LiebeHassMord - Markus Matzner - E-Book

LiebeHassMord E-Book

Markus Matzner

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Beschreibung

Zwei tote Frauen aus der Zürcher Prominenz: ein bekanntes Model und eine TV-Moderatorin. Schnell stehen für Ermittlungsleiter Severin Martelli ihre frisch geschiedenen Ex-Männer unter Verdacht, zumal sie die Seminare eines frauenhassenden Männerlobbyisten besuchen. Doch bevor die Kripo die Zusammenhänge durchschaut, geschieht ein weiterer Mord, der alles infrage stellt. Und mitten drin - einmal mehr - die beiden TV-Journalisten Nico Vontobel und Mario Ettlin.

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Markus Matzner

LiebeHassMord

Kriminalroman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Clint Spencer / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-5124-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Ein Donnerstag Anfang Juli

Kapitel 1

Wie viel der Fund der Leiche mit der Klimaerwärmung zu tun hatte, überließ er den Gelehrten. Für ihn reichte die Tatsache aus, dass es einen außerordentlich regenarmen Frühling brauchte, der das Land und damit auch die letzten Reste des Moores beim Katzensee austrocknen ließ, damit sie zum Vorschein kam. Dem Ermittlungsleiter der Zürcher Kriminalpolizei Abteilung Nord, Severin Martelli, war es im Moment sogar egal, ob es sich wirklich um eine Moorleiche aus der Bronzezeit handelte oder ob sie erst seit Kurzem hier lag. Er kämpfte im Moment mit sich selber. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, dennoch trug er über einem kurzärmligen T-Shirt ein Sakko. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er befürchtete, dass seine bleichen Arme zum Gespött der ganzen Mannschaft werden würden. Aus diesem Grund litt er lieber unter der Hitze und schmorte in seinem unpassenden Kleidungsstück. Er war froh, dass sich der Fundort der Leiche in der Nähe eines Waldstücks befand, sodass er nicht in der prallen Sonne stehen musste.

Schon von Weitem erblickte er die beiden Kollegen vom IRM, dem Institut für Rechtsmedizin, die vorne beim Ufer wie weiße Marsmenschlein herumwuselten. Dass sie in ihren bis oben geschlossenen Overalls steckten, ließ ihm die Hitze etwas erträglicher erscheinen. Als er näherkam, drehte sich ein Mediziner in seine Richtung um. Er schlug die Kapuze zurück und stapfte auf ihn zu. Zu Martellis Überraschung war es eine Frau. Ihre schwarzen gelockten Haare waren nach hinten gebunden, ihr ungeschminktes Gesicht glänzte vom Schweiß, doch Martelli sah nur ihre Augen: zwei schwarze Perlen, die ihn augenblicklich gefangen nahmen.

»Wohl noch nie eine Gerichtsmedizinerin gesehen, was?«, fragte sie mit norddeutschem Akzent.

»Nein, das heißt doch. Ist verdammt heiß heute«, stöhnte er.

»Wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Nasrin Nabashi, bin die Neue bei der Rechtsmedizin.«

Sie streckte ihm ihren Unterarm entgegen, um den Kontakt mit ihrer handschuhbewehrten Hand zu vermeiden. Der Ermittlungsleiter griff ungelenk nach dem entgegengestreckten Körperteil und stellte sich ebenfalls vor.

»Ah, Sie sind das!«, sagte sie mit einem Augenaufschlag, der bei Martelli noch mehr Verwirrung auslöste.

»Wie meinen?«, war alles, was der Polizist entgegnen konnte.

»Ah nichts!«, winkte sie mit einem schelmischen Lächeln ab und stülpte sich wieder die Kapuze über den Kopf. »Ach übrigens«, fügte sie an, »es handelt sich um eine Frau.«

Und weil Martelli nicht gleich antwortete, sondern nur belämmert dastand, glaubte sie, sich wiederholen zu müssen: »Es ist eine tote Frau, die hier liegt!«

Als Martelli beiläufig nickte, drehte sie sich weg und gesellte sich wieder zu ihrem Kollegen, um in Bälde die Leiche aus dem Moor zu befreien.

