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5. Internationaler Kongress für Echte Psychotherapie, Psycholyse und Alternative Psychiatrie vom 25.bis 27. Juni 2021, Schweiz
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Seitenzahl: 212
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5. Internationaler Kongress für Echte Psychotherapie, Psycholyse und Alternative Psychiatrie
25. – 27. Juni 2021
Internationale Ärztegesellschaft für Echte Psychotherapie und Alternative Psychiatrie In Zusammenarbeit mit dem World Wide magic Movement Avanti, Grossmatt 296, CH-4574 Lüsslingenwww.aerztegesellschaft-avanti.orgwww.world-wide-magic-movement.org
Eine Veranstaltung der Therapeutisch-Tantrisch-Spirituellen Universität In Nennigkofen-Lüsslingen, Schweiz
für Therapeuten, Patienten, Experten, Betroffene und alle Interessiertenwww.kongress-echte-psychotherapie.org
Die Schreibweise in diesem Buch folgt der schweizerischen Schreibweise ohne ß.
«Was der Klient zu lernen hat, um zu heilen, ist das Lieben. Es bleibt die Wahrheit: Die Liebe ist es, die heilt.»
Samuel Widmer
«Es braucht keine kopfigen, intellektuellen Manuale und Gebrauchsanweisungen. Es braucht Liebe. Es braucht nicht Korrektheit. Hinter ihr bleibt das Herz einsam und leer. Es braucht ein liebendes Wesen.»
Samuel Widmer
Alternative Psychiatrie
Begrüssung – von Kasia Weidenbach
Alternative Psychiatrie (Vortrag: Kongress Heilung und Inspiration Juni 2013)
Liebe in der Psychiatrie – Ein persönlicher Bericht
Die antipsychiatrische Bewegung von ihren Anfängen bis jetzt
Spirituelle Krisen in der Pubertät – Ausdruck von Krankheit oder von Gesundheit?
Über das Mittelmass von Diagnosen hinaus den kranken Menschen wirklich erkennen
Liebe in der Psychiatrie?
Heal your brain
Neues aus der Gehirnforschung
Clínica Poética und Casa-Aroeira-Project
Fallbeispiel Psychose – Aufsatz in Medizinethik
Störe ich? – Über meine Erfahrungen mit Psychiatrie und Echter Psychotherapie
Die Alternative Psychiatrie ist eine menschliche Psychiatrie, in der die Würde, Freiheit und Einzigartigkeit des Menschen respektiert werden.
Nicht die Bevormundung des Kranken und die Anpassung an die Gesellschaft sind für sie das Wichtigste, sondern eine umfassende Sicht auf das jeweilige Problem. Mitgefühl und Beziehung sind die wichtigsten therapeutischen Instrumente, welche für jede Situation die bestmögliche Handlung und Lösung finden. Standardisierte Fragebögen und wissenschaftliche Forschung, verschiedene Theorien und therapeutische Schulen, die Festlegung von Diagnosen und Krankheitsbildern – all dies kann uns dienen und wertvolle Informationen liefern und bei der Wahl der richtigen Behandlung helfen.
Wir wollen aber nicht aus den Augen verlieren, dass dies alles nur oberflächliche Beschreibungen sind. Die Ursachen psychiatrischer Erkrankungen sind komplex und liegen tiefer. Biochemische Veränderungen im Gehirn sehen wir als Symptom und nicht als Ursache des Problems.
Die Behandlung psychiatrisch kranker Patienten sollte auf vielschichtige Weise erfolgen und alle Möglichkeiten nutzen, die hilfreich erscheinen, wie Medikamente, geschützte Rahmen, sozialarbeiterische Unterstützung und Psychotherapie. Der Therapeut oder die Institution können im Rahmen ihrer Möglichkeiten Unterstützung anbieten. Dabei streben wir eine möglichst in die Gesellschaft und Familie integrierte Behandlung an, anstatt den Kranken zu isolieren und einzusperren.
Nicht Angst und Sicherheitsdenken bestimmen das Vorgehen, sondern die Einsicht, dass die Verantwortung für sein Leben letztlich immer beim Patienten selbst bleibt sowie dass Liebe und ein durch sie gestaltetes Umfeld das Einzige sind, was ihn dabei unterstützen kann.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde und Freundinnen!
