotelhalle trat, hatte er eine Sekunde lang das irritierende Gefühl, daß alle Blicke sich auf ihn richteten. Er mußte an sich halten, um nicht an seiner Krawatte zu zupfen oder sich über das Haar zu streichen.
Nur mit Aufbietung aller Willenskraft gelang es ihm, Gelassenheit vorzutäuschen. Er wußte ja, daß seine Erscheinung in Ordnung war, er hatte sich selber vor dem Spiegel überzeugt. Niemand konnte ahnen, was in seinem Büro vor sich gegangen war, und doch – sah ihn der Empfangschef, Herr Thomas, nicht mit einem sonderbaren Ausdruck an? Und lag in den blauen Augen der Empfangssekretärin Hilde Protius nicht unverhohlene Neugier?
Nur mit Mühe zauberte er das gewohnheitsmäßige Lächeln auf sein Gesicht.
Es war Ende März, die Saison hatte noch nicht begonnen. In der weiten, sehr luxuriös mit echten Teppichen und kostbaren antiken Möbeln eingerichteten Halle des Grandhotel Horster herrschte gedämpfte Ruhe. Nur zwei ältere Ehepaare, ein emeritierter Professor und eine Gruppe Amerikaner saßen in den tiefen Ledersesseln und genossen den Ausblick auf die Parkanlagen der Lichtentaler Allee, deren mächtige alte Kastanien gerade die ersten dicken klebrig-grünen Knospen zeigten, und auf die blauen Berge des Schwarzwalds jenseits der Kurstadt, plauderten halblaut miteinander, blätterten in Zeitschriften, tranken Mokka.
Der Hotelier trat an den Empfangstisch, wechselte ein paar Worte mit Herrn Thomas, vergewisserte sich, daß alle Vorbereitungen für den Empfang einer Gruppe belgischer Touristen getroffen waren, die am späten Nachmittag erwartet wurde.
Wie die meisten Hotels war auch das Horster, besonders in der stillen Zeit, darauf angewiesen, Reisegesellschaften aufzunehmen, und wie die meisten Hoteliers haßte Urban Horster diese Gäste, die wie die Heuschrecken für eine Nacht einfielen, um meist schon in der Frühe des nächsten Morgens wieder aufzubrechen.
»Wie lange bleiben sie?« fragte er.
»Sie haben für drei Tage gebucht«, gab der Empfangschef Auskunft, »mit voller Pension.«
»Na, das ist wenigstens etwas.« Urban Horster seufzte leicht. Der Empfangschef schien die Gedanken des Hoteliers zu erraten.
»Es war seht geschickt, dieses Abkommen mit Round the World zu schließen«, sagte er, »es ist für uns wirklich äußerst günstig.«
»Günstig? Lebensnotwendig!«
Urban Horster nickte seinem Empfangschef zu und begab sich auf einen raschen Rundgang durch die Halle. Er verbeugte sich vor jedem einzelnen der Gäste, fragte nach ihren Wünschen, erkundigte sich, wie sie den Vormittag verbracht hatten und nach ihren weiteren Plänen. Niemals war es ihm so schwergefallen wie heute, Interesse zu heucheln, aber nicht eine Sekunde lang kam ihm der Gedanke, sich vor dieser Pflicht zu drücken. Er war in diesem Hotel aufgewachsen und hatte schon als Junge gelernt, daß die Kunst, den Gästen das Gefühl zu geben, daß der Hotelier persönlich an ihren Freuden, Wünschen und auch Sorgen Anteil nimmt, mindestens so wichtig wie jeder Komfort ist.
Ohne mit der Wimper zu zucken ließ er den Redeschwall einer extravaganten Amerikanerin über sich ergehen, die sich bitter darüber beklagte, daß das Kostüm, das sie sich in einem der besten Modesalons Baden-Badens hatte anfertigen lassen, angeblich nicht saß. Selbst als der emeritierte Professor, ein leidenschaftlicher Botaniker, ihn in ein Gespräch über die Flora des Schwarzwaldes verwickeln wollte, verlor er keinen Augenblick die Geduld. Er sagte: »Ja, Herr Professor!« und »Nein, Herr Professor!« an genau den richtigen Stellen, »Wie interessant!« und »Wirklich bemerkenswert!«
Aber seine Gefühle und Gedanken wurden hin und hergerissen zwischen dem Mädchen, das er eben verlassen hatte, und seiner Frau, die auf ihn wartete.
Wie soll ich es Eva nur klarmachen, daß ich heute abend keine Zeit habe? grübelte er. Wenn ich nur wüßte, wie ich es ihr beibringen kann!
Das Privathaus Urban Horsters stand am anderen Ende des ausgedehnten Parks, der sich hinter dem Grandhotel Horster erstreckte. Noch um die Jahrhundertwende hatten hier Stallungen und Kutscherwohnungen gestanden.
Urban Horsters Vater hatte einen Teil der schon halb verfallenen Gebäude abreißen, den Hauptteil völlig umbauen und nach eigenen Entwürfen renovieren lassen, bis ein einstöckiges, anheimelndes Haus entstanden war, in das er sich mit seiner Frau zurückzog, als er Urban und dessen Frau das Hotel übergab. Den überaus fleißigen, noch gar nicht betagten Eltern Urban Horsters war aber kaum Zeit geblieben, ihren Lebensabend zu genießen; sie waren knapp drei Jahre später rasch hintereinander gestorben.
Urban Horster hatte mit seiner ersten Frau Clara geborene Höchli, der Tochter eines Schweizer Gastronomen, in einem Appartement im Hotel gewohnt. Dort waren auch ihre Tochter und ihr Sohn geboren worden und hatten ihre erste Kindheit verlebt. Als Clara im siebten Ehejahr starb – an einer heimtückischen Krankheit, die sie erst sehr spät erkannt und viel zu spät hatte behandeln lassen, weil sie nie Zeit oder Gedanken an ihre Gesundheit verwandt hatte – war Urban Horster mit seinen Kindern, der damals sechsjährigen Susi und dem drei Jahre alten Teddy, im Hotel wohnen geblieben. Erst als er sich in seine zweite Frau, die junge Jurastudentin Eva, verliebt hatte, war ihm der Gedanke gekommen, in das alte Privathaus überzusiedeln.
Seine junge Frau war froh darüber gewesen. Ihr bedeutete das Hotel nichts, sie war zufrieden, daß sie sich mit den Kindern in das kleine Haus am Ende des Parkes zurückziehen konnte. In den ersten Monaten ihrer Ehe war sie vollauf beschäftigt, hier Gemütlichkeit und Behagen zu schaffen und das Vertrauen ihrer Stiefkinder zu gewinnen. Schon bald zeigte es sich, daß sie selber Mutter werden würde. Etwa ein Jahr nach ihrer Eheschließung brachte sie ihre kleine. Tochter Barbara, genannt Babsy, zur Welt, und von nun an war ihr Leben noch mehr mit Hausfrauensorgen und Mutterpflichten ausgefüllt.
Während ihrer ganzen Ehe war sie kaum ein dutzendmal im Hotel gewesen, und auch dann immer nur aus ganz besonderen Anlässen. Dennoch blieb es nicht aus, daß der Hotelbetrieb sich immer mehr wie eine Macht in ihr Bewußtsein drängte, eine befremdliche, ja, fast feindliche Macht, die ihr die Liebe und die Aufmerksamkeit ihres Mannes zu rauben drohte.
Oft stand sie, wie auch heute, am Fenster ihres Schlafzimmers und sah in den Park hinaus. Sie konnte von hier aus über Büsche und Bäume hinweg die Hinterfront des Grandhotel Horster erblicken, und sie versuchte sich vorzustellen, was ihr Mann in diesem Augenblick tat. Dachte er an sie? Sie zweifelte daran. Sie fühlte nur zu deutlich, daß er ihr in der letzten Zeit mehr und mehr entglitten war.
