Life is Strange: Stephs Story - Roman zum Game - Rosiee Thor - E-Book

Life is Strange: Stephs Story - Roman zum Game E-Book

Rosiee Thor

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Beschreibung

"Und welche Sorte Lesbe bist du?" "Die Sorte, die … auf … Frauen steht?" "Ich auch." Irgendwann sind Steph Gingrich die Sofas zum Couch-Surfen ausgegangen. Sie ist nach Seattle ins Haus ihres Vaters zurückgekehrt, um herauszufinden, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen will. Den Großteil ihrer Zeit verbringt Steph damit, tagsüber im örtlichen Gamer-Café zu arbeiten und bis in die Nacht Rollenspiel-Sitzungen zu leiten – zumindest, bis Izzie mit einem Stapel zerknitterter Bandflyer in ihr Leben stolpert. Izzie ist umwerfend: ein Punk, eine junge Frau, die auf Frauen steht, und eine verdammt gute Gitarristin. Es stellt sich heraus, dass das Punk-Dasein genau das ist, was Steph braucht. Sie liebt die Musik, die Kunst und die Mode, vor allem aber hat es ihr Izzie angetan. Völlig hingerissen bietet sie ihr an, für sie Schlagzeug zu spielen, und gemeinsam gründen sie die Band Drugstore Makeup. Das Ganze ist in mehrerlei Hinsicht ein voller Erfolg und Drugstore Makeup tourt nach der Teilnahme an einem Bandwettbewerb durch die ungewöhnlichsten Punk-Spielorte der USA. Doch schon bald müssen Steph und Izzie feststellen, dass sie nicht ganz auf einer Wellenlänge liegen, außerstande sind, miteinander zu kommunizieren, und dass sie sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 436

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Außerdem von Panini erhältlich

LIFE IS STRANGE Die Comic-Reihe

Life is Strange Comicband 1: Staub

ISBN 978-3-7416-1433-0

Life is Strange Comicband 2: Wellen

ISBN 978-3-7416-1727-0

Life is Strange Comicband 3: Fäden

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Life is Strange Comicband 4: Partners in Time – Spuren

ISBN 978-3-7416-2294-6

Life is Strange Comicband 5: Heimkehr

ISBN 978-3-7416-2519-0

Life is Strange Comicband 6: Wenn der Staub sich legt

ISBN 978-3-7416-2866-5

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ROSIEE THOR

STEPHS STORY

Ins Deutsche übertragen von Eevie Demirtel

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe: »Life is Strange: Steph’s Story« by Rosiee Thor published in UK by Titan Books, a division of Titan Publishing Group Ltd., London, UK, March 2023.

Copyright © 2015–2023 Square Enix Ltd. All Rights Reserved.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schloßstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (email: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Eevie Demirtel

Lektorat: Marie Mönkemeyer

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDLISR001

ISBN 978-3-7569-9987-3

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4414-8

1. Auflage, August 2023

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Für alle, die unbeirrt Dem Klang ihres Herzens folgen. Und für all jene, die es wollen, aber noch nicht können.

Die Zeitlinie – Anmerkung der Autorin

Die Welt von Life is Strange wird von Entscheidungen geprägt. Manche davon sind nur klein, andere haben geradezu kosmische Ausmaße, aber keine ist unbedeutend. Auch in Stephs Leben jenseits von Arcadia Bay und Haven Springs haben die dortigen Ereignisse großen Einfluss auf sie. Stephs Story spielt in einer Zeitlinie, in der Arcadia Bay zerstört wurde, aber Chloe Price überlebt hat – eine von vielen Möglichkeiten im verzweigten Multiversum. Unabhängig davon, ob ihr genauso entschieden habt, hoffe ich, dass ihr Stephs Story unvoreingenommen lesen könnt, und dass ihr weiterhin eure Kreativität in die unendlichen Universen von Life ist Strange einfließen lasst.

Frühling

Eins

Wo das Herz ist, sei man zu Hause, heißt es, aber ich war noch nie richtig verliebt. Klar, es gab die ein oder andere Schwärmerei und manchmal hatte ich Chancen … manchmal nicht so wirklich. Die Wände meines alten Kinderzimmers hingen voll mit Postern von Kristen Stewart und Avril Lavigne. Heute ist das nicht mehr so.

Ich stehe vor der schlichten Holztür zu meinem Zimmer. Oder dem, was mein Zimmer sein wird, sobald ich einen Fuß über die Schwelle setze.

Habe meine Meinung geändert. Denkst du, Lia merkt es, wenn ich bei ihr im Studio schlafe?

Meine Finger zittern zu unruhig, um irgendwas richtig zu schreiben, als ich die Textnachricht an Jordie tippe. Zum Glück rettet mich die Autokorrektur. Sofort ist seine Antwort da.

Ich wette, mit dem ganzen Garn dort könnte man sich ein nettes Nest bauen.

Nicht wahr??? VOLL KUSCHLIG!

Also … doch so schlimm, zurück bei deinem Dad zu sein?

Etwas zieht in meiner Brust und meine Kehle wird eng. Mein Dad hat in seinem neuen Haus ein Zimmer für mich frei geräumt. Na ja, es ist nicht wirklich neu. Er lebt schon seit fünf Jahren hier, seit wir nach Seattle gezogen sind. In Studentenwohnheimen und auf fremden Sofas habe ich es geschafft, so lange wie möglich von hier wegzubleiben. Aber es ist wohl an der Zeit, das Schnorren bei meinen Freunden aufzugeben und nahtlos bei Dad damit weiterzumachen. Immerhin habe ich mittlerweile mein Abschlusszeugnis in der Tasche und einen Knoten unter meinem Schulterblatt, der die Ausmaße eines Kleinstaats angenommen hat.

Vielleicht hänge ich es an die Wand. Das Abschlusszeugnis, nicht die Verspannungen in meiner Schulter.

Nein. Ich memme hier nur rum.

Dann reiß dich zusammen und mach, dass du herkommst. Ich langweile mich zu Tode.

Ich schiebe mein Handy in die hintere Hosentasche und atme tief ein, bevor ich den Knauf drehe und die Tür aufschwingen lasse.

Dad hat sich alle Mühe gegeben, damit es sich wie ein richtiges Zimmer anfühlt. Das Bett ist mit karierter Bettwäsche bezogen und sie ist gar nicht mal so hässlich – blau und gelb, meine Lieblingsfarben. Außerdem hat er eine IKEA-Kommode und ein paar Regale alleine zusammengebaut, als ob er nicht wüsste, dass ich lesbisch bin.

»Hast du alles, was du brauchst, Steph?«, ruft mein Vater die Treppe hoch.

Es ist seltsam, seine Stimme zu hören. Wir haben all die Zeit in derselben Stadt gelebt, aber ich kann an einer Hand abzählen, wie oft wir tatsächlich im selben Raum waren. Meistens schreiben wir E-Mails. Es ist nicht so, dass wir nicht miteinander klarkommen, aber schriftlich klappt es irgendwie besser. Allerdings vermute ich, dass es echt schräg wäre, wenn ich ihm eine derart einfache Frage per E-Mail beantworte.

»Ja. Passt!« Ich werfe einen Blick auf meine Habseligkeiten. Es ist eine magere Ausbeute: lediglich mein treuer lila Koffer und mein Rucksack. Jetzt beginnt also das große Auspacken.

Es wird maximal zehn Minuten dauern, bis ich Kleidung, Toilettenartikel und alles Weitere eingeräumt habe. Nach meinem Abschluss habe ich mich von vielen Sachen getrennt. Es war einfach extrem unpraktisch, normal große Shampooflaschen oder eine Kiste voller Schallplatten mit mir herumzuschleppen. Jetzt habe ich nur noch das Nötigste. Die einzige Ausnahme sind meine Malsachen.

Sie sind das Erste, was ich auspacke. Ein Skizzenbuch mit zerfleddertem Einband und eine Plastiktüte voller Buntstifte in unterschiedlichsten Längen.

Meine Lieblingsfarbe ist fast aufgebraucht – ruhe in Frieden, Rapsfeldgelb. Ich muss also noch ein paar Stifte auftreiben, bevor ich mich an die nächste Ausgabe meiner Heftreihe mache. Fürs Erste verstaue ich die Malsachen in der obersten Schublade des Schreibtischs und wende mich wieder dem Rest des Raumes zu.