Derweil stand Martelli etwas ratlos da und wusste nicht, was er denken sollte. Wie ein Artefakt, eingebrannt auf seiner Retina, sah er nur Nasrins Augen. Um sich abzulenken, suchte er seine beiden Mitarbeiter, Lena Salzmann und Jean-Jacques Trümpi, und ging zu ihnen hinüber. Sie standen beim Wäldchen und unterhielten sich mit der Primarlehrerin von Watt. Die hagere Frau, die auffällig rote Ohrringe aus Plastik trug, erzählte in kurzen Sätzen, wie sie zur Feier des Abschlusses der 3. Klasse mit ihren zwölf Schützlingen unterwegs zur Badeanstalt am Katzensee gewesen war. Sie fuhren mit ihren Fahrrädern den asphaltierten Weg nach Katzenrüti entlang, als ein Kind wegen einer Reifenpanne anhalten musste, sodass der ganze Tross stehenblieb. Während die Lehrerin den Reifen wieder aufpumpte, schärfte sie den Schülern ein, bei den Velos zu bleiben. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatten sich ein paar Jungs nicht an die Anweisung gehalten. Sie durchquerten eine Hecke und gelangten zum oberen Ende des Sees, wo sie Enten erschrecken wollten. In der Folge stolperte ein leicht übergewichtiger Junge förmlich über den Kopf der Leiche. Ihr Anblick schien ihn allerdings weniger zu schockieren als die Pädagogin, die er herbeigerufen hatte.

Sie war nach wie vor kreideweiß und mit den Nerven am Ende, als sie befragt wurde. Der Junge spielte nur wenige Meter daneben mit seinen Kollegen Fangen.

Die Gerichtsmedizinerin und ihr Assistent schafften es in der Zwischenzeit, den toten Körper behutsam aus dem Moor zu befreien. Nasrin rief Martelli herbei, der sich absichtlich etwas Zeit ließ, um nicht wie ein mit dem Schwanz wedelnder Hund zu erscheinen, der sofort alles stehen und liegen ließ, wenn ihn sein Herrchen rief. Dabei bemerkte er, wie ihn diese Frau anzog, als wäre sie ein Magnet und er ein simples Stück Eisen. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Beziehungsweise schon lange nicht mehr. Und es irritierte ihn. Eine Hitzewallung schoss durch seinen Körper, er war verwirrt, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Doch Nasrin schien nichts zu bemerken. Sie sprudelte gleich los, als er in Hörweite gekommen war:

»Diese Tote ist nie und nimmer eine Moorleiche im engeren Sinne«, dozierte sie, »sondern liegt allerhöchstens 20 bis 25 Jahre hier!«

»Woran sehen Sie das?«

»Moorleichen heißen so, weil sie durch das Moor gleichsam mumifiziert werden.« Nasrin war sichtlich in ihrem Element und Martelli hörte gerne zu. Der Inhalt war ihm im Moment fast egal. Sie hätte irgendetwas erzählen können.

»Infolge des sauren Milieus«, fuhr sie unbeirrt fort, »werden die Knochen im Laufe der Zeit völlig entkalkt und aufgelöst. Demgegenüber bleibt die Haut dank der Huminsäure, die in humusreichen Böden vorkommt, intakt. Sie wird regelrecht gegerbt. Bei dieser Leiche hier ist es jedoch offensichtlich, dass der Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist. Sie weist noch Knochenartefakte auf.«

Martelli nickte vorsorglich, weil er nicht als komplett verblödet wirken wollte. In seinem Innern hoffte er nur, dass diese Frau nie mehr aufhören würde, sich mit ihm zu unterhalten. Er beobachtete ihren Mund, ihre hübsche Nase, die sich beim Reden lustig auf und ab bewegte, die von langen Wimpern umspielten schwarzen Augen und die klar geformten kräftigen Augenbrauen, die das ganze Gesicht konturierten. Er hing an ihren Lippen, badete in ihrem Redefluss.