Wieder einmal darf ich euch zu unserem Kongress, dem fünften internationalen Kongress für Echte Psychotherapie und Alternative Psychiatrie, diesmal unter dem Titel «Liebe in der Psychiatrie», willkommen heissen.
Es ist aus verschiedenen Gründen ein besonderer Kongress.
Zum einen ist es fast ein Wunder, dass wir überhaupt alle hier zusammenkommen, und auch eine besondere Freude, sich wieder treffen zu können, nach dieser langen «Corona-Zeit». Es ist jedoch trotzdem noch nicht ganz wie sonst, denn wir müssen uns an bestimmte Schutzmassnahmen halten. Dies ist einerseits eine Einschränkung, andererseits eine besondere Herausforderung. Wir haben uns entschlossen, das Ganze als Herausforderung anzunehmen. Die besonders intensive und teilweise komplizierte Planung, die Notwendigkeit, Abstand zu halten, Masken zu tragen, all dies lädt uns ein, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Achtsam- und Aufmerksamsein, sich gemeinsam an Regeln und Abmachungen zu halten, und der Lebendigkeit, der Freude, die man auch haben kann in einem anderen, ungewohnten Setting, der Chance darin, immer wieder neu und wach zu sein.
Dann ist es besonders dieses Jahr, weil wir ein Jubiläum haben, Avanti wird nämlich zehn Jahre alt! Im April 2011 haben wir unsere Ärztegesellschaft gegründet, weil es für uns keinen Platz gab in den offiziellen Ärztegesellschaften, weil wir die Vision, die schon seit 15 Jahren wartete, erfüllen wollten und um unsere Sicht von Psychotherapie zu formulieren und in die Welt zu setzen. So ist dieser Kongress auch eine Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, die Vision zu erneuern, sich neu auszurichten auf das, was kommen mag, und auf unsere Aufgaben darin.
Dies bringt uns zum eigentlichen Thema des Kongresses: «Liebe in der Psychiatrie». Als wir zur Gründung von Avanti die Texte geschrieben haben, die unsere Haltung ausdrücken sollten zu Therapie und Psychiatrie, hat Samuel Widmer, unser Lehrer, sie durchgesehen und sie mir zurückgegeben mit den Worten: «Sie sind gut, nur fehlt noch etwas Liebe darin.» Und er hatte überall noch etwas hineingeschrieben, etwas über Liebe.
So freue ich mich, dass wir nun zum ersten Mal einen Kongress haben, der die Liebe im Titel hat!
Die Alternative Psychiatrie, die ja neben der Echten Psychotherapie unser Hauptthema ist, soll dieses Mal ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Wir haben ja meistens mit Tabuthemen zu tun an unseren Kongressen. Diesmal ist es so in zweierlei Weise: Die Liebe ist in unserer Welt zum Tabu geworden und wenn man über Liebe spricht, muss man mit heftigen Angriffen und Vorwürfen rechnen. Sex, Vergnügen, Missbrauch und Heimlichkeiten werden meist mit dem Wort Liebe verbunden, was Liebe wirklich ist, scheint kaum jemand zu verstehen.
Psychiatrie ist jedoch auch für sich schon ein Tabuthema: Irrenhaus, weggesperrt, düster und einschüchternd schrieb eine unserer jungen Kolleginnen als erste Assoziation zu dem Thema. Psychiatrie ist eine Randerscheinung der Gesellschaft, die vielen unheimlich ist und Angst macht.
Ich weiss nicht, zu welchem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte die Trennung von verrückt und normal begonnen hat. Vermutlich gleichzeitig oder als Folge der Aufspaltung zwischen Tod und Leben, zwischen Ich und Du und all der anderen Spaltungen, die folgten.
Das war jedenfalls der Ursprung der Frage: «Was ist verrückt?» und damit auch der Ursprung der Psychiatrie.
Und es gab schon immer und es gibt heute noch zwei Strömungen, mit dem Abnormalen, dem, was nicht in die gängige Norm passt, umzugehen.
