Liebe kann nicht scheitern - Daniel Bogner - E-Book

Liebe kann nicht scheitern E-Book

Daniel Bogner

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Beschreibung

Kaum jemand sucht Beziehungstipps für Liebe, Sexualität und Trennungssituationen mehr bei der Kirche. Und das aus gutem Grund, so der Moraltheologe Daniel Bogner. Dennoch sollten die Ressourcen des christlichen Glaubens für das Liebesleben nicht in Vergessenheit geraten. Bogner hilft sie zu bergen und in ein neues Beziehungsethos zu überführen, das an den Gabelungen des (Beziehungs-)Lebens Kraft gibt. Ein Buch, das mit dem Scherbenhaufen christlicher Sexualmoral aufräumt und die Vielfalt menschlicher Lebens- und Liebessituationen würdigt, damit aus Sprachlosigkeit neue Begegnungsfähigkeit wird.

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Daniel Bogner

Liebe kann nicht scheitern

Welche Sexualmoral braucht das 21. Jahrhundert?

für

Felizitas

Constanze

Nikolaus

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen der

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Ale-ks / GettyImages

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-451-39850-6

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83985-6

Inhalt

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen …

1. All in. Warum wir lieben wollen

Lieben heißt: aufs Ganze gehen …

... aber wir haben es nicht ganz in der Hand

Dem Unfassbaren eine Form geben

»Liebe« – ein anderes Wort für …

Spielarten der Liebe

Die dunkle Seite des Christentums

Auch Gott geht aufs Ganze

2. Scherbenhaufen. Warum Liebe nicht scheitern kann

Der fremde Blick der anderen

Sturm im sicheren Hafen

Ich muss mich entscheiden! Aber wer ist »ich«?

Qualität statt Dauer – ein Leben jenseits der 0-oder-1-Logik

Schmerzen als Quelle

3. Feldlazarett. Himmlischer Beistand da, wo er gebraucht wird

Eine Kirche mit verbundenen Augen

Die Liebe, groß gedacht: ein Bund!

Gottesrepräsentation per Lebensform

Die Lebendigkeit des Lebens – im Recht gefangen?

Ein befremdlicher Streit: Segen oder Sakrament

Ein Ehe-Sakrament für das Feldlazarett!

4. Ja-Wort. Wem wir treu bleiben sollten

Komparativ, nicht Indikativ – immer treuer leben

Diktatur des Relativismus?

Auf immer und ewig – mir kann ich nicht entkommen

Mit mir selbst befreundet sein

Beziehungen leben lernen – das muss der erste Fokus sein!

Treu werden und mir trauen: als Mensch mit geschlechtlicher Identität

Unkündbar verbunden. Familie

5. Liebe machen. Im warmen Regen gemeinsam wachsen

Allgemeinfall ›Mann‹. Die Entsexualisierungsfalle

Wir sind immer Körper. In jedem Raum ist Sexualität.

Komm zu mir! Sex als Sprache meines Lebensrisikos

Loslassen verboten. Konsens, Einwilligung und ein blinder Fleck

Wohin die Liebe fällt – die nicht-sexuellen Gründe unseres Begehrens sehen wollen

Luft nach oben: das Christentum als »Zivilisation der Liebe«

Kraftort, nicht Herrschaftsmittel: Sexualität und die prophetische Stimme des Glaubens

6. Glanz der Ewigkeit. Ein neues Ethos für Liebe und Beziehung

Grundhaltung 1: Die Grenzen des Lebendigen ernst nehmen!

Grundhaltung 2: Dauer und Verbindlichkeit – ja, aber bitte größer denken!

Grundhaltung 3: In vielen Sprachen sprechen! Sexualität

Grundhaltung 4: Verpflichtet bleiben! Ernstfall Trennung

Grundhaltung 5: Sexualmoral – what? Worüber man nicht reden muss

Schluss: Gott ist die Liebe

Anmerkungen

Literatur

Dank

Über den Autor

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen …

Diese Zeilen schreibe ich, während um mich herum die Welt auseinanderfällt. Gerade ist die Corona-Pandemie überwunden, da macht sich mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mitten in Europa ein gewissenloser Imperialismus breit. Der Terrorismus der Hamas und ihr Vernichtungswille über Israel lösen Wellen eines nicht mehr vermuteten Antisemitismus aus. In der Gesellschaft findet immer weniger wirklicher Dialog statt und die Politik verschanzt sich in unversöhnlichen Lagern. Und über allem: die Klimakrise, die wir doch eigentlich mit vereinten Kräften angehen müssten, dieses allein ist Herausforderung genug …