Die Wände sind auf eine Weise kahl, die mich wehmütig an meine Zeit am DigiPen denken lässt. In meinem Zimmer im Studentenwohnheim war kaum ein freier Zentimeter Wand zu sehen hinter all den Postern, Konzertkarten, den ganzen Skizzen und der Concept Art für mein Abschlussprojekt – mein eigens entwickeltes Rollenspiel in einem Unterwasser-Setting, dessen glorreicher Höhepunkt eine Schlacht zwischen Mecha-Meerjungfrauen und einer ganzen Legion untoter Schiffbrüchiger war. Gegen Ende war es alles ein bisschen viel gewesen, aber inzwischen vermisse ich es sogar, Zombie-Piraten zu zeichnen. Geordnetes Chaos. Das ist genau mein Ding.

Das Zimmer ist riesig.

Jordie braucht ein paar Sekunden, um zu antworten. Wahrscheinlich hat er Kundschaft im Laden.

Yippie!

Im Ernst, viel zu groß!

Mir kommen die Tränen!

Ich seufze. Er hat natürlich vollkommen recht. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal über zu viel Platz beschweren würde. Aber es fühlt sich so an, als wäre dieses Schlafzimmer speziell dazu geschaffen worden, mich mit seinen weißen Wänden, dem sauberen Boden und leeren Flächen zu verhöhnen.

Womit soll ich diesen Raum denn bitte füllen? Ich habe nicht wirklich viel Zeug.

Omg Süße, du bist erwachsen. Gönn dir einfach mal was!

Lol, von welchen geheimen Geldreserven denn?

Selbst wenn ich Geld hätte, um es auf den Kopf zu hauen, bin ich nicht sicher, was ich mir hier hinhängen oder -stellen wollen würde. Mein Alltag wird gerade hauptsächlich durch die Arbeit im Gamer-Café bestimmt und die Frage, auf welchem Sofa ich wohl die Nacht verbringe. Jetzt, wo ich mir um Letzteres keine Gedanken mehr machen muss, fühlt es sich an, als müsse ich diese Leere mit irgendetwas füllen. Als müsse ich herausfinden, wer ich bin, bevor ich vor diesem Hintergrund aus matt schimmernder Wandfarbe verschwinde.

Mein Blick bleibt an einigen losen Blättern auf der Kommode neben dem Fenster hängen. Obenauf liegt eine Broschüre für ein Programmier-Bootcamp. Gähn.

Wenn ich den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen wollte, hätte ich mich mit meinem schmucken Abschluss in Game-Design auf Jobs in der Videospielbranche beworben. Vielleicht finde ich ja irgendwann heraus, was der Reiz daran ist. Im Augenblick möchte ich aber lieber etwas von der Welt sehen und nicht die ganze Zeit auf einen Bildschirm starren. Unter der Broschüre liegt ein Flyer für das Oregon Shakespeare Festival unten in Ashland. Es ist überregional bekannt und ein Job in der Technik könnte wirklich Spaß machen, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, zurück nach Oregon zu gehen. Außerdem habe ich nach der Aufführung von Der Sturm in der Highschool die Lust am Barden-Dasein verloren.

Wie sich herausgestellt hat, sind auch Stürme überhaupt nicht mein Ding.

Mein Handy vibriert, aber es ist nicht Jordie. Ich habe eine neue E-Mail – von Dad. Ich verdrehe die Augen, aber ich kann mir keine Nörgelei erlauben, da ich ihm erst vor ein paar Minuten selbst eine geschrieben habe. Es ist wirklich hoffnungslos, wie wir miteinander kommunizieren. Vielleicht wird es ja irgendwann besser, jetzt, wo wir zusammenwohnen.

Die E-Mail ist eine weitergeleitete Stellenausschreibung für eine IT-Stelle bei ihm im Büro.

Ich habe sofort an dich gedacht, Liebes! Gib Bescheid, falls du dich bewirbst, dann lege ich ein gutes Wort für dich ein.

Ich seufze und tippe eine schnelle Antwort.

Danke, Dad!

Was ich nicht sage, ist, dass ich lieber einen Besen fressen würde, als mir von ihm einen Job besorgen zu lassen, den ich nicht will. Man kann mir gar nicht genug bezahlen, dass ich die Freiheiten meines stundenweisen Jobs als Barista gegen eine IT-Stelle in einem Konzern eintauschen würde. Nicht für alle Krankenversicherungen und betrieblichen Altersvorsorgen der Welt. Lieber bin ich den ganzen Tag auf den Beinen und koche Kaffee, als Leuten im Alter meines Vaters zu erklären, dass sie endlich aufhören müssen, den Internet Explorer zu benutzen.

Ich schaue auf die Uhr. Es sind noch ein paar Stunden, bis ich zu meinem eigentlichen Job muss, den ich mir zum Glück ganz alleine besorgt habe. Aber ein weiterer Blick in dieses Zimmer, das sich mehr nach Hotel als nach Zuhause anfühlt, lässt mich direkt aufbrechen. Auspacken kann ich auch später noch.

Vom Haus meines Dads in Queen Anne bin ich in etwa dreißig Minuten bis zum Save Point, im strammen Lauf bergab, über die Ballard Bridge und dann über einen echt zwielichtigen Parkplatz. Ich pendele also nicht allzu weit zu dem Gamer-Café, in dem ich seit knapp sechs Monaten arbeite. Mit der Schulter stoße ich die Tür auf und die elektronische Klingel verkündet meine Ankunft mit der Siegesfanfare aus Final Fantasy.

Jordie Abdullahs rundes braunes Gesicht mit frischen schwarzen Bartstoppeln taucht hinter dem Tresen auf. Er trägt ein zerknittertes Hemd mit lila Blütenaufdruck unter der Schürze und schaut gequält drein. »Steph! Oh mein Gott, ich könnte dich küssen!«

»Ja, aber das lässt du besser.« Ich schlendere hinüber und stütze mich mit den Ellbogen auf die laminierte Speisekarte.

»Ollie ist nicht aufgetaucht und Amy konnte niemanden finden, um einzuspringen. Ich schiebe also gerade eine Doppelschicht.«

»Wow, also haben wir heute einen Hals auf Ollie, ja?« Ich schlüpfe hinter den Tresen und schnappe mir auch eine dieser Schürzen.

»Nee, er ist krank  – hat seine Tage.« Jordie seufzt und rümpft die Nase. »Kannst du kurz übernehmen? Es ist Testo-Zeit und außerdem muss ich mal.«

»Befreit den Fluss!«, rufe ich so tief wie möglich, um Baumbart halbwegs würdig nachzuahmen, während Jordie zur Toilette hinüberhuscht.

Es ist Nachmittag und der Laden ist nicht sehr voll. Ein Typ mit einer Schiebermütze sitzt alleine da und nippt an seinem Kaffee – nach Hausregeln gebraut, wie wir im Save Point sagen –, während er wütend auf einem Laptop tippt, auf dem ein Aufkleber mit dem Schriftzug »Stolzer Pflanzen-Papa« prangt. Drüben am Fenster spielt eine kleine Gruppe Jugendlicher Codenames.

Da die Schule um drei Uhr endet, ist jeden Moment mit einem Ansturm zu rechnen, also mache ich die Kaffeemühle bereit und räume die Spülmaschine aus, während ich auf Jordie warte. Aus den Lautsprechern erklingt ein John-Mayer-Song und ich beäuge das ladeneigene Tablet, das an der Steckdose hängt. Faktisch bin ich noch nicht zur Arbeit eingeteilt, aber wenn ich schon hier bin, sollte wenigstens die Musik nicht derart schlecht sein. Ich pirsche mich an und wähle eine andere Playlist aus.

»Cherry Lips« von Garbage dröhnt aus den Lautsprechern und ich wippe mit den Schultern im Takt. Das Techno-Intro wird von einer Siegesfanfare unterbrochen, als die Tür des Cafés auf- und wieder zuschwingt und ich drehe mich um, um unsere neue Kundin zu begrüßen.

Und da steht sie. Ein windzerzaustes weißes Mädchen mit langen schwarzen Haaren, gerade geschnittenem Pony und mit goldenen Ringen und Steckern in den Ohren steht mir gegenüber und hält einen Stapel Zettel an die Brust gedrückt.