Die Angst will immer wieder einen Zustand von Normalität, von scheinbarer Sicherheit, in der man die Kontrolle und den Überblick hat, herstellen. Sie muss das Verrückte entweder ausgrenzen oder unter Kontrolle bringen, ob mit Dämonenaustreibung oder körperlichen, teils brutalen Behandlungen, mit Fesseln, Einsperren und Folter oder mit starken Medikamenten. Die Methoden haben sich im Laufe der Jahrhunderte verändert, die Motivation dahinter ist die gleiche geblieben.
Die Liebe stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Sie strebt nach Mitgefühl, Verständnis und nach einer Welt, in der alles eingeschlossen ist, alles einen Platz hat, insbesondere auch das Rätselhafte, Unbekannte, die Magie, das Wunder. Ob man Menschen als Schamanen einen besonderen Platz gibt, Halluzinogene einnimmt, um psychotische Patienten besser zu verstehen, offene Psychiatrien einrichtet, in denen man mit den Menschen redet und in Beziehung tritt, auch hier findet jede Zeit ihre Art und Weise der Liebe in der Psychiatrie.
Heute gibt es einige Bestrebungen, die Psychiatrie freundlicher, weniger gewalttätig und offener zu machen. Die Frage ist nur, ob das weit genug geht. «Keine Forderung kann gross genug sein», schrieb Charles Eisenstein 2012 in seinem Aufruf zu einer Revolution der Liebe1.
Im aktuellen Diagnosemanual der Psychiatrie, dem DSM V, sind psychiatrische Diagnosen so weit gefasst worden, dass immer mehr Menschen, vor allem auch Kinder und Jugendliche, als krank und somit mit Medikamenten behandlungsbedürftig eingestuft werden können. Wutausbrüche, eine starke Sexualität, intensive Trauer, ungewöhnliche Zustände in der Pubertät, spezielle, eigene Arten, die Welt wahrzunehmen und zu denken, können nun in diagnostische Kategorien eingeordnet werden.
Nichts gegen sinnvoll eingesetzte Diagnosen und Medikamente! Aber die Normalität wird ein immer schmalerer Grat, von dem immer mehr Menschen herunterfallen.
Kann man die Psychiatrie verändern? Ebenso könnte man fragen, ob man die Kirche verändern kann. Denn in der Psychiatrie herrscht ebenso viel Aberglaube, Dogmatismus, Machtbestreben und Moral wie in den offiziellen Religionen. Kann das verändert werden? Und wenn ja, wie?
Die Psychiatrie wirklich zu verändern würde heissen, die Welt zu verändern. Platz zu schaffen für Besonderes, für Vielfalt, für Langsamkeit, für Ehrlichkeit, für echte Gemeinschaft und für das Verrückte, welches zum grossen Teil an dieser aufgeheizten, gestressten, gewalttätigen und engen Welt verrückt und immer noch verrückter geworden ist.
In den letzten Jahren ist eine neue Vision für ein Projekt entstanden. Aus der Arbeit mit Patienten in der Praxis ist immer mehr ein Bedürfnis entstanden nach einem Ort, um Menschen eine Zeit lang unterbringen zu können, die nicht mehr alleine zurechtkommen. Eine eigene Klinik, ein Haus der Heilung, eine Heimat für unsere Arbeit zu haben, ist schon ein längerer Wunsch, der langsam Gestalt annimmt. Den wir verwirklichen wollen. Gemeinsam mit dem 3. Meisterkurs für Psycholytische Psychotherapie setzen wir uns damit auseinander.
Die Welt braucht das Neue, hat kürzlich der Leiter einer schönen, alternativen, psychiatrischen Einrichtung zu uns gesagt, und dafür sind wir hier!
Ein Kongress zum Thema Liebe hat nur Sinn, wenn die Liebe auch da ist. Liebe hat nichts mit Romantik zu tun. Sie ist das Grosse. Man erkennt sie vielleicht am ehesten an ihren Auswirkungen, an den leuchtenden Augen, an der gemeinsamen Ausrichtung, die Erstaunliches vollbringt (wie zum Beispiel, ein Kongresszelt in der Hälfte der vorgesehenen Zeit aufzustellen), an der gemeinsamen Stimmung. Dann wird aus einem Kongress ein Ereignis in Raum und Zeit, etwas Neues.