»Hören Sie mir überhaupt zu?« Nasrins Stimme war plötzlich schneidend.

»Sicher«, beeilte sich Martelli zu entgegnen.

»Also«, fasste sie zusammen, als käme sie zum Höhepunkt ihres Vortrags, »das Spezielle an dieser Toten ist, dass sie in einem Taucheranzug steckt. Das wirft mehrere Fragen auf: Könnte es sein, dass wir die Tote an einem Ort finden, der vor einigen Jahren noch ein Teil des Sees war? Oder hat man sie im Moor nur begraben? Und wenn Letzteres zutrifft: Wie ist sie gestorben? Im Wasser oder an Land?«

»Sie werden es sicher bald herausfinden!«, hörte sich Martelli in einem Reflex antworten und zwang sich, seinen Blick von Nasrin zu lösen. Er betrachtete die weibliche Leiche mit ihrem erstaunlich gut erhaltenen Gesicht, bei dem tatsächlich eine gewisse Mumifizierung stattgefunden haben musste. Etwas befremdend, ganz so, als wäre die Tote ein amphibienhafter Alien aus einer fremden Welt, wirkte der brüchige Rest des Taucheranzugs, der sich an weiten Stellen des Körpers wie eine zweite Haut erhalten hatte.

»Wann höre ich von Ihnen?«

»Kommen Sie gegen vier Uhr im IRM vorbei. Dann weiß ich mehr.«

Kapitel 2

Dora Handschins Gesicht glich einer Tuschzeichnung, die ins Wasser gefallen war. Sie konnte ihre Tränen nach dem Urteilsspruch einfach nicht mehr zurückhalten. Die aufgestaute Wut brach sich ebenso Bahn wie die Erleichterung, diesen schrecklichen Tag hinter sich gebracht zu haben. Ihre Anwältin hatte sich sogleich verabschiedet, im Gehen viel Glück und Zuversicht gewünscht. Sie war wie in einem emotionalen Vakuum zum Auto gegangen, hatte sich hineingesetzt und minutenlang in ihrem bedenklichen Zustand verharrt, ehe sie sich zusammenreißen konnte. Und während die Tränen trockneten, stieg unwillkürlich eine einzige klare Emotion auf: Hass. Am liebsten hätte sie ihm einen Dolch in den Bauch gerammt und die Klinge nach oben gezogen. Aber schön langsam, dass er auch richtig litt und Blut spuckte. Ja, sie hätte ihn in diesem Moment töten wollen, wenn es möglich gewesen wäre.

Wie sie im abendlichen Verkehr den Weg vom Zürcher Bezirksgericht nach Küsnacht zurückgelegt hatte, wusste sie hernach nicht mehr. Sie fuhr wie in Trance, war trotz des durch Tränenschleier beeinträchtigten Blicks schneller als erlaubt unterwegs gewesen, hatte abrupt die Spuren gewechselt, gehupt, über die lahmen Enten geflucht, die ihr mit ihren fetten Autos den Weg versperrten. Es war der schrecklichste Tag ihres bisherigen Lebens. Dabei hatte sie fast alles erreicht, was sie wollte. Ihre Anwältin war während der Gerichtsverhandlung großartig gewesen, konnte aus dem Vollen schöpfen und spielte auf der Klaviatur des Mitleids, schilderte Doras derzeitige Situation, die es schlicht nicht erlauben würde, dass sie nebst der Betreuung der beiden Kinder noch arbeiten ginge. Sie schob einen sogenannten Beweis nach dem anderen ein, der aufzeigte, dass sie das Opfer und er der alleinige Täter war, der die volle Verantwortung für das Scheitern der Ehe übernehmen musste. Genüsslich flocht die Anwältin einige Anekdoten seines angeblich ausschweifenden Sexlebens ein, erzählte vom versuchten Seitensprung mit einer der besten Freundinnen der Ehefrau. Dabei wusste sie genau, dass im heutigen Scheidungsrecht der Grund für die Zerrüttung der Ehe keine Rolle mehr spielte.