Ich beende meine Ein-Frau-Tanzparty und begrüße sie am Tresen. »Willkommen im Save Point. Was kann ich für dich tun?«

Ihr Blick gleitet an mir vorbei, ihre braunen Augen sind mit schwarzem Kajal und lilafarbenem Lidschatten umrandet. »Ist Jordie da?«, fragt sie.

»Er macht gerade Pause.« Ich deute mit dem Daumen über meine Schulter in Richtung des hinteren Teils des Ladens. Jordie ist noch nicht lange weg, aber ich weiß, dass es eine ziemliche Tortur sein kann, sein Testosteron bei der Arbeit zu nehmen. Ich will nicht das Arschloch sein, das seine gesetzlich vorgeschriebenen fünfzehn Minuten unterbricht. »Es dauert wahrscheinlich ein bisschen, falls du warten möchtest.«

Sie nickt und blickt zu den leeren Tischen hinüber, setzt sich aber nicht.

»Kann ich dir irgendwas anbieten?« Ich gestikuliere in Richtung Espressomaschine.

»Ähm …«, ihr Blick fällt auf die Speisekarte auf dem Tresen. »Ich nehme einen Schaurigen Schoko-Muffin und … ich schätze, einen Chromatischen Smoothie?«

»Lange oder kurze Rast?«, frage ich und deute auf die Keramiktasse und den To-go-Becher, die auf dem Tisch stehen. Sie schaut etwas verloren und so füge ich hinzu: »Für hier oder zum Mitnehmen?«

»Für hier.«

»Geht klar!« Ich schenke ihr mein schönstes Lächeln und drehe mich um, um ihr Getränk zuzubereiten – einen Ananas-Mango-Smoothie mit Brombeersahne. Mein Blick wandert vom Mixer mit den Fruchtstücken fort und folgt ihren Bewegungen, während sie auf einem der Hocker an der Bar Platz nimmt. Sie bewacht ihre Zettelsammlung so aufmerksam, als könne ein Windstoß sie jeden Moment in die Luft wehen – was, um ehrlich zu sein, in Seattle nicht groß ungewöhnlich wäre. »Was hast du da?«, frage ich und stupse die Papiere mit meinem kleinen Finger an, während ich ihren Schoko-Muffin über den Tresen schiebe.

»Was? Oh.« Sie schaut auf den Stapel in ihren Händen hinunter, als hätte sie sich gerade erst daran erinnert, dass sie ihn bei sich trägt. »Flyer.«

Ich schmeiße den Mixer an und lasse das laute Geräusch die Stille überbrücken. Bei der Arbeit hier trifft man alle möglichen Leute – schüchtern, laut, seltsam, unhöflich –, aber diese Kombination aus nervös und cool ist mir noch nie begegnet. Ich kann nicht sagen, ob sie so abweisend ist, weil ich offensichtlich ein Nerd bin, oder ob sie anderweitig abgelenkt ist.

Es ist seltsam zu sehen, wie jemand mit einem solchen Selbstbewusstsein sich an einem so gewöhnlichen Ort wie einem Café derart unwohl fühlt.

»Sie sind für meine Band«, sagt sie, als der Mixer zum Stillstand gekommen ist, und hält mir einen Flyer unter die Nase. »Wir spielen dieses Wochenende im Bar-None.«

Auf dem Papier steht in Art-déco-Schrift auf schwarzem Grund »Vinyl Resting Place«. Darunter befindet sich die Zeichnung eines Schlagzeugs mit Schallplatten anstelle von Becken und einer dunkelgoldenen Klangwelle.

»Jordie hat gesagt, dass ich einen ins Fenster hängen kann.«

»Na klar!« Ich krame in einer der Schubladen und ziehe eine Rolle Klebeband heraus. »Das ist mega. Ich liebe Musik!«

»Ist das deine Playlist?«, fragt sie und deutet auf die Lautsprecher, während ich Platz für ihren Flyer schaffe, indem ich ein Plakat für ein gruseliges Maislabyrinth abreiße, das es im April definitiv nicht mehr gibt.

»Oh, ja. Ich habe nur was Spaßiges aufgelegt, um etwas Leben in die Bude zu bringen.« Ich drücke einen Streifen Klebeband auf ihren Flyer und hefte ihn an das Fenster, bevor ich mich umdrehe und bemerke, dass sie mich ansieht. Ich schaue ihr in die Augen und erwidere ihren Blick etwas zu lange. Sie strahlen hell und braun, als würde sich ein ganzer Planet darin drehen. Vielleicht mache ich mir gar nicht erst die Mühe, in Dads Haus auszupacken. Ich sollte einfach in das Sonnensystem ziehen, das sich hier verbirgt.

In diesem Moment wechselt das Lied und »Rebel Girl« von Bikini Kill erfüllt den Raum.

»Das gefällt mir – ein Klassiker.«

Ich atme erleichtert auf und entspanne mich etwas. Was Musik angeht, bin ich eine echte Opportunistin. Es hätte genauso gut Weird Al oder der Soundtrack von Wicked sein können. In der Regel schäme ich mich nicht für meinen Musikgeschmack. Ich mag, was ich eben mag, und wenn jemand ein Problem damit hat, sagt das mehr über diese Person aus als über mich. Aber aus irgendeinem Grund will ich wirklich, dass sie denkt, ich hätte einen guten Geschmack.

Was auch immer guter Geschmack ist.

»Izzie!« Jordie ist schneller als erwartet zurück. »Du hast es geschafft! Freut mich, dass du es gefunden hast.« Mit einer schwungvollen Geste deutet er auf unsere Umgebung.

Das Verhalten der jungen Frau – Izzies Verhalten – ändert sich schlagartig. Ihre Haltung ist aufrecht und ihre Augen leuchten. Jordie lehnt sich nach vorne, um sie zu umarmen, und einen Moment lang frage ich mich, ob er vergessen hat, mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Zum Beispiel, dass er plötzlich auf Frauen steht. Ich starre ihn vielsagend an, aber seine ganze Aufmerksamkeit gilt Izzie.

»Es sind vielleicht zwei Minuten Fußweg von meiner Wohnung. Ich müsste schon den Kopf verlieren, um mich auf der Strecke zu verlaufen«, sagt Izzie und löst sich aus der Umarmung.

»Das wäre schon ziemlich cool, oder? Du könntest deinen Kopf unter dem Arm herumtragen und Leute erschrecken wie ein kopfloser Reiter.« Ich kehre hinter den Tresen zurück und dekoriere Izzies Getränk mit etwas frischer Minze, bevor ich es vor ihr auf die Theke stelle.

»Izzie, das ist Steph. Steph, Izzie – sie war die coolste Nachhilfelehrerin für Französisch, die ich je hatte.«

»Hattest du etwa mehrere?« Izzies Stimme hat etwas von ihrer Zurückhaltung verloren und ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln.

»Nö! Das macht dich aber nicht weniger cool!« Jordie reißt ein Stück von Izzies Schoko-Muffin ab und verkündet mit vollem Mund: »Das habt ihr beide schon mal gemeinsam.«

»Wo er recht hat«, sage ich, neige meinen Kopf ein wenig näher zu Izzies und stütze mich auf meinen Ellbogen ab. »Wir sind schon extrem cool.«

Jordie beugt sich verschwörerisch vor und seine warmen braunen Augen glitzern, wie immer, wenn ihm der Schalk im Nacken sitzt. »Ihr seid außerdem beide lesbisch. Tauscht euch doch mal darüber aus!« Er springt auf, duckt sich hinter den Tresen, um den Mixer zu reinigen, und lässt mich einfach hängen, von Angesicht zu Angesicht mit Izzie.

»Ich, ähm …« Izzie blickt zu mir auf, ihr Ausdruck ist völlig unleserlich.

»Jordie!« Ich schwöre, er ist der schlechteste Wingman der Geschichte. Ehrlich gesagt, für einen queeren Mitmenschen sollte Jordie es besser wissen. Auf Frauen zu stehen, ist die Mindestanforderung für meine Date-Auswahl. Und so anziehend ich Izzies Ausstrahlung auch finde, falls sie gerade Bewerbungen für eine Freundin sichtet, dann wahrscheinlich nicht von der Barista im Gamer-Café. Ich weiß, dass ich dringend irgendwas sagen sollte, um es Izzie zu ersparen, mir hier und jetzt einen Korb geben zu müssen. Aber noch bevor mir ein Witz einfällt, um die Situation etwas aufzulockern, hebt sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen vielsagend eine Augenbraue.