Wir sind hier, um das Neue zu finden, zu besingen, uns dazu inspirieren zu lassen und es zu leben. Denn das Allerwichtigste am Kongress ist das Zusammensein, die Verbundenheit untereinander zu finden und zu nähren, um dann wieder in die Welt zu gehen und dort ein neues Licht anzuzünden.
Vorträge
1 Charles Eisenstein. Der Geist von Occupy. Keine Forderung kann gross genug sein. Die Revolution der Liebe. Scorpio Verlag.
Kasia Weidenbach
Meine eigenen Erfahrungen mit Psychiatrie habe ich in meiner Eigenschaft als angehende oder später in der Ausbildung befindende Ärztin gemacht. Mich faszinierte die menschliche Psyche mit ihren Rätseln, ihrem unglaublichen Potential und ihren furchtbaren Abgründen. Durch Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen hatte ich schon zu Beginn meiner Ausbildung damit begonnen, all dies auch in mir selbst zu erforschen.
Jeder Patient, jede Patientin, der ich in den Psychiatrischen Kliniken begegnete, war für mich ein einzigartiges Wesen. Ich interessierte mich brennend für die Geschichten, die diese zu erzählen hatten. Sehr bald fielen mir verschiedene Dinge auf.
Die Patienten in ihrer Verrücktheit hatten häufig etwas Lebendiges, ein Zugang zur Wahrheit, eine Direktheit in Beziehungen, die den Ärzten und dem Personal der Klinik abging, so dass ich mich mit den Patienten oft wohler fühlte als mit den Kollegen.
Niemand schien sich auch nur im Geringsten für die Geschichten und das innere Erleben dieser Menschen zu interessieren, wichtig waren einzig und allein Symptome und Diagnosen. Ich dagegen fand es jedes Mal sehr beschämend, nach einem Gespräch, in dem mir ein Mensch viel über sich und seine Not erzählt hatte, den erforderlichen Bericht abzuliefern, in welchem dieser Mensch nur noch als Kategorie vorkam. Mir kam das wie ein Verrat an ihm vor.
Das einzige Ziel jeder Behandlung war möglichst weitgehende Anpassung an die Normalität.
Speziell ein Erlebnis ist mir in Erinnerung. Ich war noch sehr jung, ein Mann wurde eingeliefert, der schrie und brüllte, doch er war dabei sehr fröhlich. Er brüllte immer wieder: «Das ist die Natur!» Ich hatte furchtbare Angst vor ihm und doch konnte ich den Blick nicht abwenden, was er sofort merkte, und nun richtete er seine feurigen Blicke und Schreie auf mich, worauf meine Kollegen mir empfahlen, den Raum zu verlassen. Einige Tage später war er erfolgreich behandelt worden und wurde entlassen – ein ganz normaler, angepasster, höflicher Mensch verliess die Klinik, ich fühlte eine grosse Enttäuschung und Traurigkeit. «
Natürlich ist verrückt sein und herumbrüllen auch keine Lösung, die funktioniert. Aber es ist traurig, wenn als Alternativen nur Anpassung, Unlebendigkeit und Langeweile zur Verfügung stehen. Gibt es nicht eine dritte Möglichkeit, nämlich lebendig zu sein und die Verantwortung dafür zu übernehmen?
Zum besseren Verständnis psychotischer Zustände möchte ich aus einem Brief von Dorothea Buck zitieren, den sie uns geschickt hat. Sie ist eine heute 95-jährige Frau, die mit 19 Jahren die Diagnose Schizophrenie bekam. Sie erlebte die Behandlung in der Psychiatrie im Deutschland der 30er Jahre und wurde unter dem NS-Regime zwangssterilisiert. Es handelt sich um einen offenen Brief an den Chefredakteur einer Zeitschrift, der einen Artikel über Schizophrenie geschrieben hatte.