Eva seufzte schwer, senkte den Blick ihrer hellen grauen Augen auf die riesige Baustelle des Schwimmbeckens, die sich vom Hotel aus tief in die wunderbaren Grünanlagen des Parks hineingefressen hatte. Noch immer konnte sie diesen Anblick nicht ertragen, ohne daß ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog.
Wegen dieses Schwimmbeckens hatte es zwischen ihr und ihrem Mann zum erstenmal eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Urban hatte ihr erklärt, daß das Publikum immer anspruchsvoller würde und daß das Hotel ohne eigenes Schwimmbad auf die Dauer nicht konkurrenzfähig bleiben könnte. Obwohl sie seine Argumente begriffen hatte, war ihr der Gedanke, daß der alte Park zerstört werden sollte, so verhaßt gewesen, daß sie sich aufs Bitten und Flehen verlegt hatte.
Aber zum erstenmal war er nicht der liebende, verliebte Ehemann gewesen, sondern hatte mit ungewohnter Härte reagiert.
»Hör auf damit«, hatte er grob gesagt, »ich habe genug Kämpfe durchzustehen. Es ist durchaus nicht nötig, daß auch du mir noch in den Rücken fällst. Kümmere dich um Dinge, von denen du etwas verstehst. Ich habe nicht die geringste Lust, mich mit dir herumzustreiten.«
Dieses Gespräch hatte mit einem Mißklang geendet. In Evas Seele war ein Stachel zurückgeblieben. Sie konnte nicht begreifen, auch jetzt noch nicht, wieso der Mann, an dessen Liebe sie glaubte, so böse werden konnte, nur weil sie ein einziges Mal gewagt hatte, ihm gegenüber eine eigene Meinung zu vertreten.
Dennoch liebte sie ihn rückhaltlos wie am ersten Tag und hatte alles versucht, sein Herz zurückzugewinnen. Während sie in den Park hinabschaute durchlitt sie in Gedanken noch einmal all die unzähligen Zurückweisungen, die sie in den letzten Monaten erlebt hatte, all die nadelfeinen Stiche der Demütigung.
Den ganzen Herbst über hatten die Bagger im Park gearbeitet und sich tiefer und tiefer in den hundertjährigen Rasen hineingefressen. Noch bevor der Frost kam, wurden sie von den Betonmaschinen abgelöst. Baukolonnen setzten die Verschalungen, fremde Männer trampelten über Gartenbeete und Grünflächen.
Eva war es, als ob diese Zerstörung symbolisch für den Zerfall ihrer eigenen Ehe wäre.
Sie straffte ihre Schultern. Nein, sie durfte nicht aufgeben, weder sich noch den Mann, den sie liebte. Wenn es so weit gekommen war, dann mußte sie etwas falsch gemacht haben – ganz bestimmt lag die Schuld bei ihr.
Sie hätte ihm wirklich niemals in Dinge hineinreden dürfen, von denen sie nichts verstand. Was lag schon an dem alten Park! Wie hatte er ihr auch nur eine Sekunde lang wichtiger sei können als ihre Ehe.
Sie hatte Fehler gemacht, aber noch war es nicht zu spät. Sie mußte ihre ganze Ehe neu aufbauen – und plötzlich sah sie den neuen Weg, den sie beschreiten wollte, klar vor sich.
Sie schloß die Fenster, durchschritt den Schlafraum, trat ins Kinderzimmer, wo die kleine Babsy, das Fäustchen vor dem Mund, tief und fest schlief. Sie drückte einen zärtlichen Kuß auf die runde Wange des Kindes, trat auf die Galerie hinaus.
»Susi!« rief sie laut. »Susi! Teddy, kommt, helft mir … wir wollen was Feines für Vati vorbereiten!«
Wenig später stand sie in der Küche, hackte Eier, Gurken, Kräuter und Kapern für eine Remouladensoße. Susi, eine große Schürze umgebunden, rührte Teig, Teddy bearbeitete Eiweiß mit dem Schneebesen.
Der Junge war es, der als erster hörte, daß die Haustür aufgeschlossen wurde. »Mutti!« brüllte er. »Susi! Vati kommt!«
Eva stand den Bruchteil einer Sekunde starr und lauschte. Das Geräusch der zuschlagenden Haustür war nicht zu überhören. Eva legte das Kräuterbüschel aus der Hand und sagte mit einem erregten Lächeln:
»Na, so etwas! Und wir sind noch gar nicht fertig!«
Sie schlüpfte aus ihrem hellblauen Kittel und fuhr sich mit der Hand ordnend über das rotblonde Haar.
Teddy war in dem Augenblick, als sie sich abwandte, rasch mit dem Zeigefinger in die Remouladensoße gefahren und leckte nun seine Hand genüßlich ab.
»Raus aus der Küche«, sagte Eva. »Wir müssen Vati noch begrüßen!«
Sie rannte mit den Kindern um die Wette in die Halle, den größten Raum des Hauses, der fast das ganze Erdgeschoß einnahm und mit seiner Balkendecke und dem mächtigen gemauerten Kamin ganz so geblieben war, wie der alte Horster den Raum seinerzeit für sich selber entworfen hatte.
Sie hatten sich nicht getäuscht. Urban Horster stand in der Halle und war gerade im Begriff die Treppe hinaufzusteigen.
Susi und Teddy begrüßten ihren Vater stürmisch, während Eva sich zurückhielt. Auch heute fühlte sie – wie jedesmal, wenn sie ihren Mann nach längerer oder kürzerer Zeit wiedersah – das unbeschreibliche Gefühl überwältigender Liebe.
Ich darf ihn nicht verlieren, dachte sie. Lieber Gott, hilf mir, daß alles wieder so wird, wie es früher war!
Urban Horster dehnte die Begrüßung seiner Kinder länger aus, als notwendig gewesen wäre, er scheute sich davor, Eva in die klaren grauen Augen zu sehen. Der vertrauensvolle Blick seiner Frau verstärkte sein Unbehagen, das aus einem uneingestandenen Schuldbewußtsein herrührte.
Endlich mußte er sich ihr doch zuwenden. Sie warf sich in seine Arme, und der frische, herbe Geruch ihres rotblonden Haares erinnerte ihn, ohne daß er es wollte, an die wunderbare Zeit ihrer ersten Liebe, als sie ihm noch eine Welt bedeutet hatte.
»Wie schön, daß du schon da bist!« flüsterte sie dicht an seinem Ohr.
Ohne es zu ahnen, brach sie mit diesen Worten den Zauber. Die Erinnerung verblaßte, die Gegenwart forderte ihr Recht.
Er küßte sie flüchtig auf die Stirn und schob sie sanft von sich. »Leider«, sagte er, »habe ich nur sehr wenig Zeit!«
Diese Erklärung, die wie ein Leitfaden durch die ganzen Jahre ihrer Ehe gegangen war, ließ das Lächeln auf ihrem Gesicht erlöschen.
»Mußt du noch einmal fort?« fragte sie enttäuscht.
»Leider«, sagte er wieder und trat, nur um sie nicht ansehen zu müssen, zum Kamin, stieß mit dem Fuß gegen die sorgfältig aufgeschichteten Buchenscheite.
Eva wandte sich an ihre kleine Stieftochter.
