Liga Lexis – Nachtschwarze Worte - Mo Enders - E-Book

Liga Lexis – Nachtschwarze Worte E-Book

Mo Enders

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Beschreibung

Der Auftakt der neuen großen Buchwelten-Fantasy mit Enemies-to-Lovers-Romance Als die sechzehnjährige Annie erfährt, dass sie eine Migra ist – ein Wesen halb Mensch, halb Buchfigur –, verändert sich alles für sie: Nicht nur, dass sie ab jetzt auf Bookford Manor, einer geheimnisvollen Akademie an der irischen Küste, unterrichtet wird, nein, sie soll sogar lernen, in Buchwelten zu reisen. Doch in diesen gehen merkwürdige Dinge vor sich und versetzen die Migra in Aufruhr.  In der angespannten Lage wirft Annies Herkunft zusätzlich Rätsel auf, und ein warmer Empfang sieht anders aus. Plötzlich steht sie nicht nur einer Wand aus Misstrauen gegenüber, sondern auch unter der Aufsicht des ebenso gut aussehenden wie unausstehlichen Caspian de Vries. Aber als Caspian nach ihrem ersten gemeinsamen Ausflug in die Buchwelt verschwindet, kann nur Annie ihn retten. Und ihre Reise führt sie an Orte, an denen kein Migra je gewesen ist – in die Welt zwischen den Zeilen … Springe mit Annie zwischen die Zeilen und entdecke ganz neue Buchwelten. Ein packendes Fantasy-Highlight mit einer mitreißenden Enemies-to-Lovers-Romance.

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Seitenzahl: 484

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Mo Enders

Liga Lexis

Nachtschwarze Worte

Band 1

 

 

Über dieses Buch

 

 

Alle Bände der Liga Lexis-Trilogie: 

Liga Lexis – Nachtschwarze Worte (Band 1)

Band 2 erscheint im Frühjahr 2025

Band 3 erscheint im Herbst 2025

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Mo Enders, Jahrgang 1983, ist schon als Kind zwischen den Zeilen unzähliger Bücher umhergestreift, hat versucht der kindlichen Kaiserin einen Namen zu geben oder mit einem Schirm zu fliegen. Heute erzählt sie ihre eigenen Geschichten und hat damit den besten Job der Welt. Wenn sie nicht gerade in Büchern lebt, wohnt sie in Berlin. 

 

Inhalt

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Glossar

Danksagung

Für C., dem ich hiermit verspreche, ihm seine Träume niemals auszureden. Sondern ihnen Flügel zu schenken, falls ich kann.

Prolog

Sie erreichte das Hauptquartier im Schutz der Nacht. Gwynevere war nur einmal als kleines Kind hier gewesen, zusammen mit ihren Eltern und ihrem Großvater. Wie alle Kinder war sie nach ihrer ersten Reise dem Rat vorgestellt und ins Register aufgenommen worden. Sie hatten ihr Blut ins System eingespeist und ihr ein Buch geschenkt. Danach war sie mit ihrer stolzen Familie noch Eis essen gegangen. Eine Erinnerung wie aus einem anderen Leben. War das wirklich sie gewesen? Fast konnte Gwynnie selbst nicht daran glauben. Zu viel war seitdem zerstört worden oder unwiederbringlich verloren gegangen.

Nach ihrem Besuch als Kind hatte sie das Hauptquartier bloß noch im Lex-Net gesehen, wenn die Direktorin sie gezwungen hatte, Ansprachen des Rates oder irgendeine langweilige Ehrung anzuschauen. Nur durch Zufall hatte sie den Notruf aus der Zentrale gehört. Einer der Empfänger in der zerstörten Bibliothek, in die sie sich verkrochen hatte, war noch intakt gewesen. Warum auch immer.

Gwynnie hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Es war eine Erlösung gewesen, endlich irgendetwas tun zu können. Sicherlich hatten die Ratsmitglieder gehofft, dass jemand anderes ihren Notruf hören würde, doch außer ihr war niemand mehr da. Jedenfalls nicht in Bookford Manor. Soweit Gwynnie wusste, war sie die Letzte.

Es war ein unscheinbarer Neubau, vor dem sie Rasmus jetzt anband, doch sie wusste, dass es nur der Eingang zu einer riesigen Bunkeranlage war. Oder vielmehr: einer der Eingänge. Die Bunker zogen sich unter ganz Dublin hindurch und verbanden alle großen Bibliotheken miteinander. Gwynnie war froh, dass der Bau noch stand; offenbar war dieser Eingang unentdeckt geblieben. Vorsichtig sah sie sich nach allen Seiten um, ob ihr auch niemand gefolgt war. Ein Pferd war nicht unbedingt das unauffälligste Transportmittel, aber mit Rasmus hatte sie die Straßen meiden können. Bis kurz vor Dublin war sie über die Felder geritten. Denn wenn sie auch nur einen der Reaper zum Hauptquartier geführt hätte, dann …

Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken.

»Keinen Mucks jetzt, ja? Sei schön brav«, flüsterte sie, während sie mit der rechten Hand über Rasmus’ verschwitzte Flanke streichelte. »Ich bin gleich wieder da.« Sie hatten lange gebraucht, weil Gwynnie es nicht gewagt hatte, ihr Handy eingeschaltet zu lassen. So hatten sie immer wieder stehen bleiben und die Route checken müssen. Vielleicht war sie auch schon längst zu spät. Oder es hatte doch noch jemand anders den Notruf gehört und war vor ihr hier eingetroffen. Insgeheim hoffte sie darauf.

Gwynnie hatte Angst. Es war fast schon ein Wunder, dass sie dazu noch immer in der Lage war, nach allem, was geschehen war. Ihr war übel, während sie einen Fuß vor den anderen setzte. Aber sie tat seit Monaten Dinge, die sie niemals hatte tun wollen. Merkwürdig, was man alles konnte, wenn man musste.

Sie kletterte über das niedrige Törchen und rannte den schmalen Steinweg entlang zur Haustür, wo sie sich in den Schatten kauerte und lauschte. Alles ruhig. Keine Menschen. Und das bedeutete auch: keine Reaper.

Gwynevere tastete im Dunkeln an der Hauswand neben der Tür herum. Dort, wo die Menschen meist eine Klingel hatten, fand sie schließlich, was sie suchte. Eine kleine Klappe von nur wenigen Zentimetern Durchmesser, die sie nun öffnete, um ihren Zeigefinger in die Vertiefung dahinter zu schieben. Obwohl sie das Scannen immer gehasst hatte, fühlte sie den Nadelstich in diesem Augenblick kaum. Wenige Sekunden später summte die Tür, und Gwynnie drückte sie auf.

Erst, als sie hörte, wie mehrere Schlösser hinter ihr wieder einrasteten, wagte sie es, auszuatmen und sich umzusehen.

Sie stand im Foyer des Hohen Rates. Beim Anblick der gewaltigen goldenen Lettern, die sich gegenüber der Haustür über die ganze Wand erstreckten und im einfallenden Mondlicht schimmerten, fühlte sie wieder diesen schmerzhaften Stich. Ihre Welt war am Ende. Der noble Rat hatte auch keinen Rat gewusst. Sie starben. Alle.

Die Liga hatte es nicht geschafft, sie zu schützen. Nicht die Lexis, nicht die Terra, nicht die Menschen. Am wenigsten aber sich selbst.

»Protect and preserve am Arsch«, murmelte Gwynnie und trat mit dem Fuß so fest sie konnte gegen einen Schirmständer, der quietschend und klappernd über den Steinfußboden schoss. Es war viel zu laut und hallte entsetzlich. Gwynnie erstarrte. Sollte noch jemand im Gebäude sein, hatte er oder sie den Krach bestimmt gehört.

Sie suchte nach einer Treppe, die ins Untergeschoss führte. Damals waren sie mit dem Aufzug gefahren. Den wollte sie jetzt aber sicher nicht benutzen. Nachdem sie so weit gekommen war, wollte sie nicht in einem Aufzug stecken bleiben, aus dem sie niemand mehr befreien konnte. Was für ein dummer Tod wäre das denn?

Hinter einer Stahltür fand sie ein schmuckloses Treppenhaus, das von grünen Notausgangsschildern spärlich beleuchtet wurde. Sie hastete die Treppe hinab, viele, viele Stufen in die Tiefe. Je weiter sie nach unten kam, desto kälter wurde es, doch sie spürte noch etwas anderes. Etwas, das sie schon so lange nicht mehr in dieser Intensität gefühlt und seit Monaten jeden Tag vermisst hatte: Idea! Das konnte doch nicht wahr sein. Hier war tatsächlich noch welche. Und zwar kein spärliches Häppchen wie die Kraft, die sie selbst die letzten Wochen am Leben gehalten hatte. Nein, eine echte, lebendige Konzentration. Eine ernst zu nehmende Menge. Beinahe hätte sie laut aufgelacht; so wundervoll war dieses unverhoffte Gefühl. Wider besseres Wissen schöpfte sie Hoffnung.