Sie gewann auf der ganzen Linie. Er musste einen beachtlichen Teil des siebenstelligen Vermögens sowie die Hälfte der Pensionskassengelder abgeben, die Gerichtskosten übernehmen, das geräumige Haus abtreten und ihr darüber hinaus monatliche Alimente in der Höhe von 5800 Franken zahlen. Außerdem wurde er dazu verpflichtet, pro Kind bis zum Erreichen ihrer Erstausbildung monatlich 3.500 Franken abzuliefern. Natürlich würden die Beträge, so fügte der Richter am Ende des Urteilsspruch lakonisch an, dem Landesindex für Konsumentenpreise angepasst, was nichts anderes bedeutete, als dass sie sich alljährlich um ein bis drei Prozent erhöhten.

Dora hatte ihrem Ex-Mann dank des zwar pingeligen, aber eben mit weiblichem Perfektionismus zusammengetragenen Plädoyers die Hose runtergezogen. Tom stand da, als wäre er nackt. Zur Salzsäule erstarrt.

Dass Dora dennoch keine unbändige Freude verspürte – mindestens nicht sogleich –, lag einzig daran, dass die Zeit der Trennung eine unerhört emotionale Erfahrung gewesen war. Sie wurde von ihrer inneren Anspannung fast zerrissen, litt unter Schlaflosigkeit, futterte kiloweise Schokolade. Aus diesem Grund benötigte sie eine Zeit der Erholung, musste zuerst wieder Abstand vom Prozess und von der Ehe mit diesem Versager erlangen, den sie einst geliebt hatte.

Sie kam fix und fertig in Küsnacht an und hielt vor dem Haus, in dem ihre Freundin Lisa Camenzind wohnte. Der Blick in den Rückspiegel machte ihr dringlich klar, dass sie sich zuerst frisch machen musste. Als sie wenig später wieder einigermaßen normal dreinschaute, ging sie zur Eingangstür. Sie stand offen, was sie gar nicht zu irritieren schien. Dora trat ein und schritt die moderne Betonstiege hoch. Oben angekommen, blickte sie ins abgedunkelte Wohnzimmer und wunderte sich, wo ihre Freundin steckte, als plötzlich ein lautes Plopp ertönte und dann das Licht anging.

Zu ihrer grenzenlosen Überraschung stand ein halbes Dutzend ihrer Freundinnen im großzügig gestalteten Wohnraum. Allesamt schon geschieden und deshalb im Bilde, was so ein Tag bedeutete. Sie ließen sie hochleben, als hätte sie Geburtstag, schenkten ihr ein Glas Champagner ein und feierten mit ihr zusammen den Triumph, den sie über ihren Gatten errungen hatte. Nach und nach konnte sie sich entspannen, erzählte vom Gerichtstermin, schilderte genüsslich den Ablauf und endete beim Urteil, das auf dem Gesicht ihres Ex einen herzerwärmenden Abdruck fand.

»Er war außerstande, auch nur ein Wort zu sagen, blickte wie weggetreten in eine unbestimmte Ferne, sein Gesicht war bleich und fahl«, bilanzierte sie triumphierend das Finale des Prozesses, und ihre Freundinnen applaudierten, als hätte sie eben den Nobelpreis erhalten oder als erste Frau den Mond betreten.

Kapitel 3

Die Kühle im Institut für Rechtsmedizin tat gut, dennoch verlangsamte er seinen Schritt, als müsste er es sich nochmals überlegen, ob er wirklich zu den Sezierräumen vordringen sollte. Er wusste, dass ihm der chemische Geruch noch Stunden später in den Nasenflügeln haften würde. Aus diesem Grund hatte Martelli den Weg zu den ›Leichenfledderern‹, wie er sie intern abschätzig zu bezeichnen pflegte, wenn immer möglich gemieden und seine Untergebenen geschickt. Doch heute erklärte er den Gang ins IRM zur Chefsache, was seine Mitarbeiter zwar überraschte, aber nicht weiter beschäftigte. Wie hätten sie auch wissen sollen, dass er ihn nicht wegen der toten Taucherin unternahm, sondern einzig, um diese Frau mit dem unwiderstehlichen Namen wiederzusehen.