»Susi«, sagte sie, »sei lieb und lauf rauf zu Babsy, sie kann jeden Augenblick aufwachen!«
»Och, ich?« sagte Susi unzufrieden. »Du hast mir doch versprochen …« Ihr fiel etwas ein und sie behauptete erleichtert:
»Überhaupt, ich muß doch jetzt zum Tattersall und mich wegen der nächsten Reitstunde erkundigen.«
»Das wird doch wohl eine halbe Stunde Zeit haben!«
»Eben nicht! Bitte!«
Susi sah nicht ihre Stiefmutter, sondern ihren Vater an, und sie hatte den gewünschten Erfolg – Urban Horster hoffte nichts sehnlicher, als daß das Erwachen seiner Jüngsten dem quälenden Gespräch mit Eva ein vorzeitiges Ende bereiten möge.
»Na, lauf schon«, sagte er und nickte seiner Tochter zu.
Susi stürzte auf ihn zu, ihr Gesichtchen unter dem glatten kurzen Pony glühte vor Erleichterung und Triumph. Sie küßte ihren Vater heftig, drehte sich auf dem Absatz um und rannte in die Garderobe.
Eva lag eine Bemerkung über diese fragwürdigen Erziehungsmethoden schon auf der Zunge, aber sie unterdrückte ihre Empörung. Auf keinen Fall wollte sie es gerade an diesem Tag zu einem Streit kommen lassen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, kämpfte mit sich, ob sie bleiben oder doch rasch nach oben ins Kinderzimmer schauen sollte.
Ganz unerwartet kam ihr Teddy zu Hilfe.
»Ich kann ja raufgehen«, erbot er sich.
»Ach ja«, sagte Eva erleichtert, »das wäre sehr lieb von dir!«
Sie sahen ihm nach, wie er die Treppe hinaufstapfte, sehr klein für seine neun Jahre, aber ungeheuer entschlossen und ganz Kavalier.
Dann wandte sich Eva ihrem Mann zu.
»Aber heute abend kommst du doch«, sagte sie, und es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.
Er sah sie nicht an. »Ich werde versuchen, es einzurichten.«
»Das heißt, du weißt es noch nicht bestimmt?«
»Eva«, sagte er gereizt, »du bist doch keine dumme Frau. Langsam solltest du doch wohl begriffen haben, daß es für einen Hotelier kein Recht auf Freizeit gibt und daß in meinem Beruf immer unvorhergesehene Dinge passieren können.«
»Ja«, sagte sie ruhig, »ich weiß.«
»Also …« Er machte eine Bewegung zur Tür hin.
Sie vertrat ihm den Weg.
»Gerade darüber wollte ich ja mit dir reden. Bitte, Urban, mach nicht so ein Gesicht … ich will dir ja keine Vorwürfe machen, wirklich nicht.«
Sie hatte das alles nicht jetzt, sondern erst am Abend, nach einem festlichen kleinen Mahl bei einer Flasche Champagner sagen wollen, aber jetzt, da sie einmal begonnen hatte, konnte sie sich einfach nicht länger zurückhalten.
»Urban«, sagte sie, »ich habe nachgedacht, über uns beide und über das Leben, das wir führen. Du liebst mich doch noch?«
»Aber ja«, sagte er unbehaglich, »was für eine Frage!«
»Sonst hätte es nämlich gar keinen Zweck. Aber ich weiß ja, daß du mich liebst. Wenn ich nicht alles falsch gemacht hätte –«
»Was für ein Unsinn«, unterbrach er sie. »Rede dir doch nicht solche Sachen ein!«
»Ich bin ein Feigling«, sagte sie, »ich habe mich vor dem Leben gedrückt, ich habe Zuflucht in der Ehe suchen wollen. Aber das geht nicht. Das Leben läßt sich nicht betrügen, es rächt sich, und nur deshalb –«
Er ließ sie nicht weiterreden. »Eva«, sagte er, »ich weiß, wie gescheit du bist. Aber ich bin nun mal ein simpler Geschäftsmann, der für philosophische Gedankengänge keinen Sinn hat, und außerdem …«
Er warf einen ostentativen Blick auf seine Armbanduhr.
»Nein, bleib«, forderte sie entschlossen. »Einmal wird das Hotel wohl fünf Minuten auf dich warten können. Ich habe dir etwas sehr Wichtiges zu sagen!«
Er zuckte die Schultern, steckte die Hände in die Taschen und sah sie an – sein Lächeln zeigte jene Spur von Herablassung, die sie rasend machen konnte.
»Also, wenn’s wirklich nicht länger dauert … schieß los.«
»Ich habe mich entschlossen, dir im Hotel zu helfen.«
Sein Lächeln verschwand, dann lachte er laut auf.
»Du … mir?« rief er. »Was für eine Idee!«
»Es ist mir völlig klar, daß du dich erst an diesen Gedanken gewöhnen mußt«, sagte sie, »aber ich …«
Sein Lachen ließ sie verstummen.
»Eva«, rief er, »was willst du denn im Hotel? Du hast doch vom Fach nicht die geringste Ahnung! Nein, nein, das kann nicht dein Ernst sein, gib zu, du hast einen Witz gemacht.«
»Durchaus nicht«, erklärte sie, »man kann alles lernen, wenn man nur will …«
»Bravo!« unterbrach er sie. »Willst du als Page bei uns anfangen?«
»Auch das, wenn es sein müßte«, erwiderte sie, als ob sie seinen Spott gar nicht bemerkte. »Aber es gibt etwas viel Besseres, was ich tun kann. Du weißt, ich beherrsche Stenografie und Schreibmaschine. Laß mich als deine Sekretärin beginnen.«
Das Lachen verging ihm, ein jäher Verdacht stieg in ihm auf. War es möglich, daß sie etwas ahnte? Sollte man ihr etwas über seine Beziehungen zu Lona Simon hinterbracht haben?
Aber sie fuhr schon fort, und die Art, wie sie ihren Plan erklärte, machte ihm ihre Arglosigkeit deutlich und beruhigte ihn.
»Dort könnte ich dir wirklich helfen«, sagte sie, »und du wirst sehen … in ein paar Monaten werde ich schon einen sehr guten Einblick gewonnen haben!«
In diesem Augenblick erschien Teddy oben auf der Galerie.
»Mutti«, rief er herunter, »Babsy ist munter … und wie! Sie will aufstehen! Ich kann sie nicht länger bändigen!«
Urban Horster griff sofort das Stichwort auf.
»Da hast du es!« sagte er. »Und die Kinder? An die hast du wohl überhaupt nicht gedacht! Sie brauchen dich!«
Sie trat dicht auf ihn zu und hob ihr Gesicht zu ihm empor.
»Ich brauche dich, Urban!« sagte sie mit tiefem Ernst.
Die Unbedingtheit ihrer Liebe erschütterte ihn.
»Eva«, stammelte er, »Eva … habe ich dich denn so vernachlässigt?«
»Noch mehr«, sagte sie mit einem wehen kleinen Lächeln.
Er riß sie in die Arme, bedeckte ihren Nacken, ihren Hals mit Küssen, verbarg sein Gesicht in ihrem duftigen Haar.
»Ich verdiene deine Liebe ja gar nicht! Wenn du wüßtest …«
Sie hatte die Augen geschlossen, genoß den herrlichen Augenblick des lang ersehnten Zueinanderfindens.
»Wir werden zusammen arbeiten«, flüsterte sie. »Wegen der Kinder wird sich eine Lösung finden lassen. Das Hotel –«
»Nein«, sagte er, »nein, Liebes, du sollst mir kein Opfer bringen …«
Als sie ihm widersprechen wollte, legte er ihr einen Finger auf den Mund.
»Pst! Jetzt bin ich es, der dir einen Vorschlag macht! Ich werde das Hotel umorganisieren, ich werde mir einen tüchtigen zweiten Mann holen …«
Sie küßte seine Finger, schob sie beiseite.