Die sofort zerschlagen wurde, als sie kurz darauf im Ratssaal ankam. Was sie dort vorfand, ließ sie am ganzen Körper zittern.

Die zwölf Mitglieder des Hohen Rates saßen spindeldürr auf ihren Stühlen. Reglos. Leblos. Ausgezehrt und dünn wie Papier. Am Kopf des ovalen Holztisches erkannte Gwynnie die oberste Rätin Morgana van den Einden. Doch nur an ihrem Siegelring und den langen, grauen Haaren, die sie immer zu einem großen Knoten auf dem Hinterkopf zusammengebunden trug, aus dem sich nun aber ein paar Strähnen gelöst hatten. Ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Die große, zeitlebens beeindruckende Frau sah aus wie mumifiziert.

Ihre rechte Hand hielt einen Stift, doch der Tisch vor ihr war leer. Keine Aufzeichnungen, keine letzten Worte. Gwynnie konnte nicht glauben, dass sie tot war. Die Oberin war schon immer da gewesen. Solange sie denken konnte. Als Kind hatte sie sie sogar für unsterblich gehalten.

»Oberin van den Einden?«, fragte Gwynnie überflüssigerweise und stieß einen Schreckensschrei aus, als sich eine der Personen am Tisch bewegte.

»Sie ist nicht mehr da«, raunte eine Stimme müde und heiser.

Gwynevere drehte sich um und schaute in das dunkle, ausgezehrte Gesicht eines Mannes. War das …

»Cato de Vries?«, fragte sie, und der Mann nickte schwach, setzte sich aber aufrechter hin, was ihm offenkundig schwerfiel. Er hustete rasselnd, bevor er seinen Kopf mit sichtlicher Anstrengung hob und sie ansah.

»Und du bist?«

»Gwynevere McNeil«, antwortete Gwynnie und trat ein paar Schritte auf den Mann zu. Die Idea, die sie fühlte, kam aus seiner Richtung, dabei sah er genauso tot aus wie der Rest des Rates. Wie konnte das sein? Wurde sie jetzt auch verrückt?

De Vries war der Ex-Mann von Oberin van den Einden, so viel wusste sie. Und dass er vor ein paar Jahren eine Menschenfrau geheiratet hatte. Ihr Vater hatte sich fürchterlich aufgeregt, weil »die Regeln offenbar für alle anderen, nur nicht für einen de Vries« galten. Sie selbst hatte die Geschichte insgeheim sehr romantisch gefunden.

»Du bist Arthurs Mädchen«, sagte Cato nun und nickte. »Wie alt bist du jetzt? Fünfzehn?«

»Sechzehn«, flüsterte sie. »Seit zwei Wochen.«

»Sechzehn. Hm. Hast du etwas von deiner Familie gehört?« Gwynnie schüttelte den Kopf und schluckte.

»Ich habe seit Wochen mit niemandem mehr gesprochen. Seit Bookford Manor …«, sie suchte nach den richtigen Worten und fand sie irgendwie nicht. Wie konnte man beschreiben, was hier gerade mit ihnen geschah? Mit ihrer Welt, ihren Leben.

»Ich verstehe«, sagte Cato sanft und lächelte.

»Sag, Gwynevere, wenn alle anderen tot sind – warum bist ausgerechnet du noch am Leben?«

Tja, wenn sie das nur wüsste. Gwynnie hatte sich den Kopf zerbrochen in den langen Tagen und Nächten der letzten Wochen. Sie hatte eine Theorie, doch es war nicht mehr als eine vage Ahnung. Verstohlen strich sie mit den Fingerkuppen über die Tätowierungen an ihren Unterarmen.

»Ah«, sagte de Vries, und in seinen Augen funkelte es schwach. »Ein schwermütiger Teenager. Lass mich raten: Anna Karenina, unser guter Werther, Romeo und Julia?«

»Von Mäusen und Menschen«, ergänzte Gwynnie flüsternd und legte die Hand auf ihr erstes Tattoo. »Maybe ever’body in the whole damn world is scared of each other.«

Der Mann kicherte leise. Wie konnte er kichern?

»Warum sie dieses Buch noch nicht vernichtet haben, ist klar, oder? Es hilft ihnen. Aber es hilft auch uns.«

»Uns kann keiner mehr helfen«, entfuhr es Gwynnie, die fühlte, wie sie wütend wurde. Ihr Leben lang war sie in dem Glauben aufgewachsen, der Hohe Rat wisse im Zweifel immer, was zu tun sei. Würde sie immer beschützen, komme, was da wolle. Und jetzt? Waren elf von ihnen gestorben und einer kicherte halb tot vor sich hin. Natürlich war das traurig und bedauerlich und elend, aber es machte sie auch rasend. Wieso hatten sie stets so wichtig getan, wenn sie am Ende doch nicht mal sich selbst beschützen konnten?

»Vielleicht hast du recht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls kann ich dir sagen, dass Morgana genauso war wie du.«

Gwynnies Blick streifte noch einmal den toten Körper der Oberin, doch sie brachte es nicht über sich, Morgana van den Einden ein zweites Mal näher zu betrachten.

»Sie hatte ihre Energie auch aus den traurigen Geschichten. Aus denen, die nicht gut ausgehen. Und aus Horrorgeschichten, deren Schönheit nur die wenigsten erkennen. Deshalb hatte sie auch die Kraft, zu tun, was getan werden musste. Wir anderen konnten es nicht.«

Cato de Vries bückte sich und hievte mit großer Anstrengung einen schwarzen Koffer auf die Tischplatte. Sofort wusste Gwynnie, dass die Idea nicht von Cato ausging, sondern von diesem Koffer.

»Tja, Mädchen. Jetzt liegt es an dir«, sagte er und schob den Koffer zu ihr herüber. »Das ist alles, was von uns noch übrig ist. Unser Vermächtnis, aber auch unsere Hoffnung.«

Gwynnie lachte. Sie konnte nicht anders.

»Glaubst du nicht mehr an die Macht der Worte?«, fragte Cato ernst und hob eine Braue. Langsam und mit großer Anstrengung, als wäre sie ein Zementsack.

»Doch. Natürlich«, entgegnete Gwynnie ganz automatisch. Wenn sie sonst schon an nichts mehr glaubte, an die Macht der Worte glaubte sie. Sie hielt sie schließlich noch immer am Leben.

»Dann sei nicht zu vorschnell mit deinem Urteil. Kannst du Auto fahren?«

»Natürlich«, sagte sie. »Ich bin in der zehnten Klasse. Aber ich reite lieber.«

»Keine Pferde«, sagte Cato scharf und schob ihr einen kleinen Stoffbeutel zu. Dann sah er sie eindringlich an.

»Zu langsam und zu auffällig. Außerdem müssen Pferde fressen und Rast machen. In unserer Garage stehen gepanzerte Fahrzeuge. Du nimmst den Wagen ohne Emblem auf der Tür. Er ist vollgetankt. Auf der Rückbank findest du Taschen mit Waffen, Munition, Essen und Geld. Sieh zu, dass du aus der Stadt kommst. Überprüfe stets, ob dich jemand verfolgt. Verlass das Auto nur, wenn du unbedingt musst, und lass niemanden deine Tätowierungen sehen. Entsprechende Schminke ist auch in der Tasche, falls du zum Tanken oder Einkaufen das Fahrzeug verlassen musst. Schütze diesen Koffer mit deinem Leben, solange du kannst.«

Gwynnies Nackenhaare stellten sich auf.

»Und wenn ich erwischt werde?«, fragte sie, doch de Vries schüttelte den Kopf.

»Es geht nicht mehr darum, nicht erwischt zu werden. Du schießt immer zuerst. Hast du mich verstanden?«

Sie nickte. »Und wenn …?«

»Wenn du merkst, dass du schwächer wirst? Dass auch du degenerierst?«

»Ja«, antwortete sie und wischte sich verärgert eine Träne weg, die ihr über die Wange lief.

»Der Koffer wird dich am Leben halten, so wie er mich am Leben gehalten hat. Doch wenn du aus irgendwelchen Gründen schwächer wirst oder in Gefahr gerätst, dann versteckst du ihn irgendwo, wo ihn niemand finden kann. Vergrab ihn, wirf ihn in eine Felsspalte. Solange ihn niemand sieht, ist er sicher. Sie können die Idea ja nicht fühlen. Es muss aber trocken sein, hast du verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

Das hatte sie tatsächlich. Irgendwie hatten es die Ratsmitglieder geschafft, die Idea, die sie noch in sich getragen hatten, zu speichern. In diesem Koffer. In der Hoffnung, dass es reichen könnte. Für die Zukunft, falls es eine gab. Sie hatten sich selbst geopfert, um mit dieser Hoffnung sterben zu können. Gwynevere hatte ihnen Unrecht getan. Der Rat hatte wirklich nichts unversucht gelassen.

Ein Gefühl von Ehrfurcht ergriff sie. Cato hatte es gerade gesagt: Nur der Koffer hatte ihn so lange am Leben gehalten. Wenn sie den Ratssaal jetzt verließ, würde auch das letzte Mitglied des Rates sterben. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

»Brauchen Sie noch etwas?«, fragte sie, doch de Vries lächelte nur.