«Sie schreiben (…), ‹die Krankheit ist schrecklich und stellt Ärzte wie Betroffene vor Rätsel. Wer an Schizophrenie leidet, lebt zwischen Wahn und Wirklichkeit. (…) Jeder Zehnte von ihnen tötet sich aus Verzweiflung selbst.› Weder ist Schizophrenie eine ‹schreckliche Krankheit›, wenn man sie wie S. Freud und C. G. Jung als Aufbruch des Unbewussten ins Bewusstsein verstanden hat und in sein Leben einbezieht, um vorausgegangene Lebenskrisen zu lösen, die wir mit unseren bewussten Kräften nicht lösen konnten, noch töten sich viele als ‹schizophren› Diagnostizierte aus Verzweiflung über die Krankheit, sondern über die nur abwertende, defizitäre psychiatrische Sichtweise, alles von der NORM abweichende Erleben auf eine ‹genetisch bedingte, unheilbare, sinnlose Hirnstoffwechselstörung zu reduzieren, die nur durch viel zu hohe Neuroleptika-Dosierungen bis an das Lebensende zu stoppen sei.›»
Weiter erzählt Dorothea Buck von ihren schizophrenen Schüben, die sie als «Einbruch eines veränderten Weltgefühls sonst nicht gespürter Sinnzusammenhänge» erlebt hat.
Ein Einbruch von Phänomenen aus dem verdrängten persönlichen Bereich, aber auch als mystisches Erleben der Einheit der Welt. Ein solches Geschehen, wenn es chaotisch hereinbricht in ein Bewusstsein, welches die verschiedenen Ebenen nicht auseinanderhalten kann und deshalb auseinanderfällt, ist Psychose.
«Wie aber reagiert die Psychiatrie? In diesem veränderten Bewusstseinszustand, in dem man unbedingt Hilfe zum Verständnis dieser alten aufgebrochenen Bewusstseinsinhalte braucht (…), wird dieses veränderte Erleben nicht einmal erfragt, geschweige denn ernst genommen.»
Obwohl die heutige Psychiatrie nicht mehr mit Foltermethoden wie langfristiger Isolation und Untätigkeit, Sprechverbot, kalten Dauerbädern und Kopfduschen oder Massnahmen wie Zwangssterilisation arbeitet, wie es Dorothea Buck erlebt hat, ist doch im Umgang mit den Patienten heute kein grundsätzlicher Unterschied zu damals zu erkennen.
Trotzt allem ist es ihr im Verlauf ihres Lebens gelungen, die psychotischen Erlebnisse zu verarbeiten, daran zu wachsen und sich quasi selbst zu heilen.
Nach Jahren als Ärztin in der psychiatrischen Klinik und Praxis sehe ich es immer noch genauso wie früher. Ich bin überzeugt, dass jeder Patient eine Geschichte zu erzählen hat, die der Schlüssel zur Heilung sein könnte. Trotzdem gibt es auch eine Ernüchterung. In der Realität funktioniert das einfach nur sehr selten. In den meisten Fällen von schweren, psychiatrischen Störungen ist die Sehnsucht nach Veränderung, nach Lebendigkeit tief verschüttet und man trifft vor allem auf Abwehr, die möglichst in Ruhe gelassen werden will. Viele wollen um keinen Preis ihre beruhigenden Medikamente oder ihr Leben in der Abhängigkeit von Betreuern und Institutionen aufgeben. Heilung bedeutet immer auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, also auch eine Last zu tragen.
Oder um es mit den Worten von R. D. Laing, einem der Begründer der Antipsychiatriebewegung, zu sagen: «Psychose ist immer eine Entscheidung.»
In manchen Fällen wäre eine Behandlung vielleicht möglich, aber so aufwendig, dass man an seine persönlichen Grenzen kommt, wenn man noch ein eigenes Leben führen will. Es gibt Menschen, die ihr Leben geben für diese Aufgabe, die mit psychisch kranken Menschen ihr Leben verbringen und dabei beachtliche Erfolge haben. Doch das ist nicht eines jeden Psychotherapeuten Berufung.
Mittlerweile habe ich eingesehen, dass die Patienten in den meisten Fällen genauso zum System gehören wie die Ärzte, die Institutionen und der Rest der Gesellschaft. Das heisst, fast alle sind mehr an Anpassung und Sicherheit interessiert als an Erwachen. Trotzdem ist es mir wichtig, immer und jederzeit dafür offen zu sein, falls jemand doch an wirklicher Therapie interessiert sein sollte.