Mein Eindruck ist: Viele Menschen empfinden die Gegenwart als eine Situation äußerster Zerrissenheit, die ihnen alles abverlangt. Zunächst einmal nach außen – man ist besorgt um die Stabilität der eigenen Existenz oder die der eigenen Kinder. Deren Zukunftsaussichten sind durchwachsen, wenn man auf Jobsicherheit und wirtschaftliche Aussichten blickt, aber auch weil die natürlichen Lebensgrundlagen derart kaputtgewirtschaftet worden sind, wie langsam den meisten deutlich wird. Und auch nach innen. Viele Menschen sind existenziell verunsichert: Wie lässt es sich eigentlich leben mit dem Gefühl, dass um uns herum so viel auseinandertreibt und das verloren zu gehen droht, was blumig als »gesellschaftlicher Zusammenhalt« bezeichnet und beschworen wird? In einer solchen Situation macht sich eine Sehnsucht des Menschen bemerkbar, die es immer schon gibt.

Es ist die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Nähe, Getragen-Sein und Solidarität. Eine Sehnsucht, die auch ein Bedürfnis ausdrückt, das den Menschen ausmacht: Wir sind Beziehungswesen und könnten auf uns alleine gestellt nicht überleben. Unsere gegenwärtige Welt, die momentan derart in Umbrüchen zu stehen scheint, lässt diese Sehnsucht besonders stark werden. »Liebe« ist ein Wort für diese Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Nähe und Getragen-Sein. Es ist aber mehr als das. Liebe ist auch eine Vision dafür, wie die Antwort auf diese Sehnsucht aussehen könnte: dass wir in der Lage wären, Verbindungen zu knüpfen, die tragen und die bleiben. Und darüber hinaus: dass das Verbindungen sind, die uns im Innersten unserer selbst berühren und abholen. Verbindungen, die uns spüren lassen: Ich bin gemeint, nicht nur eine Seite von mir oder etwas, das ich kann oder leiste. »Liebe«, so die Hoffnung, schafft dann ein Verbunden-Sein, das stärker ist als die Kräfte, welche unseren Wunsch eines gelingenden Lebens bedrohen. Liebe ist die einzige Kraft, die dem Tod entgegentreten kann, so beschwören es Literaturgeschichte und Weltreligionen – und genau das ist die Erfahrung vieler Menschen. Liebe hält im Sein. Wo und wann könnte man dies dringender gebrauchen als in unserer auseinanderberstenden Gegenwart?

Ich bin Theologe. Oh je, werden manche vielleicht sagen. Gibt’s nicht bessere Perspektiven und Hintergründe, um über die Liebe zu schreiben? Hat nicht das Christentum ein ziemlich belastetes Verhältnis zu allem, was Liebe, Sex und Beziehung anbelangt? Es gut zu meinen, das wird man der Religion eventuell zugestehen, aber dann kam ja oftmals doch nichts Gutes dabei heraus – so denken viele, wenn es um das Verhältnis von Religion und Liebesleben geht. Und es ist ja richtig: Der Katholizismus hat nur zu oft ein obsessives Verhältnis zum Sex an den Tag gelegt, er wollte ihn mit allerlei Instrumenten regulieren, reglementieren, in Schach halten. Dass sich Menschen entweder abwenden oder jedenfalls nicht viel vom Christentum erwarten, wenn es um ein für sie sehr bedeutsames Lebensthema geht, liegt auf der Hand.