»Nichts weiter als das Versprechen, dass du immer zuerst schießen und niemals aufgeben wirst.«

»Ich verspreche es«, sagte Gwynevere feierlich und fühlte einen komischen Sog in ihrer Brust. Das war also ihr Schicksal.

»Dann geh.«

Als sie mit der rechten Hand den Koffergriff umfasste, wurde Gwynnie von einer solchen Welle der Kraft durchspült, dass es sie beinahe von den Füßen riss. Sie fühlte Mut und Entschlossenheit und Leben. Endlich wieder Leben.

Cato de Vries fing an zu röcheln, und Gwynnie setzte sich in Bewegung. Sie konnte und wollte hier nicht mehr bleiben.

Als das Röcheln noch lauter wurde, rannte sie los.

1

Obwohl der Sommer den frühen Samstagmorgen in Berlin mit Wärme überzog, war es in der Bibliothek frostig kalt. Die dicken, alten Mauern des Gebäudes sorgten dafür, dass es hier nie richtig warm wurde. Ich zog mir die Strickjacke fester um die Schultern und half meiner Ma, alles für den Tag vorzubereiten. Schon seit Jahren taten wir das gemeinsam, jeden Samstag aufs Neue. Wir zogen die Vorhänge auf und machten die großen Neonlichter an, schalteten den Computer ein und setzten Kaffee auf. Ich kontrollierte die Kinderspielecke, stellte liegen gebliebene Bücher zurück in die Regale, und meine Ma schaute nach, ob der Tresenbereich aufgeräumt war. Als alles erledigt war, suchte ich mir einen ruhigen Leseplatz.

Wie so oft in letzter Zeit wählte ich eine der tiefen Fensternischen in der Nähe der klassischen Literatur. Dort hatte ich meist meine Ruhe. Lernende auf der Suche nach einer Interpretationshilfe für Goethes Faust, Andorra oder Dantons Tod kamen am Wochenende so gut wie nie hierher.

Ich schlenderte in die winzig kleine Küche, füllte mein großes Henkelglas zur Hälfte mit Kaffee, zur anderen Hälfte mit Haferdrink, und rührte drei Löffel Kakao hinein, schnappte mir ein Kissen und zog mich anschließend voller Vorfreude in meine Nische zurück.

Draußen vor dem Fenster ratterten Trambahnen über die breite Straße und spuckten in regelmäßigen Abständen Leute auf die Gehwege, hier drin in der Stadtteilbibliothek ließen nicht nur meine Kopfschmerzen nach, es wartete auch ein herrlicher Lesetag auf mich.

Mit einem erleichterten Seufzen schlug ich Silberkorn auf. Wie immer hatte ich mir vorgenommen, mal wieder etwas anderes zu lesen, aber nichts half so gut gegen stechenden Kopfschmerz wie mein Lieblingsbuch.

Ich nahm einen großen Schluck aus meinem Glas und las die ersten Zeilen. Den Anfang liebte ich besonders. Es war wie nach Hause kommen.

 

Im alten Rom war es furchtbar heiß, und die Sonne brannte erbarmungslos auf die staubigen Straßen. Wie die meisten Leute an diesem Vormittag war ich auf dem Weg, ein paar Besorgungen zu machen, als eine Stimme erklang: »Sehr verehrte Mitrömerinnen und Mitrömer. Es ist mir eine große Ehre und ein besonderes Vergnügen, ihnen unseren hochgeschätzten Meisterdieb ankündigen zu dürfen!«

Ich drehte mich in Richtung der Stimme und musste lächeln, als ich sah, aus welchem Mund sie kam. Die Räuberin Fingerhut, rechte Hand Silberkorns, stand auf einem hölzernen Fass an der Straßenecke und jonglierte mit fünf Bällen, während sie ihren Anführer feixend anpries wie einen alten Fisch.

»Er ist vielleicht nicht der Schönste. Und auch nicht der Klügste. Und vielleicht hat er sich vor zwei Wochen versehentlich auf seinen Gladius gesetzt, weshalb er seitdem überhaupt nicht mehr sitzen kann!«, rief sie, und die Menge, die sich um ihr Fass herum versammelt hatte, brach in amüsiertes Gelächter aus. Auch auf mein Gesicht schlich sich ein Grinsen.

Ich ging näher an das Fass heran und mischte mich unter die Leute. Männer, Frauen und Kinder standen im Halbkreis drumherum und beobachteten gebannt, wie die Bälle immer schneller hoch in die Luft und durch die Finger der jungen Frau flogen, die einen Rock aus schillernd bunten Fetzen um die Hüften trug.

»Zwar schnarcht er wie ein Tiger, aber Silberkorn hat nichts von der Eleganz der Raubkatze!«, fuhr sie grinsend fort. »Letzte Woche ist er sogar während einer Flucht vom Dach gefallen. Wir haben ihn jetzt erst mal auf Diät gesetzt!«

Wieder lachte die Menge auf, und Fingerhut grinste schelmisch. »Ja, lacht ihr nur. Es ist auch zum Schießen komisch. Und wisst ihr, was noch komischer ist?« Die Räuberin hörte auf zu jonglieren, fing die Bälle aus der Luft und stellte sich breitbeinig hin.

»Er ist vielleicht nicht der klügste, nicht der schönste, nicht der schnellste oder eleganteste Dieb der Stadt. Aber während meiner kleinen Rede …«, ihre Augen suchten die Umgebung ab, wobei ihr Blick auf mich fiel. Sie zwinkerte mir zu und rief aus voller Kehle: »… hat er euch alle beklaut!«

Blitzschnell warf mir Fingerhut einen der Bälle zu, sprang vom Fass und rannte davon, noch bevor die Leute um mich herum begreifen konnten, was gerade geschehen war.

 

Jemand packte mich grob am Oberarm, und ich blickte vom Buch auf. Direkt in das entsetzte Gesicht meiner Mutter. Und in die grellen Neonröhren an der Decke. Mas Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, und mir sank bei ihrem Anblick das Herz.

»Du hast es schon wieder getan«, zischte sie und schaute sich hektisch nach allen Seiten um. »Anne, das geht so nicht.«

Ich zog meinen Arm aus ihrer Umklammerung. »Scheiße«, fluchte ich. »Bist du sicher?«

Meine Ma nickte. »Hundertprozentig. Ich wollte nur kurz nach dir sehen, als es passiert ist.« Sie schluckte schwer und an der pochenden Ader auf ihrer Stirn konnte ich ablesen, wie schnell ihr Herz gerade schlug. Es raste förmlich.

Alarmiert blickte ich mich um. Während ich gelesen hatte, war die Bücherei voller geworden. Leute in Shirts und kurzen Hosen streiften durch die Regalreihen, das vergnügte Quietschen spielender Kinder drang an mein Ohr. Es war sogar voller als sonst, wahrscheinlich suchten die Leute Zuflucht vor der Hitze.

»Hat es noch jemand gesehen?«, fragte ich flüsternd, und meine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Aber es ist völlig außer Kontrolle. Was, wenn …« Sie verstummte, als der Kopf ihres Kollegen Stefan zwischen zwei Regalen hervorlugte.

»Klara, kannst du mal kurz kommen?«, fragte er und zeigte hinter sich, in Richtung Tresen. Wahrscheinlich war der Computer mal wieder abgestürzt. Das passierte ständig, versetzte Stefan aber trotzdem zuverlässig in helle Panik.

»Natürlich, ich komme sofort«, antwortete Ma lächelnd, als wäre nichts gewesen, und sagte dann in meine Richtung: »Wir reden später.« Dann drückte sie meine Schulter und verschwand zwischen der Schullektüre.

Ich ließ mich seufzend zurück ins Kissen sinken und starrte auf die Straße. Mir war ein bisschen übel, aber das erste Mal seit Tagen hatte ich keine Kopfschmerzen mehr. Dafür tat allerdings meine rechte Hand ziemlich weh.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit etwas sehr fest umklammert hatte. Ich öffnete langsam meine Finger und schnappte nach Luft, als ich sah, was ich da festgehalten hatte. Auf meiner Handfläche lag ein kleiner roter Ball.

2

Selten hatte ich mich so beeilt, nach Hause zu kommen. Normalerweise spazierte ich gern den langen Weg durch den Park, heute hatte ich mich für den Bus entschieden. Angespannt wie eine Bogensehne saß ich auf der Kante des Bussitzes und starrte aus dem Fenster, um die Haltestelle auch ja nicht zu verpassen. Meine Gedanken kreisten seit fast einer Stunde immer wieder um dieselben Fragen: Was war so dringend, dass ich sofort aus der Schule nach Hause kommen musste? Warum hatte Ma so nervös geklungen und wieso hatte sie nicht einfach gesagt, was zur Hölle hier los war? Mein Kopf malte sich eine Unzahl von Horrorszenarien aus, die mit jedem erfolglosen Versuch, sie zu erreichen, schrecklicher wurden.