»Und welche Sorte Lesbe bist du?«, fragt sie.

»Die Sorte, die … auf … Frauen steht?«

Sie nickt und nippt an ihrem Smoothie. »Ich auch.«

»Izzie ist eine Rockstar-Lesbe!«, verkündet Jordie hilfsbereit. »Ihre Band rockt – und das ist kein Wortspiel.«

»Lügner!«, sage ich genau zu dem Zeitpunkt, als Izzie sagt: »Ja, genau.«

Ich suche ihren Blick und verziehe das Gesicht, dass ich so unattraktiv aussehe wie noch nie in meinem Leben – mal von dem Jahr abgesehen, in dem ich mich zu Halloween als Mayonnaise-Tube verkleidet hatte.

Jordie zuckt nur mit den Achseln. »Was soll ich sagen? Gay und Wortspiel-Liebhaber.« Seine Augen blitzen, als er mich ansieht. »Und Steph ist Gamerin. Ein Gaymerin könnte man auch sagen.«

»Ganz sicher nicht«, murmle ich.

»Ach, komm schon, du bist eine wirklich tolle Spielleitung.« Jordie stößt mich mit dem Ellbogen an und hält meine Reaktion auf sein Wortspiel für Bescheidenheit. »Wirklich, Izzie, du solltest Steph mal in Aktion sehen. Letzte Woche hat sie uns gegen diese riesigen Gargyle kämpfen lassen, in dichtem Nebel, mit einer Säuregrube auf der einen Seite des Schlachtfelds und einer steilen Klippe auf der anderen.«

»Klingt grauenhaft«, sagt Izzie.

Ich mag es nicht, wenn Menschen mich für die Wahl meiner Hobbys in eine Schublade stecken. Aber wenn Leute denken, dass ich deswegen ein Nerd bin, dann haben sie wohl recht. Ich bin ein Nerd und stolz darauf. Aber irgendetwas an Izzie sorgt dafür, dass ich in ihrem Gesicht nach Anzeichen von Verachtung suche. Zum Glück finde ich nichts.

»Grauenhaft trifft es ganz gut! Steph hat echt Talent dafür – sie gibt einem das Gefühl, wirklich mittendrin zu sein.« Jordie tippt auf eine laminierte Kopie unseres Veranstaltungskalenders auf der Theke. »Wir spielen jeden Freitagabend, falls du Lust hast, es mal auszuprobieren.«

»Oh, ich weiß nicht wirklich, wie man spielt.«

»Hey, Neulinge sind an meinem Tisch immer willkommen!« Ich fische nach einem Exemplar des Kalenders hinter dem Tresen und reiche es ihr. »Außerdem ist es wirklich nicht kompliziert. Würfeln, ein paar mathematische Grundkenntnisse, eine lebhafte Fantasie … Ich bin sicher, es wird dir Spaß machen. Denk einfach mal drüber nach.«

»Lass uns tauschen.« Izzie drückt mir lässig einen ihrer eigenen Flyer in die Hand. »Der Auftritt ist am Samstag. Vielleicht kannst du deiner Playlist ja was Neues hinzufügen.«

Ich falte den Flyer zusammen und stecke ihn in meine Tasche, aber auch während des abendlichen Trubels geht er mir nicht aus dem Kopf. Selbst als mir auf dem Weg nach Hause ein klassischer Seattler Frühlingsregen ins Gesicht prasselt, muss ich noch an ihn denken.

Und als ich in meinem Zimmer ankomme, mache ich mir gar nicht erst die Mühe, fertig auszupacken. Das Letzte, was ich tue, bevor ich ins Bett falle, ist, eine Reißzwecke durch den oberen Teil des Flyers zu bohren und ihn an meine Wand zu pinnen.

Ich wusste, dass sie nicht lange leer bleiben würde.

Zwei

Im magischen Reich von Windmyre bin ich König. Ich bin außerdem der böse Berater, die Bardame mit dem dunklen Geheimnis, die Ladenbesitzerin, die verzweifelt einen verfluchten Dolch loswerden will, und der eisblaue Drache auf dem Berg, der über alles wacht. Hinter meinem SL-Schirm habe ich die totale Kontrolle – außer wenn sie mir entgleitet.

»Natürliche Zwanzig!« Jordie reckt siegessicher die Faust in die Luft.

Mit nur noch zwei Trefferpunkten hat der Betrachter, gegen den sie kämpfen, eigentlich keine Chance, aber ich will ihnen den Spaß nicht verderben. Außerdem liebe ich das Klick-Klack-Klack eines zufriedenstellenden Würfelwurfs.

»Der Betrachter lenkt den Blick seines gewaltigen Auges auf den mächtigen Magier Strive. Du erkennst dein Spiegelbild in seiner Iris, die von der gleichen himmelblauen Farbe ist wie deine Haut. Deine Robe flattert hinter dir, während du nach dem Dolch an deiner Hüfte greifst und die flache Seite der Klinge an die Lippen presst. Dein geflüsterter Zauberspruch wird zu einem Flammenwirbel, der das Ungetüm vor dir verschlingt.« Ich deute auf Jordies Würfelunterlage, auf dem sorgfältig angeordnet die bunten, handgegossenen Resinwürfel liegen, die unsere Freundin Lia für ihn angefertigt hat. »Würfle deinen Schaden aus.«

Jordie schnappt sich einen durchscheinenden W10 mit roten und orangefarbenen Wirbeln und lässt ihn über den Tisch rollen. Er landet mit einer goldenen Drei nach oben und Jordie verzieht das Gesicht.

»Hey, das war ein kritischer Treffer, du kannst den Wurf verdoppeln.« Faye, die regelmäßig an unseren Spieleabenden teilnimmt, stupst Jordie mit einem aufmunternden Lächeln an. Es passt so gar nicht zu ihrem stoischen Charakter, einer Schurkin mit vielen Messern, die weit weniger gerne redet als sie zusticht.

»Okay, das sind dann sechs Schadenspunkte«, sagt Jordie.

»Als sich die Flammen verflüchtigen, spürst du, wie die ganze Kammer erbebt. Der Betrachter sinkt zu Boden und rührt sich nicht mehr.«

»Jawoll!«

Die Spielenden stoßen einen lauten Siegesschrei aus, einige springen sogar von ihren Plätzen auf. Jordies Grinsen ist so breit, dass es ihm aus dem Gesicht zu fallen droht, und Faye fällt Stephen in die Arme, einem neuen Spieler, der erst seit heute Abend dabei ist. Sein Charakter, eine junge Bardin namens Osanna, ist nur wenige Augenblicke zuvor im Kampf gefallen, aber er nimmt es tapfer.

Genau deswegen macht es so viel Spaß. Solche Momente sind der Grund, warum ich dieses Spiel spiele. Freunde und Fremde tun sich zusammen, um gemeinsam über das Böse zu triumphieren. Heute Abend sorgen nicht nur die Zauber im Café für wirklich magische Momente. Es sind die Menschen.

Wie aufs Stichwort ertönt die Siegesfanfare aus Final Fantasy, als die Tür des Save Point aufschwingt. Mein Herz schlägt plötzlich bis zum Hals und ich hoffe auf einen schwarzen Haarschopf, aber es ist nicht Izzie. Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als Pixie hereinstürmt.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin!« Pixie kommt zum Tisch und zieht sich einen Stuhl heran. Klein und lebhaft wie sie ist, passt der Name Pixie wirklich perfekt zu ihr. Sie trägt sogar ein T-Shirt mit einem Cartoon-Geist, der einen Zauberstab in der Hand hält. Darauf prangt in verschlungenen lilafarbenen Buchstaben der Schriftzug Bippity-boppity-BOO, der farblich perfekt auf ihren violetten Hidschab abgestimmt ist. »Die Bandprobe hat etwas länger gedauert.«

Pixie ist zweifellos eine meiner coolsten Freundinnen. Sie spielt Dungeons & Dragons fast genauso gut wie Schlagzeug. Wir haben uns in meinem zweiten Jahr an der Highschool kennengelernt, als ich bei ihrem Abschlussball mit der Technik geholfen habe. Pixies Band, The High Seas, haben an jenem Abend gespielt, und es war der größte Spaß, den ich je mit Piraten-Dingen hatte. Ich war seitdem bei jedem ihrer Auftritte und Pixie kommt, wann immer sie kann, zu unserem Spieleabend. Wenn The High Seas auf Tour sind, spielen wir sogar Abenteuer per Videochat, damit sie ihre übliche Dosis Rollenspiel bekommt.