Dass in den vergangenen Jahren bekannt wurde, in welch unermesslichem Ausmaß Menschen ausgerechnet im Raum der Kirche zu Opfern sexueller Gewalt wurden, ist bodenlos. Es entzieht einer Religionsgemeinschaft, der es um die Würde des Menschen und seine je individuelle Wertschätzung geht, ihre Glaubwürdigkeit. An der theologischen Fakultät im schweizerischen Fribourg, wo ich seit vielen Jahren mit Freude tätig bin, stößt man auf ein ganz besonders perfides Beispiel solchen Missbrauchs. Über lange Zeit war dort ein Ordenspater als Professor tätig, der später eine der sogenannten »Neuen Geistlichen Gemeinschaften« gründete und in dieser Rolle systematisch Frauen sexuell missbrauchte. Er konstruierte eine »Theologie der körperlichen Liebe« und schrieb sich als Priester damit den Auftrag zu, die Liebe Jesu Christi zu vermitteln, indem er Frauen, die er angeblich geistlich begleitete, sexuell ausnutzte. Es ist die Kernschmelze des Christentums. Die Botschaft von der Liebe wird instrumentalisiert, um die Menschenwürde anderer mit den Füßen zu treten.

Solche Verbrechen sind der paradoxe Reflex einer langen Tradition der Verdrängung und einer verengten Sichtweise des Christentums auf Liebe und Sexualität. Nicht von den Möglichkeiten und Ressourcen her dachte man, sondern von den Gefahren und Risiken, der Sorge, die an sich wertzuschätzenden »Güter der Schöpfung« könnten missbraucht werden. Es fand eine Fixierung auf sogenannte »irreguläre Situationen« statt, in die Menschen geraten, wenn sie die Liebe nicht nach den engen Kirchenregeln leben. Natürlich kann man die Lebenskraft der Sexualität und die Verantwortung einer liebenden Beziehung missbrauchen, und dafür sollte jede und jeder sensibel sein. Aber bei so einer einseitigen Betrachtung gerät aus dem Blick, was eigentlich viel wichtiger ist – dass Liebe, Begehren und Sexualität eine Quelle sein können, aus der Menschen schöpfen, um ein erfülltes Leben zu führen.

Mein eigener Ansatzpunkt für dieses Buch ist deswegen nicht der Blick auf mögliche Defizite und vermeintliche Irrwege. Für mich ist eine Neugier leitend – danach, wie sich in Liebe und liebendem Begehren Spuren eines geglückten Menschseins finden lassen; eine Neugier danach, wie wir besser damit umgehen können, dass das Lieben oft so schwierig ist und wir den Eindruck haben, damit zu scheitern. Mein Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass wir nicht zu schnell vom »Scheitern« des Liebens sprechen sollten. Besser wäre es zu sehen, dass Menschen immer an Grenzen stoßen, weil das eben zum Menschsein gehört. Und dass es ehrlich ist zu sagen: Liebe ist ein kühnes Projekt, der Versuch, den Himmel zu greifen, der Wunsch, das Unmögliche möglich zu machen. Aber ehrlich ist es auch zu akzeptieren: Liebe kann nicht alles.

Wenn man das sieht, erkennt man auch den Zusammenhang von Glauben und Lieben. Mit beidem geht man aufs Ganze und damit ins Risiko. Wenn ich zuvor davon gesprochen habe, wie vergiftet und verkrampft die Religion auf Liebe und Sexualität reagiert, so ist das nur die halbe Wahrheit. Denn viele Menschen, die Schmerz, Leid und Verlust erfahren, finden ausgerechnet in ihrem persönlichen Glauben die stärkste Quelle, um für diese Lebensherausforderung Kraft zu schöpfen. Es gibt offenbar einen Zusammenhang, der viel tiefer und bedeutsamer ist, als man auf den ersten Blick vermutet, und der auch von den Irrwegen der religiösen Institutionen nicht gänzlich verschüttet werden konnte. Beides, der religiöse Glaube und das zwischenmenschliche Lieben rühren an etwas Existenzielles, sie aktivieren etwas, worin Menschen sich elementar ausdrücken, mit ihrem Geist, ihrer Seele und ihrem Körper. In Glaube und Liebe begegnen sie anderen – einem Gott, einer geliebten Person – und sie spüren und erfahren dabei auf kaum überbietbare Weise sich selbst. Grund genug, sich nicht so sehr an den Fehlern, Sackgassen und Sklerosen einer verknöcherten Tradition abzuarbeiten, sondern nach vorne zu schauen.