Dies ist eine recht radikale Sicht, die viele vielleicht empören mag. Es ist doch allgemein verbreitet, psychische Störungen als unverschuldeten Schicksalsschlag anzusehen, für den man nicht verantwortlich ist. Es bleibt letztlich eine unbeantwortete Frage, ob es ein Nicht-Können oder ein Nicht-Wollen ist oder ob das Nicht-Wollen in solchen Fällen schon so chronifiziert ist, dass man es als Nicht-Können ansehen muss.
Trotzdem gibt es auch den anderen Fall, zum Beispiel eine Patientin, mit der zusammen ich als Therapeutin in einer intensiven Psychotherapie in die Geschichte, die hinter ihrer psychotischen Symptomatik steckte, vordringen konnte, so dass sie sich auflöste. Der Prozess führte dahin, dass sie nicht mehr verrückt war, sondern einsam. Als Verrückte war sie von ihrer Familie als arme Kranke akzeptiert worden, als Gesunde, welche die Familie mit ihren dunklen Geheimnissen von Inzest konfrontierte, wurde sie ausgeschlossen.
Die Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist nicht leicht, leben in der Wirklichkeit hat auch seinen Preis, sowohl für Patienten als auch für Therapeuten, im Grunde für jeden.
Wenn man, zum Beispiel bei Wikipedia, nachschaut, wie sich die Psychiatrie definiert, findet man Folgendes: «Wilhelm Giesinger hatte Mitte des 19. Jahrhunderts mit der These, seelische Erkrankungen seien Erkrankungen des Gehirns, die wichtigste Grundlage der modernen Psychiatrie formuliert.» Die wichtigste Unterscheidung zwischen gewöhnlicher und Alternativer Psychiatrie liegt in dem unterschiedlichen Menschen- bzw. Krankheitsverständnis. Wir sehen physiologische Veränderungen im Gehirn als Symptom der Krankheit, nicht als Ursache. Psychische Veränderungen wirken sich immer auch auf den Hormonhaushalt und die Physiologie des Organismus auf. Wir betrachten psychisch eingeschränkte Menschen nicht wie eine Sache, in der auf der materiellen Ebene etwas «kaputt» ist, sondern als in ihrer Entwicklung gestörte Wesen mit ihrer ganz eigenen Geschichte und ihrem Potential. Für uns ist die Unterscheidung zwischen psychologischen und sogenannten endogenen Störungen lediglich ein Unterschied in der Schwere und Intensität der Störung. Wir sind überzeugt, dass auch die psychiatrischen Störungen zwar komplexe und schwere, jedoch gleichwohl biografische, persönliche und gesellschaftliche Ursachen haben und somit auch einer Heilung mit Psychotherapie zugänglich sind.
Aus dem unterschiedlichen Verständnis ergeben sich natürlich unterschiedliche Therapieansätze. Während die moderne Psychiatrie, die heute weitgehend eine «biologische Psychiatrie» ist, sich also immer mehr von humanistischen Ansätzen entfernt in Richtung einer rein medizinischen, mechanistischen Behandlung, mit Hilfe von verschiedenen Methoden wie starken, ruhigstellenden Medikamenten, Einsperren und Ähnlichem in Richtung von Kontrolle und Anpassung zu wirken versucht, arbeitet die Alternative Psychiatrie in eine völlig andere Richtung. Sie möchte wecken und unterstützt solche Bestrebungen in den Patienten, auch wenn diese für die Gesellschaft unbequem sein mögen.
Ein Zitat aus dem neuen Buch «Echte Psychotherapie»2, denn Alternative Psychiatrie ist eigentlich ein Teil von Echter Psychotherapie: «Der Echte Therapeut stellt sich auf die Seite seines Klienten. Die Folgen nimmt er als natürliche Konsequenz in Kauf. (…) Genauso ist Echte Psychotherapie entstanden, durch diese Auseinandersetzung. Bereits bei der Tätigkeit in der Psychiatrischen Klinik verursachte dies für den Therapeuten erste Schwierigkeiten. Dass er sich vom Bedürfnis des Patienten führen liess, die Frage stellte, was dieser wirklich brauche, machte ihn zum Anti-Psychiater und liess ihn, als er später ambulant auch in der eigenen Praxis tätig war, Psycholyse und Tantra als Hilfsmittel zu dessen Unterstützung entdecken. Dass er damit immer mehr in die Rolle des selbst Gemobbten gedrängt wurde, liess ihn schliesslich Echte Psychotherapie von normaler Psychotherapie abgrenzen. Obwohl es ursprünglich nicht seine Absicht war, eine neue Schule den vielen bereits bestehenden hinzuzufügen, wurde er durch diese äussere Situation dazu gezwungen. Der Echte Psychotherapeut tritt an, nicht nur den Patienten, sondern alles, was krank ist, zu diagnostizieren, und sofern es dazu bereit ist, auch zu heilen, auch die Gesellschaft insgesamt, die an der emotionalen Pest erkrankt ist.»