»Ich würde ja sagen, das ist kein Problem. Allerdings liegt Osanna im Sterben und wir könnten wirklich einen Heiler gebrauchen«, sagt Faye und zeigt mit dem Daumen auf Stephen.

»Tadaaa!« Stephen grinst schief. »Ich kann es nicht fassen, dass ich bei meiner ersten Sitzung gestorben bin.«

Pixie wirft mir einen abschätzenden Blick zu. »Ich kann – Steph, du musst aufhören, neue Spieler zu verschrecken!«

»Hey, ich tue nur, was die Würfel mir sagen.« Ich hebe die Hände und zucke mit den Schultern. »Außerdem ist sie ja noch nicht ganz tot.«

Pixie lässt einen Würfelbeutel, der beinahe so groß ist wie ihr Kopf, auf den Tisch fallen und fischt einige W8 heraus. »Mouser wirkt Wunden heilen mit einem Zauberplatz des 2. Grades.«

Genau wie ich gehofft hatte. Ich reibe meine Hände aneinander und beschreibe die Szene. »Mouser, du stürmst just in dem Augenblick durch die Tür, als der Kampf zu Ende ist. In deinen roten Haaren haben sich zahlreiche Zweige und Blätter verfangen, so sehr hast du dich beeilt. Als du Osanna regungslos am Boden liegen siehst und in die niedergeschlagenen Gesichter deiner Gefährten blickst, sinkst du auf die Knie und ergreifst die Hand der Bardin. Geflüsterte Worte verlassen leise deine Lippen und ein Lichtschein wandert über Osannas Arm zu ihrem Herzen hin.«

Pixie würfelt und ich wende mich an Stephen und zeige auf das Würfelergebnis auf dem Tisch. »Osanna, du spürst, wie sich Wärme in deinem Körper ausbreitet. Die Leichtigkeit, die dich umfangen hatte, verpufft und du wirst zurück nach unten in deinen Körper gezogen. Mit einem Ruck kehrst du ins Leben zurück. Das Erste, was du siehst, ist ein grinsender Halb-Ork in Ritterrüstung mit einer riesigen schimmernden Axt an der Seite.«

Stephen reißt die Augen auf und dreht sich zu Pixie um. »Ich setze mich langsam auf und sage: ›Danke, habt Dank!‹« Er spricht sehr schnell und mit dem leichten deutschen Akzent, den er für Osanna angenommen hat.

»Nichts zu danken«, winkt Pixie ab. Die Stimme ihres Charakters Mouser ist tief und gleichmäßig – ganz anders als ihre ansonsten so lebhafte Art zu sprechen.

»Ich werde Eure Großtaten in meinem Buch verewigen!«, sagt Stephen mit seiner Osanna-Stimme. »Ihr müsst wissen, ich bin Geschichtenerzählerin und es wäre eine wahre Schande, solche Heldentaten nicht für die Nachwelt festzuhalten.«

Pixie zuckt nur mit den Schultern und brummt tief.

Jordie lehnt sich über den Tisch und murmelt: »Das ist ein wirklich schöner Gedanke, Osanna, aber … Mouser kann nicht lesen.«

Pixie zwinkert und ihre Stimme klingt wieder normal. »Intelligenz ist mein niedrigster Wert. Technisch gesehen gibt es zwar keine genauen Regeln für Lesen und Schreiben, aber ich dachte, für meinen Charakter ist das durchaus passend.«

»Ich helfe Osanna auf die Beine und gebe ihr ihren Geigenbogen zurück«, sagt Faye. »Aber ich wirbele ihn dabei herum, als ob ich einen Messertrick machen würde«, fügt sie hinzu.

»Würfle auf Geschicklichkeit.« Faye würfelt mit einem W20. Er klappert über den Tisch und kommt als natürliche Eins zum Liegen. »Okay, du hast ihn kaputt gemacht.«

»Nun … ich denke, das wäre auch eine gute nächste Quest.« Jordie dreht sich mit leuchtenden Augen zu Stephen um. »Was meinst du, sollen wir uns auf die Suche nach einem neuen Instrument machen?«

Stephen nickt eifrig. »Unbedingt, aber … Ich habe den Zauber Ausbessern. Würde das helfen?«

Während Faye und Pixie sich über Stephens Charakterblatt beugen, stehe ich auf, um mir die Beine zu vertreten. Wir spielen schon seit einer Stunde und sollten eine Pause machen. Außerdem habe ich einen Riesenhunger. Ich verschwinde hinter dem Tresen, um ein paar Backwaren von gestern für unsere Gruppe zu holen. Wir haben Glück, weil unsere Filialleiterin Amy uns erlaubt, das Café für unsere Runden zu nutzen. Eigentlich sind Jordie und ich heute Abend beide zur Arbeit eingeteilt, aber außer den Stammspielenden und gelegentlich ein paar Neulingen kommt meistens niemand. Sie sind alle so nett und bestellen jeweils ein bis zwei Getränke, sodass wir unsere Treffen hier weiterhin rechtfertigen können.

Während ich eine heiße Schokolade für Pixie und die zweite Ladung Getränke für die anderen zubereite, schweift mein Blick immer wieder zur Eingangstür. Sie weigert sich jedoch beharrlich, sich zu öffnen.

»Warten auf Grufti-Godot?« Jordie stellt sich neben mich und folgt meinem Blick zur Tür.

Ich zucke mit den Schultern und gebe mir Mühe, möglichst lässig zu wirken. »Keine Ahnung, wovon du redest.«

»Also bitte!« Jordie schnappt sich den Teller mit dem Gebäck und reicht ihn über den Tresen an Pixie weiter. »Ich bin vielleicht nicht gut im Flirten, aber ich kann beurteilen, ob die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt.«

»Ich weiß nicht … Ich hatte gehofft, sie würde auftauchen. Dass da irgendwas gewesen wäre zwischen uns.« Ich lehne mich zurück gegen das Waschbecken. Mein T-Shirt ist hochgerutscht und das kühle Metall, das meine Haut berührt, holt mich in die Wirklichkeit zurück. »Aber es ist Freitagabend – wahrscheinlich hatte sie was Besseres vor.«

»Besser als ein Kampf gegen einen Betrachter? Das kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.«

»Ist schon okay«, sage ich und klinge dabei wenig überzeugend.

Die Wahrheit ist, sosehr ich dieses Spiel auch liebe, es ist lange her, dass ich an einem Freitagabend etwas anderes getan hätte. Ich hatte erwartet, dass mein Leben nach dem College-Abschluss so richtig in Schwung kommen würde. Aber der Unterricht und die Hausaufgaben wurden von der Arbeit im Café abgelöst und dazu kommen jetzt noch die Abendessen mit Dad. Selbst an Abenden, an denen ich mich mit Freunden treffe, machen wir immer das Gleiche. Sonntags chillen wir bei Lia und schauen Game of Thrones, donnerstags hängen wir bei Jordie rum und gucken Critical Role, diesen fantastischen Live-Stream, in dem Synchronsprecher Dungeons & Dragons spielen, und freitags sind wir dann hier im Laden, um unsere eigene Runde zu spielen. Ich mag das alles. Wirklich. Ich hatte nur irgendwie erwartet, dass mein Leben etwas abenteuerlicher sein würde – voll von echten Abenteuern, nicht nur solchen in meiner Fantasie.

»Vielleicht hat es nicht sein sollen«, sage ich. »Ich habe halt einfach nicht gut genug gewürfelt, verstehst du?«

»Das ist doch Blödsinn.« Jordie wirbelt herum und drückt mir die Spitze seines Zeigefingers auf die Brust. »Du bist die Spielleitung, Steph. Du bestimmst, wo es lang geht.«

»In Windmyre, ja. Aber nicht im echten Leben.«

»Und warum nicht?«

Ich schlucke und denke an all die Dinge in der Welt, die sich meiner Kontrolle entzogen haben: die Scheidung meiner Eltern, dass meiner Mutter das Geld ausging und sie mich nicht auf der Blackwell Academy lassen konnte, der buchstäbliche Sturm, der durch mein Leben fegte und alles verändert hat. Aber es ist Unsinn, Izzie mit all diesen Dingen zu vergleichen. Sie ist nur eine junge Frau. Sie wird mich schon nicht ins Verderben reißen.