Ich schreibe dieses Buch nicht nur als Theologe und »Wissender«, sondern – viel wichtiger – als Mensch, der auf seinem bisherigen Weg selbst Erfahrungen gemacht hat. Es sind Erfahrungen großen Glücks: erfüllende Liebe, Wege in Vaterschaft und Familienleben, liebendes Beieinandersein in den Herausforderungen des Lebensweges. Es sind auch Erfahrungen des Stolperns, des verzweifelten Suchens nach möglicher Gemeinsamkeit und der Entscheidung zu getrennten Lebenswegen. Erfahrungen des Schmerzes und der Verwundung. Und dann sind es Erfahrungen der Suche danach, wie Neues möglich sein kann und wie sich Verantwortung inmitten sich ändernder Lebenssituationen ausbuchstabiert. Schon länger steht mir immer wieder die Herausforderung vor Augen, als Vater auch meinen Kindern vermitteln zu wollen, dass man liebender, sehnender und ein sich darin entwickelnder Mensch ist und dass diese Dimension unseres Menschseins aktiv gestaltet werden will. Das kann einen ziemlich fordern, wenn das Leben keine geraden Wege nimmt. Aber ich begreife es auch als ganz große Chance, als genau die Aufgabe, vor der Eltern immer schon stehen.

Wenn ich daran zurückdenke, wie ich selbst im Raum von Glaube und Religion mit den Themen Sexualität und Liebe konfrontiert wurde, ist meine Antwort: Ich habe zwar selbst nicht ausdrücklich »toxische« Botschaften über diese Themen mitbekommen. Es war aber etwas anderes, das vielleicht ebenso vergiftet ist, nämlich ein »klingendes Schweigen«, mit dem diese Themen belegt wurden. Dieses Schweigen kann »sprechend« sein und macht sich bemerkbar, etwa wenn es im religiösen Raum überhaupt keine Adresse gibt, die sich irgendwie angesprochen fühlt, in einen kompetenten Dialog treten kann oder auch nur das Signal senden würde: Ja, Liebe, Leib und Begehren, das alles gehört dazu! Oder wenn man durch tausenderlei indirekte Signale beständig mitgeteilt bekommt, wofür Platz auf dem Feld von Religion und Glaube ist und wofür nicht. Fast schon körperlich konnte ich solche Ausblendungen spüren, und sei es an der künstlichen Art und Weise, wenn dann doch hier und da in Religionsunterricht oder pastoralem Angebot über die Frage gesprochen wurde, »wie Partnerschaft gelingt« … Die Unvertrautheit, dieses Künstlich-Gestellte, dass man, wenn schon, eher abstrakt-befangen von »der Sexualität« als einfach vom Sex redete, zählte hierzu. Zu spüren war generell der Abstand meiner religiösen Herkunft zu einer der wichtigsten Lebensquellen, die es gibt – es hat mich eine Zeit gekostet, um mir darüber erst einmal klar zu werden und um die anerzogene Scham und Fremdheit dann zur Seite zu legen.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich davon überzeugt bin, dass es zum Thema Religion und Liebe noch anderes gibt als nur Sprachlosigkeit, Scham und Schweigen. Vielleicht denkt der eine oder die andere: Da wird aber schnell hin- und hergewechselt zwischen »Liebe«, »Beziehung« und »Sex«. Ja, das ist so – weil es in der Sache liegt. Ich möchte keine neue »Lehre« vorlegen und ich argumentiere auch nicht in erster Linie dafür, eine überlieferte religiöse Tradition zu retten. Mein Ausgangspunkt ist das, was so viele Menschen erleben: Wir sehnen uns danach zu lieben, wir wollen unsere Liebe oftmals in einer dauerhaften Beziehung leben und wir empfinden Sexualität als eine, vielleicht als die wichtigste Sprache solcher Liebe. Das ist die große Herausforderung für so viele. Darum geht es mir. Ich will damit nicht sagen, dass nicht auch anderes vorkommt, Sexualität ohne die direkte Entscheidung zu dauerhafter Beziehung etwa. Und ich will das schon gar nicht abwerten oder für illegitim erklären.