Als der Bus an unserer Haltestelle bremste, sprang ich so hastig nach draußen, dass ich gegen einen älteren Herrn knallte, der mir einen vernichtenden Blick zuwarf.

»Entschuldigung, ich habe es eilig«, rief ich im Laufschritt über die Schulter, während ich von der Wollankstraße nach links und schließlich noch einmal halb rechts in unsere Straße abbog.

Ma und ich wohnten zentral in Berlin-Pankow. Schmal, verwinkelt und von kleinen Häusern gesäumt, lag unsere Straße versteckt hinter dem Bürgerpark in einer Gegend, in der es sonst nur Mehrfamilienhäuser gab. So unerwartet und fehl am Platz wie die Winkelgasse in den Harry-Potter-Romanen. Besonders als Kind hatte ich oft geträumt, dass in unserer Straße magische Dinge vor sich gingen, doch in Wahrheit hatte sich vor vielen Jahren einfach eine Gruppe von Leuten zusammengetan, Grund und Boden gekauft und winzige Häuser darauf gebaut, damit sie nicht gemeinsam irgendein Treppenhaus putzen mussten. Frau Michalski aus der 10a hatte nach ihrer Pensionierung eine Praxis für Engelsheilungen in ihrer Garage eröffnet, aber das war es auch schon mit der Magie.

Schwer atmend kam ich vor unserem Haus mit der Nummer 9 zum Stehen. Es sah aus wie immer. Die riesigen Stockrosen beugten sich unter dem Gewicht ihrer Blüten über unseren blau gestrichenen Holzzaun, und der Rasen stand deutlich höher als bei den Nachbarn, die darüber regelmäßig die Nase rümpften.

Eine Sache war jedoch anders als sonst: Vor unserem Haus stand hinter unserem verbeulten Dacia ein großes, schwarzes Auto mit verdunkelten Scheiben und ausländischem Nummernschild. Mein Blick fiel auf die Europlakette links in der Ecke. IRL stand unter dem Kreis aus Sternen, und mein Herz setzte einen Schlag aus.

Irland. Wer auch immer uns besuchte, war aus Irland gekommen.

Genau wie ich. An einem Regentag vor fast sechzehn Jahren, als meine Ma mich adoptiert hatte. Unwillkürlich legte ich die rechte Hand in den Nacken, dorthin, wo mein Tattoo war. Vor einem halben Jahr hatte ich mir heimlich von einem zwielichtig aussehenden Kerl in Neukölln die Worte Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen stechen lassen. Ma war ausgeflippt, als sie es entdeckt hatte. Doch seitdem beruhigte es mich sehr zuverlässig, wenn ich aufgebracht war. Sogar jetzt half es ein bisschen. Trotzdem dröhnte das aufgeregte Klopfen meines Herzens bis hoch ins Trommelfell.

Mit zitternden Fingern zog ich meinen Schlüssel aus den Tiefen meiner Tasche und öffnete die Tür. »Ma?«, schrie ich aus voller Kehle und ließ meine Schultasche mit einem heftigen Poltern zu Boden fallen.

»In der Küche, Schatz!«

Erleichtert registrierte ich, dass sie ausgesprochen lebendig klang.

Ich durchmaß unseren kurzen Flur mit drei Schritten und öffnete die Küchentür. Nur, um auf der Schwelle wie angewurzelt stehen zu bleiben.

Der Anblick, der sich mir bot, war einfach zu grotesk, um ihn mühelos verarbeiten zu können. Eine Szene wie aus einem Film von Wes Anderson.

Unsere Küche war einer meiner liebsten Räume im ganzen Haus. Ein bisschen in die Jahre gekommen, sehr farbenfroh und sehr gemütlich. Bunt gepunktete Gardinen, ausgeblichene Tischdecken auf einem abgewetzten Holztisch und Flohmarktsessel, in die wir uns abends gern zum Lesen kuschelten. Für die beiden volltätowierten Riesen, die da gerade mitten in unserer Küche saßen, waren unsere Möbel allerdings eindeutig zu klein. Es sah aus, als säßen sie auf Puppenstühlen – wie Alice im Gerichtssaal.

Ma hatte anscheinend erfolglos versucht, die zwei Männer zu bewirten. Zwischen ihnen standen Teller mit Obst und Keksen sowie zwei Teetassen. Alles vollkommen unberührt. Offenbar hatten sie gelesen, denn sie hatten jeder ein Buch vor sich auf dem Tisch liegen, in die sie nun ihre Finger als Lesezeichen gesteckt hatten. Genauso, wie ich es auch immer tat. Ich stutzte.

»Da bist du ja«, stieß Ma hervor und klang extrem erleichtert. Als könnte ich im Ernstfall irgendetwas gegen diese riesigen Typen ausrichten.

»Ja, die Rektorin hat mich gehen lassen«, antwortete ich, wobei ich aber nicht meine Mutter ansah, sondern die Männer, die mich nun beide sehr freundlich anlächelten. Dabei ähnelten sie einander so, dass sie Brüder sein mussten. Ich fragte mich, wie alt die beiden wohl sein mochten. Es war schwer zu sagen. Beide waren eindeutig älter als ich. Aber nach Falten und Linien suchte ich in ihren Gesichtern vergebens. Es wirkte fast so, als hätten sie einfach kein Alter.

»Was ist denn los?«, wollte ich wissen, da ergriff einer der beiden blonden Riesen das Wort.

»Hallo Anne«, sagte er auf Deutsch mit starkem Akzent, und seine Stimme vibrierte fast in meinem Brustkorb, so tief war sie. Er sprach meinen Namen englisch aus, mit stummem E, und ich fühlte, wie es in meinem Magen zu kribbeln begann.

»Wie schön, dich kennenzulernen. Mein Name ist Henrik, das ist mein Bruder Godrik. Cameron.« Er deutete zu seinem Bruder, der freundlich nickte. Mein Blick fiel auf das Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Der geheime Garten. Ein Kinderbuch? Ich war, gelinde gesagt, überrascht.

Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, nickte ich nur. Und wünschte mir im selben Augenblick inständig, ich hätte meine Schultasche nicht im Flur liegen lassen.

Henrik setzte an, noch mehr zu sagen, doch ich unterbrach ihn mit einer Geste. »Einen Moment«, bat ich und rannte durch den Flur zurück, während meine Mutter mir ein tadelndes »Ännchen!« hinterherrief.

Doch nur zwei Atemzüge später war ich wieder da, den Zeigefinger zwischen den Seiten meines Lieblingsbuches. Mein Puls beruhigte sich. So war es gleich viel besser.

Beide Brüder blickten gleichzeitig auf das Buch in meiner Hand, dann tauschten sie einen vielsagenden Blick. Henriks Lächeln wurde breiter und brachte seine dunkelblauen Augen zum Strahlen.

»Was liest du gerade?«, wollte er wissen, und ich zeigte ihm das Buchcover.

»Silberkorn«, las er laut vor. »Kenne ich gar nicht.«

»Es ist schon lange vergriffen«, erklärte meine Mutter hastig. »Die einzige Auflage, die je gedruckt wurde, muss sehr klein gewesen sein.«

Als sie Henriks fragenden Blick auffing, erklärte sie: »Ich bin Bibliothekarin. Und Anne ist, seit sie klein ist, so verrückt nach dem Buch, dass ich schon seit Jahren versuche, ein zweites Exemplar aufzutreiben. Zwar hütet sie es wie einen Schatz, doch ich weiß nicht, was passieren würde, wenn sie es trotzdem mal verlieren sollte.«

Ich auch nicht, dachte ich. Die Vorstellung, Silberkorn zu verlieren, war unerträglich.

»Das hast du mir nie erzählt«, sagte ich.

Meine Mutter zuckte schüchtern lächelnd die Schultern. »Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen, Schatz.«

»Ist Silberkorn dein Lieblingsbuch?«, wollte Henrik wissen. Ich dachte nach. Es gab so viele Bücher, die mir wichtig waren.

»Meistens«, antwortete ich. »Aber das ist eine Entscheidung, die ich gar nicht treffen kann. Dafür gibt es zu viele wundervolle Bücher. Es kommt auf die Situation an. Darauf, was ich gerade brauche.« Mein Blick fiel auf den Rücken seines Buches. Die Säulen der Erde. »Sie mögen historische Romane?«

Seine Augen funkelten vergnügt. »O ja. In die Vergangenheit einzutauchen gibt mir besonders viel. Keine Computer, keine Handys, keine Autos.«

»Und keine medizinische Versorgung«, warf Godrik augenzwinkernd ein.

»Die, wie jeder weiß, im Geheimen Garten ganz exzellent ist«, gab Henrik zurück, und ich musste lachen. »Mein Bruder mag Bücher über Rätsel und Geheimnisse«, erklärte er. »Er selbst ist eher ein offenes Buch.«

Godrik schnaubte, doch er sagte nichts.