»Scheiß drauf.« Ich stoße mich von der Theke ab und lasse mich auf der anderen Seite neben Jordie nieder. »Ich gehe morgen einfach zu ihrem Konzert.«

»Das ist die Steph, die ich kenne!«

»Aber du musst mitkommen«, ergänze ich schnell. »Ich will nicht verzweifelt rüberkommen.«

Jordie schaut einen Moment etwas zögerlich, aber dann fängt er sich. »Ja … ja, okay. Ich hatte ohnehin vor, mit Ollie hinzugehen.«

»Noch besser! Ihr seid mein Gefolge!«

Jordie gibt ein gutturales Würgegeräusch von sich. »Bitte nenn uns nie wieder so.«

»Na gut.«

Ich nehme Jordies Arm und geleite ihn zurück zum Tisch, wo Pixie, Faye und Stephen bereits Muffins und Croissants mampfen. Ich lasse mich hinter dem SL-Schirm nieder und werfe einen Blick auf meine Notizen. Ich hatte mir ein Abenteuer für sie ausgedacht, das sie in eine verfluchte Krypta führt, in der sie am Ende gegen einen Lich kämpfen müssen. Aber plötzlich habe ich keine Lust mehr auf das dunkle und düstere Labyrinth, das ich vorbereitet habe.

Stattdessen klappe ich mein Notizbuch zu und schaue zu meinen Spielenden auf.

»Also gut, ich habe gehört, ihr wollt nach einem neuen Instrument für Osanna suchen.«

Stephen nickt energisch und setzt seine Charakterstimme auf, als er antwortet: »Oh, ja! Die Geige hat so einen schönen Klang, aber ich glaube, ich hätte gern etwas Lauteres für die Schlacht.«

Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus und die Worte fließen wie von selbst. »Ihr kennt sicher die Sagen von einem nahen Berg, auf dessen Gipfel der Donner tobt. Gerüchten zufolge soll ein sechssaitiges Instrument der Grund dafür sein, das bei jedem Klang Blitze versprüht. Als ihr euch an den Aufstieg macht, hört ihr den markanten Mollakkord einer E-Gitarre, der auf dem felsigen Pfad widerhallt.«

Drei

Bei Indie-Konzerten liegt eine Energie in der Luft, als würde man darauf warten, dass während eines Gewitters ein Blitz irgendwo einschlägt. Es ist einfach nicht dasselbe wie bei den großen Stadionkonzerten, bei denen jeder einzelne Besucher der größte Fan aller Zeiten ist und sich niemand Plätze im Umkreis von einer Meile um die Bühne leisten kann.

Hier im Bar-None stehen die Leute dicht gedrängt an den Wänden, mit Gläsern in der Hand. Gesprächsfetzen fliegen durch den Raum, die Vorfreude des Publikums ist körperlich spürbar und die ganze Szenerie wird von den Bühnenscheinwerfern in ein violettes Licht getaucht. Es fühlt sich ein wenig an, wie unter Wasser zu sein. Wie wenn man auf der Spitze der Space Needle steht. Es fühlt sich an, als ob etwas Großes bevorsteht.

Natürlich verschütte ich nach knapp zwölf Sekunden das Getränk, das Ollie mir gerade eben erst gereicht hat – direkt über mein Hemd.

»Scheiße! Das kann doch nicht wahr sein!« Ich stöhne. Ruhe in Frieden, Birnen-Cider. Du wärst sicher köstlich gewesen.

»Ist doch bestimmt ganz schnell wieder trocken, oder?«, sagt Jordie. »Soll ich dir noch einen holen?«

»Nee. Ist nicht nötig.« Ich ziehe die Vorderseite meines Fleetwood-Mac-Shirts von meinem Körper weg und fächere ihm Luft zu, in der Hoffnung, dass dieser lächerliche Versuch es schneller trocknen lässt.

»Krasse Performance! Eine erstklassige Steph-Aktion.« Ollie legt mir die Hand auf die Schulter und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Oh mein Gott, erinnerst du dich? Damals in der Schule, als du …«

»Ich war dabei, Oliver«, knurre ich.

Ollie macht sich nicht mal die Mühe, seine Schadenfreude über mein Missgeschick zu verbergen. Seine blauen Augen funkeln. Dabei wirkt er immer so unschuldig. Wahrscheinlich liegt es an seinen Grübchen. Mit seinem runden Gesicht, den lockigen Haaren und den Sommersprossen sieht Ollie die meiste Zeit aus wie ein Bauernjunge, der gerade von seinen magischen Kräften erfahren hat. Es ist echt nervig und gleichzeitig äußerst liebenswert.

Ollie hat sich wieder zu Jordie umgedreht, um ihm von meinen zahlreichen peinlichen Großtaten aus unserer Collegezeit zu berichten. Das ist das Problem, wenn man mit ehemaligen Mitbewohnern arbeitet. Sie kennen alle deine Geheimnisse. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Als Jordie eifrig nickt und den Blick keine Sekunde lang von Ollie nimmt, kann ich sehen, wie Ollie sich vorbeugt und sein Ellbogen sanft den von Jordie streift.

Ich verkneife mir ein Lachen. Dieses teuflische Genie hat absichtlich dafür gesorgt, dass ich meinen Drink verschütte, nur um mich loszuwerden.

»Ich glaube, ich habe drüben bei der Bühne einen Merchandise-Stand gesehen. Vielleicht haben sie ja T-Shirts.« Aber niemand hört mir zu. Sie sind zu sehr aufeinander fixiert, um sich groß um die gute alte Steph und ihren T-Shirt-Notfall zu scheren.

Ich schiebe mich durch die Menge und ziehe mein Handy heraus, um Ollie ein paar schnelle Nachrichten zu schreiben.

Ist das ein Date????

Bin ich das fünfte Rad bei eurem Date?

Wenn ihr zwei allein sein wollt, sagt mir doch einfach, dass ich mich verpissen soll, omg

Es ist gleichermaßen lustig wie traurig, dass Ollie und ich so was auch nach all dieser Zeit nicht richtig hinkriegen. In den zwei Jahren, bevor er sich geoutet hat und in den Wohnflügel für Jungs umgezogen ist, habe ich ihn deutlich zu oft dabei überrascht, wie er in unserem Zimmer jemanden klargemacht hat. Diese Erinnerungen haben sich auf ewig in mein Gehirn eingebrannt.

Wenigstens sind dieses Mal alle Beteiligten vollständig bekleidet. Und zum Glück gibt es am Merchandise-Stand in der hinteren Ecke tatsächlich T-Shirts. Meine Größe ist ausverkauft, also kaufe ich kurzerhand eines in L, mit demselben Logo wie auf dem Flyer, und bin einen Zwanziger los.

»Kann ich mich … irgendwo umziehen?«, frage ich und sehe mich nach einer Toilette um.

»Steph?« Izzies Stimme klingt samtweich, als würde man in ein riesiges Kissen sinken. Sie steht etwas abseits, mit einer dunkelroten E-Gitarre über der Schulter, und trägt eine Lederjacke und schwarzen Lippenstift.

Und ich rieche so, als ob ich mir einen Becher vergorener Früchte übergekippt hätte. Na toll.

»Hey! Izzie! Coole Location, sehr feuchte Getränke«, stammle ich. Alles wie immer. Überhaupt nicht merkwürdig oder so.

Ihre Lippen formen ein Lächeln. Es schimmert rosig, als sie lachend die Zungenspitze zwischen die Zähne schiebt.

»Das ist ziemlich offensichtlich.«

»Ja … was das angeht …« Ich halte mein neues T-Shirt von Vinyl Resting Place hoch.

»Komm mit – du kannst dich hinter der Bühne umziehen.«

Izzie ergreift mein Handgelenk, um mich hinter sich herzuziehen. In meinem Gehirn setzen alle höheren Funktionen aus und alles, woran ich denken kann, sind ihre Finger auf meiner Haut. Ob sie spüren kann, wie mein Puls in die Höhe schnellt?