Die religiöse Tradition hat oft zweigeteilt: Hier die »gute« Liebe, dort der, na ja, eben irgendwie auch existente Sex. Ich lehne diese problematische, oft nicht offen ausgesprochene, aber im Stillen wirksame Unterscheidung ab. Denn es lässt sich nicht leugnen: Wo wir als Menschen sind, ist Körper. Und wo Körper ist, ist Sexualität. Es gibt keinen Raum menschlichen Miteinanders, in dem nicht auch Sexualität wäre. Wir Menschen »passieren« als Körper – sei es in Abstoßung, Anziehung oder Gleichgültigkeit. Mit diesem Körper haben wir ein wundervolles »Instrument«, um uns auszudrücken, in tausend Sprachen und vielen Registern … Wir müssen es aber zu spielen wissen, und oft überraschen uns seine Melodien und Einsätze. Dafür braucht es einen verantwortungsvollen Umgang – mit meinem Gegenüber und auch mit mir selbst. Vor dem Nachdenken über Verantwortung aber stehen Anerkennung und Wertschätzung. Ich glaube, dass das letzte Wort zum Thema Liebe, Sex und Religion noch nicht gesprochen ist …

1. All in. Warum wir lieben wollen

»Ich liebe dich.«

»Lieber Gott, ich bitte dich ...«

»Hast du mich eigentlich noch lieb?«

»Gott ist die Liebe.«

»Die Liebe ist uns zerbrochen, einfach abhandengekommen ...«

Wer wollte das nicht: lieben? Und wer braucht das nicht: geliebt zu werden? Keine stärkere Kraft scheint es zu geben, die uns mehr in Beschlag nimmt, die uns mehr fordert und mehr fasziniert als die scheinbare Superpower der Liebe. Eine Grundschwingung des Daseins, eine Kernkraft, ohne deren Kettenreaktionen wir nicht leben könnten. Unser Alltag ist gepflastert mit Bildern, Visionen und Versprechungen der Liebe. Wir lieben es, uns ineinander zu verlieben, und wir kämpfen darum, aus Verliebtheit Liebe werden zu lassen. Scheitern wir daran, stehen wir in der Regel wieder auf. Wir lieben trotz so vieler Enttäuschungen und wollen gelingen lassen, was so oft misslingt. Liebe ist uns nah und fern zugleich. Sie geschieht und fällt über uns, und auch wenn wir sie festmachen, in eine Lebensform gießen, entgleitet sie uns. Dann wieder schaffen wir es, das Gleichgewicht zu halten, ein Stück weit über die Zeit zu kommen mit dem, wofür wir uns entschieden haben. Und selbst dann gibt es die Momente, in denen jede:r sich fragt: Was lebe ich denn da eigentlich? Ist es wirklich das, was ich so sehr brauche und suche – eine Kraft, ein Sehnen, ein Wollen, ein Ziel: die Liebe?

Lieben heißt: aufs Ganze gehen …

Mir scheint manchmal, wir sprechen über etwas, das niemand so richtig beschreiben kann und das schon gar niemand beherrscht. Über das aber umso mehr geredet wird, vielleicht sogar gerade deshalb. Wer wüsste nicht, wie gut es tun kann, mal eine Romanze zu schauen und nicht den Krimi oder Thriller? Sich Geschichten erzählen zu lassen darüber, wie es funktionieren könnte mit dem, was wir Liebe nennen? Ein wahrer Sehnsuchtsbegriff scheint das zu sein – von allen bemüht, aber kaum auf den Punkt zu bringen. Niemand hat das Copyright auf die Liebe und dennoch spüren wir, in welchen Kontexten der Begriff für uns passt und nicht durch einen anderen ersetzt werden kann. Zwei Kontexte möchte ich nennen: »Kinder brauchen Liebe« und »Gott liebt dich, so wie du bist«. In diesen beiden Sätzen passt nichts besser als die »Liebe«, und mit ihr schwingt ganz viel von dem mit, was unser Leben ausmacht: Entschiedenheit und Annahme, Füreinanderdasein, dauerhaft und stabil … Es ließe sich noch vieles hineinlesen in diese uns so geläufigen Aussagen. Sie beschreiben, besser: umschreiben, was die Wirkungen von Liebe sind, wie sie sich ausdrückt und wie wir sie spüren können. Und ich meine: Beide Aussagen vermitteln etwas davon, was ich den utopischen Charakter der Liebe nenne.