»Aber warum denn? Laß mich dein zweiter Mann werden!«
Er sah ihr mit einem gerührten Lächeln in das vor Eifer leuchtende Gesicht.
»Du nicht«, sagte er, »du sollst bleiben, was du bist … meine liebe, geliebte Frau!«
Er küßte sie, und es war ihr, als ob dieser zärtliche und leidenschaftliche Kuß alle Ängste und alle Qual der letzten Monate wegschwemmte. Nichts blieb als Liebe und das starke Gefühl unauflöslichen Zusammengehörens.
»Mutti«, brüllte Teddy von oben. »Mutti, Babsy klettert aus dem Bett!«
Er ließ sie los, gab ihr noch einen kleinen Kuß auf die Nasenspitze und wandte sich zur Tür.
Sie lief ihm nach.
»Wann kommst du?«
»So früh wie möglich.«
»Wann?« fragte sie noch einmal.
Er krauste die Stirn, sagte zögernd:
»Gegen acht Uhr. Bis dahin werde ich es wohl geschafft haben.« Er lächelte sie an. »Ich glaube, wir haben einiges miteinander zu reden!«
Noch einmal flog sie ihm in die Arme, dann löste er sich sanft von ihr und verließ das Haus.
Langsam, mit einem stillen Lächeln schritt sie die Treppe hinauf. Ihr Herz tanzte vor Glück.
Auf der Fahrt nach Straßburg war Urban Horster sehr schweigsam. Lona Simon spürte, daß etwas in der Luft lag. Aber sie hielt es für richtig, seine Gedankenabwesenheit einfach zu überspielen. Sie plauderte munter darauf los und ließ sich durch seine kurzen, unfreundlichen Antworten keineswegs die Laune verderben.
Er parkte seinen Wagen, ein Sportcoupé, hinter dem Münster, blieb sitzen, während sie ausstieg, und zündete sich eine Zigarette an.
»Kommst du denn nicht mit?« fragte sie, nun doch irritiert.
»Nein. Ich werde hier auf dich warten.«
Sie lachte auf.
»Das nehme ich dir nun doch nicht ab, soviel Geduld hast du gar nicht. Ich muß die Kleider ja noch anprobieren, das dauert mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht länger. Komm mit! Ich möchte doch auch gern wissen, wie sie dir gefallen.«
»Darauf kommt es wirklich nicht an.«
»Mir schon.«
»Ich denke, ich werde sie früh genug zu sehen bekommen.«
Er schwang seine langen Beine aus dem Wagen und stieg aus.
Sie zuckte die Schultern.
»Der Herr scheinen heute reichlich ungnädig zu sein«, meinte sie spöttisch.
Er schloß das Auto ab und sagte, ohne sie anzusehen: »Ich warte dann im Weinhaus Bär auf dich. Aber beeil dich. Du weißt, ich will sofort zurück.«
Er steckte die Schlüssel ein und ging davon. Ziellos schlenderte er durch die romantischen alten Straßen. Er war sehr unzufrieden mit sich selber.
Er liebte seine Frau, das war ihm an diesem Nachmittag wieder ganz stark zu Bewußtsein gekommen, er wollte sie nicht enttäuschen, und es wäre ihm unerträglich gewesen, sie zu verlieren. Er sah die Konsequenz, die sich aus dieser Erkenntnis ergab, ganz klar: Er mußte sich aus der verhängnisvollen Bindung zu Lona Simon lösen.
Ich werde es tun, dachte er, ich muß es tun. Noch heute – nein, nicht heute. Eva erwartet mich, ich habe ihr versprochen, pünktlich zu sein. Aber morgen – morgen ganz bestimmt!
Aber eine unüberhörbare Stimme sagte ihm, daß er die Kraft zu dieser Entscheidung nicht aufbringen würde – weder heute noch morgen, noch übermorgen.
Schließlich blieb er seufzend stehen, um sich zu orientieren, sein Blick fiel auf. die Auslage eines Juweliers. In der Mitte des Schaufensters lag auf dunkelblauem Samt eine kunstvoll geschmiedete goldene Rose, in deren Blütenblättern eine weiße Perle wie ein schimmernder Tautropfen hing.
Urban Horster trat ein und kaufte die Rose – für seine Frau. Bei dem Gedanken daran, wie glücklich Eva über dieses Geschenk sein würde, wurde ihm wohler. Er steckte die goldene Rose, die der Juwelier sorgfältig in eine Schmuckschachtel gelegt und mit Seidenpapier umhüllt hatte, in die Innentasche seiner Jacke und schlug den Weg zum Weinhaus Bär ein.
Lona Simon war noch nicht da, er hatte es nicht anders erwartet; sie pflegte sich stets sehr gern, sehr lange und ausgiebig mit ihrer äußeren Erscheinung zu beschäftigen.
Er bestellte sich einen Cognac, trank ihn rasch, dann noch einen. Seine innere Spannung ließ nach, seine Selbstvorwürfe verloren an Schärfe.
In dem großen gemütlichen Raum mit den Butzenscheiben und den weiß gescheuerten Tischen hatten sich viele Männer zum Dämmerschoppen zusammengefunden, vorwiegend Straßburger. Ihr ein wenig rauhes Französisch erfüllte dies niedrige, langgestreckte Zimmer. Die Luft war blau von Tabakschwaden.
Dann kam Lona Simon.
Er hatte gar nicht zur Tür geschaut, sondern wurde erst durch die jähe Stille aufmerksam, die ihr Auftreten hervorrief. Es war, als ob jeder einzelne dieser sehr bürgerlichen Männer bei ihrem Anblick den Atem anhielt.
Sie war schön.
Ein fliederfarbenes Leinenkleid brachte ihre glatte bräunliche Haut und ihre prachtvolle Figur zur Geltung und kontrastierte wundervoll zu ihrem schwarzen Haar. Die schmale Taille wurde durch den breiten Gürtel noch betont, der tiefe Ausschnitt gab den Ansatz ihres festen Busens frei, der weite Rock schwang um ihre Knie.
Sie trat an Urban Horsters Tisch, als sei sie sich des Aufsehens, das sie erregt hatte, gar nicht bewußt, warf ihren Mantel, den sie über dem Arm getragen hatte, auf einen Stuhl, stellte die große Pappschachtel dazu und lächelte ihn an.
»Jetzt hab’ ich aber Hunger!«
Er vergaß, daß er sofort hatte zurückfahren wollen, vergaß alles außer Lona, diesem attraktiven Mädchen, um dessen Freundschaft ihn alle, das fühlte er deutlich, beneideten.
»Such dir was aus«, sagte er und reichte ihr die Speisekarte.
»Und du?« fragte sie, nachdem sie die Karte gründlich studiert hatte.
»Höchstens eine Kleinigkeit«, erwiderte er und schob den Gedanken an die Vorbereitungen, die Eva für diesen Abend getroffen hatte, mit Gewalt beiseite.
»Es gibt frische Krebse«, verkündete Lona und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Sie aßen Champignonsalat mit Trüffeln, kleine rote Krebse, zum Abschluß ein Straßburger Soufflé, und sie tranken dazu den rotigen würzigen Wein der Landschaft.
Lona Simon war strahlender Laune, wie Frauen ihrer Art es zu sein pflegen, wenn sie ein neues Kleid tragen und fühlen, daß es ihnen gut steht.
Urban Horster ließ sich nur zu gern von ihrer Fröhlichkeit anstecken. Er war sich in jedem Augenblick bewußt, daß Eva zu Hause auf ihn wartete. Aber er fühlte sich wohl. Cognac und Wein hatten die Spannung in seiner Brust gelöst. Er fand dieses unbeschwerte Beisammensein mit Lona in der gemütlichen alten Weinstube wie eine Galgenfrist, die ihm das Schicksal selber geschenkt hatte. Er brauchte nicht zu denken, er brauchte sich nicht zu entscheiden, nichts wurde von ihm verlangt, als Lonas munterer Stimme zu lauschen, in ihre dunkel glänzenden Augen zu schauen.