Ich wurde von Minute zu Minute verwirrter. »Ma, was ist hier los?«, wiederholte ich meine Frage von eben. »Lässt du mich aus der Schule holen, nur damit ich mich hier mit zwei Fremden über Bücher unterhalten kann?«

Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber du musst heute noch packen, da dachte ich …«

»Packen?«, fragte ich verwirrt. »Wo fahren wir denn hin?«

Sofort beendeten Henrik und Godrik ihr Gekabbel und setzten ernste Mienen auf. Ich fühlte, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichteten; mir wurde seltsam kalt, als ich Ma ins Gesicht sah. Ihre Augen waren glasig.

»Nicht wir«, sagte sie leise. »Du.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Wieso sollte ich ohne dich irgendwohin fahren?«, fragte ich, doch sie schüttelte nur den Kopf.

Da bemerkte ich, dass sie ein Geschirrtuch zwischen den Händen knetete. Das war gar nicht gut. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft zu Hause bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun. Was wollten die beiden Typen von uns?

Henrik griff in eine schwarze Ledertasche, die neben seinem Stuhl stand, und holte ein kleines Gerät mit Display heraus, das er vor sich auf den Tisch legte. Er betrachtete es eine Weile schweigend, wobei er an der Innenseite seiner Wange herumzukauen schien. Dann holte er tief Luft.

»Anne, das ist jetzt sicher alles sehr verwirrend für dich. Und ich muss sagen, dass ich während meiner gesamten Karriere als Reparator so eine Situation auch noch nie erlebt habe. Normalerweise finden wir euch jünger. Viel jünger …« Er holte tief Luft und kniff sich in die Nasenwurzel.

»Reparator?«, stieß ich die erste Frage hervor, die mir durch den Kopf schoss.

»So geht das nicht«, murmelte Henrik mehr zu sich selbst als zu mir und schloss kurz die Augen, als müsste er sich sammeln. Dann versuchte er es erneut: »Wir haben Grund zu der Annahme, dass du einem alten irischen Adelsgeschlecht angehörst, was dich qualifizieren würde, das Internat Bookford Manor zu besuchen und eine Ausbildung zu erhalten, die deinen Fähigkeiten entspricht.«

Wenigstens ein Satz, in dem ich jedes einzelne Wort verstand. »Welche Fähigkeiten denn?«, fragte ich neugierig. Konnte das alles vielleicht mit meinen merkwürdigen Aussetzern zu tun haben?

Henrik blickte zu seinem Bruder, doch Godrik zog nur die Brauen hoch. Sieh zu, wie du da wieder herauskommst, schien sein Blick zu sagen.

»Und überhaupt: Wer sagt, dass ich auf ein irisches Internat gehen will, Fähigkeiten hin oder her?«, setzte ich nach. »Vielleicht sollten Sie erst mal danach fragen? Ich habe ein Zuhause und eine Schule. Und darüber hinaus habe ich jetzt Sommerferien. Der einzige Ort, an den ich in den nächsten Wochen zu fahren gedenke, ist der Liepnitzsee.« Um meinen Standpunkt zu unterstreichen, verschränkte ich demonstrativ die Arme vor der Brust und hoffte dabei selbstsicherer zu wirken, als ich mich fühlte. Mit bloßen Andeutungen würden sie mich sicher nicht überzeugen; zwar hatten sie mein Interesse geweckt, doch das wollte ich nicht so offen zeigen. Immerhin waren es zwei vollkommen Fremde.

»Leider ist das nicht so einfach. Wenn sich unser Verdacht bestätigt, könnte eine Weigerung deinerseits lebensbedrohlich für dich werden«, sagte Henrik, und ich erschrak. Meinte er das etwa ernst? Sein Tonfall und der Ausdruck in seinen Augen jagten mir eine Gänsehaut über den Körper. Sofort dachte ich an die bohrenden Kopfschmerzen, die mich seit Monaten plagten. Hatten sie etwas damit zu tun?

»Ist das eine Drohung?« Mein Magen verkrampfte sich und mein Herz pochte so schnell, dass es in meinen Ohren dröhnte.

Meiner Mutter ging es offenbar nicht viel besser als mir, ihre Gesichtsfarbe schwankte zwischen Tapetenkleistergrau und Ogergrün. Sie krallte sich am Rand der Spüle fest.

»Niemand will dir drohen, Anne. Im Gegenteil«, sagte Godrik sanft. »Wir wollen dich beschützen.«

Seine tiefe Stimme beruhigte mich, obwohl ich das überhaupt nicht wollte.

»Ob das tatsächlich notwendig ist oder nicht, lässt sich sehr leicht klären. Wenn ich dich jetzt um ein paar Tropfen Blut bitten dürfte«, sagte Henrik sehr sachlich und machte ein paar Schritte auf mich zu. Instinktiv wich ich zurück.

»Bitte. In wenigen Augenblicken haben wir Gewissheit. Und wenn sich unser Verdacht nicht bestätigt, dann sind wir in fünf Minuten hier raus, und du siehst uns nie wieder.«

»Ein verlockender Gedanke«, murmelte ich.

Henrik schien mich nicht gehört zu haben. Er nahm etwas zur Hand, das aussah wie ein zu dick geratener Kugelschreiber. Mit der anderen Hand öffnete er eine Klappe unterhalb des Displays auf seinem Gerät.

»Es geht auch ganz schnell«, versicherte er.

Ich schüttelte den Kopf. Der Typ hatte eindeutig nicht mehr alle Latten am Zaun!

»Vielleicht ist es da, wo Sie herkommen, so üblich, andere Menschen anzuzapfen, aber hier in Berlin lernt man früh, dass man Fremden nicht einfach so geben sollte, wonach sie verlangen. Blut am allerwenigsten.« Und ohne groß nachzudenken, schob ich hinterher: »Vielleicht seid ihr Kerle ja Vampire und wollt gucken, ob sich eine Entführung lohnen würde. Geschmacklich, meine ich.«

Godrik musterte mich interessiert und mit einem amüsierten Glitzern in den Augen. »Verrat mir eines, Anne: Bist du jemals verschwunden, von einem Moment auf den anderen? Einfach wie vom Erdboden verschluckt?«

Ich lachte unsicher, im selben Moment, in dem Henrik sehr scharf »Godrik!« zischte. »Wir dürfen das nicht. Du weißt doch, was Hyacintha …«

»Ich scheiß drauf, was Cintha gesagt hat«, gab Godrik gelassen zurück. »Und ich scheiß auf die Richtlinien.«

»Wir wissen noch gar nicht, ob sie es ist«, hielt Henrik verärgert dagegen.

Godrik schnaubte. »Du weißt es genauso gut wie ich. Ihre Idea springt mich ja förmlich an, Herrgott.«

Okay. Ich kam definitiv nicht mehr mit. »Meine was?«, fragte ich dazwischen.

Henrik schüttelte heftig den Kopf in Richtung seines Bruders. Aber Godrik lächelte nur. Er setzt sich gerade hin und sah mir direkt in die Augen. Ich fühlte mich komisch unter diesem Blick. Irgendwie geröntgt. Und gesehen. Es war nicht unangenehm, nur sehr intensiv.

»War deine Mutter jemals krank vor Sorge, weil sie dich nicht gefunden hat, während du ganz sicher warst, dich keinen Zentimeter vom Fleck gerührt zu haben?«

Ma stieß einen überraschten Laut aus. Also doch … Wir dachten beide dasselbe. Mein Blick flackerte zu Godriks Buch, und der lächelte. »Du hast gelesen, richtig?«

Alles, was ich tun konnte, war zu nicken.

Godriks Augen glänzten. Er erhob sich und kam auf mich zu, während er seinen Ärmel hochkrempelte. Instinktiv wich ich einen Schritt vor dem großen Kerl zurück. Aber nur einen. Neugier hatte sich zu meiner Angst gesellt und gewann die Oberhand – wie immer.

Als Godrik nach meiner Hand griff, ließ ich es zu. Er legte sie auf eine Stelle an seinem rechten Unterarm.

She made herself stronger by fighting with the wind, stand dort, und ich wusste, dass es ein Zitat aus dem Geheimen Garten war.

»Es war mein erstes«, raunte Godrik.

Meine Hand begann zu kribbeln, und ein wohliger Schauer durchzog mich. Etwas schien meinen Arm hinauf bis in mein Herz zu kriechen, und ich fühlte mich auf einen Schlag hellwach. Die seltsame Energie ging von seinem Tattoo aus, und es fiel mir schwer, zu begreifen, was hier gerade geschah. Denn ich kannte dieses Gefühl. Von mir selbst. Bei anderen hatte ich es jedoch noch nie zuvor wahrgenommen. Godrik fühlte sich auf einmal überhaupt nicht mehr fremd an. Eher wie ein Verwandter. Oder ein Freund, den ich nur aus Träumen kannte. Ich konnte kaum die Finger von seinem Arm lösen. Doch schließlich ergriff ich seine Hand und legte sie in meinen Nacken.

»Das war mein erstes«, sagte ich.

»Momo«, stellte Godrik fest, ohne auch nur einen Blick auf mein Tattoo geworfen zu haben.

»Aber …«, setzte ich an, doch er hob die Hand und wandte sich an meine Mutter.