Wer liebt, rechnet nicht. Lieben heißt zu geben, ohne zu kalkulieren, was dafür zurückkommt. Wer liebt, verschenkt sich und kann spüren, wie diese gebende, sich verschenkende Beziehung zur geliebten Person etwas in einem selbst auslöst, das man weder fassen noch wirklich angemessen beschreiben kann. Etwas, das einen sogar näher zu sich selbst führen kann. Der jüdische Philosoph Martin Buber hat das einmalig beschrieben: Der Mensch wird am Du zum Ich. Sich zu verlieren und zugleich zu gewinnen, sich zu verschenken und genau darin nicht zu verarmen, sondern die Chance zu sehen, reich beschenkt zu werden, das sind die scheinbar widersprüchlichen Erfahrungen der Liebe. Und wie viele Menschen lassen sich darauf ganz und gar ein, trauen diesem Boden, obwohl er doch so ungesichert ist?! Risiko ohne Garantie, Wagnis ohne überschaubares Kalkül …

Wenn Menschen sich dieser Kraft, die wir Liebe nennen, hingeben, dann tun sie etwas, was ich hier umgangssprachlich ausdrücken möchte: Sie gehen aufs Ganze. Tun und Streben zielen auf mehr, als man wirklich erwarten darf. Aber das stört nicht. Offenbar ist irgendwo im Menschen eine Idee vom Ganzen, von einem Ganzsein und vom Ganzwerden. Und das Lieben scheint ein Weg zu sein, der dorthin führt. Mit Utopie meine ich genau das. Wer liebt, glaubt, dass es noch nicht alles gewesen sein kann mit dem, womit wir uns täglich herumschlagen. Wer liebt, ahnt, es könnte noch mehr geben, und vor allem spürt er oder sie: Ich kann selbst etwas dafür tun, um dem näher zu kommen. Ich liebe und fühle mich irgendwie beteiligt an der Umwandlung dieser Welt in eine bessere. Ich liebe und kann damit etwas dafür tun, das Zerrissene zumindest ein Stück zusammenzuhalten, Heilung beginnen zu lassen. Eine Perspektive zu schaffen und Hoffnung zu spüren!

... aber wir haben es nicht ganz in der Hand

An den Beginn dieses Buches möchte ich also eine These stellen. Eine These, der ich zutraue, mir ein gutes Stück weiter voranzuhelfen. Ich versuche, auf den Punkt zu bringen, was die Liebe im Kern ausmacht: Lieben heißt, aufs Ganze gehen. Etwas angehen, was eigentlich gar nicht aufgehen kann. Ins Endlose und Unendliche ausgreifen. Das Ganze suchen und sich nicht damit abfinden, dass man nie alles haben kann. Genau darin liegt die »schattige Rückseite« der Liebe und des Liebens. Menschen machen die Erfahrung, dass ihr Tun und Wirken unvollkommen bleibt, auch in der Liebe. Und hier tut es eben besonders weh, weil es ums Ganze geht. Weil wir als ganze Personen, eben existenziell involviert sind. Wir lieben und werfen alles hinein, was uns zur Verfügung steht. Alles zu geben, und es reicht doch nicht, diese Erfahrung schmerzt. Und doch ist sie so prägend für unser Menschsein.

Philosophie und Sozialtheorie sprechen in diesem Zusammenhang von der »Kontingenz« des Daseins. Der Begriff wird häufig in Verbindung mit dem Konzept der Notwendigkeit verwendet. Er bezieht sich auf Ereignisse, Zustände oder Tatsachen, die weder notwendig noch unmöglich sind, sondern aufgrund bestimmter Bedingungen oder Umstände eintreten können. In der philosophischen Perspektive geht es darum, zwischen kontingenten und notwendigen Aussagen oder Ereignissen zu unterscheiden. Eine kontingente Aussage ist wahr, aber sie könnte auch falsch sein, abhängig von den gegebenen Umständen. Ein Beispiel dafür ist die Aussage »Es regnet heute«. Diese Aussage kann wahr sein, wenn es tatsächlich regnet, aber sie kann falsch sein, wenn die Sonne scheint.