Nasrin Nabashi kam ihm zu seiner leichten Enttäuschung sehr distanziert vor. Als spürte sie seine geheimen Gedanken nicht, sprach sie sachlich und vermied es, ihn länger als nötig anzusehen. Sie bilanzierte ihre Erkenntnisse, als müsste sie eine Prüfung bestehen. Der Polizist durchschaute nicht, dass sie nur deshalb so kühl agierte, weil ihr Chef in Hörweite an einem anderen Seziertisch arbeitete. Und während sie erklärte, dass die junge Frau mit großer Wahrscheinlichkeit schon mindestens 20 oder mehr Jahre im Moor gelegen hatte, dachte Martelli nur darüber nach, ob er sie auf ein Glas Wein einladen könnte. Vielleicht heute Abend? Je länger Nasrins Vortrag dauerte, desto nervöser wurde Martelli, weil die geeignete Gelegenheit einfach nicht kam.

Nasrin bemühte sich, die Fakten und Folgerungen möglichst professionell vorzutragen, und sie glaubte, dass ihr das auch gelungen war. Umso mehr brachte sie die merkwürdige Frage des Ermittlungsleiters aus dem Konzept. Sie schaute sich hilflos um. Ihr Chef, ein grauhaariger Mann um die 60, warf ihr einen überraschten Blick zu, schien gleichsam ihr die Schuld zu geben, dass der Kriminale, den er seit Jahren als emotionsfrei und professionell agierend kannte, derart wirres Zeug faselte. Aber was konnte sie denn dafür, dass er ihren Vornamen gegoogelt und herausgefunden hatte, dass er auf Persisch ›wilde Rose‹ bedeutete. Und in einer weiteren Deutung für das Gleichnis stand, dass man zwei Falken nicht gleichzeitig einfangen könne.

Sie lachte hilflos auf, als er sie allen Ernstes fragte, ob die beiden Falken mit dem berühmten Janusgesicht zu vergleichen wären, oder ob es sich mehr um zwei gegenläufige Charaktereigenschaften handeln würde. Dann schwieg sie einen Moment lang und überlegte, wie sie aus dieser merkwürdigen Situation herauskommen sollte, schließlich war sie noch in der Probezeit und musste ihrem Chef und allen anderen Kollegen erst beweisen, dass sie ihr Handwerk beherrschte. Martelli seinerseits verstand Nasrins Sprechpause als Aufmunterung, selbst weiterzufahren. Und als seine nächste Frage über sie hereinbrach, bejahte sie sie einfach nur deshalb, um wieder Luft zu bekommen und heil aus diesem Albtraum zu erwachen.

Kurze Zeit später zog der Polizist mit hochroten Ohren, aber augenscheinlich glücklich strahlend, von dannen. Sie stand noch eine Zeitlang regungslos da, wusste nichts mehr. Außer, dass sie sich mit ihm verabredet hatte. Heute Abend um 19 Uhr. Wenigstens schien ihr der Chef das merkwürdige Schauspiel nicht allzu übel zu nehmen, denn er verlor kein Wort darüber, sondern bat sie, ihm bei den Vorbereitungen für die morgendliche Vorlesung behilflich zu sein. Sie sollte den Medizinstudenten die Kennzeichen einer Gift-Tötung nahebringen. Da zufällig eine frische Leiche ins Haus gekommen war, die diese Merkmale aufs Trefflichste präsentierte, hatte sie noch viel zu tun. Die Moorleiche konnte warten, schließlich war sie schon geraume Zeit tot und schien bei den Ermittlern auf kein allzu großes Interesse zu stoßen.

Eine Stunde nach Martellis Abgang tauchte erneut ein Polizist auf, um nochmals dieselben Informationen einzuholen. Nasrin schüttelte den Kopf. Dieser Martelli muss ein absoluter Chaot sein, dachte sie. Im Gegensatz zu seinem Chef war dieser Beamte, der sich mit Reto Zuppinger vorgestellt hatte, ausschließlich an den Fakten über die Tote interessiert. Er zuckte nur mit den Schultern, als ihn Nasrin gespielt ärgerlich fragte, wofür sie das Ganze seinem Chef schon vorgetragen habe.