»Könnten Sie bitte Annes Geburtsunterlagen und die Dokumentation ihrer Adoption holen? Es ist sehr wichtig.« Er lächelte mich an. »Wir müssen verstehen, wer sie wirklich ist.«

Wer sie wirklich ist. Dieser Satz bohrte sich wie ein Pfeil in meine Brust. Ich wusste ja nicht einmal selbst, wer ich wirklich war.

»Aber dafür brauchen wir einen Tropfen Blut von dir, Anne. Es ist keine große Sache. Pass auf!« Godrik streckte seinem Bruder die Hand hin.

Henrik nahm den Stift, murmelte: »Ich kann nicht glauben, dass ich das hier wirklich tue«, und pikste seinem Bruder damit in den ausgestreckten Zeigefinger. Ein Blutstropfen quoll hervor, den Henrik mit einem Papierstreifen aufnahm und diesen anschließend unten in das Gerät steckte. Wie bei einem Blutzuckertest.

Auf dem Display erschien eine Sanduhr, die sich drehte. Und obwohl ich keine Ahnung hatte, worum es hier überhaupt ging, betrachtete ich sie gebannt. Nach vielleicht zwanzig Sekunden erschien ein grüner Haken auf dem Display und ein einzelnes Wort. Migra.

Ich schaute Godrik fragend an, doch der lächelte nur. »Jetzt du«, forderte er. Ich streckte meinen Finger aus und ärgerte mich darüber, dass er zitterte. Mit meiner freien Hand umklammerte ich Silberkorn so fest, als wäre das Buch das Einzige, was mich vor dem Ertrinken retten konnte. Den Pikser bemerkte ich kaum und diesmal blickte ich nicht auf die Sanduhr, sondern ließ meine Augen ziellos durch die Küche wandern, um mir jedes Detail genau einzuprägen. Ich ahnte in diesem Moment bereits, dass sich bald alles verändern würde. Beinahe hörte ich die Zahnräder meines Lebens klicken.

Das Gerät piepste, und Henrik atmete hörbar auf. Ich drehte den Kopf und sah den grünen Haken. Migra stand auch bei mir. Mir kam es vor, als hätte ich einen Test bestanden, ohne zu wissen, welchen.

»Hab ich doch gesagt!« Godrik grinste. Er klang stolz und ein wenig erleichtert. Nicht unbedingt so cool wie jemand, der es wirklich gewusst hatte.

»Wie immer mehr Glück als Verstand.« Henrik schüttelte lachend den Kopf und klopfte seinem Bruder auf die Schulter. »Ich rufe Cintha an«, sagte er und ging ohne weitere Erklärungen durch unsere Terrassentür raus in den kleinen Garten.

Ich zeigte auf das Display. »Was bedeutet das?«

Godrik trat zu mir und legte eine Hand auf meinen Oberarm. »Es bedeutet, dass du eine Migra bist, Anne. Genau wie Henrik und ich. Du bist anders als alle, die du kennst. Alle, mit denen du aufgewachsen bist.«

Okay, das war jetzt nicht wirklich etwas Neues. Neu war nur, dass es dafür einen Namen gab. Und ganz offenbar auch irgendwelche nachweisbaren Blutmarker. Blutgruppe: weird positiv.

»Und nicht weniger als ein gottverdammtes Wunder«, setzte der Mann breit grinsend hinzu.

»Ein Wunder?«, wiederholte ich zweifelnd. Gerade fühlte ich mich einfach nur verloren. Wie ein kaputtes Spielzeug, das nach vielen Jahren von seinem Besitzer aus dem Fundbüro abgeholt wurde.

»Normalerweise überleben Migras außerhalb der Gemeinschaft nicht so lange wie du«, erklärte Godrik nun ernster. »Wir müssen erst lernen, unsere Kräfte zu benutzen, bevor wir in der Terra überleben können.«

»Terra?«, echote ich, doch er lächelte nur. »Alles zu seiner Zeit. Du bist jedenfalls die Älteste, die je lebend gefunden wurde«, sagte er sanft. »Und somit zumindest für mich ein gottverdammtes Wunder.«

Na bravo. Dann war ich nicht nur ein gewöhnlicher Freak, sondern auch noch ein Freak, der anders war als die anderen Freaks. Jackpot.

»Und jetzt komm. Wir müssen deine Sachen packen.«

Er zog mich am Ärmel, doch ich blieb, wo ich war. Mein Kopf war viel zu beschäftigt, um sich jetzt auch noch um den Körper kümmern zu können.

»Godrik«, sagte ich leise, aber eindringlich genug, dass er zu ziehen aufhörte.

»Hm?«

»Geht es hier wirklich um mein Leben? Meine Sicherheit?«

Der große Mann sah mir fest in die Augen und nickte.

»Das ist keine Metapher oder so?«

»Keine Metapher«, bestätigte er.

»Versprichst du mir das?«

Er nickte wieder.

Ich atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Es war verrückt, aber ich wusste genau, dass er mich nicht anlog. Godrik meinte, was er sagte.

»Wenn meine Ma diesen Test machen würde, was würde bei ihr stehen?«

Als hätte sie nur auf ihr Stichwort gewartet, öffnete meine Mutter in diesem Moment die Küchentür, einen schmalen, leicht vergilbten Pappordner in der Hand und ein unsicheres Lächeln auf den Lippen. Godrik ging zu ihr und nahm den Ordner entgegen.

»Vielen Dank«, sagte er sanft. »Anne hat den Bluttest gerade gemacht und unsere Vermutung hat sich bestätigt.«

Meine Mutter atmete zitternd aus, doch sie nickte tapfer. Ein liebevolles Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie die Hand an meine Wange legte. »Alle Eltern haben ihre Kinder nur geliehen«, flüsterte sie, und Tränen traten ihr in die Augen. »Ich wusste immer, dass ich dich irgendwann loslassen muss.« Sie wandte sich an Godrik. »Sie gehört also dieser … dieser irischen Adelsfamilie an?«

»Daran besteht kein Zweifel«, antwortete er.

»Gut … das ist …« Ma schluckte und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Das ist eine große Chance für sie. Und es ist wirklich so wichtig, dass sie auf diese Schule geht?«

»Wenn sie überleben soll, ja. Sie braucht, wie alle Mitglieder ihrer Familie, eine spezielle Behandlung. Das liegt an einem seltenen Gendefekt. In der Schule beschäftigen wir einen Spezialisten für diese Konstitution«, bestätigte Godrik, und ich wunderte mich am Rande meines Bewusstseins, wie oft an diesem Vormittag wohl noch meine generelle Fähigkeit zu überleben in Frage gestellt werden würde.

»Wären Sie bereit, den Bluttest ebenfalls zu machen?«, fragte Godrik. »Damit wir ganz sicher sein können?«

Ma nickte schwach und ließ sich bereitwillig von Godrik in den Finger piksen. Sie sah aus, als wäre sie gar nicht richtig anwesend. Ich wollte zu ihr gehen und mich an ihr festklammern. Ihren Duft einsaugen und sie nie wieder loslassen. Doch ich war wie versteinert. Als wäre eine unsichtbare Mauer zwischen ihr und mir errichtet worden. Oder eine Kuppel. Wie bei Stephen King. Nur hatte ich keine ganze Stadt zur Gesellschaft, sondern war allein hier drin.

Godrik schob den Papierstreifen in die Maschine und kam zu mir herüber. Er hielt mir das Display hin, das in diesem Augenblick einen Misston von sich gab. Auf dem Bildschirm erschien ein rotes Kreuz und darunter nur ein einziges Wort: Human.

Ma schenkte mir ein trauriges Lächeln, und ich fühlte in diesem Moment, wie etwas in mir zerriss. Sechzehn Jahre war sie meine ganze Welt gewesen. Mein Zuhause, mein Schutz, mein Halt. Doch tief in unseren Herzen hatten wir es beide gewusst: Ich war nicht wie sie.

Und deshalb musste ich gehen.

3

Ich wischte mir zum wiederholten Mal verstohlen die Tränen aus dem Gesicht, während ich mich über meine Kramschublade beugte und ziellos darin herumwühlte.

»Erklär es mir noch einmal, als wäre ich fünf Jahre alt«, forderte ich schniefend, während meine Finger durch gesammelte Muscheln und Steine fuhren, über ein paar Stifte, Lesezeichen, alte Haargummis und Pinsel mit getrockneten Farbresten strichen. Ich griff nach einem Knäuel Ladekabel und betrachtete es ratlos. Was sollte ich nur mitnehmen?

Godrik fuhr sich durch die Haare. Er hing ungelenk auf meinem Sitzsack und baute etwas, das entfernt an ein Kartenhaus erinnerte. Nur, dass er dafür meine Taschenbücher misshandelte.

»Ich habe es doch schon versucht, Anne. Drei Mal! Wenn du es immer noch nicht verstanden hast, bist du vielleicht wirklich erst fünf Jahre alt und einfach nur sehr groß für dein Alter.«

»Wenn sich hier jemand wie ein zu großes Kleinkind verhält, dann bin das sicher nicht ich«, gab ich zurück.