In der soziologischen Perspektive bezieht sich der Begriff »Kontingenz« auf soziale Phänomene, die nicht vorherbestimmt oder unvermeidlich sind, sondern von verschiedenen Faktoren und Handlungen abhängen. Soziale Strukturen, Institutionen oder Regeln können als kontingent betrachtet werden, da sie durch menschliches Handeln und Entscheidungen geformt werden und sich im Laufe der Zeit verändern können. Kontingente soziale Ereignisse oder Entwicklungen geschehen nicht zwangsläufig, sondern können ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen, je nach den gegebenen Umständen und den Handlungen der Akteure, nach deren Absichten und Launen. Der Begriff »Kontingenz« dient also dazu, die dramatische Komplexität und Verschiedenheit der Welt und der sozialen Wirklichkeit anzuerkennen. Er betont, dass nicht alles einfach vorherbestimmt ist, sondern dass es Raum gibt für verschiedene Möglichkeiten und eben auch für Zufälliges. Diese Überlegungen haben für mich eine wichtige Funktion. Sie helfen dabei zu sehen, dass nicht alles in unserer Macht steht. Dass wir, bei aller Verantwortung und allem Einsatz, nicht vollständig in der Hand haben, was daraus wird.

Das kann man auf unterschiedlichen Ebenen sehen. Ein Beispiel ist die Berufswahl. Die Entscheidung, welchen Beruf man ausüben möchte, ist ein Beispiel für die Kontingenz menschlichen Handelns. Es gibt keine vorherbestimmte oder unausweichliche Antwort auf diese Frage. Die Antwort darauf hängt von individuellen Interessen, Fähigkeiten, Werten, äußeren Umständen und ganz persönlichen Entscheidungen ab. Und sie unterliegt immer wieder Korrekturen, die ebenfalls »umständehalber« bedingt sind. Meine Mutter hat einen Cousin, dessen Nachbar hat ein Geschäft, und da gibt es gerade eine offene Ausbildungsstelle. Wäre das nicht auch was für dich?

Mit der Partner:innenwahl ist es ähnlich. Sie ist ebenfalls ein Beispiel für die Kontingenz menschlichen Handelns. Es gibt einfach keine Person, mit der man zwangsläufig zusammen sein muss! Die Entscheidung hängt von individuellen Vorlieben, emotionalen Bindungen, gemeinsamen Werten und Zielen, vom eigenen Erfahrungshintergrund und nicht zuletzt vom Zufall des Kennenlernens ab. Menschen haben die Freiheit, aus einer Vielzahl von potenziellen Partner:innen zu wählen, und treffen unterschiedliche Entscheidungen, selbst unter ähnlichen Umständen. Auch die Entscheidung, sich politisch zu engagieren und für eine bestimmte politische Partei oder eine bestimmte politische Überzeugung einzustehen, ist ein Beispiel für die Kontingenz menschlichen Handelns. Die politische Orientierung eines Menschen wird von verschiedenen Faktoren wie persönlichen Überzeugungen, Erfahrungen, sozialem Umfeld und aktuellen politischen Ereignissen beeinflusst. Menschen können unterschiedliche politische Ansichten haben, auch wenn sie über ähnliche Hintergründe verfügen. Menschliches Handeln ist also in ganz verschiedenen Situationen von individuellen Entscheidungen, Präferenzen und äußeren Faktoren abhängig. Es gibt Raum für eine Vielzahl von Möglichkeiten und Ergebnissen. Ich habe die Freiheit, mein Handeln zu gestalten, zugleich aber ist mein Handeln der Freiheit der anderen und dem Verlauf von Zeit und Geschichte – manche nennen das »Schicksal« – unterworfen.

Was heißt es nun für die Liebe, wenn wir sagen müssen, dass unser Handeln nicht notwendig, sondern von anderem abhängig ist? Es heißt, mit anderen Worten: Unser Lieben unterliegt inneren Begrenzungen. Auch bei besten Absichten und mit allem Einsatz können wir gewisse Grenzen nicht einfach sprengen oder für nicht-existent erklären. Sie sind uns vorgegeben und manchmal unüberschaubar. Wir können sie nur in Maßen beeinflussen. Unser Lieben ist »kontingent«, weil es Faktoren unterworfen ist, die wir selbst nicht in der Hand haben. Und der am allermeisten begrenzende – sowie der am allermeisten ermöglichende – »Faktor« hat einen Namen: Es ist der andere Mensch, den wir da lieben. Er oder sie bringt eine eigene, eine andere Geschichte mit, eigene Erfahrungen, andere Prägungen.