»Hat denn dieser Martelli ab und zu Erinnerungslücken?«, fragte sie schnippisch. Zuppinger reagierte äußerst diskret und schüttelte den Kopf, auch wenn er sich sehr wohl vorstellen konnte, warum sich Martelli beim Anblick dieser Frau vergaß. Doch er riss sich zusammen, blieb sachlich, widmete sich ganz der toten Taucherin, die vor ihm auf dem Schragen lag.

Nasrin ihrerseits nahm sich vor, Martelli heute Abend nicht so schnell vom Haken zu lassen. Er würde seinen albernen Auftritt noch zu spüren bekommen, schwor sie sich, auch wenn sie gleichzeitig ein gewisses Kribbeln spürte. Denn dass Martelli über ein attraktives Äußeres verfügte, war ihr nicht verborgen geblieben. Als sie nach ihrem Arbeitstag frisch geduscht das Institut verließ und durch den Irchelpark zur Tramhaltestelle schlenderte, ließ sie ihre Situation nochmals Revue passieren. Unvermittelt wurde sie von einem schwermütigen Gefühl eingeholt. Da hatte sie nicht zuletzt wegen eines Mannes Freiburg im Breisgau verlassen und war nach Zürich gekommen, um fachlich, aber vor allem persönlich wieder etwas Auftrieb zu bekommen, und dann lief ihr schon am dritten Arbeitstag ein Mann über den Weg, der wegen ihr zum Teenager wurde und jede Professionalität vermissen ließ. Lag es wirklich an ihr, dass Männer in ihrer Gegenwart entweder zu eifersüchtigen Machos oder zu dummen Hanswursten mutierten? Was konnte sie dafür, dass sie eine derartige Wirkung auf das männliche Geschlecht besaß?

Kapitel 4

»Muss das sein?«

Die Stimme des 38jährigen TV-Reporters Mario Ettlin klang alles andere als erfreut. Was ihm Urs Imgrüt, der Chefredakteur des Deutschschweizer Fernsehens, antrug, grenzte an eine Strafversetzung. Er sollte für ein paar Monate die Leitung der Redaktion »In-People« übernehmen, weil sich die Redaktionsleiterin bei einem Autounfall ein schweres Schleudertrauma zugezogen hatte und für unbestimmte Zeit ausfiel. Und weil der Zwist zwischen dem jungen und talentierten TV-Journalisten Mario und seinem Redaktionsleiter eskaliert war, weil der ihn wiederholt auf unmögliche Geschichten ansetzte, hielt es auch Imgrüt für sinnvoll, wenn sich der junge Mann anderswo die Hörner abstreifte.

»Was soll ich bei dieser Prosecco-Redaktion? Das sind doch alles weich gespülte Verlautbarungsjournalisten!«

»Genau deshalb will ich dich auch als Redaktionsleiter dort haben. Wenigstens ad interim!«, versuchte Imgrüt, seinem Untergebenen den Wechsel schmackhaft zu machen.

»Bei allem Respekt«, versuchte es Mario ein weiteres Mal, »aus ›People‹-Geschichten, die doch nur Nabelschauen sind, einigermaßen gewichtige Meldungen zu machen, das ist unmöglich. Ehrlich gesagt wundert es mich ohnehin, wieso diese Sendung überhaupt im Portfolio der Informationsabteilung zu finden ist und nicht schon längst zur Unterhaltung abgeschoben wurde.«