Godrik lachte auf, und das Haus aus Taschenbüchern fiel in sich zusammen. »Point taken«, sagte er.

Ich funkelte ihn böse an, riss eine meiner Kommodenschubladen auf und stopfte wahllos Unterwäsche in die Tasche. Die würde ich ja wohl brauchen, oder nicht?

»Ihr sagt, dass ich gar kein Mensch bin, sondern eine Migra, also eine Mischung aus Mensch und Buchfigur.«

»Wir sagen nicht, dass es so ist, sondern wir wissen es. Der Bluttest ist eindeutig. Nur Migras tragen das Delta-Chromosom in sich, Anne.« Seine Finger strichen über meine Geburtsurkunde, die in der aufgeschlagenen Mappe neben ihm auf dem Boden lag. »Oder soll ich dich lieber Annie nennen?«

Mein Blick fiel kurz auf das Dokument. Ich hatte zwar immer gewusst, dass ich eigentlich Annie hieß, genauer gesagt Annie Thalia Doyle und nicht Anne Keller, aber Ma und mir war es immer sinnvoller erschienen, auf das I zu verzichten. Ich stach schon so deutlich genug aus der Masse heraus, auch ohne ein weiteres i-Tüpfelchen.

»Oder vielleicht Thalia? Thalia ist ein guter Migra-Name. Klassisch und elegant.«

Thalia? So weit kam es noch! »Auf gar keinen Fall!«, entgegnete ich irritiert. »Doch, ja. Annie ist gut, denke ich. Aber lenk jetzt nicht ab. Ich bin also zur Hälfte Buchfigur.«

Godrik machte eine abwägende Handbewegung in der Luft. »Die Gewichtung ist bei jedem von uns ein bisschen anders. Aber die Tatsache, dass du noch lebst, deutet darauf hin, dass du mehr menschliche als literarische Anteile in dir trägst.«

So, wie er das sagte, klang es fast wie eine Beleidigung. Schönen Dank auch. Mir schwirrte der Kopf.

Natürlich hatte ich schon früh gemerkt, dass der Satz »Ohne Bücher kann ich nicht leben.« für mich eine völlig andere Bedeutung hatte als für andere, die viel und gern lasen. Wenn ich kein Lieblingsbuch bei mir trug, bekam ich pochende Kopfschmerzen, mir wurde schwindelig und mich überkam eine bleierne Müdigkeit. Mehr noch: eine Lebensmüdigkeit. Und ja, das war in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, obwohl ich Silberkorn und oft ein paar weitere Bücher immer mit mir herumschleppte.

In der Schule, bei Ma auf der Arbeit in der Bibliothek und auch zu Hause war es okay gewesen, aber sobald ich diese Gebäude verlassen hatte, hatten sich oft sehr schnell heftige Kopfschmerzen eingestellt. Erst seit ich das Tattoo hatte, waren die Schmerzen etwas zurückgegangen. Trotzdem wäre ich im Leben nicht auf die Idee gekommen, ich könnte zur Hälfte eine Buchfigur sein! Dabei hatte ich eine ziemlich blühende Fantasie.

»Und wie kommen diese Anteile überhaupt in mein Blut?«, fragte ich, während Godrik neugierig den Klappentext eines meiner Bücher studierte.

»Auf Deutsch klingt das alles furchtbar kantig«, stellte er fest.

»Wie kommen die Buchfiguren-Anteile in mein Blut?«, wiederholte ich die Frage etwas lauter.

»Das weiß niemand so genau«, antwortete er seufzend. »Wir gehen davon aus, dass die Chromosomen aus einer Zeit stammen, in der sich die Menschen noch Geschichten am Lagerfeuer erzählt haben. In der Menschen und Geschichten eins waren und die wenigsten von ihnen auf Papier gebannt wurden. Aber da es aus dieser Zeit kaum Aufzeichnungen gibt und das Heritage-Programm noch nicht existierte, geschweige denn wir Reparatoren, kann das niemand genau sagen.« Er lächelte. »Warum gibt es verschiedene Hautfarben und Augenformen? Warum verschiedene Charaktere?«

»Das ist was anderes. Dahinter steckt stinknormale Wissenschaft. Biologie.«

»Glaubst du an Wissenschaft?«, fragte Godrik und legte den Kopf schief.

»Natürlich. Du nicht?« Ob ich meine Stricknadeln mitnehmen sollte?

Godrik machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wissenschaft ist so furchtbar limitiert. Schrecklich. Sie kommt nicht gegen das Gefühl an, das Idea dir geben kann.«

Aha. Da war sie wieder, die mystische Idea. Die Kraft, die ich laut Godrik und Henrik brauchte, um zu überleben. Das Zeug, das außer Blut wohl noch durch meine Adern floss. Und dessen Abwesenheit laut Godrik für meine Kopfschmerzen verantwortlich war. Oder so.

»Ja, das hast du schon mal gesagt«, gab ich ungeduldig zurück. »Aber was ist Idea?«

»Unsere Lebenskraft. Wir Migras brauchen sie wie die Luft zum Atmen.«

Ich verschränkte die Arme. »Das ist keine zufriedenstellende Erklärung«, sagte ich, und Godrik verdrehte die Augen.

»Wenn du auf Bookford Manor bist, kannst du das alles deine Mentoren fragen. Ich bin nur Reparator, ich kann so was nicht gut erklären.«

»Versuch es!«, forderte ich. »Wenn du von mir verlangen kannst, mein ganzes Leben aufzugeben und einfach so mit dir mitzukommen, dann kann ich doch von dir wenigstens einen guten Grund dafür verlangen, oder? Mein Leben hier ist nämlich eigentlich ganz schön!«

Godrik seufzte resigniert. »Idea ist das, was ein gutes Buch von einer Gebrauchsanweisung unterscheidet. Beides sind Buchstaben auf Papier, aber das eine hat Idea, das andere nicht.«

Ich hob den Blick. »Fantasie?«

Godrik legte den Kopf schief. »Es geht in die Richtung, ist aber nicht dasselbe. Auch wenn ich glaube, dass man Fantasie braucht, um Idea überhaupt entstehen zu lassen. Ohne Fantasie können Menschen keine Geschichten schreiben.«

»Also produzieren Schreibende Idea?«

Godriks Hand machte wieder diese abwägende Bewegung. »Sie lassen sie entstehen, aber ohne Lesende kann sie nicht wachsen. Gott, Annie, es ist kompliziert.« Er warf mir einen flehenden Blick zu, doch ich ließ ihn nicht vom Haken. Nicht jetzt, wo ich das Gefühl hatte, in der richtigen Richtung unterwegs zu sein. Ich verschränkte die Arme und schaute ihn abwartend an.

»Es ist wie beim Feuer. Der Autor oder die Autorin bringt die Funken, nährt die Glut. Aber erst begeisterte Lesende machen ein großes, loderndes und wärmendes Lagerfeuer daraus. Die Liebe, Angst und Freude, die Menschen beim Lesen von Büchern empfinden, speist Idea, lässt sie wachsen. Manche mehr und manche weniger.«

Aha. Das war interessant. »Zum Beispiel?«

»Besonders viel Idea entsteht beispielsweise, wenn du nachts noch von Büchern träumst. Wenn du atemlos vor dem Einschlafen gelesen hast, obwohl du längst das Licht hättest ausschalten müssen. Oder wenn du für eine Buchfigur Tränen vergießt, dich vielleicht sogar verliebst.«

Ertappt trat ich von einem Fuß auf den anderen. Was Godrik da beschrieb, war mir alles überhaupt nicht fremd.

»Kurz gesagt: Je mehr Liebe du für einen Text empfindest, desto mehr Idea entsteht beim Lesen. Das gilt auch für andere Gefühle: Wut, Angst, Trauer. Je stärker und reiner, desto mächtiger die Idea, die daraus entsteht.«

»Und wir, also Migras, brauchen Idea zum Leben?«, hakte ich noch einmal nach. Das war der Punkt, der mich am meisten beschäftigte.

»Genau so ist es«, bestätigte Godrik.

»Das heißt, wir existieren nur, solange es Bücher gibt und Menschen sie lieben?«

Der Reparator wurde bei dieser Frage ganz ernst. »Richtig«, sagte er schlicht, doch ich spürte, dass ich auf etwas gestoßen war. Einen wunden Punkt.

Diese Tatsache beunruhigte mich mehr, als ich zugeben wollte. Wenn ich an meine Mitlernenden in der Schule dachte, dann war es um die Zukunft von Wesen wie uns nicht sonderlich gut bestellt.

Ich fand es wirklich befremdlich, wie ein Vampir von einer Kraft abzuhängen, die von Menschen produziert wurde. Als wäre ich ein Parasit.

»Deshalb schützen wir die Welt der Bücher, wo wir können«, fuhr Godrik fort und holte mich aus meinen dunklen Gedanken. »Das ist unsere Bestimmung und unsere Pflicht. Wir verteidigen die Lexis und die Idea. Wenn es sein muss, mit unserem Leben.«

Ich fröstelte bei dem Gedanken, mein Leben in Gefahr zu bringen. »Kommt das denn oft vor? Dass wir Idea mit unserem Leben verteidigen müssen?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Zum Glück nicht.«

Er lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Ich spürte, dass es besser war, nicht weiter nachzuhaken.