Die Bewegung der Antipsychiatrie der 60er und 70er Jahre war in vielen Fällen eine Alternative Psychiatrie, wie wir sie uns heute wünschen würden. Damals sind viele Projekte entstanden, zum Beispiel alternative Kliniken. Manche existieren heute noch, doch ist die Frage, ob derselbe Geist auch heute noch dort anwesend ist.
Als wir Referenten für diesen Vortrag suchten, haben wir viele angeschrieben. Die meisten, die jüngeren unter ihnen, die heute solche Institutionen oder Projekte leiten, haben uns noch nicht einmal geantwortet. Wir sind ihnen offenbar zu alternativ, zu sehr Aussenseiter. Ein paar sehr freundliche Antworten haben wir bekommen, von echten Antipsychiatern, die jedoch alle schon über neunzig Jahre alt sind und altersbedingt nicht mehr kommen konnten. So liegt der Schluss nahe, dass die Alternative Psychiatrie heute ausgestorben ist beziehungsweise sich so weit an die etablierten Strukturen angepasst hat, dass sie ihren ursprünglichen, radikalen und freiheitlichen Geist verloren hat.
Die Alternative Psychiatrie oder Echte Psychotherapie ist nicht gegen Medikamente, Diagnosen oder Kliniken. Sie ist offen für alles, was hilfreich erscheint, und schaut alle Möglichkeiten sehr differenziert an. Ein Mensch, der weit gegangen ist in der eigenen Selbsterkenntnis, tief in sich gründet, sieht, wenn er einem anderen zuschaut, dass auch dieser die Möglichkeit hätte, wieder zurückzugehen an den Punkt, an dem er sich verloren hat, sich den Gefühlen, die dort warten, zu stellen und heil zu werden. Gleichzeitig sieht man auch die Beschränkung in vielen, die mangelnde Intelligenz oder die so massive Abwehr, so dass die Wahrnehmung blockiert ist. Dann akzeptiert man es, wie es ist, und geht damit um, tut, was hilfreich erscheint, um denjenigen zu unterstützen, mit dem, was ist, zu leben.
Der Unterschied zur gewöhnlichen Psychiatrie liegt vor allem in der Haltung, die niemals gegen etwas ist, sondern offen für alles, sich jedoch von Intelligenz, Liebe und gesundem Menschenverstand leiten lässt anstatt von Richtlinien, welche aus Angst und Kontrollbedürfnis entsprungen sind. Dies ist meine persönliche Erfahrung mit der modernen Psychiatrie, dass nicht miteinander gesprochen wird, nicht intelligent nachgedacht wird, sondern nur auf Einheitlichkeit des Denkens und Handelns gepocht wird in einem Ausmass, dass sich Parallelen zu totalitären Systemen aufdrängen.
Und es entwickelt sich immer mehr in diese Richtung. In diesem Jahr sind in Deutschland und in der Schweiz Gesetze in Kraft getreten, welche die Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen auf ärztliche Anordnung wieder möglich machen.