»Schau«, antwortete Imgrüt mit einem schalen Lächeln, »unser Direktor will das eigentlich schon seit Langem, aber bei der Unterhaltungsabteilung verkäme die Sendung vollends zu einem ›Seichtigkeits-Je-ka-mi‹. Ich hingegen wünsche mir, gegen diesen Trend der allgemeinen Volksverblödung anzugehen, Relevanz zu schaffen und auch an Orten der unkritischen Promi-Abfeierung Dinge wie Moral und Anstand, Nachhaltigkeit und Verantwortung zu thematisieren. Das würde auch die Kritiker dieser Sendung verstummen lassen, was gerade in der jetzigen Zeit von Vorteil wäre! Um das zu erreichen, müssten sie jedoch klandestin vorgehen. Gleichsam inoffiziell.«

Mario glaubte sich verhört zu haben. War sein oberster Chef nun vollends in den Orden der »Naivitisten« übergetreten? Die ganze Welt verlor sich gerade im jämmerlichen Bestreben, den Narzissmus zur neuen Weltreligion zu erheben, und da erschien Imgrüt, der Don Quijote der journalistischen Aufrichtigkeit, und wollte Gegensteuer geben? Mario kam sich plötzlich wie Sancho Pansa vor. Eine Rolle, die ihm gar nicht behagte. »Und wieso ich? Ich habe so gar nichts mit dieser Promiwelt am Hut!«

»Genau deswegen!« Imgrüt wurde nun ernst und nachdenklich. Fast verschwörerisch fügte er an: »Unser Sender hat sich in einen äußerst schwierigen Zustand manövriert. Als Gebührenempfänger muss er seine Zuschauer tagtäglich überzeugen, dass sie ihr Geld zu Recht bei uns liegen lassen. Doch was machen wir? Wir kriechen bei den politischen Machthabern zu Kreuze, wollen es allen Recht machen und bemerken gar nicht, dass wir das Gegenteil erreichen. Kein Wunder monieren viele Zuseher, dass wir ihnen zu wenig für die Gebühren bieten, sondern wie die Privaten nur seichten Mainstream zelebrieren. Wollen wir in fünf oder zehn Jahren noch über denselben Etat verfügen, dann müssen wir uns diesem würdig erweisen. Aus diesem Grund will ich mehr Relevanz, mehr Eigenleistung, mehr Journalismus. Bei In-People fangen wir jetzt an. Mit dir als neuem Redaktionsleiter!«

Eine halbe Stunde später stand Mario in der Kantine und machte sich an der Selbstbedienungsmaschine einen Kaffee. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken herum, sodass er die vielen bekannten Gesichter, die ihn grüßten, kaum wahrnahm. Immer wieder versuchte er, sich die Frage zu beantworten, was er als Redaktionsleiter der ›People‹-Sendung anders machen sollte. Und immer wieder kam er nur auf die alberne eine Antwort: abschaffen. Gleichzeitig war der Honig süß, der ihm von Imgrüt um den Mund geschmiert wurde. Für seine Karriere wäre es sicherlich kein Nachteil, wenn er im recht jugendlichen Alter von 38 bereits Redaktionsleiter werden würde. Andererseits entfernte er sich automatisch von dem Teil seiner Arbeit, den er am liebsten machte: dem Produzieren von Filmen und Beiträgen, mithin vom Kern des Fernseh-Machens. Während er grübelte und sich den Kaffee schluckweise einverleibte, klingelte sein Handy. Zu seiner Überraschung war sein alter Mentor und Freund Nico Vontobel am Apparat.

»Das muss Vorsehung gewesen sein«, meinte Mario belustigt, als er abgenommen hatte. »Denn ich brauche deinen Rat!«

Nico, der sich erkundigen wollte, ob auch sein junger Freund eine Vorladung zur Zeugenaussage am Bezirksgericht erhalten habe, spitzte seine Ohren. »Welcher Art soll denn dieser Rat sein?«

»Imgrüt will, dass ich wenigstens vorübergehend die ›People‹-Sendung leite, die am Vorabend ausgestrahlt wird.«

»Ich kenne das Portfolio unseres Senders«, stellte Nico mit einem Schmunzeln klar, »ich fand es schon vor zehn Jahren falsch, der Information dieses Magazin anzuhängen. Ihr Inhalt ist, gelinde gesagt, ein Hohn an die Intelligenz!«