In manchen Situationen wird diese Andersheit meines geliebten Gegenübers auf eine Weise wirksam, die ich nie vorhersehen kann und die mich vor Rätsel stellt. Und weil das so ist, ist es auch ehrlich zu sagen: Dieses Gegenüber vorbehaltlos zu lieben ist noch keine Gewähr dafür, dass eine von Liebe getragene partnerschaftliche Beziehung dauerhaft gelingt. Die oder der andere ist anders, und das ist Quelle tiefster Erfüllung sowie Grund schmerzhafter Zwietracht. Liebe, die aufs Ganze geht, braucht den anderen oder die andere. Aber diese Andersheit des geliebten Gegenübers ist unüberwindbar, sie fordert unser Lieben heraus, sie ist dessen Triebfeder. Und sie steht im Raum. Sie lässt uns ständig spüren: Bei aller Zweisamkeit bleiben wir ein Stück weit allein. Was wir im tiefsten Liebessehnen gelingen lassen wollen, bleibt Stückwerk, unvollkommen, vollendungsbedürftig. Das ist nicht nichts. Aber es ist eben auch nicht alles. Die Ganzheit, auf die Liebe zielt, entzieht sich – im besten Fall nur um Haaresbreite.

Dem Unfassbaren eine Form geben

All diese Überlegungen sind tastende Versuche, etwas zu beschreiben, womit wir alle auf die eine oder andere Weise zu tun haben. Als Wunsch und Sehnsucht, als gelebte, manchmal realisierte und manchmal verfehlte Wirklichkeit. Wir kriegen die Liebe und das Reden über die Liebe nicht heraus aus unserem Leben. Sie ist für viele von uns die innerste Triebfeder, die uns überhaupt in Bewegung hält in dieser Welt – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. »Ich liebe dich«, das müssen sich Liebende auch deswegen immer wieder sagen oder zeigen, weil es eine Aussage ist, mit der sie bekunden, an diesem niemals abgeschlossenen Projekt weiterzuwirken. Sie könnten auch formulieren: »Ich will dich lieben, immer von Neuem, auf immer neue Weise. Ich weiß, dass ich darin unvollkommen bleibe, aber für die aufblitzenden Momente, in denen es wirklich gelingt, lohnt sich jeder Aufwand!«

Dabei ergibt sich eine Herausforderung. Wie geht das, wie kann man das große Ganze im kleinen Karo des Alltags überhaupt leben? Wie geht das, eine eigentlich überfordernde Sache unter den Bedingungen von Arbeitsrhythmus und Daseinsvorsorge, zwischen eigenen Bedürfnissen und den manchmal undurchschaubaren Wünschen des geliebten Gegenübers zu leben? Was angesichts einer solchen Spannung häufig hilft, ist eine stabilisierende Form. Sie hält die auseinandertreibenden Kräfte zusammen und sorgt in Situationen der Überforderung für Ausgleich und Balance. Zumindest hilft sie dabei, nicht ganz aus dem Tritt zu geraten in diesem oft stolprigen Tanz, den jedes menschliche Miteinander darstellt. Eine Form ist wie ein Gefäß, das Halt und Stabilität gibt, einen Rand definiert und das »Auslaufen« verhindert. Ich denke, für die Liebe ist das so notwendig, weil das, worum es ihr geht, ungreifbar ist für die Beteiligten, es ihnen zwischen den Händen zerrinnt. Die Liebe ist kein Gegenstand, kein festes Material, keine Substanz. Sie ist ein Geschehen, eine Dynamik, unsichtbar und unfassbar, und dennoch immer wieder zu spüren.

Wenn zuvor von der Kontingenz des Liebens die Rede war, dann zeigt sich hier die Kehrseite der Medaille. Es ist der »Zwang zur Formatierung«. Wir wollen dem großen Ganzen eine Form geben, sonst überfordert es uns. Kulturgeschichtlich haben sich unterschiedliche Formen und Formate entwickelt, um dieser Herausforderung zu begegnen. Die klassische Ehe ist das bekannteste, beliebteste, am weitesten verbreitete Format, in dem viele Menschen heute ein Gefäß für ihre Liebe erkennen. Auch wenn die Ehe geschichtlich betrachtet lange Zeit eher eine Versorgungseinrichtung war als ein Ort für wahre Liebe: Ergänzt um das moderne Ideal der romantischen Paarbeziehung und die Idee, dass man als ein solches Liebespaar den Widerfahrnissen des Lebens am besten begegnen kann, gilt die Ehe heute als die privilegierte Institution, mit der Menschen ihrer Liebe eine auch nach außen sichtbare Gestalt geben wollen.