Als er sich endlich aufraffte, um zu zahlen, war es zehn Uhr vorbei.
Den Karton mit Lonas Kleidern unter dem Arm, trat er wenig später auf die Straße. Die frische, kühle Vorfrühlingsluft wirkte wie eine Ernüchterung. Schlagartig kam ihm die Tragweite der Situation zu Bewußtsein. Ohne auf Lona zu warten, die sich noch ihren Mantel zuknöpfte, eilte er zum Parkplatz.
»Warte doch! Halt!« rief sie hinter ihm her.
Aber er hörte gar nicht auf sie. Sie trippelte hinter ihm her, ihre hohen Absätze klapperten auf dem Pflaster. Als sie ihn erreichte, hatte er sein Coupé schon aufgeschlossen, das Paket auf den Hintersitz geworfen, den Wagen aus der Parklücke heraus und auf die Fahrbahn gesteuert.
Er stieß von innen die rechte Tür auf, und sie stieg ein.
»Mein Gott«, sagte sie, »ich bin doch kein Rennpferd!«
Sie zog ihren Mantel aus und warf ihn über das Paket.
Er brummte etwas Unverständliches.
»Warum hast du es bloß mit einem Mal so eilig?« fragte sie schmollend.
Er schwieg und starrte verbissen geradeaus.
»Na schön«, sagte sie und zog fröstelnd ihren Schal um den Hals. »Keine Antwort ist auch ein Antwort!«
Während sie in der Weinstube gesessen hatten, war unversehens die Frühlingsnacht hereingebrochen. Urban Horster hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, das Auto glitt, nachdem sie die erleuchteten Straßen der Innenstadt hinter sich gelassen hatten, mit leise brummendem Motor durch die Dunkelheit.
Sie passierten die Zollstation Kehl ohne Zwischenfall und erreichten die Bundesstraße 3. Urban Horster gab Gas. Die Tachometernadel stieg zitternd höher und höher. Der Sportwagen flog nur so dahin.
Lona Simon liebte den Rausch der Geschwindigkeit, aber diesmal fühlte sie sich unsicher.
»Du fährst wie ein Verrückter!« sagte sie halb bewundernd, halb mahnend. »Sei vorsichtig!«
Kurz vor der Abzweigung nach Oberkirch kam eine gefährliche S-Kurve. Lona hatte schon den Mund geöffnet, um ihn zu warnen – aber nach einem Blick auf sein blasses, verbissenes Gesicht zog sie es vor zu schweigen.
Urban Horster steuerte mit Vollgas in die Kurve.
»Obacht!« schrie Lona unbeherrscht.
Ein böses Lächeln verzerrte seinen Mund – da, plötzlich spürte er, wie ihm das Steuerrad entglitt, wie er die Gewalt über den Wagen verlor. Mit aller Kraft versuchte er gegenzusteuern – aber da war es schon zu spät.
Das Auto wurde mit ungeheurer Wucht in die Finsternis hinausgeschleudert.
Lona Simon hatte das Gefühl, aus einem abgrundtiefen tintenschwarzen See langsam, ganz langsam wieder an die Oberfläche zu tauchen. Sie spürte, irgendwo war ein Licht.
Sie riß krampfhaft die Augen auf und sah, daß das Licht, das sie genarrt hatte, der linke Scheinwerfer des Autos war, der eine endlose Bahn frisch gepflügten Ackers beleuchtete.
Plötzlich war alles wieder da, ihr Bewußtsein und gleichzeitig die Erinnerung an das, was geschehen war – die rasende Fahrt, der Sturz in die Finsternis. Sie erinnerte sich, daß sie unwillkürlich die Füße fest gegen die Vorderwand gestemmt, ihr Gesicht mit dem rechten Arm geschützt hatte. Mit heißer Freude wurde sie sich bewußt, daß sie davongekommen war.
Sie tat einen tiefen, zitternden Atemzug. »Mein Gott«, sagte sie, »oh, mein Gott!«
Sie wandte sich zur Seite, um Urban Horsters Blick zu suchen. Aber er war vornüber gesunken, den Kopf auf dem Lenkrad, sein rechter Arm hing unnatürlich verkrümmt herab. Sie griff ihm in das dichte dunkle Haar, versuchte ihn aufzurichten – mit einem Schrei des Entsetzens ließ sie ihn wieder los. Sein Gesicht war unkenntlich, eine blutende Maske des Schreckens.
Ihre Hand war warm und klebrig, und es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, daß sie blutig war. Sie zerrte das verklemmte Handschuhfach auf, zog ein Papiertuch heraus, rieb sich die Hand wie unter einem hysterischen Zwang sauber. In ihrem Kopf wirbelte es. Ihre Zähne klapperten.
Endlich hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie das Nächstliegende tun konnte. Mit Überwindung griff sie unter dem Lenkrad hindurch, drehte den Zündschlüssel um, stellte den Motor ab. Der Scheinwerfer erlosch.
Sie rüttelte an der Tür, die nicht nachgeben wollte. Kalter Schweiß trat ihr aus allen Poren. Schließlich sah sie ein, daß es unmöglich war, kletterte über die Sessellehne und versuchte es hinten.
Sie hatte Glück. Die rückwärtige Tür war weniger verklemmt, sie ließ sich öffnen.
Lona Simon stand schon im Freien, als ihr der Karton mit den Kleidern einfiel, die sie in Straßburg gekauft hatte. Noch einmal tastete sie sich in den Wagen hinein, fand, was sie suchte. Mit einem Schwung warf sie die Tür ins Schloß. Jetzt erst spürte sie, daß auch ihr Arm verletzt sein müßte, denn er tat abscheulich weh.
Aber sie achtete nicht darauf, sondern begann über den Acker zur Straße hinauf zu stapfen. Ihre hohen Absätze versanken bei jedem Schritt in dem weichen Boden. Sie bückte sich, zog die Pumps aus, nahm sie in die Hand und lief auf Strümpfen weiter. Oben angekommen, schlüpfte sie wieder hinein und marschierte die Straße entlang. Sie warf keinen einzigen Blick auf die Unfallstelle zurück.
Ein Lastwagen kam ihr entgegen. Aber sie machte nicht einmal den Versuch ihn anzuhalten, sondern lief weiter. Sie hatte nur den einen Gedanken – nicht in diesen Unfall verwickelt zu werden. Sie wollte keinen Skandal, sie konnte ihn sich einfach nicht leisten, er hätte das Ende ihrer Karriere als Hotelsekretärin bedeutet. Kein Hotelier hätte sie danach wieder eingestellt, das war ihr ganz klar.
Und außerdem versuchte sie sich einzureden, würde ich auch Urban dadurch schaden. Man liest es doch immer wieder. Wenn eine zweite Person mit im Wagen gesessen hat, erstattet der Staatsanwalt Strafanzeige. Womöglich kommt er dann ins Gefängnis, wenn er noch lebt!
Wenn er noch lebt – erst bei diesem Gedanken fiel ihr ein, daß sie ja gar nicht wußte, ob er tot oder nur schwer verletzt war. Sie hätte sich überzeugen müssen. Aber wie? Seinen Puls fühlen? Vielleicht. Jetzt war es dazu zu spät.
Energisch schüttelte sie die aufsteigenden Gewissensbisse ab und marschierte weiter.
Nach etwa drei Kilometern sah sie in der Ferne am Rande einer Ortschaft eine erleuchtete Tankstelle. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte.