Dazu nochmal ein Zitat aus dem Buch «Echte Psychotherapie»: «Charles Eisenstein spricht von der Medikalisierung des Lebens, von der Umwandlung aller Menschen in ausbeutbare Patienten und vergleicht die Situation mit der sowjetischen Praxis des letzten Jahrhunderts, Dissidenten in Nervenkliniken zu sperren, da jemand, der die sozialistische Utopie ablehnte, schliesslich verrückt sein musste. Er schreibt: Heute werden wir Zeugen eines ähnlichen Phänomens von wesentlich grösserem Ausmass. Den Abermillionen Menschen, die mit unserem modernen technologischen Paradies, dieser Welt unter Kontrolle, unglücklich sind, werden irgendwelche psychiatrischen Störungen angedichtet und bewusstseinsverändernde Medikamente verabreicht. Dasselbe widerfährt Kindern, die der Brechung ihres Geistes widerstehen: Bei ihnen wird ‹oppositionelles Trotzverhalten› oder ‹Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom› diagnostiziert. Ich sehe diese ‹Störungen› als Zeichen von Gesundheit, nicht von Krankheit. Ein gesundes Kind mit starkem Willen wird sich der geistlosen Routine, der sinnlosen Arbeit und dem stundenlangen Eingesperrtsein im Klassenzimmer widersetzen; es wird sich bei jeder Gelegenheit Augenblicke des Spiels stehlen. Ich glaube, dass Depression auch bei Erwachsenen ein Zeichen von Gesundheit sein kann. Wenn wir von unseren kreativen Zielen in ein nicht sonderlich lebenswertes Leben abgedrängt werden, rebelliert die Seele, indem sie sich von jenem Leben zurückzieht. Dies ist lähmende Depression. (…) Der Grund, warum konventionelle Psychiatrie – ob pharmazeutische oder psychoanalytische – der überwiegenden Mehrheit ihrer Patienten nicht helfen kann, ist der, dass sie die Falschheit der Welt, in der wir leben, nicht anerkennen will und kann. Die Psychiater haben sich dieser Welt zusammen mit uns allen verschrieben. Die Psychiatrie handelt aufgrund der Annahme, dass wir zufrieden sein sollten. Dieselbe Annahme der Richtigkeit – oder wenigstens Unveränderlichkeit – der uns gegebenen Welt liegt dem Bestreben zugrunde, ‹den Stress zu bewältigen›. Dass das Leben aus seiner Natur heraus voller Stress ist, wird nicht infrage gestellt. Die psychiatrische Behandlung ist bekannt für die Unfähigkeit, schweren mentalen Störungen zu begegnen, wie auch die Psychiater und andere voll in die Kultur eingebundene Elitemitglieder der Gesellschaft naturgemäss unfähig sind, deren kulturelle Annahmen infrage zu stellen, in die sie so tief verstrickt sind. Ihre Verstrickung macht sie deshalb blind dafür, dass die Reaktion eines Patienten auf eine Welt, in der einiges schiefläuft, grundsätzlich richtig und elementar gesund sein könnte. In Wirklichkeit verschlimmert die konventionelle Behandlung (besonders die pharmazeutische Behandlung) die Krankheit, indem sie diese bestärkt: ‹Ja, das von der Gesellschaft gebotene Leben ist schön; du bist der, der ein Problem hat.› Ich bin Zeuge dramatischer Heilerfolge gewesen, lediglich indem ich jemandem bestätigte: ‹Du hast Recht, so sollte das Leben nicht sein› – eine Erkenntnis, die Wandel ermöglicht. Es ist nicht so, dass Psychiatrie Wandlungsbedarf insgesamt ignoriert; sie ist normalerweise nur unfähig, den Wandel weit genug zu treiben. Im Grunde sagt sie uns, dass wir uns an die Welt anpassen sollen. Sie versucht, uns wieder zu normalen, funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. (…) Teenager in ihrem Idealismus und ihrem Trotz, Depressive in ihrer Zurückweisung des ihnen gebotenen Lebens, Ängstliche mit ihrem Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist (…), alle sind sie bei gesundem Verstand. Jede Psychiatrie, die das nicht anerkennt, ist von Anfang an verloren. Sie sagt uns, das Problem ist nicht die Welt, sondern wir sind es. Sie stimmt lediglich in den Refrain ein, der uns erzählt: ‹Alles ist gut, alles ist normal – wer bist du, dass du anders darüber denkst?› (…) Wir leben heute nicht nur in einer betrügerischen, lebensfeindlichen Gesellschaft, in die niemand hineinpasst; die Inkompatibilität dieser Gesellschaft mit menschlicher Erfüllung steigert sich auch noch mit jedem weiteren Jahr. Gleichzeitig müssen wachsende Bevölkerungsgruppen medikamentös behandelt werden. Wir haben dies im Zusammenhang mit der vermehrten Allgegenwart der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und ähnlicher Drogen quer über alle Altersgruppen festgestellt.»