»Du sprichst mir aus dem Herzen. Wie kann ich da als Leiter fungieren?«

»Gute Frage – und berechtigt. Hast du Alternativen?«

»Nein, außer in der alten Redaktion zu bleiben und mit diesem Zündel den Grabenkrieg weiterzuführen, bis einer von uns beiden aufgibt.«

»Das ist keine Alternative, sondern eine Zeitverschwendung. Und was erwartet Imgrüt von dir?«

»Dass ich den Inhalt bei In-People umkremple. Die Sendung journalistischer mache.«

»Das hieße ja, der Cervelat-Prominenz1 einen Spiegel vorzuhalten und sie ziemlich ruppig in den Senkel zu stellen!«

»Ja, diesen Teil des Auftrages würde ich gerne umsetzen. Diesen Botox-Tussen ihre Überheblichkeit um die Ohren zu schlagen, wäre spaßig. Auch wenn ich mir im Klaren bin, dass ich mir damit keine Freunde schaffe …«

»Viel Feind, viel Ehr. So gesehen wäre es ja eine fast spannende Herausforderung!«

»Schon, aber würdest du mich nicht verachten, wenn ich diesen Job annähme?«

»Verachten, weil du einen Krieg gegen die Verdummung führst? Wie käme ich dazu?«

»Okay, danke! Du hast mir sehr geholfen. Ich werde es mir nochmals überlegen und mal abchecken, was Sara dazu meint. Sie kennt die Promiszene von vielen Anlässen, an denen sie schon gearbeitet hat, und verachtet dieses Schickimicki-Getue mindestens so vehement wie ich. Sie wird eine harte Nuss zu knacken werden.«

»Erklär es ihr, wie du es mir erklärt hast. Mit all deinen eigenen Gefühlen und Gedanken. Dann wird sie es verstehen. Außerdem verdienst du ja mehr, und es ist nur ad interim.«

1 Cervelat-Prominenz: In der Schweiz gebräuchliche, ironisch gemeinte Bezeichnung für die medial bekannten Promis, die sich auf den ›People‹-Seiten tummeln. Cervelat ist eigentlich eine beliebte Wurst.

Kapitel 5

Tom Handschin erlebte den schrecklichsten Tag in seinem bisherigen Leben! Er rollte mit den blauen Augen, fuhr sich über das leicht schüttere rote Haar, das er nach hinten gekämmt hatte. Am liebsten hätte der 40-jährige Werber zuerst diese Anwältin gekillt, dann seine Ex-Frau Dora. Dass sie, wie es den Anschein machte, seit ihrer Trennung einige Kilos zugenommen hatte, war der einzige Lichtblick gewesen. Hoffentlich Kummerspeck, der nie wieder weggeht, dachte Tom höhnisch. Doch dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Er hörte eben, wie der Richter, diese Karikatur eines Pantoffelhelden, die Anwältin mit einem freundlichen Blick rügte, sie solle sich bemühen, nur Fakten zu erwähnen, und emotionale Begebenheiten, welche ihre Mandantin sicherlich erlebt habe, aber zur Sachlage nichts beitrügen, wegzulassen. Das Gericht sei gewieft genug, sich auch ohne derartige Details ein klares Bild machen zu können. Sie lächelte leicht kokett und fuhr mit ihrem unter die Gürtellinie zielenden Plädoyer fort, als hätte sie des Richters Worte überhört. Als sie dann vom selbstgerechten und überheblichen Charakter des Tom Handschin sprach, als säße der nicht drei Meter neben ihr, und über sein liederliches Gebaren als Geschäftsmann herzog, platzte ihm der Kragen. Diese Inkarnation einer Vogelscheuche behauptete unwidersprochen, dass er sich trotz der nachvollziehbaren Bedenken seiner Frau nicht davon hatte abbringen lassen, sich mit seiner Werbeagentur am teuersten Standort der Stadt einzunisten und viel zu lange aufgrund seines charakterlichen Starrsinns weiter zu wursteln. In der irrigen Meinung, die Großen im Markt verdrängen zu können.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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