Erst als sie näher kam, sah sie, daß im Büroraum der Tankstelle zwar die Deckenbeleuchtung brannte, der Raum aber leer war. Die Eingangstür war verschlossen. Sie drückte heftig und ausdauernd auf die Klingel. Nach einiger Zeit erschien ein junger Mann und schloß auf.
»Ich brauche ein Auto«, sagte sie grußlos, »bitte, würden Sie die nächste Taxistelle anrufen … ich habe es sehr eilig!«
Sie stellte den Kleiderkarton auf den Boden, kramte in ihrer Handtasche, drückte dem jungen Mann eine Mark in die Hand.
Er betrachtete erst das Geldstück, dann das junge Mädchen.
Sein forschender Blick machte sie unsicher, sie fuhr sich mit der Hand über das Kinn und entdeckte, daß sie blutete.
»Ich habe mich verletzt«, sagte sie.
»Das sieht man.«
»Würden Sie nun, bitte, endlich anrufen?«
Er zuckte die Schultern, ging zum Telefon.
»Kann ich mich inzwischen hier irgendwo frisch machen?« rief sie ihm nach.
Er wies mit dem Kinn auf eine Nebentür, und sie befolgte seinen Wink.
Als sie ihr Gesicht in dem trüben Spiegel über dem Waschbecken sah, erschrak sie vor ihrem eigenen Anblick. Kein Wunder, daß der Tankwart sie so merkwürdig angesehen hatte. Sie sah verheerend aus – ihre dunklen Augen starrten riesengroß und tief verschattet, ihr bräunliches Gesicht, ganz blutleer vor Entsetzen, wirkte gelblich fahl, das schwarze Haar hing wie eine Hexenmähne herab, am Kinn und am Wangenknochen waren blutverschmierte Wunden.
Wie gut, daß Urban mich nicht so gesehen hat, dachte sie und wußte im gleichen Augenblick, wie töricht diese Überlegung war.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, säuberte die Wunden und verpflasterte sie, kämmte sich sorgfältig ihr schulterlanges Haar, legte Make-up auf und zog sich die Lippen nach.
Danach sah sie besser aus, aber der verstörte Blick ihrer Augen ließ sich nicht vertuschen.
Als sie den Waschraum verließ, war das Taxi schon gekommen. Der Fahrer lehnte am Kühler und rauchte eine Zigarette, der Tankwart stand daneben. Lona hatte den Eindruck, daß sich die beiden über sie unterhalten hatten.
Sie warf den Kopf in den Nacken und trat auf die beiden Männer zu.
»Bitte, würden Sie mich nach Baden-Baden fahren«, sagte sie.
Der Fahrer blickte sie an.
»Das wird aber ein teurer Spaß, Fräulein.«
»Ich werde Sie im voraus bezahlen.«
»Hin und zurück, denn heute nacht kriege ich keine Fuhre mehr.«
»Wieviel macht das?« fragte sie und öffnete ihre Handtasche.
Der Fahrer nannte den Preis und nahm das Geld entgegen. »Na schön, weil Sie es sind, Fräulein!«
Er öffnete den Wagenschlag, um sie einsteigen zu lassen.
»Einen Augenblick«, sagte sie und warf den Karton auf den Rücksitz, »ich muß schnell noch mal telefonieren …«
Sie wandte sich zu dem beleuchteten Innenraum, rief über die Schulter zurück:
»Ein Ortsgespräch …«
Während sie auf das Telefon zuging, beobachtete sie aus den Augenwinkeln mit Erleichterung, daß der Tankwart keine Anstalten machte, ihr zu folgen, sondern bei dem Taxi stehenblieb. Die beiden Männer unterhielten sich, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.
Eine Papptafel mit den wichtigsten Nummern hing hinter dem Schreibtisch an der Wand. Sie wählte »Unfall«. Eine mürrische Stimme meldete sich.
»Bei der Kurve vor Oberkirch ist ein schwerer Unfall passiert«, sagte sie hastig, »auf der Bundesstraße drei. Bitte, kommen Sie sofort!«
»Verletzte?« fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung gleichgültig.
»Ja. Ein Schwerverletzter.«
»Von wo aus telefonieren Sie?« fragte der Mann.
Aber da hatte sie schon aufgelegt.
Eva Horster hatte keine böse Vorahnung, sie war nicht einmal beunruhigt.
Sie war es so gewohnt, auf ihren Mann zu warten, es war schon so häufig vorgekommen, daß er sein Versprechen, pünktlich zu sein, nicht gehalten hatte, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam, es könnte etwas pasisert sein.
Sie war nur todunglücklich.
Um sieben Uhr hatte sie den Tisch gedeckt, sehr festlich, mit dem schönen alten handgeschmiedeten Familiensilber und hochstieligen hauchdünnen Gläsern. Dann war sie noch einmal nach oben gegangen und hatte Susi und Teddy zur Ruhe gemahnt, die, von ihrer eigenen erwartungsvollen Erregung angesteckt, immer noch auf ihren Betten herumhopsten.
Sie hatte sich umgezogen und die schweren, wundervoll ziselierten goldenen Ohrgehänge angelegt, die ihr Mann ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie hatte die hellen Augenbrauen dunkel nachgestrichelt, die Wimpern getuscht, dem feinen, ein wenig schmalen Mund mit einem zartrosa Lippenstift Farbe gegeben. Das rotblonde Haar hatte sie leicht toupiert und so lange gebürstet, bis es sich weich um die hohe Stirn und die schmalen Wangen schmiegte.
Ihr Spiegelbild zeigte eine sehr schöne, ein wenig kühle Frau, und sie wünschte in diesem Augenblick sehnlich, daß Urban jetzt, in diesem Augenblick, kommen und sie in die Arme nehmen sollte.
Aber er kam nicht.
Sie ging noch einmal in die Küche, sah nach, ob sie auch nichts vergessen hatte – die Platte mit dem kalten Roastbeef stand bereit, die Schüsselchen mit Remouladensoße, Champignon- und Spargelspitzensalat, das Fruchtgelee und das Käsegebäck. Sie konnte auftragen, sobald Urban nach Hause kam.
Aber er kam immer noch nicht.
Sie zündete das Buchenholz im Kamin an. Jetzt gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie wartete drei endlose Stunden lang. Sie versuchte zu lesen, aber es gelang ihr nicht, ihre Gedanken zu konzentrieren. Dann legte sie eine Mozartplatte auf, aber selbst diese himmlisch heitere Musik konnte sie heute nicht trösten. Sie stellte den Apparat wieder ab. Sie rauchte, stand auf, ging hin und her, setzte sich wieder, starrte in die Flammen.
Mehr als einmal zuckte es in ihrer Hand, den Telefonhörer zu ergreifen und das Hotel anzurufen. Aber sie unterließ es. Urban Horster hatte sich schon zu Anfang ihrer Ehe energisch verbeten, durch einen Anruf bei der Arbeit gestört zu werden.
»Wenn ich nicht komme«, hatte er gesagt, »bedeutet das, daß ich beschäftigt bin. Mit einem Anruf verschwendest du deine und meine Zeit. Es dauert dann um so länger, bis ich mich freimachen kann.«
Sie dachte sich zornige Worte aus, die sie ihm sagen wollte, aber dann ließ sie es wieder. Sie verbot sich Tränen, Klagen, Vorwürfe. Das alles Würde ihn nur abstoßen.