»Und die Idea wird dann irgendwo gespeichert, wo wir sie anzapfen können?«

»Nicht irgendwo«, sagte Godrik und fing wieder an, ein Kartenhaus aus Taschenbüchern zu bauen. »In der Lexis.«

Ah. Lexis. Das hatte ich vorhin auch schon einmal gehört. Ich runzelte die Stirn und versuchte, mich zu erinnern, was genau er gesagt hatte.

»Die Buchwelt, richtig?«, fragte ich schließlich und musste erneut daran denken, wie ich in letzter Zeit beim Lesen immer wieder verschwunden war. War ich wirklich dort gewesen? Godrik nickte.

»Und um Zugang zu Idea und zur Lexis zu bekommen, darf ich nicht mehr auf die Käthe-Kollwitz-Oberschule zurück, sondern muss auf …« Ich runzelte die Stirn. Jetzt hatte ich den Namen der Schule doch tatsächlich schon wieder vergessen.

»Bookford Manor«, half Godrik mir auf die Sprünge.

»… Bookford Manor zur Schule gehen.« Ich seufzte. Allein beim Gedanken daran wurde mir schlecht. Andere Schule, andere Lernende. Anderes Land. Und das Schlimmste war, dass ich keine Wahl zu haben schien. Mein Leben passierte mir gerade.

»Weshalb ich jetzt hier stehe und versuche, meine Koffer zu packen.«

»Das hast du doch sehr schön zusammengefasst«, bemerkte Godrik grinsend, und ich warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Und trotzdem kannst du mir nicht einmal sagen, was ich mitnehmen soll!« Mein anklagender Blick fiel erst auf ihn, dann auf meinen Schreibtisch. »Das ist nicht sehr vertrauenerweckend, oder? Brauche ich meinen Laptop? Einen Zirkel? Einen Malblock?«

Godrik schüttelte den Kopf. Dann sah er mich an. »Komm mal zu mir rüber, Annie.«

Annie. Das klang überraschend gut, wenn man es Englisch aussprach, so wie Godrik. Weniger nach Heidi und mehr nach Stolz und Vorurteil. Ich blieb noch eine Weile unschlüssig vor meiner Reisetasche stehen, dann ging ich zu Godrik und setzte mich. Er griff nach meinen Händen und legte sie auf seine über und über mit Buchzitaten tätowierten Arme. Ich hatte mittlerweile festgestellt, dass es hauptsächlich Zitate aus Kinderbüchern und Abenteuerromanen waren; viele davon kannte ich selbst in- und auswendig. Als meine Finger seine Haut berührten, wurde mir sofort warm und mein Puls beruhigte sich. Wie machte er das nur?

»Fühlst du es?«, fragte er, und ich nickte. »Was genau fühlst du?«

Ich überlegte eine Weile, dann sagte ich: »Ruhe. Wärme. Und Kraft.« Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. »Die Angst wird weniger.«

Godrik grinste zufrieden. »Genau. Das ist Idea. Migras, die sehr empfänglich dafür sind, können sie spüren, manche sogar sehen«, erklärte er. »Und fühlst du sie irgendwo besonders stark?«

Ich runzelte die Stirn.

»Konzentrier dich«, forderte Godrik. »Du musst dem Gefühl nur folgen.«

Erst wusste ich nicht, was er damit meinte, doch tatsächlich gab es Bereiche, in denen die Wärme und Energie weniger stark waren. Ich schloss die Augen und streckte meinen linken Zeigefinger aus. Dann ließ ich ihn langsam über Godriks Arm wandern.

»Hier«, sagte ich schließlich und hielt inne. »Hier ist es besonders stark.«

Ich öffnete die Augen und las, was da stand. When you have excluded the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth.

Godrik nickte zufrieden. Sein Blick war intensiv wie ein Brennglas.

»Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, so unwahrscheinlich sie auch ist«, sagte ich mit einem Lächeln. »Das wohl berühmteste Zitat von Sherlock Holmes.«

»Und eines, das nicht besser zu dir passen könnte, Annie Doyle. Ohne Idea hättest du eigentlich keine sechzehn Jahre alt werden können. Und doch bist du hier. Du trägst nur ein kleines Zitat auf der Haut und trotzdem spüre ich deine Kraft schon von weitem. Der ganze Raum flirrt.«

Unsicher blickte ich mich um, und Godrik sah mir fest in die Augen. »Ich verstehe ja auch nicht, was hier vor sich geht. Henrik und ich sind Reparatoren. Wir sind gut im Aufspüren von Migra-Kindern aus der Terra. Aber wir sind weder Wissenschaftler, noch gehören wir der Elite an. Wir tun nur unsere Arbeit.« Er sah mir fest in die Augen. »Und meine Arbeit ist es, dich nach Hause zu bringen.«

Bei den Worten »nach Hause« krampfte sich mein Herz zusammen.

»Hier ist mein Zuhause«, murmelte ich, stand auf und begann wieder, wahllos in meinen Sachen herumzuwühlen. Was ich ihm nicht sagte, war, dass ich mich in diesem Raum mittlerweile selbst wie ein Alien fühlte. Wahrscheinlich, weil mich hier alles daran erinnerte, wie verzweifelt ich in den letzten Jahren versucht hatte, jemand zu sein, der ich gar nicht war. Ein ganz normales Mädchen. Ein Mensch.

Gehörte der ganze Quatsch hier wirklich mir? Warum zum Teufel hatte ich so viel Kram angehäuft, der komplett nutzlos war? Das Einzige, was nach einer halben Ewigkeit Packerei in meiner Tasche lag, waren Silberkorn und meine Unterwäsche.

»Nimm nur die Bücher mit, an denen du so sehr hängst, dass es dir um diese spezielle Ausgabe geht«, riet Godrik. »Alles andere haben wir auf Bookford Manor.« Er schmunzelte. »Bücher durch die Gegend schleppen wird für dich von nun an der Vergangenheit angehören. Du wirst von ihnen umgeben sein, wirst lernen, sie zu nutzen und Dinge mit ihnen zu tun, die du bisher für unmöglich gehalten hast.«

Okay. Ich musste zugeben, das hörte sich gut an.

»Pack ein paar Erinnerungsstücke ein. Und warme Socken. Im Schloss wird es im Winter ziemlich kalt.«

»Schloss?«, echote ich, und er nickte.

Ich würde also in einem Schloss wohnen. Wie literarisch. Das war doch mal ein Hinweis, mit dem ich etwas anfangen konnte. Mit einem beherzten Ruck öffnete ich meinen Kleiderschrank. Das Durcheinander aus Stoffen und Farben, das daraufhin auf den Parkettboden meines Zimmers quoll, war mir vor Godrik unangenehm. Aber es half ja nichts.

Ich packte meine wärmsten Wollsocken, meine ausgebeulte schwarze Strickjacke, einen knallpinken Loop-Schal und den Quilt ein, den ich von unserer Nachbarin geschenkt bekommen hatte, als sie weggezogen war.

Meine Schatulle mit Ohrringen und Ketten wanderte ebenso in die Tasche wie ein paar meiner liebsten bunten Tücher, die ich mir immer in die Haare flocht.

»Kleidung brauchst du eigentlich nicht«, sagte er. »Du bekommst eine Schuluniform von uns.«

Ich blickte auf.

»Aber ich mag meine Klamotten. Ich fühle mich wohl darin.«

»Auf Bookford Manor wirst du dich wohlfühlen, ganz egal, was du anhast. Du wirst sehen.« Er zeigte auf meinen weiten Rock. »Ein Rock wäre viel zu unpraktisch. Und gefährlich. Agata würde ausrasten, wenn du mit so was zum Unterricht kämst.«

»Agata?«, fragte ich.

»Agata Vesta. Deine Waffen-Mentorin. Ihre Zunge ist fast so scharf wie ihre Klingen.«

Ich schluckte. Auf was für eine Art Schule wurde ich hier eigentlich verschleppt? Ein Schloss? Waffen-Mentorin? Aber Waffe war ein gutes Stichwort. Ich wühlte den kleinen Dolch hervor, den ich mal auf dem Flohmarkt am Mauerpark erstanden hatte. Er sah ziemlich alt aus und steckte in einer verzierten Scheide. Ich legte ihn zu Silberkorn ins Seitenfach. Dann stopfte ich das Fotoalbum dazu, das Ma mir zum sechzehnten Geburtstag gemacht hatte. Fehlte nur noch das Wichtigste.

»Steh bitte mal auf«, forderte ich von Godrik, der meiner Bitte nachkam und sich zum wiederholten Mal den Kopf fluchend an der Dachschräge stieß. Ich ging zu der Holztruhe, die hinter dem Sitzsack stand, und öffnete sie, um meine Tage- und Notizbücher herauszuholen. Hinter mir ertönte ein Knall, und plötzlich packte mich Godrik grob am Arm.

»Au, verdammt! Was soll das?«