Durch einen dunklen Gang bahnen wir uns einen Weg in ein Hinterzimmer, das eher an eine Garage erinnert als an einen Greenroom. An den Wänden stehen Kisten und Fässer, der Boden besteht aus rissigem Zement. Drei andere junge Frauen stehen in der Nähe der Tür. Eine hat einen E-Bass umhängen, eine andere lässt Schlagzeugstöcke zwischen ihren Fingern umherwirbeln.

»Da bist du ja. Wir müssen gleich auf die Bühne«, sagt die dritte, eine Rothaarige mit einem kurzen Bob und einem engen Tanktop.

»Nur ganz kurz, okay? Steph braucht einen Platz zum Umziehen.«

Ich winke ihnen zu, aber der Rest von Vinyl Resting Place scheint sich nicht sonderlich für mich zu interessieren. Ich kann es ihnen nicht verübeln.

»Hier. Da hast du zumindest etwas Privatsphäre.« Izzie führt mich hinter einen dunkelblauen Van, der im Greenroom geparkt ist. Die Stoßstange ist mit einem Dutzend Aufklebern mit verschiedenen Botschaften geschmückt, von einem Regenbogen mit der Aufschrift ›Steer Queer‹ bis zu ›Ich bremse auch für Bigfoot‹.

Ich gebe Izzie einen Daumen nach oben, und als sie mir den Rücken zudreht, ziehe ich schnell mein nasses T-Shirt aus und das neue an.

»Okay. Ich bin so weit«, sage ich ein wenig atemlos.

Izzie dreht sich um und mustert mich von oben bis unten. »Etwas zu groß.«

Ich zucke nur mit den Schultern. »Das macht nichts – ich denke, ich werde es einfach als Schlafshirt benutzen.«

»Cool.« Izzie grinst, breit und aufrichtig.

»Vielleicht träume ich ja von Rock ’n’ Roll.«

»Izzie!«, ruft eine ihrer Bandkolleginnen. »Wirf dein Groupie raus, wir müssen auf die Bühne.«

»Bin unterwegs!«, ruft sie zurück, macht aber keine Anstalten zu gehen. Stattdessen schiebt sie die Gitarre auf ihren Rücken, dass der Gurt sie wie einen Rucksack hält, und macht einen Schritt auf mich zu.

Mir stockt der Atem und einen Moment lang befürchte ich, sie würde mich küssen, was echt abgefahren wäre. Coole Rockerinnen nehmen Steph Gingrich normalerweise nicht mit hinter die Bühne, um mit ihr rumzuknutschen. Und selbst wenn sie es täten, würden Ollie und Jordie mir das nie glauben.

Aber dann greift Izzie nach dem unteren Teil meines T-Shirts, knüllt ihn zusammen und wickelt ein Haarband darum, das den Stoff an meiner Taille rafft. Ihre Finger streichen leicht über meinen Bauch, als sie den Knoten unter das T-Shirt schiebt. »So«, sagt sie, als sie fertig ist, und sie tritt einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Echt niedlich!«

Als sie sich zu ihren Bandkolleginnen gesellt und in Richtung Bühne geht, folge ich ihr in einigem Abstand. Geistesabwesend streiche ich mit der Hand über den Saum meines T-Shirts, wo ihre Finger sanft meine Haut berührt haben. Mir ist gerade sogar völlig egal, dass ich Jordie und Ollie in dem Gedränge nicht entdecken kann.

Die Stimme der Leadsängerin dröhnt aus den Lautsprechern. »Wir sind Vinyl Resting Place! Wer hat Bock auf Rock ’n’ Roll, der selbst die Toten zum Tanzen bringt?«

Das Publikum jubelt. Ich stelle mich neben die Bühne, nur ein paar Meter von Izzie entfernt, während ihre Finger über die Saiten fliegen und die ersten Töne des Songs spielen. Ich kann weder die Leadsängerin noch die zweifelsohne coole Beleuchtung sehen, aber das ist okay. Was ich von hier aus sehe, gefällt mir ohnehin besser.

Livemusik ist das, was meiner Meinung nach Magie am nächsten kommt. Wenn ich Spielleitung bin, kann Magie zerstören, Illusionen erzeugen und sogar heilen, aber in der echten Welt ist Musik einfach das Größte. Ich springe umher und tanze auf meinem kleinen Platz in der Nähe der Bühne, während Vinyl Resting Place ihr Set spielen und jeder Ton lässt mich für diese Musik brennen.

Wenn Lieder tatsächlich Zauber sind, dann muss Izzie eine Zauberin sein. Ihre Finger fliegen über die Saiten und entlocken ihrem Instrument eine hypnotisierende Melodie. Ich bin vollkommen verzaubert, ein williges Opfer ihrer Hexerei.

Erst als mein Handy zum neunten Mal in Folge in meiner Hosentasche vibriert, kann ich meinen Blick von ihr losreißen und werfe einen Blick auf die Flut an Nachrichten aus dem Gruppenchat.

Jordie: Steph, wo steckst du???

Ernsthaft, alles okay? Bist du von Aliens entführt worden?

Ollie: wenn ja bring uns ein souvenir mit

und gib bescheid ob sie heiß sind

Jordie: Ollies Knie tut weh und ich bringe ihn nach Hause. Soll ich dich mitnehmen oder kommst du klar?

Ollie:wow und mit mir läuft nichts mehr oder wie?

Jordie:Habe doch gerade geschrieben, dass ich dich nach Hause fahre.

Schon gut, ich habs eben erst kapiert. Typisch Ace halt, kriegt nie was mit.

Ollie: autokorrekt hat dir wohl »echtes Ass« verbessert

Ich verkneife mir ein allzu breites Grinsen. Es war wirklich höchste Zeit, dass Jordie und Ollie zueinanderfinden, und in mir keimt die Hoffnung, dass sich das Ganze zu einer Beziehung auswächst. Vielleicht ist das ein Zeichen.

Nehmt euch ein ZIMMER

Aber ernsthaft, ich komme klar. Amüsiert euch ruhig.

Ich stecke mein Handy weg und wende mich wieder der Bühne zu, als der Song mit einem explosiven Akkord und einem Beckenschlag endet.

»Danke schön!«, ruft die Leadsängerin. »Wir sind Vinyl Resting Place – und wir waren großartig!«

Leises Gelächter ist aus dem Publikum zu hören, als drei der vier Musikerinnen ihre Instrumente ausstöpseln und in meine Richtung kommen. Izzie steht alleine da und schaut mit großen Augen und zusammengekniffenen Brauen über ihre Schulter. Einen Moment lang rechne ich damit, dass sie spontan zu einem Solo oder so ansetzt, aber dann zieht sie plötzlich den Stecker ihrer Gitarre und folgt den anderen.

»Ihr wart fantastisch!«, rufe ich über den Lärm der sich auflösenden Menge hinweg.

Izzie entgegnet meinen Blick und schenkt mir ein schwaches Lächeln. »Hey! Danke dir.« Sie schaut von mir zum Rest ihrer Band, der soeben im schattigen Gang zum Greenroom verschwindet. »Ich muss erst noch was erledigen, aber … hau nicht ab, ja? Wir treffen uns so in fünfzehn Minuten, okay?«

Ich nicke heftig. Viel zu heftig. Mir tut schon fast der Nacken davon weh.

»Cool.« Sie strahlt mich an, bevor sie verschwindet.

Ich lehne mich an die Wand, während ich auf sie warte, und scrolle durch die sozialen Medien, ohne wirklich genau hinzuschauen. Ein Schwung Textnachrichten von Jordie trudelt ein, und auch wenn ich versuche, sie so gut es geht zu beantworten, gilt meine ganze Aufmerksamkeit dem Flur, aus dem Izzie gleich wieder auftauchen sollte.

Wusstest du, dass Oliver auf mich steht???

Steph! Was soll ich tun, wenn er mich küsst?

LOL KÜSS IHN ZURÜCK

Schon klar, aber WIE denn genau?

Na … mit deinem Mund?

Wie soll ich denn dann atmen?

Vielleicht wusstest du es noch nicht, Jordie, aber wenn du deinen ersten Kuss bekommst, wachsen dir tatsächlich Kiemen

Okay, also …

… durch die Nase oder wie?