»Ich werde ihn mit einem Lächeln empfangen«, sagte sie sich immer wieder, mit einem Lächeln …«
Und sie zauberte ein Lächeln auf ihr erschöpftes Gesicht, als kurz nach elf die Haustürklingel ertönte. Sie erhob sich, leerte den Aschenbecher in das Kaminfeuer und ging zur Tür. Ihr Herz klopfte, und sie spürte, wie ihre Wangen sich röteten. Sie war ganz sicher, daß es nur Urban sein konnte, der seinen Türschlüssel im Hotel hatte liegen lassen – sie erwartete keinen Besuch, und es gab niemanden, der sie zu dieser nächtlichen Stunde ohne Anmeldung überfallen hätte.
Eva Horster öffnete die Tür weit und rief: »Urban … endlich!«
Aber es war nicht Urban Horster, der eintrat, sondern Herr Thomas, der Empfangschef.
Ihr Lächeln erlosch, und noch bevor er den Mund öffnete, wußte sie, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte.
»Sie?« stieß sie fassunglos hervor.
Das Gesicht des Empfangschefs war beherrscht und ausdruckslos wie immer.
»Ich weiß, Sie erwarten Ihren Gatten, gnädige Frau«, sagte er und schloß die Tür geräuschlos hinter sich.
»Aber …«
»Bitte, setzen Sie sich!«
»Aber … warum …?«
»Bitte«, sagte er mit Nachdruck, faßte sie am Arm und führte sie zu einem der Sessel am Kamin.
Er blieb vor ihr stehen und blickte auf sie herab. Nichts in seinem Gesicht verriet, was er in diesem Augenblick empfand – Bewunderung für ihre Schönheit, tiefes Mitleid für ihr Schicksal und ohnmächtigen Zorn darüber, daß gerade ihm die Rolle des Unglücksboten zugefallen war.
»Gnädige Frau …« sagte er mühsam.
»Was ist geschehen?« rief sie mit einer Stimme, die ihr nicht mehr ganz gehorchte.
»Bitte«, sagte er beschwörend, »bitte, seien Sie tapfer. Ihr Gatte hatte einen Unfall.«
Da sie nicht ahnte, daß er im Auto unterwegs gewesen war, löste diese Mitteilung seltsame Assoziationen in ihr aus.
»Im Hotel?« fragte sie. »Er schickt sie zu mir?«
»Nein«, erklärte Herr Thomas, der alles noch viel schwieriger fand, als er es sich vorgestellt hatte, »ein Autounfall …«
»Aber … ich verstehe nicht …« stammelte sie.
Dann erst begriff sie, fuhr hoch.
»Er ist – tot?«
»Nein, er lebt. Er ist schwer verletzt, aber er lebt.«
Mit den seltsam gleitenden Schritten einer Nachtwandlerin ging sie zur Tür.
»Ich muß zu ihm«, murmelte sie wie zu sich selber. »Ich muß zu ihm …«
Mit zwei Sätzen war er hinter ihr her und hielt sie fest.
»Gnädige Frau, bitte, lassen Sie sich doch erst erklären …«
Sie fuhr herum. Ihre klaren grauen Augen in dem totenblassen Gesicht waren überraschend wach.
»Haben Sie mich belogen?«
»Nein.«
»Dann bringen Sie mich zu ihm. Sofort.«
Er hielt ihrem Arm so fest, als befürchtete er, sie könnte sich losreißen und in die Nacht hinausstürmen.
»Er ist ohne Bewußtsein«, sagte er, »eine schwere Schädelfraktur. Er würde Sie gar nicht erkennen.«
Sie sah ihn an, mit verdunkelten Augen, in denen er nicht zu lesen vermochte.
»Wo liegt er?«
»In Oberkirch. Auf der Unfallstation des dortigen Krankenhauses. Von dort hat man im Hotel angerufen.«
»Wir müssen sofort einen Hirnspezialisten hinzuziehen«, sagte sie, »Professor Meyer von der Neurochirurgischen Klinik Freiburg. Stellen Sie, bitte, die Verbindung her. Ich gehe inzwischen hinauf und ziehe mich um.«
»Jetzt?« sagte er. »Es geht auf zwölf Uhr zu, der Professor wird –«
»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, schnitt sie ihm das Wort ab, »es geht um das Leben meines Mannes.«
Sie schüttelte seine Hand ab und ging auf die breite, geschwungene Treppe zu. Sie war die ersten Stufen schon hinaufgeeilt, als sie sich noch einmal umdrehte.
»Professor Ferdinand Meyer«, sagte sie, »M, e, y, e, r … Meyer!«
In dieser Sekunde begriff er, welch unerschütterliche Kraft in dem zarten Körper dieser jungen Frau steckte.
Es war nicht einfach, den Professor zu erreichen, und er hatte es noch nicht geschafft, als Eva die Treppe wieder herunterkam, in flachen Schuhen, einem graublauen Tweedkostüm, einen Schal in der Hand – nur die funkelnden Ohrgehänge erinnerten noch daran, wie anders sie sich diesen Abend vorgestellt hatte. Ihr schmales Gesicht war immer noch schneeweiß, aber ihre Züge verrieten Beherrschung und äußerste Anspannung.
Sie stand neben Herrn Thomas und wartete, bis es so weit war, dann nahm sie ihm den Hörer aus der Hand und meldete sich.
»Hier spricht Frau Horster, Herr Professor«, sagte sie mit klarer Stimme, »Frau Eva Horster vom Grandhotel Horster in Baden-Baden. Mein Mann hatte einen schweren Autounfall … Schädelfraktur. Bitte, setzen Sie sich mit der Unfallstation des Krankenhauses in Oberkirch in Verbindung, dort ist er eingeliefert worden. Ich möchte, daß Sie sich um ihn kümmern und die Operation persönlich vornehmen … ich weiß, daß dieser Wunsch Ihnen unverschämt verkommen muß, Herr Professor, aber es geht um meinen Mann, den Vater von drei Kindern … ich weiß, welche Strapazen und Unannehmlichkeiten ich Ihnen damit zumute … das glaube ich Ihnen ja, aber ich möchte, daß mein Mann von dem besten Arzt auf diesem Gebiet operiert wird, und das sind Sie, Herr Professor. Bitte, fahren Sie noch heute, fahren Sie jetzt gleich nach Oberkirch! Selbstverständlich bezahle ich den Chauffeur … selbstverständlich werden alle Ihre Honorarforderungen erfüllt … es geht um das Leben meines Mannes, Herr Professor, Geld spielt da überhaupt keine Rolle … ich danke Ihnen, Herr Professor, ich danke Ihnen!«
Eva legte auf. Ihre Augen hatten einen sonderbaren Glanz. Mit einer mechanischen Bewegung schlang sie den Schal um ihr rotblondes Haar.
»Bitte, rufen Sie das Hotel an, Herr Thomas«, sagte sie, »sorgen Sie dafür, daß ein Zimmermädchen oder irgendeine andere weibliche Kraft sofort herüberkommt und bei den Kindern bleibt … dann holen Sie Ihren Wagen. Ich will bei meinem Mann sein.«
Während der Fahrt nach Oberkirch schwiegen beide.
Eva saß sehr aufrecht, fast starr. Sie hielt den Blick unverwandt geradeaus gerichtet, die Hände im Schoß verkrampft. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, aber sie spürte den Schmerz kaum. In ihrer Kehle war ein heißes, würgendes Brennen, und das Herz lag wie ein schwerer Bleiklumpen in ihrer Brust, der ihr das Atmen zur Qual machte.
Sie bemühte sich krampfhaft, alle Gedanken auszuschalten, alle Gefühle zu ersticken, denn sie spürte instinktiv, daß sie zusammenbrechen würde, sobald sie erst das Ausmaß dessen, was geschehen war und was noch drohend vor ihr stand, erkennen würde.
Herr Thomas respektierte ihr Schweigen. Er warf nur hin und wieder einen scheuen Seitenblick auf ihr angespanntes blasses Profil.
Er verfluchte sich, daß er sich ihrer plötzlichen Autorität gebeugt hatte, statt das einzig Richtige zu tun, einen Arzt zu rufen, der ihr eine Beruhigungsspritze gegeben und Sie ins Bett gesteckt hätte. Statt dessen hatte er sich zu dieser unsinnigen Fahrt durch die Nacht zwingen lassen, mit der dem verunglückten Chef in keiner Weise geholfen war.
Ein Unfallwagen überholte sie mit Blaulicht und heulender Sirene, bog nach links ab.
Herr Thomas zuckte zusammen, aber Eva reagierte überhaupt nicht. Sie schien weit, weit fort zu sein.
Er folgte dem Unfallwagen. Die Scheinwerfer erfaßten das blau-weiße Schild mit der Aufschrift: »Ruhe! Hospital!« Dann tauchte das Krankenhaus zu ihrer Rechten auf, ein weißes Gebäude mit einer breiten Einfahrt.
Herr Thomas parkte den Wagen im Inneren des Hofes, stieg aus und wollte Eva helfen. Aber sie kam ihm zuvor und ging mit steifen hölzernen Schritten auf die erleuchtete Pforte der Unfallstation zu.
Er lief ihr nach, holte sie ein.
In der Anmeldung hatten die Sanitäter zwei Tragen mit blutigen stöhnenden Bündeln abgestellt, die sicher noch vor kurzer Zeit selbstbewußte, gesunde Menschen gewesen waren.
Eva schenkte ihnen keinen Blick. Wie eine aufgezogene Puppe ging sie auf die diensthabende Schwester zu. Aber als sie ihre Frage stellen wollte, versagte ihre Stimme. Sie brachte nicht mehr hervor als einen rasselnden Atemzug.
Herr Thomas sagte rasch: »Herr Urban Horster aus Baden-Baden … er muß vor einer Stunde eingeliefert worden sein. Autounfall.«
Die Schwester warf einen Blick auf ihre Liste.
»Zimmer 14 im ersten Stock … am Ende des Ganges.«
»Danke.«
Herr Thomas legte stützend seine Hand unter Evas Ellenbogen, und sie ließ es sich widerspruchslos gefallen. Er führte sie die steinerne Treppe hinauf.
Es roch wie in allen Krankenhäusern nach Äther, Lysol und Bohnerwachs, aber dazwischen war noch etwas anderes, der süßliche, durchdringende Geruch von Blut und Schweiß, Eiter und Wunden.
Sie kamen an vielen Türen vorbei. Schwestern liefen über den Gang mit blassen, übermüdeten Gesichtern.
Vor der Tür Nr. 14 blieb Herr Thomas stehen.
»Soll ich nicht doch erst allein …?«
Eva schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie mühsam.
Er klopfte, aber von innen kam keine Antwort. Dann drückte er die Klinke nieder und öffnete lautlos die Tür. Er trat als erster ein – ein verzweifelter Versuch, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Aber sie folgte ihm so rasch, daß er nicht einmal die Möglichkeit hatte, sie zu warnen.
Sie sahen es beide fast gleichzeitig.
Ein Bett war leer, und auf dem anderen, gleich neben dem Fenster, lag eine stille, starre Gestalt, vom Kopf bis zu den sehr gerade ausgerichteten Füßen mit einem weißen Leintuch bedeckt. Ein Toter.
Sie standen und schauten, und er fand nicht einmal mehr den Mut, sie anzusehen.
Nach einer Weile löste sie sich von seiner Seite und trat auf das Bett zu. Sie hob die Hand und schlug das Leintuch am Kopfende zurück.
Das Gesicht des Toten war friedlich, die geschlossenen Augen lagen tief in den Höhlen, um seine Lippen lag etwas wie ein sehr weises, verklärtes Lächeln.
Es war nicht Urban Horster.
In diesem Augenblick sank Eva in sich zusammen. Alle Kraft hatte sie verlassen. Dumpf fiel sie zu Boden.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer flachen, harten Liege. Ein junger Arzt in einem weißen Kittel fühlte ihren Puls.
»Na, endlich!« sagte er und sah sie mit einem unbekümmerten Lächeln an. »Fühlen Sie sich besser?«
Sie richtete sich ruckartig auf.
»Mein Mann …«
Der junge Arzt drückte sie sanft zurück. Er hatte einen blonden, dichten Bürstenhaarschnitt, und in seinen Augen stand etwas, das verriet, daß das ganze Leben für ihn noch ein wunderbares Abenteuer war.
»Sie können jetzt doch nicht zu ihm«, sagte er, »er ist gerade in den OP gebracht worden.«
»Er ist also nicht …?«
»Nein. Man hatte ihn wenige Minuten, bevor Sie in das Zimmer kamen, herausgeholt. Die Schwester bei der Anmeldung konnte das nicht wissen. Es muß ein schöner Schock für Sie gewesen sein …«
Eva Horster hob den Arm, um auf ihre Uhr zu sehen.
»Wie lange war ich …?«
»Eine gute Stunde. Aber immerhin haben Sie sich den passenden Ort für Ihre Ohnmacht ausgesucht.« Der junge Arzt lachte. »Vorige Woche hatten wir noch einen viel tolleren Fall. Eine junge Frau wollte ihren Mann besuchen, der mit dem Motorrad verunglückt war. Bei dieser Gelegenheit hat sie die Wehen bekommen … gleich hier im Krankenhaus. Eine halbe Stunde später war sie entbunden.«
Eva hörte gar nicht, was er sagte. Auf ihren Schläfen lastete ein dumpfer Druck, und sie hatte Mühe, ihre Gedanken zu ordnen.
»Eine Stunde«, wiederholte sie, »und er ist jetzt erst in den Operationssaal gekommen … aber ist denn das nicht viel zu spät, hätte man nicht gleich …«
»Regen Sie sich nicht auf«, sagte der junge Arzt, »bitte! Das schadet Ihnen, und Ihrem Gatten nutzt es nichts. Er konnte nicht vorher operiert werden, weil er sich noch in einem schweren Schockzustand befand. Wir mußten ihn erst erwärmen, Sympatol-Strophantin zur Stützung des Kreislaufs und Traubenzuckerinfusionen geben. Er hat darauf angesprochen, das ist schon ein gutes Zeichen.«
»Und Professor Meyer?«
»War gar nicht dumm, daß Sie ihn angerufen haben. Ein Spezialist ersten Ranges. Er führt die Operation persönlich durch.«
Eva seufzte tief.
»Übrigens, ich glaube, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen«, sagte der junge Arzt. »Ich bin Doktor Krüger …«
Aber Eva hörte gar nicht mehr hin. Sie hatte die Augen geschlossen und die Hände zum Gebet gefaltet – einem flehenden Gebet, das ihrem Mann und ihrer Liebe galt.
Urban Horster lag auf dem Operationstisch. Sein Gesicht war abgedeckt, der Schädel kahl rasiert. Im kalten schattenlosen Licht der Operationslampe zeigte sich die Deformation der Schädeldecke.
Der Narkosearzt hatte eine Dosis Curare gespritzt, um eine vorübergehende völlige Erschlaffung der gesamten Muskulatur zu bewirken. Nur so war es möglich, den Trachealkatheter vorsichtig durch die erschlafften Stimmbänder einzuführen. Mit Hilfe eines aufblasbaren Gummiballs hatte er ihn so gegen die Wände der Luftröhre gepreßt, daß er sich weder verschieben noch verrutschen konnte. Das andere Ende des Katheters verband er außerhalb des Mundes über ein Ventil mit dem Schlauch des Narkoseapparats.