Ich bin so bescheuert. Warum steht er bloß auf mich???

Weil du so bescheuert bist <3

Es wird alles gut. Sprich einfach mit Ollie darüber.

Er weiß, dass du ace bist, und er ist kein Arsch. Ich bin sicher, ihr kriegt das hin.

Danke, Steph <3

Etwas bewegt sich im Flur und ich stelle mich kerzengrade hin. Verdammt straight! Dann entsinne ich mich, dass ich alles andere als straight bin und verrenke meinen Körper, um möglichst lässig dazustehen. Ich will ausstrahlen, dass Steph Gingrich eine lesbische Traumfrau ist, die für Knutschereien nach dem Konzert zur Verfügung steht. Aber die Stimme, die durch den Flur zu mir dringt, ist nicht die von Izzie.

»Das Lied passt einfach nicht zu unserem Sound. Wenn sie das nicht kapiert, dann ist sie nicht die Richtige für Vinyl Resting Place.«

Es ist die Leadsängerin mit den kurzen kupferfarbenen Haaren und der Lederweste. Die Bassistin und die Schlagzeugerin, die links und rechts von ihr gehen, nicken. »Vielleicht war es zu heftig, aber ganz ehrlich, es musste mal gesagt werden.«

»So heftig war es nicht. Wir alle denken das schon seit Wochen«, sagt die Bassistin. »Ich bin bloß überrascht, dass sie so gar nicht damit gerechnet hat.«

Ich löse mich von der Wand. Die Schlagzeugerin stößt mit der Schulter gegen meine, aber sie macht sich nicht mal die Mühe, sich zu entschuldigen. Meine Gedanken rasen, können aber kaum mit meinen Beinen mithalten, die mich zurück in den Greenroom tragen.

Izzie sitzt mit hängenden Schultern auf dem Boden, die Gitarre über ihre Beine gelegt. Sie starrt mit ausdruckslosem Blick auf einen Punkt irgendwo im leeren Raum.

Ich möchte mich neben sie setzen, ihr sagen, dass sie brillant war, ihre Hand nehmen und für sie da sein, was auch immer sie gerade durchmacht. Ich muss mich daran erinnern, dass ich nur Steph bin, jemand, den sie in einem Café getroffen hat. Ich bin ein Niemand.

Das bin ich für ziemlich viele Leute. Aber dann sagt sie meinen Namen und alle anderen sind vergessen.

»Steph? Scheiße, ich hab’s komplett verpeilt. Ich … Ich hole nur schnell meine Sachen.«

»Kein Ding.« Ich schaue über meine Schulter, um sicherzustellen, dass wir alleine sind. »Alles okay bei dir?«

»Ja! Alles prima.« Ihre Stimme ist zu hoch, ihr Lächeln zu breit. Ihre Augen schimmern feucht von nicht vergossenen Tränen und sie schnieft. »Verdammt!«

Ich zucke mit den Schultern und lehne mich gegen den Türrahmen. »Hör zu, wenn du willst, dass alles prima ist, dann ist das okay. Wir können was trinken gehen und feiern euren fantastischen Auftritt und vielleicht magst du mir deine Nummer geben.«

»Ja?«

»Ja.« Ich gehe zu ihr hinüber und lasse mich auf die Knie sinken. »Aber falls es dir eben doch nicht gut geht, können wir auch das hier machen.« Ich rolle mich seitlich ab und setze mich neben sie. Unsere Ellbogen berühren sich.

»Was … genau?«, fragt sie.

»Wir sitzen hier und du erzählst, was passiert ist. Ich sage dir, dass deine Bandkolleginnen Arschlöcher sind und dass du der eigentliche Star bist. Und dann gibst du mir trotzdem deine Nummer.«

Sie lacht plötzlich heftig und ein wenig mitgenommen. »Ich denke, das fände ich gut. Die zweite Option, meine ich.«

»Sehr gut! Mir schwirren nämlich schon einige ausgesprochen kreative Kraftausdrücke im Kopf herum, um die es ansonsten sehr schade gewesen wäre.«

*

Izzie sieht wirklich hübsch aus, wenn sie weint. Nicht so wie Schauspielerinnen, deren Gesicht sich nicht verändert und die nur ein paar Tränen vergießen. Izzie ist hübsch, wenn sie weint, weil sie wirklich weint. Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass sie weint und keine Angst hat, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Oder es ist möglicherweise die Person hinter dem Schleier aus Tränen. Vielleicht finde ich Izzie auch einfach hübsch, ganz egal, wie gerötet ihr Gesicht ist. Sie ist verletzt und wütend und ich habe keine Ahnung, wie ich das wieder in Ordnung bringen kann, aber sie hat mich auch nicht darum gebeten.

»Sie verstehen es einfach nicht«, sagt Izzie mit einem Seufzer. »Sie wollen, dass unsere eigene Musik so ist wie … Ich weiß auch nicht! Nur Chill-Vibes?«

»Was soll das denn heißen?« Ich verziehe das Gesicht. »Ihr seid eine Rockband. Das ist nicht gerade leichte Kost.«

»Ich glaube, sie wollen, dass unsere Songs … ein positives Gefühl vermitteln.«

»Also keine Lieder über eine frische Trennung oder darüber, wie beschissen es ist, als heißer Rockstar immer noch Single zu sein.«

»Versuchst du rauszukriegen, ob ich Single bin?« Izzie knufft mich mit dem Ellbogen in die Rippen, aber auf ihren Lippen liegt ein Lächeln, das vorher definitiv nicht da war. Dann lehnt sie sich zurück gegen ihren Van und schließt die Augen. »Die Sache ist die, sie verstehen einfach nicht, dass mein Leben nicht nur aus Regenbögen und Eiskaffee besteht, verstehst du? Ich habe viel Scheiße erlebt. Und ich will nicht nur über Liebe und Partys singen. Ich will auch über Dinge singen, die mich wütend machen, und auch über Sachen, die mich traurig machen.«

»Und das gefällt ihnen wohl nicht.«

Sie schüttelt den Kopf. »Wir hätten heute Abend mein neues Lied vorstellen sollen. Wir haben den Song wochenlang geübt und ich hatte angenommen, er wäre echt gut. Aber ich schätze, sie haben einfach ohne mich entschieden, dass Vinyl Resting Place Izzie Margolis nicht braucht.«

»Das ist echt scheiße.« Mein Blick fällt auf ihre Hand, die mit der Handfläche nach oben auf ihrer dunklen Jeans liegt. Es wäre so einfach, meine in ihre zu legen. Ihre Haut sieht so weich aus und ich möchte mit der Fingerspitze ihre Lebenslinie nachzeichnen. Und vielleicht würde sie sich dann besser fühlen. Oder vielleicht würde ich mich dann besser fühlen. Stattdessen schaue ich zu ihrem Gesicht hoch, zu der verschmierten Wimperntusche auf ihren Wangenknochen und dem Lippenstift, der stellenweise schon verblasst ist. Dann lehne ich mich vor, um zu fragen: »Kann ich es hören?«

Izzie neigt das Kinn nach unten und schiebt ihre Lippen zwischen die Zähne. »Ich meine … wie soll das gehen? Ich bin ganz allein.«

»Izzie, unplugged.« Ich fuchtle mit der Hand vor uns herum, als würde ich auf einen leuchtenden Schriftzug ihres Namens zeigen, und sie kichert. »Ich könnte vielleicht ein bisschen auf einem Eimer rumtrommeln, damit du einen Beat hast.«

»Ich bin einfach keine Sängerin.«

»Und?« Ich stehe auf und strecke meine Hand aus. »Ich bin auch nicht sonderlich gut am Schlagzeug.« Es ist Jahre her, dass ich Sticks in Händen gehalten habe, aber für Izzie bin ich bereit, die Erinnerungsfähigkeit meiner Muskeln auf die Probe zu stellen.

Wie sich herausstellt, sind wir beide Lügnerinnen. Die Akustik im Greenroom ist mies, aber Izzies Stimme trägt den Song trotzdem. Ihr Gesang ist kehlig und verletzlich und entwickelt einen sirenenhaften Sog. Ich werde von den Fluten mitgerissen und mir verschlägt es den Atem, als sie singt.

Chew me up and spit me out

You’ll still hear me scream and shout

I reject your hetero-cis-pool

The closet’s full, we must come out!